CLIVE CUSSLER
WÜSTENFEUER
Ein Dirk-Pitt-Roman
Deutsch von Michael Kubiak
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Crescent Dawn«
PROLOG
327 V. CHR. MITTELMEER
Der Trommelschlag brach sich an den Holzwänden und wurde als rhythmisches Stakkato mit makelloser Präzision zurückgeworfen. Der celeusta bearbeitete methodisch, geschmeidig und dennoch mit rein mechanischen Bewegungen seine Ziegenfelltrommel. Er konnte sie stundenlang schlagen, ohne aus dem Takt zu geraten - seine musikalische Ausbildung war weniger auf Harmonie denn auf Ausdauer ausgerichtet gewesen. Obwohl seinem stetigen Rhythmus anerkanntermaßen eine leistungssteigernde Wirkung beizumessen war, hoffte sein Publikum, das aus Galeerenruderern bestand, zurzeit nichts anderes, als dass diese monotone Darbietung möglichst bald ein Ende finden möge.
Lucius Arcelian wischte eine verschwitzte Handfläche an seiner Kniehose ab, dann packte er das schwere Eichenruder etwas fester. Indem er das Blatt in einer fließenden Bewegung durchs Wasser zog, passte er sich dem Rudertakt der anderen Männer um ihn herum schnell an. Als gebürtiger Kreter war er sechs Jahre zuvor in die römische Marine eingetreten, angelockt von guter Bezahlung und der Möglichkeit, die römischen Bürgerrechte zu erlangen, sobald er sich zur Ruhe setzte. In den Jahren seither war er härtester physischer Arbeit ausgesetzt gewesen - und hoffte jetzt, an Bord der kaiserlichen Galeere in eine weniger anstrengende Position zu gelangen, bevor seine Arme völlig versagten.
Im Gegensatz zum Hollywood-Mythos kamen im Altertum auf römischen Galeeren keinerlei Sklaven zum Einsatz. Bezahlte Freiwillige trieben die Schiffe an, gewöhnlich aus seefahrenden Ländern rekrutiert, die unter der Herrschaft des Kaiserreichs standen. Wie ihre Legionärskollegen in der römischen Armee mussten die Kandidaten eine wochenlange strapaziöse Ausbildung absolvieren, ehe sie auf See eingesetzt wurden. Die Ruderer waren schlank, stark und durchaus fähig, zwölf Stunden am Tag zu rudern, wenn es nötig sein sollte. Aber auf der nach liburnischem Vorbild erbauten Diere, einem kleinen und leichten Kriegsschiff, das jeweils zwei Reihen Ruder auf beiden Seiten hatte, waren die Ruderer ein zusätzlicher Antrieb zu einem großen Segel, das an Deck aufgeriggt war.
Arcelian richtete den Blick auf den celeusta, einen winzigen kahlköpfigen Mann, der neben sich einen kleinen Affen angebunden hatte, während er trommelte. Er konnte nicht umhin, die frappierende Ähnlichkeit zwischen dem Mann und dem Affen zu registrieren. Beide hatten große Ohren und runde, fröhliche Gesichter. Ein Ausdruck ständiger Heiterkeit lag auf der Miene des Trommlers, während er die Mannschaft mit funkelnden Augen und schartigen gelben Zähnen angrinste. Sein Anblick schien das Rudern irgendwie einfacher zu machen, und Arcelian erkannte, dass der Kapitän der Galeere eine weise Entscheidung getroffen hatte, als er diesen Mann ausgewählt hatte.
»Celeusta«, rief einer der Ruderer, ein dunkelhäutiger Mann aus Syrien. »Der Wind bläst heftig, und das Meer schäumt. Warum müssen wir rudern?«
Die Augen des Trommlers leuchteten auf. »Es fällt mir nicht im Traum ein, die Weisheit meiner Offiziere anzuzweifeln. Wenn ich es täte, würde am Ende auch ich ein Ruder ziehen«, erwiderte er und lachte herzlich.
»Ich möchte fast wetten, dass der Affe schneller rudern kann«, entgegnete der Syrer.
Der celeusta betrachtete den Affen, der neben ihm hockte. »Wirklich ein kräftiger kleiner Bursche«, ging er gut gelaunt auf den harmlosen Spott ein. »Aber was deine Frage betrifft, ich kenne die Antwort nicht. Vielleicht möchte der Kapitän seine geschwätzige Mannschaft ein wenig in Atem halten. Oder er hat den Wunsch, schneller als der Wind zu sein.«
Ein paar Meter über ihnen blickte der Kapitän der Galeere auf dem oberen Deck unruhig nach achtern zum Horizont. Ein Paar ferner blau-grauer Punkte tanzte auf der turbulenten See und wurde mit jeder Minute größer. Der Kapitän wandte sich um, blickte auf die vom Wind geblähten Segel und wünschte sich, er könne noch viel, viel schneller sein als der Wind.
Eine tiefe Baritonstimme störte plötzlich seine Konzentration.
»Ist es die Geisel der Meere, die deine Knie weich werden lässt, Vitellus?«
Der Kapitän fuhr herum und sah einen stämmigen Mann mit Brustpanzer, der ihn spöttisch musterte. Er war ein römischer Centurio namens Plautus, der das Kommando über eine Truppe von dreißig Legionären hatte, die an Bord stationiert waren.
»Zwei Schiffe nähern sich von Süden«, erwiderte Vitellus. »Ich bin mir fast sicher, dass es Piraten sind.«
Der Centurio schenkte den fernen Schiffen einen flüchtigen Blick, dann zuckte er die Achseln.
»Lästiges Ungeziefer«, meinte er unbesorgt.
Vitellus wusste es besser. Piraten waren schon seit Jahrhunderten die Erzfeinde der römischen Schifffahrt. Obgleich das organisierte Piratenunwesen auf dem Mittelmeer vor einigen hundert Jahren von Pompeius dem Großen schon einmal ausgemerzt worden war, gingen vereinzelt noch immer nicht organisierte Räuberbanden auf dem offenen Meer ihrem Gewerbe nach. Die gewöhnlichen Ziele waren einzelne Handelsschiffe, aber die Piraten wussten, dass die Dieren oftmals wertvolle Fracht an Bord hatten. Als er an die Ladung seines eigenen Schiffes dachte, fragte sich Vitellus, ob die Barbaren, die ihn verfolgten, möglicherweise einen Tipp bekommen hatten, nachdem er aus dem Hafen ausgelaufen war.
»Plautius, ich brauche dich wohl nicht an die Bedeutung unserer Fracht zu erinnern«, sagte er.
»Natürlich nicht«, erwiderte der Centurio. »Was meinst du denn, weshalb ich mich auf diesem armseligen Schiff befinde? Schließlich bin ich es doch, der mit der Aufgabe betraut wurde, für ihre Sicherheit zu sorgen, bis sie dem Kaiser von Byzanz übergeben wird.«
»Dabei zu versagen würde ernste Konsequenzen für uns und unsere Familien nach sich ziehen«, sagte Vitellus und dachte dabei an seine Frau und seinen Sohn in Neapel. Er suchte das Meer vor dem Bug der Galeere ab und sah nur rollende Wellen und schiefergraues Wasser.
»Von unserer Eskorte ist noch immer nichts zu sehen.«
Drei Tage zuvor war die Galeere in Judäa mit einer Trireme als Geleitschutz in See gestochen. Aber die Schiffe waren während der vorangegangenen Nacht durch eine heftige Sturmböe voneinander getrennt worden, und seitdem war die Eskorte nicht mehr zu sehen.
»Fürchte dich nicht vor den Barbaren«, sagte Plautius abfällig. »Wir werden das Meer mit ihrem Blut rot färben.«
Das übertrieben forsche Auftreten des Centurio trug dazu bei, dass Vitellus auf Anhieb eine gewisse Abneigung gegen ihn entwickelt hatte. An seinen kämpferischen Fähigkeiten war jedoch nicht zu zweifeln, daher war der Kapitän durchaus dankbar, ihn in seiner Nähe zu haben.
Plautius und seine Legionärstruppe gehörten zu den Scbolae Palatinae, einer militärischen Eliteeinheit, deren Aufgabe im persönlichen Schutz des Kaisers bestand. Die meisten waren schlachterprobte Veteranen, die mit Constantin dem Großen an der Grenze und während seines Feldzugs gegen Maxentius gekämpft hatten, einem rivalisierenden Cäsaren, dessen Niederwerfung zur Vereinigung des zersplitterten Imperiums führte. Plautius selbst hatte eine hässliche Narbe an seinem linken Oberarm, die ihn an ein heftiges Duell mit einem westgotischen Schwertkämpfer erinnerte, das ihn beinahe seinen Arm gekostet hätte. Er trug diese Narbe als sichtbares Symbol seiner Tapferkeit und Unerschrockenheit, die niemand, der ihn kannte, in Frage zu stellen wagte.
Während sich die beiden Piratenschiffe näherten, stellte Plautius seine Männer, verstärkt durch Mannschaftsmitglieder der Galeere, auf dem offenen Deck bereit. Jeder war mit den neuesten römischen Waffen ausgerüstet - einem Kurzschwert, dem sogenannten gladius, einem runden mehrschichtigen Schild und einer Wurflanze, dem pilum. Der Centurio teilte seine Soldaten in kleine Kampfgruppen auf, um beide Seiten des Schiffes verteidigen zu können.
Vitellus behielt ihre Verfolger, die mittlerweile deutlich zu erkennen waren, ständig im Auge. Es waren kleinere mit Segeln und Rudern ausgerüstete Schiffe von zwanzig Metern Länge — und damit kaum halb so groß wie die römische Galeere. Eins hatte hellblaue Rahsegel und das andere graue, während beide Schiffsrümpfe in Zinngrau gehalten waren, eine alte und wirkungsvolle Tarnmethode, die von kilikischen Piraten bevorzugt wurde. Jedes Schiff trug zwei Segelmasten, die ihnen bei frischem Wind zu einem Geschwindigkeitsvorteil verhalfen. Und der Wind blies zurzeit wirklich recht kräftig und ließ den Römern kaum eine Chance zur Flucht.
Ein Hoffnungsschimmer zeichnete sich ab, als der vordere Ausguck »Land in Sicht!« meldete. Vitellus blickte zum Bug und entdeckte im Norden die vagen Umrisse einer felsigen Küste. Der Kapitän konnte nur raten, welches Land er da vor sich sah. Die jeweilige Position der Galeere wurde hauptsächlich durch Koppelnavigation bestimmt, war während des Sturms kurz zuvor jedoch vom Kurs abgebracht worden. Vitellus hoffte inständig, dass sie sich in der Nähe der anatolischen Küste befanden, wo sie vielleicht auf andere Schiffe der römischen Flotte trafen.
Der Kapitän wandte sich an den bulligen Mann, der die schwere Ruderpinne der Galeere bediente.
»Gubernator, bring uns in Landnähe und möglichst in windgeschützte Gewässer. Wenn wir ihnen den Wind aus den Segeln nehmen können, dürften wir diesen Teufeln entkommen.«
Unter Deck erhielt der celeusta den Befehl, einen Schnellfeuer-Rhythmus zu trommeln. Jegliche Gespräche zwischen Arcelian und den anderen Ruderern erstarben, und so war nur noch das dumpfe Schnaufen heftiger Atemzüge zu hören. Die Nachricht von den verfolgenden Piratenschiffen war bis zu den Ruderbänken hinab gedrungen. Jeder Mann konzentrierte sich darauf, sein Ruder so schnell und wirkungsvoll wie möglich durchs Wasser zu ziehen, wusste er doch, dass wahrscheinlich auch sein eigenes Leben auf dem Spiel stand.
Für fast eine halbe Stunde hielt die Galeere den Abstand zu den Verfolgerschiffen. Mit Hilfe von Segel und Ruder schob sich das römische Schiff mit fast sieben Knoten durch die Wellen. Aber die kleineren und besser besegelten Piratenschiffe holten allmählich auf. Nahezu bis zur vollständigen Erschöpfung gefordert, durften die Ruderer der Galeere ihren Rhythmus ein wenig drosseln, um Kraft zu sparen. Während die braune, dunstige Landmasse vor ihnen beinahe verlockend aus dem Meer wuchs, kamen die Piraten allmählich näher und griffen schließlich an.
Während sich sein Begleiter hinter der Galeere hielt, arbeitete sich das Schiff mit dem blauen Segel bis auf die gleiche Höhe vor und überholte dann seltsamerweise das römische Schiff. Während des Passierens drängte sich die bunt gewürfelte Horde bewaffneter Barbaren an Deck und beschimpfte und verhöhnte die Römer lautstark. Vitellus ignorierte die Rufe und starrte auf die Küstenlinie voraus. Die drei Schiffe waren nur noch wenige Kilometer vom Festland entfernt - und an seinem Rahsegel konnte er erkennen, dass der Wind nachließ. Er befürchtete, dass es zu wenig war und für seine erschöpften Ruderer zu spät geschah.
Vitellus suchte die vor ihm liegende Landschaft ab. Er hoffte, irgendwo an Land gehen und seine Legionäre auf festem Boden antreten lassen zu können, wo sie ihre volle Kampfkraft entfalten mochten. Doch die Küstenlinie bestand aus einer hohen Felswand, die keine Lücke aufwies, in der die Galeere eine sichere Zuflucht hätte finden können.
Bei einem Vorsprung von fast vierhundert Metern drehte das führende Piratenschiff plötzlich. In einer perfekt ausgeführten Wende schwang es vollständig herum und hielt direkt auf die Galeere zu. Auf den ersten Blick erschien dieses Manöver selbstmörderisch. Die römische Seekriegsstrategie hatte sich lange Zeit auf das Rammen des Gegners als vorherrschende Kampftaktik verlassen, und sogar die kleine Diere war mit einem schweren Bugvorbau aus Bronze ausgestattet. Vielleicht war bei den Barbaren ja mehr Muskel- als Gehirnmasse vorhanden, dachte Vitellus. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als das erste Schiff zu rammen und zu versenken, da sich in diesem Fall, wie er zu wissen glaubte, das zweite Schiff zurückziehen würde.
»Wenn sie abdrehen oder wenden, folge ihnen und durchbohre sie um jeden Preis mit unserem Rammsporn«, befahl er dem Steuermann. Ein jüngerer Offizier stand an der Leiter ins Schiffsinnere, um Anweisungen an die Ruderer weiterzugeben. An Deck hielten die Legionäre ihre Schilde und Wurfspieße bereit. Erwartungsvolle Stille legte sich über die Galeere.
Die Barbaren behielten ihren direkten Kurs auf die Galeere bei, bis sie nur noch dreißig Meter von ihr entfernt waren. Dann schwenkte der Gegner, wie Vitellus vorausgesehen hatte, plötzlich nach Backbord.
»Ramm sie!«, rief der Römer, während der Steuermann die Ruderpinne herumriss. Unter Deck wechselten die Ruderer an Steuerbord für mehrere Züge die Richtung der Ruderblätter, so dass die Galeere eine scharfe Wende nach Steuerbord ausführte. Genauso schnell trieben sie das Schiff wieder vorwärts und zogen ihre Ruder ebenso wie ihre Kollegen an Backbord mit äußerster Kraft durchs Wasser.
Das kleinere Piratenschiff versuchte, den Kurs der Galeere zu kreuzen, doch das römische Schiff wendete ebenfalls. Die Barbaren verloren an Fahrt, als ihre Segel beim Wenden für einen Moment schlaff wurden, während die Galeere ihr Tempo beibehielt. Innerhalb eines kurzen Augenblicks war der Jäger zum Gejagten geworden. Als der Wind die Segel wieder füllte, sprang das kleinere Schiff geradezu vorwärts, aber nicht schnell genug. Der bronzene Rammsporn der Galeere küsste die hintere Flanke des Piratenschiffes und riss seinen Rumpf bis zum Heckspiegel auf. Bei der Kollision kenterte das Schiff beinahe, richtete sich dann jedoch wieder auf, während das Heck absackte.
Lauter Jubel brach unter den römischen Legionären aus, und Vitellus erlaubte sich ein triumphierendes Lächeln darüber, dass ihnen der Sieg so gut wie sicher war. Doch dann drehte er sich zu dem zweiten Schiff um und erkannte auf Anhieb, dass sie überlistet worden waren.
Während des kurzen Scharmützels hatte sich dieses zweite Schiff nämlich unauffällig genähert. Und während der Rammsporn der Galeere sein Ziel fand, schob sich das Schiff mit den grauen Segeln sofort an die Backbordseite der Galeere. Das Krachen und Knirschen berstender Ruder erklang, während eine dichte Salve von Pfeilen und Enterhaken auf das römische Deck herabregnete. Innerhalb von Sekunden waren die beiden Schiffe nahezu unlösbar miteinander verbunden, und eine ganze Masse von Schwerter schwingenden Barbaren ergoss sich über die Reling.
Die erste Welle Angreifer berührte kaum das Deck, als sie bereits von einer Phalanx rasiermesserscharfer Lanzen aufgespießt wurde. Die römischen Schleuderer verteidigten die Galeere zwar mit tödlicher Zielgenauigkeit, und ein Dutzend Angreifer wurden auch auf der Stelle ausgeschaltet. Aber die Heftigkeit des Angriffs wurde nicht gebrochen, da ein Dutzend weitere Barbaren ihre Plätze einnahmen. Plautius hielt seine Männer zurück, bis die Piratenhorde auf dem Galeerendeck ausschwärmte. Erst dann trat er aus seiner Deckung hervor und gab das Zeichen zum Gegenangriff. Das Klirren der Schwerter übertönte die qualvollen Todesschreie, als das Gemetzel begann. Die römischen Legionäre, besser ausgebildet und im Kampf um einiges disziplinierter, wehrten die ersten Angriffswellen mit Leichtigkeit ab. Die Barbaren waren daran gewöhnt, nur leicht bewaffnete Händler anzugreifen und keine schwer bewaffneten, erfahrenen Soldaten. So wichen sie vor der massiven Gegenwehr zurück. Um die enternden Piraten zurückzuschlagen sammelte Plautius die Hälfte seiner Männer, um dem eigenen Angriff mehr Druck zu verleihen. Er persönlich übernahm die Führung, als die Römer die Barbaren auf ihr eigenes Schiff zurücktrieben.
Die Angriffsreihen der Barbaren brachen schnell auseinander, formierten sich jedoch schon bald wieder neu, als die Piraten erkannten, dass sie den Legionären zahlenmäßig um ein Mehrfaches überlegen waren. Jeweils zu dritt oder zu viert konzentrierten sie sich auf einen einzelnen römischen Soldaten, griffen ihn von verschiedenen Seiten an und überrannten ihn. Auf diese Weise verlor Plautius sechs Männer, bevor er seine Soldaten eine geschlossene Formation einnehmen ließ und zu einem Quadrat ordnete.
Vom Achterdeck der Galeere aus beobachtete Vitellus, wie der römische Centurion einen Mann mit seinem Schwert regelrecht halbierte, als er die Barbaren wie mit einer Sense niedermähte. Der Kapitän hatte die Galeere mitsamt ihres an sie geketteten Verfolgers während des Kampfes Kurs aufs Festland nehmen lassen. Doch das Piratenschiff brachte einen Steinanker aus, der auf dem Meeresgrund Halt fand und beide Schiffe stoppte.
Unterdessen hatte das Schiff mit dem blauen Segel eine Wende ausgeführt und machte nun Anstalten, in den Kampf einzugreifen. Behindert durch das große Leck in seinem Rumpf, durch das Wasser ungehindert eindringen konnte, steuerte das Piratenschiff schwerfällig die freie Steuerbordseite der römischen Galeere an. Indem es das Manöver seines Schwesterschiffes nachahmte, schob es sich längsseits, und seine Mannschaft entfesselte einen wahren Regen von Enterhaken, der die Römer überschüttete.
»Ruderer zu den Waffen! Sofort an Deck antreten!«, rief Vitellus.
Unter Deck folgten die erschöpften Ruderer dem Ruf des Kapitäns. Da sie ursprünglich als Soldaten ausgebildet waren, erwartete man von den Ruderern und allen anderen Seeleuten an Bord, dass sie sich an der Verteidigung des Schiffes beteiligten. Arcelian schloss sich der Schlange seiner Kollegen an, von denen jeder einen tiefen Schluck kalten Wassers aus einem Tonkrug trank und danach mit einem Schwert in der Faust an Deck eilte.
»Halt den Kopf unten«, riet er dem celeusta, der die Waffen verteilt hatte und nun das Ende der Schlange bildete.
»Ich sehe dem Barbaren lieber ins Gesicht, wenn ich ihn töte«, erwiderte der Trommler mit seinem typischen Grinsen.
Die Ruderer griffen keinen Augenblick zu früh in den Kampf ein, während sich die zweite Welle Piraten über die Steuerbordreling schwang. Die Mannschaft der Galeere warf sich den Angreifern als kompakte Masse aus Muskeln und Stahl entgegen.
Als Arcelian das Hauptdeck betrat, war er über das Massaker entsetzt. Leichen und abgetrennte Gliedmaßen lagen verstreut zwischen ständig größer werdenden Blutpfützen. Kaum schlachterprobt erstarrte er für einen kurzen Moment, bis ein Offizier an ihm vorbeirannte und ihn anbrüllte: »Durchtrenn gefälligst die Enterseile!«
Als er ein straff gespanntes Seil am Bug der Galeere gewahrte, machte er einen entschlossenen Satz vorwärts und zerschnitt es mit seinem Schwert. Er verfolgte noch, wie das freie Ende peitschenartig zum Deck des Schiffes mit dem blauen Segel zurückschwang, dessen Deck sich einige Meter unterhalb des Galeerendecks befand. Dann ließ er den Blick an der Reling der Galeere entlangwandern und bemerkte ein halbes Dutzend weiterer Enterseile, die das Piratenschiff an Ort und Stelle fixierten.
»Kappt die Seile!«, rief er. »Stoßt die Piraten ab!«
Seine Worte fanden jedoch kein Gehör, und er musste erkennen, dass nahezu jedes Mannschaftsmitglied der Galeere mit den Barbaren in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt war. Nur am Heck der Galeere gewahrte er mit einiger Hoffnung, dass der celeusta seinem Beispiel folgte und ein Enterseil mit einem kleinen Beil attackierte. Doch allmählich wurde die Zeit knapp. An Bord des langsam sinkenden Piratenschiffes schickten sich die Barbaren an, das römische Schiff zu entern, da sie erkannten, dass sich ihr eigenes Schiff nicht mehr lange würde über Wasser halten können.
Arcelian stieg über einen sterbenden Schiffskameraden, um zum nächsten Enterseil zu gelangen, und hob sein Schwert. Ehe er aber zuschlagen konnte, hörte er in der Luft ein Pfeifen, und die Spitze eines Pfeils bohrte sich nur wenige Zentimeter von seinem Fuß entfernt in die Decksplanken. Er achtete nicht weiter darauf, sondern durchschlug das Seil mit der Schwertklinge und ging dann hinter der Reling in Deckung, als ein weiterer Pfeil über seinen Kopf hinwegzischte. Er lugte über das Geländer und entdeckte seinen Angreifer, einen kilikischen Bogenschützen, der sich einen halbwegs sicheren Platz in der Spitze des Segelmastes des Piratenschiffes gesucht hatte. Der Bogenschütze achtete schon nicht mehr auf den Ruderer, sondern zielte bereits für seinen nächsten Schuss auf das Achterschiff. Arcelian erkannte zu seinem Schrecken, dass der Schütze sich den celeusta., der gerade im Begriff war, ein drittes Enterseil zu kappen, als nächstes Opfer ausgesucht hatte.
»Celeusta!«., brüllte der Ruderer.
Die Warnung erfolgte jedoch zu spät. Ein Pfeil bohrte sich tief in die Brust des kleinen Mannes. Der Trommler gab einen tiefen Stöhnlaut von sich und sackte auf die Knie, während ein Blutstrom seine gesamte Brust rot färbte. In einer letzten Demonstration von Gefolgschaftstreue holte er mit dem Beil aus, zerschnitt das Enterseil und stürzte dann leblos auf das Deck.
Das Schiff der Barbaren tauchte zunehmend tiefer ins Wasser und löste einen letzten Sturm auf die Galeere aus. Nur noch zwei Enterseile hielten die beiden Schiffe zusammen, was die Piraten bislang aber - bis auf den Bogenschützen — übersehen hatten. Immer noch auf seinem Platz in der Mastspitze ausharrend, zielte und schoss er abermals auf Arcelian und verfehlte ihn nur knapp.
Arcelian zog reflexartig den Kopf ein und sah gleichzeitig, dass sich die noch intakten Enterseile mittschiffs zwischen den beiden Rümpfen spannten, obwohl sich die beiden Schiffe am Heck berührten und das Kampfgeschehen sich nach achtern verlagert hatte. Der Ruderer ging auf alle viere hinunter und kroch unter der Reling bis zum ersten Enterseil. Ein sterbender Barbar — sein Bauch bestand aus einer einzigen blutigen Masse zerfetzten Fleisches - lag nicht weit entfernt. Der kräftige Ruderer erreichte ihn und wuchtete sich den Mann auf die Schulter, dann machte er kehrt und näherte sich dem Enterseil. In diesem Augenblick hörte er einen dumpfen Laut, begleitet von einem heftigen Stoß gegen seine Schulter, als sich ein Pfeil in den Rücken des Piraten bohrte. Mit der freien Hand schwang Arcelian das Schwert, holte aus und durchtrennte das Seil, während ein zweiter Pfeil in seinen menschlichen Schutzschild eindrang. Der Ruderer brach in die Knie, stieß den mittlerweile toten Barbaren von seiner Schulter und rang nach Atem.
Von seinen Anstrengungen nahezu vollkommen erschöpft, betrachtete Arcelian den letzten Enterhaken, der sich ein paar Meter über ihm in eine Rah gegraben hatte. Über die Reling hinweg entdeckte er den feindlichen Bogenschützen, der seinen Platz am Segelmast endlich verlassen hatte und nun aufs Deck hinabkletterte. Arcelian nutzte diese günstige Gelegenheit, sprang auf und rannte über das Galeerendeck und kletterte dort auf die Reling, wo sich das Enterseil zum Piratenschiff spannte. Um sein Gleichgewicht kämpfend, holte er mit dem Schwert zum entscheidenden Befreiungsschlag aus - doch dazu kam er nicht mehr.
Die Belastung des Seils durch die beiden auseinanderweichenden Schiffe war zu groß, und der Eisenhaken verlor den Halt am Mast. Die enorme Spannung des Seils beschleunigte den Haken wie ein Geschoss, und so wirbelte er in einem flachen Bogen zum Wasser hinab. Die messerscharfen Widerhaken pfiffen knapp an Arcelian vorbei und hätten ihm beinahe einen blutigen Abgang beschert. Doch das Seil schlang sich um seinen Oberschenkel, riss ihn von der Reling und schleuderte ihn dicht vor dem Bug des Piratenschiffes ins Meer.
Da er nicht schwimmen konnte, strampelte und ruderte Arcelian wie wild, um den Kopf weiter über Wasser zu halten. Verzweifelt um sich schlagend stieß er gegen etwas Hartes und klammerte sich mit beiden Händen daran fest. Es war ein Stück Holzreling des Piratenschiffes, das während der ersten Kollision mit der römischen Galeere herausgebrochen und groß genug war, um ihn nicht untergehen zu lassen. Plötzlich ragte das Piratenschiff mit dem blauen Segel über ihm auf, und er trat heftig mit den Beinen, um ihm aus dem Weg zu gehen. Dabei wurde er von der Galeere weiter abgetrieben, zumal er in eine Strömung geriet, gegen die er in seinem geschwächten Zustand nicht ankämpfen konnte. Mühsam wassertretend, um seine Position zu halten, verfolgte er mit weit aufgerissenen Augen, wie das Piratenschiff von einer Windböe erfasst und auf die Küste zugetrieben wurde. Dabei ragte das Deck nur noch wenig über die Wasseroberfläche hinaus.
Während das römische Schiff an Steuerbord durch Arcelian von den Enterhaken befreit worden war, hatten Vitellus und ein jüngerer Offizier die Enterseile an Backbord bis auf ein letztes in Hecknähe gelöst. Sich mit einem Pfeil in seiner Schulter schwer auf die Ruderpinne stützend machte sich der Kapitän durch laute Rufe beim Centurio auf dem benachbarten Schiff bemerkbar.
»Plautius«, rief er mit matter Stimme, »komm auf die Galeere zurück. Wir haben uns von den Piraten befreit!«
Der Centurio und seine Legionäre waren auf dem Piratenschiff immer noch in heftige Kämpfe verstrickt, obwohl die Anzahl der kampffähigen Männer stark geschrumpft war. Plautius zog sein bluttriefendes Schwert aus dem Hals eines Barbaren und blickte kurz zur Galeere hinüber.
»Bring die Fracht an ihr Ziel. Ich werde die Barbaren aufhalten«, rief er zurück und stieß sein Schwert in den Leib eines weiteren Angreifers. Nur noch drei Legionäre standen ihm zur Seite, und Vitellus konnte erkennen, dass sie sich nicht mehr lange auf den Beinen halten würden.
»Eure Tapferkeit und euer Mut werden nicht ungerühmt bleiben«, rief der Kapitän und durchtrennte die letzte Verbindung zwischen Galeere und Piratenschiff. »Lebewohl, Centurio!«
Befreit von dem Räuberschiff, das an seinem Steinanker festlag, vollführte die Galeere einen Satz vorwärts, als sich ihr einzelnes Segel schlagartig mit Wind füllte. Da der Gubernator schon lange den Tod gefunden hatte, bot Vitellus seine gesamte noch verbliebene Kraft auf, um das Schiff in Richtung Festland zu lenken. Dabei spürte er, wie der Griff der Ruderpinne von seinem eigenen Blut benetzt und glitschig wurde. Eine gespenstische Stille breitete sich auf dem Deck aus und brachte ihn dazu, zum Rand des Achterkastells zu stolpern. Was er unten erblickte, verschlug ihm jedoch den Atem.
Verstreut auf dem Deck lag eine Masse toter und zerfleischter Körper, Römer wie Barbaren, in einem roten Tümpel. Eine fast gleichgroße Anzahl von Angreifern und Mannschaftsmitgliedern hatte also bis zu einem tödlichen Unentschieden gegeneinander gefochten. Es waren die Überreste eines Gemetzels, wie er noch nie eines erlebt hatte.
Erschüttert von dem Anblick und geschwächt von seinem eigenen Blutverlust, schickte er einen flehenden Blick gen Himmel.
»Mögen die Götter das Schiff des Kaisers schützen«, röchelte er.
Schwankend kehrte er zum Heck zurück, schlang die Arme um die Ruderpinne und korrigierte ein letztes Mal ihre Stellung. Die Hilfeschreie der im Wasser treibenden Männer drangen zu ihm, doch der Kapitän hörte sie schon nicht mehr, während das Schiff an ihnen vorbei segelte. Mit leeren Blicken auf die vor ihm liegende Landmasse starrend hielt er mit seinen letzten Kraftreserven die Ruderpinne fest und kämpfte um die letzten Sekunden seines Lebens.
Im kabbeligen Wasser treibend sah Arcelian überrascht hoch, als sich die römische Galeere von ihrem Verfolger löste und plötzlich auf ihn zusteuerte. Laute Hilferufe ausstoßend verfolgte er in qualvoller Verzweiflung, wie die Galeere in tiefer Stille an ihm vorbeiglitt und ihn dabei vollkommen ignorierte. Nur einen kurzen Augenblick später bot sich das Schiff, da es drehte, seinem Blick im Profil dar - und er erkannte voller Grauen, dass nicht eine einzige lebende Seele auf dem Hauptdeck stand. Nur die einsame Gestalt von Kapitän Vitellus, zusammengesunken über der Ruderpinne auf dem erhöhten Schiffsheck, war zu sehen. Dann raschelten und knallten die Segel des Schiffes im Wind, die Galeere nahm zügig Fahrt in Richtung Küste auf und war schon bald nicht mehr zu sehen.
JUNI 1916 PORTSMOUTH, ENGLAND
Auf der Marinewerft herrschte trotz eines unangenehmen kalten Nieselregens hektische Betriebsamkeit. Schauerleute der Royal Navy hatten unter einem dampfgetriebenen Hafenkran alle Hände voll zu tun, riesige Mengen Lebensmittel und anderer Vorräte sowie Munition an Bord des grauen Schiffsriesen zu schaffen, der am Kai vertäut war. An Bord wurden die Kisten im vorderen Frachtraum säuberlich aufgestapelt, während ein Pulk Seeleute in dicken wollenen Kolanis das Schiff für die bevorstehende Reise klarmachte.
Obwohl sie seit mehr als zehn Jahren im Dienst war, und trotz ihres jüngsten Einsatzes während der Skagerrakschlacht zeichnete sich die HMS Hampshire durch extreme Sauberkeit und Gepflegtheit aus. Als Panzerkreuzer der Devonshire-Klasse war sie mit ihren an die zehntausend Bruttoregistertonnen eines der größten Schiffe der britischen Marine. Mit einem Dutzend schwerer Kanonen bestückt, stellte sie außerdem eins der tödlichsten dar.
In der offenen Tür eines leeren Lagerhauses etwa eine Viertelmeile den Kai hinunter stand ein Mann mit blonden Haaren und beobachtete durch ein Messingfernglas, wie das Schiff beladen wurde. Er hatte das Fernglas fast zwanzig Minuten lang vor den Augen, bis ein grüner Rolls-Royce erschien, den Kai überquerte und vor der Hauptgangway stoppte. Er verfolgte aufmerksam, wie eine Gruppe von Armeeoffizieren in Khakiuniformen wie aus dem Nichts erschien, den Wagen umringte und dann die Insassen die Gangway hinaufgeleitete. Ihrer Kleidung nach zu urteilen waren die beiden Ankömmlinge ein Politiker und ein hochrangiger Armeeoffizier. Er erhaschte einen kurzen Blick auf das Gesicht des Offiziers und lächelte zufrieden, als er sah, dass der Mann einen buschigen Schnurrbart hatte.
»Es wird Zeit, unsere Fracht abzuliefern, Dolly«, sagte er laut.
Dann trat er zurück in den Schatten, wo ein Gespann aus einem wettergegerbten Karren und einem gesattelten Pferd wartete. Er verstaute das Fernglas unter der Sitzbank, kletterte auf den Karren, ergriff die Zügel und ließ sie knallen. Dolly, eine alte scheckiggraue Stute, hob unwillig den Kopf, trottete dann los und zog den Karren in den Regen hinaus.
Die Dockarbeiter achteten kaum auf den Mann, als er ein paar Minuten später seinen Karren neben das Schiff lenkte. Bekleidet mit einer verblichenen Wolljacke und einer schmuddeligen Hose, eine flache Mütze tief in die Stirn gezogen, unterschied er sich kein bisschen von Dutzenden anderer einheimischer Sozialhilfeempfänger, die sich ihr Leben mit Gelegenheitsjobs ein wenig erträglicher machten. In diesem Fall war es eine einstudierte Rolle, perfektioniert durch den Verzicht auf eine Rasur und das Verteilen einer großzügigen Menge billigen Scotch Whiskys auf seiner Kleidung. Als der Zeitpunkt für seinen Auftritt gekommen war, machte er auf sich aufmerksam, indem er Dolly zum Ende der Gangway vorrücken ließ und dann den Zutritt versperrte.
»Schaff die Schindmähre aus dem Weg«, schimpfte ein rotgesichtiger Leutnant, der das Beladen des Schiffes überwachte.
»Ich habe eine Lieferung für die Hampshire«, knurrte der Mann im tiefsten Cockney-Slang.
»Dann zeig mal deine Papiere«, verlangte der Leutnant.
Der Spediteur griff in die Innentasche seiner Jacke und reichte dem Offizier ein zerknülltes, mit Wasserflecken übersätes Blatt Papier. Der Leutnant überflog es stirnrunzelnd, dann schüttelte er den Kopf.
»Das ist kein ordnungsgemäßer Frachtbrief«, stellte er fest und musterte den Karrenlenker prüfend.
»Das ist das, was der General mir gegeben hat. Das und einen Fünfer«, erwiderte der Mann mit einem Augenzwinkern.
Der Leutnant umrundete den Pferdekarren und betrachtete die Kiste, die etwa so groß war wie ein Sarg. Auf dem Deckel war mit schwarzer Farbe eine Adresse aufgepinselt worden.
PROPERTY OF THE ROYAL NAVY TO THE ATTENTION OF SIR LEIGH HUNT SPECIAL ENVOY TO THE RUSSIAN EMPIRE C/O CONSULATE OF GREAT BRITAIN PETROGRAD, RUSSIA
»Hmm«, murmelte der Offizier und sah wieder auf das Formular. »Nun, das ist die Unterschrift des Generals. Na gut«, sagte er und gab das Papier zurück. »Du da«, bellte er dann und winkte einem Dockarbeiter in der Nähe. »Hilf mal mit, diese Kiste an Bord zu bringen. Danach muss dieser Karren hier aber verschwinden.«
Stricke wurden um die Kiste geschlungen, danach hievte sie ein Schiffskran in die Luft, schwang sie über die Reling und ließ sie in den vorderen Frachtraum hinab. Der Spediteur verabschiedete sich von dem Leutnant, indem er einen militärischen Gruß imitierte, dann trieb er das Pferd vom Kai und aus dem Marinehafen. Nachdem er auf eine unbefestigte Straße abgebogen war, rollte er an einigen Lagerhäusern vorbei, die zum Hafen gehörten, und gelangte auf freies Ackerland. Knapp zwei Kilometer die Straße hinunter lenkte er den Karren in eine holprige Zufahrt und parkte den Pferdewagen neben einer windschiefen Hütte. Ein alter Mann, der auf einem Bein lahmte, kam aus einer nahen Scheune.
»Haben Sie Ihre Fracht abgeliefert?«, fragte er den Kutscher.
»Das habe ich. Vielen Dank für Ihren Wagen und Ihr Pferd«, erwiderte der Mann, zog eine Zehn-Pfund-Note aus seiner Brieftasche und reichte sie dem Bauern.
»Mit Verlaub, Sir, aber das ist viel mehr, als mein Pferd wert ist«, stammelte der Bauer und hielt den Geldschein in den Händen, als wäre er ein Baby.
»Und es ist ein wirklich gutes Pferd«, entgegnete der Mann und gab Dolly zum Abschied einen freundlichen Klaps auf den Hals. »Guten Tag«, sagte er zu dem Bauern, tippte gegen den Mützenschirm und ging dann die Zufahrt hinunter.
Er wanderte einige Minuten die Straße entlang, bis er das Motorengeräusch eines Automobils vernahm, das sich ihm näherte. Eine blaue Vauxhall Limousine bog um eine Ecke, bremste und blieb neben ihm stehen. Der Spediteur trat an den Straßenrand, als die hintere Tür der Limousine geöffnet wurde, und stieg ein. Ein würdevoll aussehender Mann im Habit eines anglikanischen Priesters rutschte über die Sitzbank, um dem neuen Fahrgast Platz zu machen. Er musterte den Spediteur mit einem gespannten Ausdruck in seinen mattgrauen Augen, dann griff er nach einer Brandykaraffe, die sich in der Halterung an der Rückenlehne des Vordersitzes befand. Nachdem er eine großzügige Menge in ein Kristallglas geschüttet hatte, reichte er dem Spediteur das Glas, dann gab er dem Chauffeur Anweisungen, die Fahrt fortzusetzen.
»Ist die Kiste an Bord?«, fragte er ohne Umschweife.
»Ja, Vater«, antwortete der Spediteur mit einem Unterton spöttischer Ehrerbietung. »Sie haben den gefälschten Frachtbrief akzeptiert und die Kiste in den vorderen Frachtraum geladen.« Von einem Cockney-Akzent war in seinen Worten jetzt nichts mehr zu hören. »In zweiundsiebzig Stunden können Sie Ihrem glorreichen General Lebewohl sagen.«
Die Worte schienen den Vikar zu schmerzen, obgleich sie ihm mitteilten, was er hören wollte. Stumm griff er in seinen Mantel und holte einen Briefumschlag hervor, der mit Banknoten prall gefüllt war.
»Wie wir vereinbart haben. Die eine Hälfte jetzt, die andere Hälfte nachdem... es passiert ist«, sagte er und gab den Briefumschlag weiter, während seine Stimme versiegte.
Der Spediteur lächelte, als er den dicken Stapel Banknoten betrachtete. »Ich frage mich, ob die Deutschen so viel bezahlen würden, um ein Schiff zu versenken und einen General zu ermorden«, sagte er. »Sie arbeiten nicht zufällig für den Kaiser, oder?«
Der Geistliche schüttelte heftig den Kopf. »Nein, dies alles ist eine rein theologische Angelegenheit. Wenn Sie das Dokument gefunden hätten, wäre all das gar nicht nötig gewesen.«
»Ich habe das Haus dreimal durchsucht. Wenn es dort gewesen wäre, hätte ich es sicher gefunden.«
»Das haben Sie mir bereits gesagt.«
»Sind Sie auch sicher, dass es an Bord gebracht wurde?«
»Wir haben von einem geplanten Treffen zwischen dem General und dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche in Petersburg erfahren. Was den Zweck dieser Zusammenkunft betrifft, so dürfte es wohl kaum irgendwelche Zweifel geben. Das Dokument muss an Bord sein. Es wird mit ihm zusammen vernichtet, und so wird das Geheimnis ein für alle Mal sterben.«
Die Reifen des Vauxhall rollten quietschend über nasses Kopfsteinpflaster, als sie die Außenbezirke von Portsmouth erreichten. Der Chauffeur wollte ins Stadtzentrum und passierte auf diesem Weg lange Reihen von hohen Klinkerbauten. An einer Kreuzung zweier Hauptstraßen bog er in die hintere Zufahrt einer im neunzehnten Jahrhundert erbauten Kirche mit dem Namen St. Mary's ein, während der Regen an Heftigkeit zunahm.
»Es wäre nett, wenn Sie mich am Bahnhof absetzen könnten«, sagte der Spediteur, als er feststellte, dass die große Limousine über einen kleinen Friedhof neben der Kirche rollte und hinter der Sakristei stoppte.
»Ich wurde gebeten, den Text für eine Predigt hier abzugeben«, erwiderte der Geistliche. »Es dauert nur einen Augenblick. Wollen Sie nicht kurz mitkommen?«
Der Spediteur unterdrückte ein Gähnen, während er aus dem regennassen Fenster schaute. »Nein, ich glaube, ich bleibe lieber hier im Trocknen.«
»Wie Sie wollen. Wir sind gleich wieder da.«
Der Geistliche und der Chauffeur entfernten sich und gaben dem Spediteur Gelegenheit, sein Blutgeld zu zählen. Als er versuchte, die einzelnen Bank-von-England-Scheine zu addieren, hatte er plötzlich Schwierigkeiten, die Zahlen zu lesen, und stellte fest, dass vor seinen Augen alles verschwamm. Ihn überkam eine plötzliche Müdigkeit, dann steckte er das Geld ein und streckte sich auf dem Rücksitz aus, um sich auszuruhen. Auch wenn es ihm wie mehrere Stunden vorkam, waren doch nur ein paar Minuten verstrichen, als kaltes Wasser in sein Gesicht spritzte und er mühsam die Augen aufschlug. Das ernste Gesicht des Geistlichen schaute inmitten eines Regenschauers auf ihn herab. Sein Gehirn sagte ihm, dass sich sein Körper bewegte, und doch hatte er kein Gefühl in den Beinen. Immerhin schaffte er es, seinen Blick so weit zu schärfen, um zu erkennen, dass der Fahrer seine Beine trug, während der Geistliche ihn an den Armen schleppte. Ein Paniksignal hallte durch seinen Schädel, und er konzentrierte seinen Willen darauf, eine Webley-Bulldog-Pistole aus der Tasche zu holen. Aber seine Gliedmaßen gehorchten nicht. Der Brandy, dachte er in einem Anflug plötzlicher Klarheit. Es war der Brandy.
Ein Baldachin aus grünem Laub füllte sein Gesichtsfeld, als er durch einen Wald hoch aufragender Eichen getragen wurde. Das Gesicht des Geistlichen schwebte immer noch über ihm, eine düstere Maske tiefster Gleichgültigkeit, lediglich durch zwei eisige Augen erhellt. Dann sackte das Gesicht weg, oder genauer: Er sackte weg. Mehr als er spüren konnte, hörte er, wie sein Körper in einen Graben fiel und in einer Schlammpfütze landete. Flach und starr auf dem Rücken liegend blickte er zu dem Geistlichen hoch, der sich mit einer Miene über ihn beugte, die einen Anflug von Schuld ausdrückte.
»Vergib uns unsere Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, hörte er die ernste Stimme des Geistlichen sprechen. »Sie sind es, die wir hier zu Grabe tragen.«
Die Rückseite einer Schaufel erschien, gefolgt von einem Klumpen feuchter Erde, der auf seine Brust prallte und zerplatzte. Eine weitere Schaufel voller Erde regnete auf ihn herab, dann eine dritte.
Sein Körper war gelähmt, und seine Stimme versagte, doch sein Geist war hellwach und erkannte, was mit ihm geschah. Mit wachsendem Grauen begriff er, dass er lebendig begraben wurde. Er sandte seinen Gliedmaßen Befehle, sich zu bewegen, sich zu wehren, doch sie reagierten nicht. Während sich sein Grab stetig mit Erde füllte, hallten seine Entsetzensschreie nur in seinem Geist wider, bis sein letzter Atemzug qualvoll erstickt wurde.
Das Periskop glitt in einem weiten Bogen durch die schäumenden dunklen Fluten und war unter dem nächtlichen Himmel gar nicht zu sehen. Gut zehn Meter unter der Wasseroberfläche drehte ein milchgesichtiger Oberleutnant der deutschen Marine namens Voss das Okular um dreihundertsechzig Grad. Für einen kurzen Moment blieb sein Blick an ein paar funkelnden Lichtpunkten in größerer Entfernung hängen. Sie stammten von den Laternen einiger Bauernhäuser, die auf Cape Marwick standen, einem eisigen, windumtosten Teil der Orkneys. Voss hatte seine Rundumsicht fast beendet, als er ein mattes Leuchten am östlichen Horizont wahrnahm. Während er die Scharfeinstellung ständig nachjustierte, konnte er feststellen, dass es sich um ein Licht handelte, das einem stetigen Kurs folgte.
»Mögliches Zielobjekt bei Null-vier-acht Grad«, verkündete er und hatte Mühe, die Erregung in seiner Stimme zu unterdrücken.
Mehrere andere Matrosen, die im engen Kontrollraum des Unterseeboots ihren Dienst versahen, wurden bei seinen Worten sichtlich munterer.
Voss verfolgte das Objekt mehrere Minuten lang, in deren Verlauf ein Viertelmond kurz durch eine Lücke in einer dichten Bank schwerer Sturmwolken schien. Für einen winzigen Moment wurde das Mondlicht von dem Objekt reflektiert, so dass seine Dimensionen vor den Inselbergen im Hintergrund zu erkennen waren. Voss spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und seine Handflächen an den Periskopgriffen schweißnass wurden. Er blinzelte heftig, vergewisserte sich, dass ihm seine Augen kein Trugbild vorgaukelten, und richtete sich dann auf. Ohne ein weiteres Wort verließ er hastig den Kontrollraum und eilte durch den engen Laufgang, der sich über die gesamte Länge des U-Boots erstreckte. Er erreichte die Kapitänskabine, klopfte laut an und schob dann einen dünnen Vorhang zur Seite.
Kapitän Kurt Beitzen lag schlafend in seiner Koje, wachte jedoch sofort auf und knipste eine Deckenlampe an.
»Herr Kapitän, ich habe soeben ein großes Schiff gesichtet, das sich von Südosten nähert, Entfernung circa zehn Kilometer. Dem Profil nach, das ich für einen kurzen Moment erkennen konnte, dürfte es ein britisches Kriegsschiff sein, möglicherweise sogar ein Schlachtschiff«, meldete er aufgeregt.
Beitzen nickte, während er sich aufsetzte und eine Decke zur Seite schleuderte. Er hatte in seiner Uniform geschlafen, schlüpfte schnell in ein Paar Schuhe und folgte seinem zweiten Offizier dann in den Kontrollraum. Beitzen war ein erfahrener U-Boot-Kommandant, blickte lange durch das Periskop und ratterte Entfernungs- und Kurskoordinaten herunter.
»Es ist ein Kriegsschiff«, bestätigte er betont lässig. »Ist dieser Quadrant minenfrei?«
»Jawohl«, antwortete Voss. »Die letzte Mine haben wir dreißig Kilometer weiter nördlich abgesetzt.«
»Dann bereithalten für den Angriff«, befahl Beitzen.
Beitzen und Voss traten an einen hölzernen Kartentisch, wo sie einen genauen Abfangkurs berechneten und dem Steuermann entsprechende Befehle übermittelten. Obwohl auf Tauchfahrt, wurde das U-Boot von der bewegten See über sich hin und her geworfen, was die bevorstehende Aufgabe erheblich erschwerte.
In einer der Hamburger Werften gebaut, war das U-75 ein U-Boot der UE I-Klasse und dafür konstruiert, Minen auf dem Meeresgrund abzusetzen. Außer einem umfangreichen Vorrat an Seeminen verfügte das Boot über vier Torpedos und eine leistungsfähige 105mm-Kanone auf dem Deck. Der Minenlege-Dienst war nahezu abgeschlossen, und niemand von der Mannschaft erwartete den Zusammenstoß mit einem feindlichen Kriegsschiff.
Das U-75 befand sich erst auf seiner zweiten Mission unter Beitzens Kommando, seit es ein halbes Jahr zuvor in Dienst gestellt worden war. Die augenblickliche Fahrt konnte bereits als erfolgreich gewertet werden, da die Minen des U-Boots ein kleines Handelsschiff und zwei Trawler versenkt hatten. Dies war jedoch ihre erste Chance auf eine fettere Beute. Schnell verbreitete sich bei der Mannschaft die Nachricht, dass sie es auf ein britisches Kriegsschiff abgesehen hatten, wodurch die allgemeine Anspannung schlagartig zunahm. Beitzen wusste, dass ein solcher Abschuss mit einem Eisernen Kreuz belohnt werden würde.
Der deutsche Kommandant lenkte das U-Boot in eine Position direkt vor Cape Marwick. Wenn das Kriegsschiff seinen Kurs beibehielt, würde es das in Lauerstellung befindliche U-Boot in einem Abstand von knapp fünfhundert Metern passieren. Die Torpedos des U-Boots waren bis auf eine Entfernung von höchstens achthundert Metern einigermaßen zielgenau, was eine ungemütliche nahe Abschussposition erforderlich machte. Während des Ersten Weltkriegs wurden die meisten Handelsschiffe mit Hilfe der Deckskanonen der U-Boote versenkt. Dem U-75 blieb diese Möglichkeit gegen den schwerbewaffneten Kreuzer jedoch versagt, vor allem bei der augenblicklich recht rauen See.
In Position für den tödlichen Schuss, klebte der Kapitän geradezu am Periskop und wartete auf seine Beute. Ein weiterer Strahl Mondlicht, der durch die Wolkendecke drang, enthüllte, dass der Oberleutnant mit seiner Einschätzung fast genau ins Schwarze getroffen hatte. Das feindliche Schiff war offenbar ein Panzerkreuzer und ein wenig kleiner als die furchteinflößenden Dreadnoughts.
»Rohr eins und zwei bereithalten für Abschuss«, befahl Beitzen.
Der Kreuzer war nur noch gut einen Kilometer entfernt, seine enorme Masse verdeckte bereits den Horizont. Eilig überprüfte Beitzen die Zieleinstellung der Torpedos und fasste seine Beute wieder ins Auge. Das Schiff näherte sich schnell dem Operationsbereich ihrer Torpedos.
»Bugklappen öffnen«, befahl er.
Ein paar Sekunden später drang eine Rückmeldung aus dem Lautsprecher im Kontrollraum: »Bugklappen geöffnet.“
»Rohre eins und zwei für Abschuss bereithalten.“
»Bereit«, kam die Bestätigung.
Beitzen verfolgte den Kurs des Kreuzers im Periskop und wartete geduldig, während die Mannschaft nahezu geschlossen den Atem anhielt. Er beobachtete, wie der Kreuzer direkt vor ihnen erschien. Beitzen holte kurz Luft und öffnete den Mund, um das Kommando zum Feuern zu geben, als ein greller Lichtblitz das Okular des Periskops ausfüllte. Eine Sekunde später erklang eine gedämpfte Explosion, deren Druckwelle den Stahlkörper des Minen-U-Boots durchschüttelte.
Entgeistert starrte Beitzen durch das Periskop, als Flammen und Rauchwolken aus dem Kreuzer schlugen und den nächtlichen Himmel dunkelrot färbten. Das große Kriegsschiff erschauerte und schüttelte sich, und dann tauchte sein Bug tief in die Wellen ein. Das Heck stieg steil in die Höhe, verharrte für einige Sekunden in dieser Position und drückte schließlich den Bug in Richtung Meeresgrund. Nach weniger als zehn Minuten war von dem riesigen Kreuzer nichts mehr zu sehen.
»Voss... sind Sie ganz sicher, dass in diesem Quadranten keine Minen abgesetzt wurden?«, fragte er heiser.
»Ich bin mir ganz sicher«, erwiderte der Offizier und zog noch einmal die Karte zu Rate, auf der die verschiedenen Minenfelder eingezeichnet waren.
»Sie ist weg«, murmelte Beitzen schließlich und sah die Männer im Kontrollraum, die auf seine Befehle warteten, ein wenig ratlos an. »Bugklappen schließen und Gefechtsbereitschaft beenden.«
Während die enttäuschte Mannschaft ihren Routinedienst wieder aufnahm, blieb der Kapitän am Periskop und starrte weiterhin durch das Okular. Eine Handvoll Überlebende hatte in Rettungsbooten Zuflucht gefunden, aber bei dem heftigen Seegang gab es nichts, was der deutsche U-Boot-Kapitän hätte tun können, um ihnen zu helfen. Während er die leere schwarze See um das U-Boot herum betrachtete, suchte er fieberhaft nach einer Erklärung für das soeben Erlebte. Aber keine noch so gewagte Theorie ergab einen Sinn. Kriegsschiffe explodierten nun mal nicht von selbst.
Es dauerte eine Weile, bis sich Beitzen vom Periskop losriss und schweigend zu seiner Kabine trottete. Da ihm die Mächte des Schicksals einen baldigen Heldentod bescherten, sollte er nie erfahren, weshalb die Hampshire vor seinen Augen in die Luft geflogen war. Doch bis zu seinem Tod konnte der junge Kapitän das Bild von den letzten Minuten des Kreuzers, in denen das riesige Kriegsschiff scheinbar völlig grundlos untergegangen war, nicht aus seinem Gedächtnis verdrängen.
TEIL I
JULI 2012 KAIRO, ÄGYPTEN
1
Die Mittagssonne brannte durch die dichte Schicht aus Staub und Abgasen, die wie eine schmuddelige Decke auf der alten Metropole lag. Bei Temperaturen von über fünfunddreißig Grad Celsius schlenderten nur wenige Besucher über die heißen Steine, mit denen der mittlere Innenhof der Al-Azhar-Moschee gepflastert war.
Im östlichen Teil Kairos und gut drei Kilometer vom Nil entfernt gelegen, ist die Al-Azhar-Moschee eines der wichtigsten historischen Bauwerke der Stadt. Im Jahr 970 von fatimidischen Eroberern errichtet, wurde die Moschee im Laufe der Jahrhunderte immer wieder renoviert und vergrößert und erlangte schließlich den Status als fünftwichtigste Moschee des Islam. Kunstvolle Steinreliefs, hoch aufragende Minarette und Türme mit zwiebeiförmigen Dächern buhlten um die Aufmerksamkeit der Besucher und gaben Zeugnis von tausend Jahren höchster Baukunst. Umgeben von festungsartigen Steinmauern, war der Mittelpunkt der Anlage ein großzügiger rechteckiger Innenhof, der auf allen Seiten von ansteigenden Arkaden eingerahmt wurde.
Im Schatten eines Säulenbogens stand ein schmächtiger Mann in ausgebeulter Hose und weit geschnittenem Hemd, polierte die Gläser einer Sonnenbrille und inspizierte dann den Innenhof. Wegen der Tageshitze waren nur wenige junge Leute zugegen und studierten die Architektur oder spazierten stumm meditierend umher. Vorwiegend waren es Studenten der angeschlossenen Al-Azhar-Universität, einer herausragenden Institution für islamisches Wissen im Nahen Osten. Der Mann strich sich durch einen dichten Bart, der sein jugendliches Gesicht verhüllte, dann schwang er sich einen abgetragenen Rucksack auf die Schulter. Mit einer weißen Kufiya um den Kopf unterschied er sich kaum von den Theologiestudenten in der Moschee.
Er trat ins Sonnenlicht und ging über den Hof zum östlichen Säulengang. Die Fassade über den kielförmigen Rundbögen bestand aus einer Reihe verschnörkelter Girlanden und anderer Verzierungen im Stuck, die, wie er bemerkte, von einigen der zahlreichen Tauben, die diesen heiligen Ort bevölkerten, als Schlafplätze genutzt wurden. Er steuerte auf einen leicht vorgeschobenen Rundbogen in der Mitte des Säulengangs zu, über dem sich eine größere rechteckige Fläche mit arabischen Schriftzeichen befand, die den Eingang zur Gebetshalle markierte.
Der Ruf zum mittäglichen salat, dem fünfmal am Tag vorgeschriebenen Gebet, war vor fast einer Stunde erfolgt, daher war die weitläufige Gebetshalle im Augenblick nahezu menschenleer. Draußen in der Vorhalle saß eine kleine Gruppe Studenten mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden und lauschte einem Universitätsdozenten, der gerade einen Vortrag über den Koran hielt. Der schmächtige Mann umrundete die Gruppe und näherte sich dem Eingang zur Halle. Dort erwartete ihn ein bärtiger Mann in weißem Gewand, der ihn prüfend musterte. Der Besucher zog die Schuhe aus, erbat leise murmelnd den Segen Mohammeds für sich und ging nach einem Kopfnicken des Türstehers weiter.
Die Gebetshalle bestand aus einer weiten, mit rotem Teppich bedeckten Fläche, die von Dutzenden von Alabastersäulen unterbrochen wurde, die eine Balkendecke stützten. Kuppeiförmige Muster im Teppich, die jeweils einen individuellen Gebetsplatz markierten, deuteten zur Vorderseite der Halle. Als er feststellte, dass der bärtige Türsteher nicht mehr auf ihn achtete, entfernte sich der Mann schnell und verschwand zwischen den Säulen.
Während er sich mehreren Männern näherte, die ins Gebet versunken auf dem Teppich knieten, entdeckte er die Mihrab am Ende der Halle. Es war die in jeder Moschee vorhandene Wandnische, die die Gebetsrichtung nach Mekka anzeigte. Die Mihrab der Al-Azhar-Moschee bestand aus poliertem Marmor und war von einem beinahe modern anmutenden, in sich verschlungenen Mosaik umgeben, das schwarz und elfenbeinfarben gearbeitet war.
Der Mann ging zu einer Säule in nächster Nähe der Mihrab, nahm den Rucksack ab und streckte sich auf dem Teppich aus, um zu beten. Nach mehreren Minuten schob er den Rucksack zur Seite, bis er gegen die Basis der Säule stieß. Als er zwei Studenten beobachtete, die in Richtung Ausgang gingen, erhob er sich und folgte ihnen in die Vorhalle, wo er seine Schuhe anzog. Während er anschließend an dem bärtigen älteren Aufpasser vorbeiging, murmelte er ein andächtiges »Allahu Akbar« und verschwand dann schnell weiter in den Innenhof.
Er tat so, als würde er für einen Augenblick eine Rosette in der Fassade bewundern, dann lenkte er seine Schritte schnell zum Bab el-Muzaiyni, dem Tor des Friseurs, durch das er das Moscheegelände wieder verließ. Ein paar Straßen weiter stieg er in einen kleinen Mietwagen, der am Bordstein parkte, und fuhr in Richtung Nil. In einem schmuddeligen Industriebezirk bog er auf das Grundstück einer stillgelegten und allmählich verfallenden Ziegelei ab und lenkte den Wagen hinter die verlassene Laderampe. Dort zog er die ausgebeulte Hose und das weite Oberhemd aus, und zum Vorschein kamen eine Jeans und eine Seidenbluse. Die Sonnenbrille wurde abgenommen, desgleichen eine Perücke und der falsche Bart. Den muslimischen Studenten gab es nicht mehr. Ersetzt wurde er durch eine attraktive, dunkelhäutige Frau mit harten dunklen Augen und modisch frisiertem, kurzem und schwarzem Haar. Nachdem sie ihre Verkleidung in eine verrostete Mülltonne gestopft hatte, stieg sie wieder in den Wagen, fädelte sich in den schleppenden dichten Verkehr Kairos ein und rollte im Kriechtempo vom Nilufer zum Internationalen Flughafen auf der nordöstlichen Seite der Stadt.
Sie stand in der Schlange vor dem Check-in-Schalter, als der Rucksack explodierte. Eine kleine weiße Qualmwolke stieg über der Al-Azhar-Moschee auf, als das Dach der Gebetshalle wegflog und die Mihrab unter einem Trümmerhaufen verschüttet wurde. Obwohl der Zeitzünder der Bombe auf eine Uhrzeit zwischen den täglichen Gebeten eingestellt war, kamen mehrere Studenten und Moscheebesucher ums Leben, und Dutzende andere Menschen wurden verletzt.
Nachdem der erste Schock abgeebbt war, reagierte die Muslimische Gemeinschaft Kairos mit einem Aufschrei der Entrüstung. Zuerst wurde Israel der Urheberschaft beschuldigt, dann aber, als niemand bereit war, die Verantwortung für diesen Anschlag zu übernehmen, hat man andere westliche Nationen als mögliche Täter genannt. Innerhalb von wenigen Wochen wurde die Gebetshalle wieder aufgebaut und eine neue Mihrab angelegt. Doch für die Muslime in Ägypten und überall auf der ganzen Welt dauerte die Empörung über das Attentat an einem derart heiligen Ort noch lange an. Nur wenige erkannten jedoch, dass diese Attacke lediglich der erste Schritt in einem raffinierten Komplott war, um die Machtverhältnisse in dieser Region völlig auf den Kopf zu stellen.
2
»Nimm das Messer und schneid es frei.«
Ein wütender Ausdruck glitt über die Miene des Fischers, als er seinem Sohn ein rostiges Messer mit sägezahnartiger Klinge reichte. Der halbwüchsige Junge zog sich bis auf seine Shorts aus, dann sprang er vom Boot ins Wasser, das Messer in einer Hand.
Vor fast zwei Stunden hatten sich die Fangnetze des Fischerboots auf dem Meeresgrund verhakt, sehr zur Überraschung der Fischers, der schon oft seine Netze durch diese Gewässer geschleppt hatte, jedes Mal ohne Schwierigkeiten. Er fuhr mit dem Boot hin und her, immer in der Hoffnung, die Netze frei zu bekommen, und stieß dabei laute Flüche aus, während die Wut über die Erfolglosigkeit seiner Versuche zunahm. So sehr er sich auch bemühte, die Netze hingen fest. Es wäre ein ziemlich hoher Verlust gewesen, einen Teil seiner Netze abzuschneiden, doch der Fischer kannte dieses Berufsrisiko, nahm es widerspruchslos hin und schickte seinen Sohn über Bord.
Obwohl an der Oberfläche starker Wind wehte, war die östliche Ägäis warm und klar, und bei zehn Metern Wassertiefe konnte der Junge schwach den Meeresgrund erkennen. Doch er war tiefer, als er ohne Hilfsmittel tauchen konnte, daher unterbrach er seinen Abstieg und begann, die in die Tiefe hängenden Netze mit seinem Messer zu attackieren. Er musste mehrere Tauchgänge absolvieren, ehe der letzte Faden durchgeschnitten war. Dann ließ er sich mit dem restlichen Netz nach oben ziehen und tauchte erschöpft und völlig außer Atem auf. Immer noch verärgert über den Verlust, wendete der Fischer sein Boot und nahm Kurs auf Chios, eine griechische Insel dicht vor der türkischen Küste, die in nicht allzu weiter Entfernung aus den azurblauen Fluten ragte.
Etwa eine Viertelmeile weiter draußen auf dem Meer beobachtete ein Mann neugierig das Missgeschick des Fischers. Sein Körperbau, hochgewachsen und schlank, verriet Kraft und Ausdauer, und seine Haut war nach Jahren in der Sonne tief gebräunt. Er ließ das altmodische Messingfernrohr sinken, und zum Vorschein kam ein Paar seegrüner Augen, die von wacher Intelligenz funkelten. Es waren nachdenkliche Augen, abgehärtet durch den wiederholten Anblick von Elend und Tod, jedoch ständig zu einem befreienden Lächeln bereit. Er fuhr sich mit den Fingern durch dichtes schwarzes Haar, das mit grauen Strähnen durchsetzt war, und dann betrat er die Kommandobrücke des Forschungsschiffes Aegean Explorer.
»Rudi, wir haben doch bis jetzt schon eine ziemlich große Fläche Meeresgrund zwischen dieser Stelle und Chios abgesucht, nicht wahr?«, fragte er.
Ein schmächtiger Mann mit einer Hornbrille, der vor einem Computermonitor saß, blickte auf und nickte.
»Ja, das letzte Rasterfeld befand sich knapp eine Meile vor der Ostküste. Da die griechische Insel weniger als fünf Meilen vor dem türkischen Festland liegt, kann ich nicht einmal mit Sicherheit sagen, in wessen Gewässern wir zurzeit operieren. Wir hatten etwa neunzig Prozent unseres Rasters abgeschlossen, als am hinteren Sensor unseres AUV eine Dichtung riss und Salzwasser eindrang. Wir werden mindestens noch zwei weitere Stunden verlieren, während unsere Techniker den Schaden reparieren.«
Das Autonomous Underwater Vehicle, kurz AUV, war ein torpedoförmiger Roboter, vollgepackt mit modernster Sensorelektronik, der vom Forschungsschiff zu Wasser gelassen wurde. Mit einem eigenen Antrieb und einem vorprogrammierten Suchraster versehen, kreuzte das AUV über dem Meeresgrund und sammelte Daten, die in regelmäßigen Zeitabständen paketweise an das Forschungsschiff gesendet wurden.
Rudi Gunn beugte sich wieder über sein Keyboard und bearbeitete die Tasten. Wer ihn in seinem zerfledderten T-Shirt und den karierten Shorts sah, hätte niemals angenommen, dass er den Posten des Stellvertretenden Direktors der National Underwater and Marine Agency bekleidete, jener berühmten Regierungsorganisation, zu deren Hauptaufgaben auch wissenschaftliche Untersuchungen der Weltmeere gehörten. Normalerweise war Gunn ausschließlich in der NUMA-Zentrale in Washington anzutreffen und nicht an Bord eines der türkisfarbenen Forschungsschiffe, die die Agentur einsetzte, um Informationen über Meeresflora und -fauna, über Meeresströmungen, Wetterverhältnisse und Umweltverschmutzung zu sammeln. Einerseits ein erfahrener und fähiger Verwaltungsfachmann, genoss er es andererseits, der hybriden Hauptstadt der Nation gelegentlich zu entfliehen und praktische Arbeit zu leisten, vor allem wenn sein Chef ebenfalls die Flucht ergriff.
»Wie sehen die Bodenkonturen in diesen Untiefen aus?«
»So wie überall im Bereich der hiesigen Inseln. Ein sanft abfallendes Riff erstreckt sich einige Meilen weit ins Meer, ehe es abrupt abbricht und sich in einigen tausend Fuß Tiefe verliert. In unserer jetzigen Position haben wir einhundertzwanzig Fuß Wasser unterm Kiel. Soweit ich mich erinnern kann, haben wir hier vorwiegend sandigen Meeresboden mit nur wenigen Hindernissen.«
»Genau das hatte ich mir auch schon gedacht«, erwiderte der Mann mit strahlenden Augen.
Gunn fing den Blick auf und sagte: »Ich sehe geradezu vor mir, wie im Kopf meines Chefs ein hinterhältiger Plan Gestalt annimmt.«
Dirk Pitt lachte. Als Direktor der NUMA hatte er Dutzende von Unterwasseruntersuchungen geleitet, und das teilweise mit bemerkenswerten Ergebnissen. Vom Heben der Titanic bis zur Entdeckung der verschollenen Schiffe der Franklin-Expedition zum Nordpol, hatte Pitt eine geradezu unheimliche Fähigkeit, die Geheimnisse der Tiefsee zu entschlüsseln. Mit einem ausgeprägten Selbstvertrauen und einer unstillbaren Neugier gesegnet, war er schon in jungen Jahren vom Meer fasziniert gewesen. Die Verlockung ließ niemals nach und sorgte dafür, dass die NUMA-Zentrale in Washington mit einiger Regelmäßigkeit auf seine Anwesenheit verzichten musste.
»Es ist eine wohlbekannte Tatsache«, sagte er fröhlich, »dass die meisten küstennahen Schiffswracks von den Netzen örtlicher Fischer gefunden werden.«
»Schiffswracks?«, erwiderte Gunn. »Soweit ich mich erinnere, hat uns die Regierung der Türkei gebeten, die Auswirkungen des verstärkten Algenwuchses in ihren Küstengewässern zu untersuchen. Davon, dass wir nach irgendwelchen Wracks Ausschau halten sollen, war niemals die Rede.«
»Ich nehm sie eben immer so, wie sie auf mich zukommen«, meinte Pitt lächelnd.
»Na ja, zurzeit können wir sowieso nicht viel tun. Soll ich das ROV auf die Reise schicken?«
»Nein, die Netze unseres Fischers haben sich in leicht erreichbarer Tauchtiefe verfangen.«
Gunn sah auf seine Uhr. »Ich dachte, du wolltest in zwei Stunden aufbrechen, um das Wochenende mit deiner Frau in Istanbul zu verbringen?«
»Da bleibt mir doch mehr als genug Zeit«, sagte Pitt grinsend, »für einen schnellen Tauchgang auf der Fahrt zum Flughafen.«
»Dann heißt das wohl«, erwiderte Gunn mit einem resignierenden Kopfschütteln, »dass ich Al wecken muss.«
Zwanzig Minuten später warf Pitt eine Reisetasche in ein Zodiac, das neben der Aegean Explorer auf den Wellen tanzte, dann stieg er über die Klappleiter zum Boot hinunter. Während er Platz nahm, schob ein kleiner, athletisch gebauter Mann am Heck den Gashebel eines kleinen Außenbordmotors nach vorn, und das Schlauchboot sprang vom Schiff weg.
»Wo gehen wir runter?«, rief Al Giordino, während die letzten Reste Schlaf, die noch von der Nachmittagssiesta herrührten, aus seinen dunkelbraunen Augen wichen.
Pitt hatte sich mit Hilfe mehrerer Landmarken auf der benachbarten Insel orientiert und den Kurs festgelegt. Indem er Giordino in einem bestimmten Winkel zur Küste dirigierte, fuhren sie nur ein kurzes Stück, bevor Pitt befahl, den Motor zu stoppen. Dann warf er einen kleinen Anker vom Bug und fixierte die Leine, als sie schlaff wurde.
»Nur knapp über hundert Fuß«, stellte er fest, als er den roten Streifen an der Leine dicht unter der Wasseroberfläche gewahrte.
»Und was erwartest du da unten zu finden?«, fragte Giordino.
»Alles — von einem Haufen Steine bis hin zur Britannic«, erwiderte Pitt und erinnerte an das Schwesterschiff der Titanic, das während des Ersten Weltkriegs durch eine Mine im Mittelmeer versenkt wurde.
»Ich würde auf den Haufen Steine wetten«, sagte Giordino und schlüpfte in einen blauen Nasstauchanzug, dessen Nähte durch seine athletischen Schultern und Oberarme beinahe gesprengt wurden.
Tief in seinem Innern wusste Giordino, dass auf dem Meeresboden etwas viel Interessanteres wartete als nur ein paar große Felsen. Zu viel hatte er mit Pitt erlebt, um den offensichtlichen sechsten Sinn seines Freundes, wenn es um das Aufspüren von Unterwassergeheimnissen ging, in Zweifel zu ziehen. Die beiden waren seit ihrer Kindheit befreundet und in Südkalifornien aufgewachsen, wo sie vor Laguna Beach zusammen das Tauchen erlernt hatten. Während sie bei der Air Force dienten, hatten sie zusammen ein kurzes Gastspiel bei einer frischgebackenen neuen Regierungsabteilung absolviert, die sich dem eingehenden Studium der Ozeane widmete. Eine Menge Projekte und Abenteuer später leitete Pitt nun die um einiges vergrößerte Agentur namens NUMA, während ihm Giordino als Chef der Abteilung für Unterwasser-Technologie assistierte.
»Ich denke, wir sollten das Gelände in einem größeren Umkreis um die Ankerleine absuchen«, schlug Pitt vor, während sie sich die Atemgeräte auf den Rücken schnallten. »Wenn mich nicht alles täuscht, muss sich das Netz des Fischers von uns aus gesehen an einem Punkt verhakt haben, der näher an der Küste liegt.«
Giordino nickte, dann schob er sich den Atemregler zwischen die Zähne und ließ sich vom Randwulst des Zodiac rückwärts ins Wasser kippen. Pitt folgte ihm eine Sekunde später, und die beiden Männer sanken an der Ankerleine entlang hinab auf den Meeresgrund.
Das blaue Wasser des Ägäischen Meeres war erstaunlich klar, und Pitt konnte mehr als fünfzig Fuß weit sehen. Während sie sich dem Meeresgrund näherten, stellte er zufrieden fest, dass der Boden nahezu ausschließlich mit Geröll und Sand bedeckt war. Gunns Einschätzung traf zu. In dieser Region gab es offensichtlich keine natürlichen Hindernisse.
Die beiden Männer gingen über dem Meeresboden ein wenig auf Distanz zueinander und schwammen in einem weiten Bogen um die Ankerleine herum. Ein kleiner Schwärm Zackenbarsche zog an ihnen vorbei, beäugte die Taucher jedoch argwöhnisch, ehe er sich eilig in tiefere Gefilde verzog. Während sie in Richtung Chios paddelten, bemerkte Pitt, dass ihm Giordino zuwinkte. Indem er mit den Beinen einen kräftigen Scherenschlag ausführte, gelangte Pitt neben seinen Partner und sah, dass er auf ein großes dunkles Gebilde vor ihnen deutete.
Es war ein aufragender brauner Schatten, der im matten Licht zu schwanken schien. Er erinnerte Pitt an einen Baum im Wind, dessen belaubte Aste sich zum Himmel reckten. Doch als er näher heranschwamm, erkannte er, dass er keinen Baum vor sich hatte, sondern die Reste des Fischernetzes, die sich träge in der Strömung wiegten.
Um sich nicht in den übrig gebliebenen Teilen des Netzes zu verfangen, näherten sich die beiden Taucher vorsichtig und achteten darauf, stets die Strömung im Rücken zu haben. Die Netzreste hingen an einem einzigen Hindernis fest, das nur ein kleines Stück aus dem Meeresboden ragte. Pitt konnte eine flache Rinne erkennen, die in den mit Geröll und Sand bedeckten Meeresboden gekratzt war und in einer Spiere endete, an der sich das Netz verfangen hatte. Als er dichter an das Hindernis heranschwamm, erkannte er einen verrosteten T-förmigen Eisenanker von etwa fünf Fuß Länge. Der Anker lag auf der Seite, so dass ein Haken, der die Netze festhielt, zur Wasseroberfläche zeigte, während der andere Haken offenbar tief im Meeresboden vergraben war. Pitt ließ sich ein wenig tiefer sinken und fächerte mit der Hand genügend Sand beiseite, um feststellen zu können, dass sich der Haken zwischen einem dicken Holzbalken und einem kleineren Querholz verkeilt hatte. Pitt hatte in seinem Leben schon genug Schiffswracks entdeckt, um den dicken Balken auf Anhieb als Kiel eines Schiffs zu identifizieren.
Er wandte sich von den Netzen ab und betrachtete die breite, flache Rinne, die erst vor kurzem in den Meeresboden gegraben worden war. Giordino schwebte bereits darüber und verfolgte sie bis zu ihrem Ursprung. Ebenso wie Pitt hatte er zusammengereimt, was geschehen war. Die Fischnetze hatten sich am Ende des Wracks mit dem Anker verhakt und ihn über die Kiellinie gezogen, bis er an einem Querbalken hängen geblieben war und sich nicht mehr lösen ließ. Durch diesen Vorgang war unabsichtlich ein großer Teil des alten Schiffswracks freigelegt worden.
Pitt schwamm zu Giordino hinüber, der mit den Händen Sand von einer länglichen Erhebung wegfächelte. Zum Vorschein kamen mehrere Querbalken unter dem Kiel. Giordino blickte mit freudig strahlenden Augen in Pitts Tauchmaske und schüttelte den Kopf. Pitts Unterwassergespür hatte sie tatsächlich zu einem Schiffswrack geführt, und zu einem besonders alten noch dazu.
Indem sie weitere Teile freilegten, während sie ihren Fund umkreisten, konnten sie feststellen, dass das Schiff etwa fünfzig Fuß lang und sein Oberdeck längst verfallen und abgetragen worden war. Tatsächlich war sogar der größte Teil des Schiffs verschwunden, und nur ein paar wenige Teile des Rumpfs waren erhalten geblieben. Doch am Heck waren offenbar noch mehrere kleine Stücke im weichen Sand vergraben. Porzellanschüsseln, Kacheln und Bruchstücke unglasierten Steinguts konnten sie überall sehen, während von der eigentlichen Fracht des Schiffes keine Spur zu erkennen war.
Da ihre Tauchzeit allmählich knapp wurde, kehrten die beiden Taucher zum Heck zurück und begannen auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen, die ihnen helfen könnten, das Schiff zu identifizieren, Geröll und Sand wegzuschaufeln. Als er an einer Stelle zwischen losen Holzteilen herumstocherte, stießen Giordinos Finger gegen einen flachen Gegenstand im Sand, und als er ein wenig tiefer grub, fand er schließlich einen kleinen Kasten aus Metall. Er hielt ihn dicht vor seine Tauchmaske und konnte auf der Vorderseite einen Verschlussmechanismus erkennen, der jedoch zum großen Teil schon weggerostet war. Sorgfältig wickelte Giordino seinen Fund in einen Tragesack, sah auf die Uhr, schwamm zu Pitt hinüber und gab ihm durch ein Handzeichen zu verstehen, dass er auftauchen wolle.
Pitt hatte gerade eine Reihe Tontöpfe freigelegt, die er jedoch nicht näher untersuchte, als Giordino zu ihm kam. Er machte Anstalten, Giordino zur Wasseroberfläche zu folgen, als ihm ein Funkeln im Sand ins Auge fiel. Es kam von der anderen Seite der Töpfe, wo er mit seinen Schwimmflossen Sand vom Meeresgrund aufgewirbelt hatte. Pitt schwamm dorthin, wedelte mehr Sand beiseite und legte eine glatte Keramikfläche frei. Obgleich sie mit zum Teil verhärteten Ablagerungen bedeckt war, konnte er ein kunstvolles Blumenmuster darauf erkennen. Er wühlte seine Finger in den Sand, legte sie um die Kanten des rechteckigen Behälters und zog ihn aus seinem Sandbett.
Der Keramikbehälter war etwa doppelt so groß wie eine herkömmliche Zigarrenkiste. Seine glatten Seitenflächen waren mit einem blauweißen Muster verziert, das genau zum Deckel passte. Für seine bescheidene Größe war der Behälter ziemlich schwer, und Pitt klemmte ihn sich sorgfältig unter den Arm, bevor er mit kraftvollen Beinschlägen zur Meeresoberfläche aufstieg.
Mittlerweile war ein stetiger Nordwestwind aufgekommen, der weiße Schaumkronen auf die Wellen zauberte. Giordino war bereits an Bord des Zodiac und zog den Anker hoch, als Pitt auftauchte. Er schwamm zum Gummiboot, reichte Giordino den Keramikbehälter, kletterte danach an Bord und befreite sich von seiner Tauchausrüstung.
»Ich denke, du schuldest dem Fischer eine Flasche Ouzo«, sagte Giordino und startete den Außenbordmotor.
»Er hat uns ganz sicher auf ein interessantes Wrack aufmerksam gemacht«, erwiderte Pitt und trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch.
»Zwar keins, das mit Amphoren beladen wäre und aus der Bronzezeit stammt, aber das Schiff sieht wirklich sehr alt aus.«
»Möglicherweise aus dem Mittelalter«, vermutete Pitt. »Verglichen mit den anderen Wracks im Mittelmeer also noch blutjung. Aber gehen wir an Land und sehen wir uns an, was wir gefunden haben.«
Giordino gab Gas, wendete das Zodiac und nahm Kurs auf die nahe gelegene Insel. Chios selbst war noch zwei Meilen weit entfernt, aber sie mussten etwa drei Meilen an der Küste entlangfahren, ehe sie in die kleine Bucht eines verschlafenen Fischerdorfs namens Vokaria einfuhren. Dort legten sie an einem verwitterten Pier an, der aussah, als sei er bereits im Zeitalter der Segelschiffe erbaut worden. Giordino breitete ein Handtuch auf dem Pier aus, und Pitt legte behutsam die Artefakte darauf.
Beide Gegenstände waren mit Sand bedeckt, der sich im Lauf der Jahrhunderte unter Wasser darauf angesammelt hatte und inzwischen festgebacken war. Pitt fand in der Nähe einen Trinkwasserkran mit daran angeschlossenem Schlauch und spülte die verhärteten Sandschichten so gut es ging von dem Keramikbehälter ab. Nahezu sauber, leuchtete er im Sonnenschein so hell, dass das Auge fast geblendet wurde. Verziert war er mit einem kunstvollen Blumenmuster in Dunkelblau, Purpur und Türkis auf weißem Untergrund.
»Es sieht ein wenig marokkanisch aus, wenn du mich fragst«, entschied Giordino. »Kannst du den Deckel öffnen?«
Pitt schob die Finger unter den überstehenden Rand des Deckels. Behutsam überwand er den leichten Widerstand und schaffte es, den Deckel zu lösen. Der Behälter war mit trübem Wasser gefüllt, in dem ein länglicher Gegenstand lag, dessen matter Glanz durch das schmutzige Wasser drang. Pitt kippte den Behälter auf die Seite und entleerte ihn.
Er griff hinein und holte ein halbrundes Objekt heraus, das mit einer dicken Schmutzschicht verkrustet war. Mit einem gelinden Schock erkannte er, dass er eine Krone in der Hand hatte. Pitt hielt sie andächtig hoch und schloss aus ihrem Gewicht, dass sie aus massivem Gold bestand. Der strahlende Glanz der Teile, die nicht mit Schmutz bedeckt waren, ließ keine andere Vermutung zu.
»Sieh dir das mal an«, staunte Giordino. »Als käme es direkt aus der Artus-Sage.«
»Oder aus dem Märchen von Ali Baba und den vierzig Räubern«, meinte Pitt und betrachtete die Keramikschatulle.
»Dieses Schiffswrack ist ganz sicher kein gewöhnliches Handelsschiff. Könnte es vielleicht einem Adligen oder einem König gehört haben?«
»Alles ist möglich«, antwortete Pitt. »Auf jeden Fall kann man wohl davon ausgehen, dass eine wichtige Persönlichkeit damit unterwegs war.«
Giordino nahm die Krone und setzte sie sich in einem verwegenen Winkel auf den Kopf.
»König Al, zu Ihren Diensten«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. »Ich glaube, mit dem Ding auf dem Kopf könnte ich den hiesigen Ladys glatt den Kopf verdrehen.«
»Und sicherlich auch einigen Männern in weißen Jäckchen«, spöttelte Pitt. »Sehen wir uns jetzt mal deine Kassette an.«
Giordino legte die Krone in den Keramikbehälter zurück, dann hob er den kleinen eisernen Kasten hoch. Dabei fiel das völlig verrostete Vorhängeschloss auf das Handtuch hinunter.
»Die Schlösser waren wohl schon damals nicht mehr das, was sie mal waren«, murmelte er und stellte die Kassette wieder ab. Indem er Pitt imitierte, tastete er mit den Fingern den überstehenden Rand des Deckels ab und öffnete ihn. Nur wenig Meerwasser schwappte heraus, weil der kleine Kasten fast bis zum Rand mit Münzen gefüllt war.
»Offenbar haben wir den Jackpot erwischt«, meinte er grinsend. »Sieht so aus, als könnten wir uns vorzeitig zur Ruhe setzen.«
»Danke, nein. Ich habe keine Lust, meinen Ruhestand in einem türkischen Gefängnis zu verbringen«, erwiderte Pitt.
Es waren Silbermünzen, und sie waren heftig korrodiert. Mehrere klebten untrennbar zusammen. Pitt grub sich mit den Fingern bis auf den Boden des Kastens und holte eine einzelne Goldmünze hervor, der die Korrosion offenbar nichts hatte anhaben können. Er hielt sie hoch und untersuchte sie eingehend. Dabei bemerkte er in der Prägung leichte Unregelmäßigkeiten, die darauf schließen ließen, dass sie von Hand gehämmert worden war. Auf beiden Seiten waren arabische Buchstaben zu erkennen, von einem gezackten Ring umgeben. Was das Alter und die Herkunft der Münze anging, so konnte Pitt nur raten. Die beiden Männer schauten sich die anderen Münzen an, die aber auf Grund ihres Zustands nur wenige Hinweise auf ihre Herkunft lieferten.
»Anhand der dürftigen Hinweise tippe ich auf ein Wrack aus der osmanischen Epoche«, erklärte Pitt. »Die Münzen sehen nicht byzantinisch aus, daher denke ich, dass sie frühestens aus dem fünfzehnten Jahrhundert oder aus späterer Zeit stammen werden.«
»Irgendjemand müsste sie doch eindeutig datieren können«, sagte Giordino.
»Die Münzen waren wirklich ein Glücksfund«, gab Pitt zu.
»Du meinst, weil wir damit unser Projekt noch für einen weiteren Monat finanzieren können und nicht nach Washington zurückmüssen?«, fragte Giordino mit hoffnungsvoller Miene.
Ein ramponierter Toyota Pick-up näherte sich auf dem Pier und kam mit quietschenden Bremsen vor den Männern zum Stehen. Ein grinsender junger Mann mit auffällig großen Ohren stieg aus dem Führerhaus.
»Möchte jemand von Ihnen zum Flughafen?«, fragte er zögernd. »Ja, das bin ich«, sagte Pitt und holte seine Reisetasche aus dem Zodiac.
»Was ist mit unseren Schätzen?«, wollte Giordino wissen und wickelte die Gegenstände in das Handtuch, bevor der Fahrer einen Blick darauf werfen konnte.
»Ich fürchte, die werden mich wohl nach Istanbul begleiten. Ich kenne dort den Direktor der Abteilung für Maritime Studien im Archäologischen Museum. Er wird für die Artefakte sicherlich einen angemessenen Aufbewahrungsort finden und uns erklären können, was genau wir überhaupt gefunden haben.«
»Ich vermute, das heißt, keine wilde Nacht für König Al auf Chios«, sagte Giordino und reichte Pitt das Handtuch mit seinem wertvollen Inhalt.
Pitt warf einen Blick auf das schlafende Dorf rings um den Hafen, dann stieg er in den Kleinlaster, der mit laufendem Motor wartete.
»Um ganz ehrlich zu sein«, sagte er, während sich der Fahrer hinters Lenkrad schob und Gas gab, »ich bin mir nicht sicher, ob Chios schon bereit ist für König Al.«
3
Das Zubringerflugzeug landete kurz vor Einbruch der Dunkelheit auf dem Atatürk International Airport in Istanbul. Wie ein Moskito in einem Bienenkorb suchte sich die kleine Maschine ihren Weg zwischen den zahlreichen Jumbojets, fand einen freien Terminalplatz und stoppte mit einem Ruck.
Pitt verließ als einer der letzten Passagiere die Maschine und hatte den gefliesten Terminal kaum betreten, als er von einer hochgewachsenen attraktiven Frau mit zimtbraunem Haar regelrecht überfallen wurde.
»Eigentlich solltest du lange vor mir hier sein«, sagte Loren Smith und trat nach einer innigen Umarmung einen Schritt zurück. »Ich hatte schon befürchtet, du würdest gar nicht mehr kommen.« Ihre violetten Augen strahlten erleichtert, während sie ihren Ehemann betrachtete.
Pitt legte einen Arm um ihre Taille und gab ihr einen langen Kuss. »Es gab Probleme mit einem Fahrwerksreifen, deshalb hat sich unser Start verzögert. Musstest du lange warten?«
»Weniger als eine Stunde.« Sie rümpfte die Nase und leckte sich die Lippen. »Du schmeckst salzig.«
»Al und ich fanden auf dem Weg zum Flughafen ein Schiffswrack.«
»Hätte ich mir eigentlich denken können«, sagte sie und bedachte ihn mit einem strafenden Blick. »Du hast mir doch mal erzählt, Fliegen und Tauchen würden sich nicht vertragen?«
»Tun sie auch nicht. Aber dieses Kleinflugzeug, mit dem ich herkam, schaffte kaum eintausend Fuß Höhe, daher konnte mir nichts passieren.«
»Wenn du hier in Istanbul die Taucherkrankheit kriegst, bring ich dich um«, sagte sie und schmiegte sich an ihn. »Ist das Schiffswrack wenigstens halbwegs interessant?«
»Scheint so.«
Er hielt seine Reisetasche mit den eingewickelten Fundstücken darin hoch. »Wir haben zwei Artefakte nach oben geholt, die uns einige Informationen liefern müssten. Ich habe Dr. Rey Ruppe vom Archäologischen Museum heute zum Abendessen eingeladen - in der Hoffnung, dass er uns weitere Aufschlüsse geben kann.«
Loren stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte stirnrunzelnd in Pitts grüne Augen.
»Nur gut, dass ich mir, als ich dich geheiratet habe, darüber im Klaren war, dass das Meer immer deine Geliebte sein würde«, sagte sie.
»Glücklicherweise«, erwiderte er grinsend, während er sie an sich zog, »ist mein Herz groß genug für euch beide.«
Er ergriff ihre Hand, und sie drängten sich durch die Reisenden im Terminal, holten ihr Gepäck vom Fließband und ließen sich von einem Taxi zu einem Hotel im historischen Sultanahmet-Distrikt im Zentrum Istanbuls bringen. Nachdem sie schnell geduscht und sich umgezogen hatten, fuhren sie mit einem anderen Taxi in ein stilles Wohnviertel ein Dutzend Straßen entfernt.
»Balikgi Sabahattin«, verkündete der Taxifahrer, als sie am Ziel waren.
In einer malerischen kopfsteingepflasterten Straße half Pitt seiner Frau Loren beim Aussteigen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Restaurant in einem pittoresken Holzhaus aus den zwanziger Jahren. Das Paar schlängelte sich zwischen einigen Tischen vor dem Eingang hindurch und betrat ein elegantes Foyer. Ein rundlicher Mann mit schütterem Haar kam freundlich lächelnd auf sie zu und streckte ihnen zur Begrüßung eine Hand entgegen.
»Dirk, wie schön, dass Sie hierhergefunden haben«, sagte er und drohte, Pitts Hand in seinem Griff zu zerquetschen. »Willkommen in Istanbul.«
»Vielen Dank, Rey, es tut richtig gut, Sie wiederzusehen. Darf ich Ihnen meine Frau, Loren, vorstellen?«
»Ist mir ein Vergnügen«, erwiderte Ruppe liebenswürdig und schüttelte Lorens Hand deutlich weniger heftig. »Ich hoffe, Sie können einem alten Maulwurf verzeihen, dass er Sie heute beim Abendessen belästigt. Aber ich muss schon morgen früh wegen einer Archäologenkonferenz nach Rom fliegen, daher war dies die einzige Gelegenheit für mich, um mit Ihrem Mann über seinen Unterwasserfund zu sprechen.«
»Sie stören ganz und gar nicht. Ich staune immer wieder, was Dirk vom Meeresgrund ans Tageslicht holt«, sagte sie lächelnd. »Außerdem haben Sie uns offensichtlich an einen Ort bestellt, wo man hervorragend essen kann.«
»Es ist eins meiner liebsten Fischrestaurants in Istanbul«, erwiderte Ruppe.
Eine Empfangsdame erschien und geleitete sie durch einen Korridor zu einem von mehreren Speisesälen, die man in dem Haus angelegt hatte. Sie nahmen an einem Tisch vor einem Fenster Platz, mit Blick auf den Hausgarten.
»Vielleicht können Sie uns irgendeine einheimische Spezialität empfehlen, Dr. Ruppe«, sagte Loren. »Ich bin das erste Mal in der Türkei.«
»Bitte, nennen Sie mich doch Rey. In der Türkei können Sie mit Fisch eigentlich nichts falsch machen. Sowohl der Steinbutt als auch der Wolfsbarsch sind hier ganz exzellent. Natürlich bekomme ich auch von Kebap fast nie genug«, meinte er lächelnd und klopfte sich mit der flachen Hand auf den Bauch.
Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, wollte Loren von Ruppe wissen, wie lange er schon in der Türkei lebe.
»Mein Gott, das dürften mittlerweile fünfundzwanzig Jahre sein.
Ich kam in einem Sommer von der Arizona State hierher, um einen Kurs in Meeresarchäologie abzuhalten, und bin dann nicht mehr weggegangen. Wir haben damals vor Kos ein altes byzantinisches Handelsschiff gefunden und ausgegraben. Seitdem bin ich hier beschäftigt.«
»Dr. Ruppe ist die führende Autorität für byzantinische und osmanische Meeresantiquitäten im östlichen Mittelmeer«, sagte Pitt. »Sein Fachwissen war für einige unserer Projekte in dieser Region von unschätzbarem Wert.«
»Wie bei Ihrem Mann sind Schiffswracks auch meine große Liebe«, sagte er. »Seit ich den Posten als Direktor für Maritime Studien im Archäologischen Museum angenommen habe, verbringe ich leider nicht mehr so viel Zeit mit praktischer Arbeit wie früher.«
»Das kann ich Ihnen sehr gut nachfühlen«, sagte Pitt ein wenig trübsinnig.
Der Kellner erschien und stellte als Appetitanreger einen großen Teller mit Muscheln und Reis auf den Tisch, von dem sie sich ausgiebig bedienten.
»Auf jeden Fall haben Sie einen faszinierenden Arbeitsplatz«, stellte Loren fest.
»Ja, Istanbul wird seinem Spitznamen als >Königin der Städte< in jeder Hinsicht gerecht. Unter den Griechen geboren, aufgewachsen unter den Römern und herangereift unter den Osmanen. Die Hinterlassenschaft an alten Kathedralen, Moscheen und Palästen kann sogar den abgestumpftesten Historiker in ihren Bann schlagen. Aber als Heimat für zwölf Millionen Menschen hat die Stadt auch ihre dunklen Seiten.«
»Wie ich hörte, ist das politische Klima eine davon«, meinte Loren.
»Ist das möglicherweise der Grund für Ihren Besuch, Frau Abgeordnete?«, fragte Ruppe lächelnd.
Loren Smith quittierte diese Anspielung auf ihre Kongressmitgliedschaft mit einem entwaffnenden Lächeln. Obwohl sie schon lange als Vertreterin von Colorado im Repräsentantenhaus saß, war sie doch alles andere als eine Vollblutpolitikerin.
»Eigentlich bin ich nach Istanbul gekommen, um meinen gelegentlich ein wenig ungeratenen Ehemann zu besuchen. Ich war mit einer Kongress-Delegation im südlichen Kaukasus unterwegs und habe während meiner Rückkehr nach Washington nur einen Zwischenstopp eingelegt. Ein Gesandter des Außenministeriums, der im Flugzeug saß, ließ durchblicken, dass durch die wachsende fundamentalistische Bewegung in der Türkei auch amerikanische Sicherheitsinteressen berührt werden.«
»Er hat recht. Wie Sie wissen, ist die Türkei ein säkularer Staat, zu achtundneunzig Prozent muslimischen Glaubens - und zwar vorwiegend sunnitisch geprägt. Aber es gibt eine Bewegung, angeführt von Mufti Battal hier in Istanbul, die fundamentalistische Reformen fordert. Ich bin kein Experte in diesen Dingen, daher kann ich nicht viel über den Umfang seines Einflusses sagen. Aber die Türkei leidet wie andere Länder auch unter wirtschaftlichen Engpässen, was eine wachsende Unzufriedenheit über den augenblicklichen Status Quo zur Folge hat. Die schwierigen Zeiten spielen ihm also regelrecht in die Hände. Man kann ihn zurzeit fast überall sehen und miterleben, wie er keine Gelegenheit auslässt, den Präsidenten offen anzugreifen.«
»Abgesehen davon, dass die westlichen Verbündeten zunehmend in Unruhe geraten, denke ich, dass ein türkischer Schwenk in Richtung Fundamentalismus den Frieden im gesamten Nahen Osten gefährden könnte«, erwiderte Loren.
»Angesichts des militärisch erstarkten und von den Schiiten kontrollierten Iran fürchte ich, dass Ihre Sorgen durchaus begründet sind.«
Das Essen wurde serviert. Loren hatte sich für gebackenen Wolfsbarsch entschieden und Pitt für gegrillten Zackenbarsch, während Ruppe Schwarzmeer-Steinbutt bevorzugte.
»Tut mir leid, wenn ich ausgerechnet zum Essen von der Politik anfangen musste, aber es ist wohl irgendwie so etwas wie eine Berufskrankheit«, entschuldigte sich Loren. »Immerhin kann ich vermelden, dass der Wolfsbarsch wirklich einzigartig ist.«
»Mir macht es nichts aus, und ich denke, dass Dirk daran gewöhnt sein wird«, sagte Ruppe mit einem Augenzwinkern. Er wandte sich an seinen alten Freund. »Na, Dirk, dann erzählen Sie doch mal von Ihrem Projekt in der Ägäis.«
»Wir untersuchen eine Reihe sauerstoffarmer Todeszonen im östlichen Mittelmeer«, berichtete Pitt zwischen einzelnen Happen. »Das türkische Umweltministerium hat uns auf einige Stellen in der Ägäis aufmerksam gemacht, wo periodisch auftretende Algenblüten mittlerweile sämtliches Leben im Meer ausgelöscht haben. Es ist ein Problem, das uns auf der Erde immer häufiger begegnet.«
»Ich weiß, dass man auch in der Chesapeake Bay, also praktisch direkt vor unserer Haustür, damit zu kämpfen hat«, warf Loren ein.
»Die Todeszonen in der Chesapeake haben in den vergangenen Sommermonaten erheblich zugenommen«, bestätigte Pitt.
»Alles nur eine Folge der Umweltverschmutzung?«, fragte Ruppe.
Pitt nickte bejahend. »In den meisten Fällen befinden sich die Todeszonen in nächster Nähe der Mündungsdeltas großer Flüsse. Ein niedriger Sauerstoffgehalt ist gewöhnlich eine direkte Folge starker Nährstoffeinleitung, und zwar vorwiegend in Gestalt von Stickstoff, der in landwirtschaftlichen oder industriellen Abwässern enthalten ist. Die im Wasser gelösten Nährstoffe begünstigen ein verstärktes Wachstum von Phytoplankton oder eine geradezu explosionsartige Algenblüte. Wenn die Algen dann absterben, sinken sie auf den Grund und verrotten, wodurch dem Wasser Sauerstoff entzogen wird. Sobald der Prozess ein kritisches Stadium erreicht, wird das Wasser anoxisch, tötet jegliches Leben, und es entsteht eine solche Todeszone.«
»Was haben Sie bisher in den türkischen Gewässern gefunden?«
»Wir haben die Existenz einer verhältnismäßig großen Todeszone zwischen der griechischen Insel Chios und dem türkischen Festland nachweisen können. Wir führen in der Region aber noch weitere Messungen durch und dürften am Ende zuverlässige Aussagen über Ausdehnung und Intensität der Zone machen können.«
»Habt ihr auch schon etwas über die Ursache herausbekommen?«, wollte Loren wissen.
Pitt schüttelte den Kopf. »Das türkische Umweltministerium ist uns dabei behilflich, potentielle industrielle oder landwirtschaftliche Umweltverschmutzer in der Region zu identifizieren, aber wir haben bisher noch nicht einmal die Spur eines Hinweises auf einen oder mehrere Verursacher.«
Der Kellner erschien und deckte den Tisch ab, dann brachte er ein Tablett mit einer Schale frischer Aprikosen und dazu drei Tassen Kaffee. Loren stellte überrascht fest, dass ihr Kaffee bereits gesüßt war.
»Dirk, liegt Ihr Schiffswrack in der Todeszone?«, fragte Ruppe.
»Nein, aber nicht allzu weit davon entfernt. Wir mussten gerade eine Zwangspause einlegen, um unsere Messgeräte zu reparieren, als wir das Wrack fanden. Ein Fischerboot, dem jetzt ein paar Fuß Netz fehlen, war uns unfreiwillig dabei behilflich.«
»Sie erwähnten bei Ihrem Anruf, dass Sie ein paar Gegenstände geborgen hätten.«
»Ja, ich habe sie auch mitgebracht«, erwiderte Pitt und deutete mit einem Kopfnicken auf eine schwarze Tasche, die neben seinen Füßen auf dem Fußboden stand.
Ruppes Augen leuchteten erwartungsvoll auf, dann schaute er auf seine Uhr. »Es ist schon nach elf, und ich habe Sie wahrscheinlich lange genug wach gehalten. Aber bis zum Museum sind es nur wenige Minuten die Straße hinunter. Ich würde liebend gern einen Blick auf Ihre Funde werfen. Wenn Sie wollen, können Sie sie in meinem Labor lassen, wo sie sicher aufgehoben sind.«
»Das ist doch Unsinn«, meinte Loren, um ihrem Mann eine mögliche Enttäuschung zu ersparen. »Wir beide können es kaum erwarten, Ihre Meinung zu hören.«
»Gut«, sagte Ruppe lächelnd. »Genießen wir erst unseren Kaffee, und dann gehen wir in mein Büro und sehen uns einmal genauer an, was Sie gefunden haben.«
Nachdem sie ihre Tassen geleert und die Rechnung bezahlt hatten, verließen die drei das Restaurant und gingen ein Stück die Straße entlang. Ruppe blieb vor einem grünen VW Karmann Ghia Cabriolet, der am Bordstein geparkt war, stehen.
»Ich muss mich für den Mangel an Beinfreiheit entschuldigen, ich weiß, dass der Rücksitz ziemlich eng ist«, sagte er.
»Ich liebe diese alten Volkswagen«, sagte Loren. »Ein so schönes Exemplar habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Der Wagen hat einige Jahre auf dem Buckel, aber er fährt immer noch wie frisch vom Band«, sagte Ruppe. »Es ist genau das richtige Fahrzeug, um durch die engen Straßen Istanbuls zu kurven, allerdings vermisse ich gelegentlich die Klimaanlage.«
»Wer braucht denn so was? Schließlich kann man doch das Verdeck aufklappen«, sagte Pitt und setzte sich auf den Beifahrersitz, nachdem Loren sich auf den Rücksitz gezwängt hatte.
Ruppe fuhr ins Stadtzentrum zurück und lenkte den Wagen schließlich durch einen hohen Torbogen.
»Wir befinden uns jetzt auf dem Gelände des Topkapi-Serails, wie der alte osmanische Palast ursprünglich genannt wurde«, erläuterte er. »Unser Museum befindet sich in der Nähe des Eingangs zum inneren Hof. Sie sollten den Palast einmal besichtigen, wenn Sie dazu die Gelegenheit haben. Aber kommen Sie möglichst früh, denn hier wimmelt es immer von Touristen.«
Ruppe lenkte den Wagen durch eine parkähnliche Szenerie mit vereinzelt stehenden historischen Bauten. Nach einer kleinen Anhöhe gelangten sie auf einen Angestelltenparkplatz auf der Rückseite des Archäologischen Museums von Istanbul. Sie konnten von dort aus die hohe Mauer sehen, die den inneren Teil des Topkapi-Palastes umschloss.
Nachdem sie sich ein wenig mühsam aus dem engen Automobil gefaltet hatten, folgten Loren und Pitt ihrem Führer zu einem Gebäude in neoklassizistischem Baustil.
»Das Museum besteht genau genommen aus drei Gebäuden«, erklärte Ruppe. »Schräg gegenüber dem Vordereingang befindet sich das Museum für altorientalische Kunst, daneben die sogenannte Kachel-Villa, die das Museum für islamische Kunst beherbergt. Ich bin meist hier im Hauptgebäude anzutreffen, dem eigentlichen archäologischen Museum.«
Ruppe geleitete sie die Hintertreppe des im neunzehnten Jahrhundert erbauten und mit einer Säulenfront versehenen Gebäudes hinauf. Nachdem er den Hintereingang aufgeschlossen hatte, wurden sie von einem Nachtwächter begrüßt, der dort postiert war.
»Guten Abend, Dr. Ruppe. Machen Sie wieder Überstunden?«, begrüßte der Wächter den späten Besucher.
»Hallo, Avni. Ich wollte nur mal kurz mit Freunden hereinschauen. Wir sind gleich wieder weg.«
»Lassen Sie sich Zeit. Außer mir können Sie nur noch ein paar Glühwürmchen antreffen«, sagte der Wachmann mit einem freundlichen Lächeln.
Ruppe führte seine Gäste durch den Hauptflur, der mit alten Statuen und großflächigen Holzschnitzereien gesäumt war. Ausstellungssäle zu beiden Seiten enthielten kunstvolle Grabmäler aus dem Vorderen Orient. Der Archäologe blieb stehen und deutete auf einen mächtigen steinernen Sarkophag, der mit reichhaltigen Basreliefs verziert war.
»Der Alexander-Sarg, unser berühmtestes Ausstellungsstück. Die Szenen auf den Seitenflächen zeigen Alexander den Großen in der Schlacht. Niemand weiß genau, wer wirklich darin liegt, allerdings tippen viele auf einen persischen Satrapen namens Mazaeus.«
»Ein wahres Kunstwerk«, murmelte Loren. »Wie alt?«
»Viertes Jahrhundert vor Christus.«
Ruppe bog in einen Seitengang ab und führte sie in ein geräumiges Büro, das mit Büchern vollgestopft war. Auf der stählernen Platte eines großen Labortisches vor einer Wand standen und lagen Artefakte in unterschiedlichen Stadien der Konservierung. Ruppe knipste eine Reihe Deckenlampen an, die den Raum in gleißendes Licht tauchten.
»Sehen wir uns mal an, was Sie aus dem Meer geholt haben«, sagte er und schob zwei Hocker an den Tisch.
Pitt öffnete den Reißverschluss der Tasche, holte Giordinos Metallkasten hervor und wickelte ihn vorsichtig aus dem Handtuch.
»Ich glaube, das war so etwas wie ein Sparschwein«, sagte er. »Das Schloss ist von selbst abgefallen«, fügte er mit einem schuldbewussten Lächeln hinzu.
Ruppe setzte eine Lesebrille auf und inspizierte den Kasten.
»Ja, es könnte so etwas wie eine Geldkassette sein, dem Aussehen nach ist sie sehr alt.«
»Vielleicht kann man anhand des Inhalts das genaue Alter bestimmen«, meinte Pitt.
Ruppe bekam große Augen, als er den Deckel aufklappte. Er breitete ein Tuch auf der Tischplatte aus und legte die Silber- und Goldmünzen, insgesamt sieben Stück, darauf.
»Hätte ich das gewusst, hätte ich Sie das Essen bezahlen lassen«, scherzte er.
»Mal ernsthaft, ist das wirklich Gold?«, fragte Loren, nahm die gelblich glänzende Münze vom Tisch und wog sie in der Hand.
»Ja, sie stammt offenbar aus einer osmanischen Münzanstalt«, antwortete Ruppe und studierte die eingeprägte Inschrift. »Im osmanischen Reich gab es mehrere davon.«
»Können Sie die Schrift lesen?«, fragte Loren und betrachtete bewundernd die verschlungenen arabischen Schriftzeichen.
»Scheint eine schriftliche Version von >Allahu Akbar< oder »Gott ist groß< zu sein«, sagte er, während er die Prägung eingehend untersuchte.
Ruppe durchquerte den Raum, ließ den Blick über ein Bücherregal wandern und holte schließlich einen Band heraus. Er blätterte darin und gelangte bald zu einer Seite mit einem Foto von mehreren antiken Münzen. Dann verglich er Pitts Fund mit einer der Münzen und nickte zufrieden.
»Treffer?«, fragte Pitt.
»Sogar ein Volltreffer. Identisch mit Münzen, die im sechzehnten Jahrhundert in Syrien geprägt wurden. Herzlichen Glückwunsch, Dirk, Sie haben höchstwahrscheinlich ein Schiffswrack aus der Zeit Süleymans des Prächtigen gefunden.«
»Wer ist Süleyman?«, fragte Loren.
»Einer der erfolgreichsten und angesehensten osmanischen Sultane, allenfalls noch übertroffen von Osman I., dem Reichsgründer. Er dehnte während seiner Herrschaft Mitte des sechzehnten Jahrhunderts das Osmanische Reich bis nach Südosteuropa, zum Vorderen Orient und bis nach Nordafrika aus.«
»Vielleicht war dies ein Geschenk oder eine Art Opfergabe für den Sultan«, sagte Pitt, holte den Keramikbehälter aus seiner Tasche und wickelte ihn ebenfalls aus. Lorens Augen leuchteten beim Anblick der blauen, purpurnen und weißen Girlanden, die den Deckel verzierten, bewundernd auf.
»Bildschön«, sagte sie andächtig.
»Die alten muslimischen Handwerker sind bei der Herstellung von Kacheln und Keramik wahre Künstler gewesen«, sagte Ruppe. »Aber so etwas Perfektes habe ich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen.«
Er hielt die Schatulle ans Licht und studierte sie eingehend. An einer Seite befand sich ein kleiner Riss, an dem er mit dem Finger einen Augenblick lang herumrieb.
»Das Design ähnelt der sogenannten Damaskus-Keramik«, sagte er. »Diese Muster wurden in den berühmten Öfen von Iznik in der Türkei gebrannt.«
Vorsichtig hob er den Deckel ab und nahm die mit Schmutz verkrustete Krone aus dem Behälter.
»Mein Gott«, sagte Loren und beugte sich vor.
Ruppe war genauso beeindruckt. »So etwas bekommt man nicht alle Tage zu sehen«, sagte er und hielt die Krone in den Lichtkegel einer Klemmlampe, die am Labortisch befestigt war. Mit einem dünnen Zahnarzthaken kratzte er vorsichtig ein wenig von dem harten Belag weg.
»Bei entsprechender Sorgfalt dürfte eine Reinigung nicht allzu schwierig sein«, stellte er fest. Dann sah er ein wenig genauer hin und runzelte die Stirn. »Das ist seltsam«, sagte er.
»Was denn?«, fragte Loren.
»Auf der Innenseite des Kopfrings befindet sich offenbar eine Inschrift. Ich kann zwar nur ein paar Buchstaben erkennen, aber es scheint Lateinisch zu sein.«
»Viel Sinn ergibt das nicht«, sagte Loren.
»Nein«, stimmte Ruppe ihr zu. »Aber ich denke, wenn wir dieses Stück gesäubert und entsprechend aufgearbeitet haben, müssten wir in der Lage sein, die Inschrift vollständig zu rekonstruieren. Damit ergeben sich gute Chancen, den Ursprung zu bestimmen.«
»Ich wusste ja, dass wir bei Ihnen an der richtigen Adresse sind«, sagte Pitt.
»Es scheint, als berge Ihr Schiffswrack mehr als nur ein Geheimnis«, sagte Ruppe.
Loren musterte die Krone mit müden Augen und unterdrückte dann ein Gähnen.
»Ich fürchte, ich habe Sie um Ihre wohlverdiente Nachtruhe gebracht«, bemerkte Ruppe, deponierte die Krone in einem Wandsafe und legte die Kassette, die Münzen und den Keramikbehälter in einen mit frischem Wasser gefüllten Plastikeimer. »Ich werde die Gegenstände zusammen mit meinen Helfern genauer untersuchen, wenn ich aus Rom zurückgekehrt bin.«
»Vielleicht erfahren wir dann auch, was eine goldene Krone mit lateinischer Inschrift auf einem osmanischen Schiffswrack zu suchen hat«, sagte Pitt.
»Möglicherweise erfahren wir das nie, aber mich würde schon interessieren, was sonst noch in diesem Wrack zu finden ist«, erwiderte Ruppe. »So seltsam es auch erscheinen mag, aber bisher sind nur sehr wenige Schiffswracks aus osmanischer Zeit im Mittelmeer gefunden worden.«
»Wenn Sie die türkischen Behörden über unseren Fund in Kenntnis setzen, werden wir helfen, so gut wir können«, sagte Pitt. Er reichte Ruppe eine Seekarte, auf der der Fundort des Wracks in Rot eingezeichnet war. »Das Schiff liegt dicht vor Chios, daher werden sich die Griechen bestimmt auch noch dazu äußern.«
»Ich werde gleich morgen früh telefonieren«, versprach Ruppe. »Besteht irgendeine Chance, dass Sie und Ihr Schiff sich an einer gründlichen Untersuchung des Fundortes beteiligen?«
Pitt lächelte. »Mir wäre nichts lieber als zu erfahren, was genau wir gefunden haben. Ich werde es schon schaffen, unser Schiff für ein oder zwei Tage anderweitig einzusetzen. Zurzeit haben wir sogar einen Archäologen an Bord, der uns mit seinem Fachwissen wertvolle Hinweise geben kann.«
»Das trifft sich ja großartig. Ich habe gute Beziehungen zum türkischen Ministerium für Kultur und Tourismus. Dort wird man sicherlich froh sein zu wissen, dass sich das Wrack in guten Händen befindet.«
Er sah zu Loren hinüber, die Mühe hatte, die Augen offen zu halten.
»Meine Liebe, verzeihen Sie meine historischen Abschweifungen. Es ist schon sehr spät, und ich muss Sie schnellstens zu Ihrem Hotel zurückbringen.«
»Das sollten Sie auch, ehe ich mich in einem der Sarkophage da draußen schlafen lege«, sagte sie mit einem müden Lächeln.
Ruppe verschloss sein Büro und geleitete sie am Nachtwächter vorbei aus dem Museumsgebäude. Während sie die Treppe zum Hintereingang hinuntergingen, erklangen in der Ferne zwei gedämpfte Explosionen. Augenblicklich hallte der auf- und absteigende Klang von Alarmsirenen über die hohen Mauern des Topkapi-Palastes. Die drei Personen blieben abrupt stehen und lauschten Stimmen laut rufender Männer und dem Knattern heftigen Gewehrfeuers, das durch die Nacht zu ihnen drang. Weitere Schüsse fielen, diesmal deutlich näher. Sekunden später wurde die Tür des Museums hinter ihnen aufgerissen, und der Nachtwächter kam mit entsetzter Miene auf sie zugerannt.
»Der Palast wird angegriffen!«, rief er. »Die Schatzkammer wurde ausgeraubt, und die Wächter am Bab-üs Selam antworten nicht. Ich muss nachsehen, ob das Tor verschlossen ist.«
Das Bab-üs Seläm, oder auch das Tor der Begrüßungen, war der Haupteingang zum inneren Bereich des Topkapi-Palastes. Es bestand im Wesentlichen aus hohen Holzwänden und ähnelte einer Burg aus Disneyland. Allmorgendlich drängten sich Scharen von Touristen davor, um in den Palast und die weitläufigen Gartenanlagen der großen osmanischen Sultane eingelassen zu werden. Dicht hinter dem Tor befand sich ein Wachhaus, in dem mehrere Angehörige der türkischen Armee als Wächter ihren nächtlichen Dienst versahen. Das Tor stand weit offen, und nirgendwo war einer der Wachsoldaten zu sehen.
Der Museumswächter, Avni, rannte an Ruppe vorbei und quer über den Parkplatz. Etwa hundert Meter vom Tor entfernt passierte er einen weißen Lieferwagen, der am Straßenrand parkte. Augenblicklich sprang der Motor des Fahrzeugs an.
Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, was bei Pitt sofort für ein unbehagliches Gefühl sorgte. Nichts Gutes ahnend folgte er Avni.
»Ich bin gleich wieder da«, murmelte er und sprintete los.
»Dirk!«, rief Loren, verwirrt von der unerwarteten Reaktion ihres Mannes. Aber er schenkte sich eine Antwort, als er bemerkte, dass der weiße Lieferwagen anrollte.
Pitt wusste genau, was gleich geschehen würde, hatte jedoch keine Möglichkeit, es noch zu verhindern. Als der Lieferwagen mit aufheulendem Motor startete, konnte er nur hilflos zusehen, als liefe vor ihm ein Film im Zeitlupentempo ab. Der Lieferwagen hielt auf den Museumswächter zu und beschleunigte. Pitt, der rannte, so schnell er konnte, stieß einen lauten Warnruf aus.
»Avni! Hinter Ihnen!«, brüllte er.
Aber es war vergeblich. Die Schweinwerfer noch immer ausgeschaltet, vollführte der Lieferwagen einen Satz vorwärts und rammte den Museumswächter von hinten. Sein Körper flog hoch über die
Motorhaube des Fahrzeugs, überschlug sich und knallte mit einem dumpfen Laut auf das Pflaster. Der Lieferwagen raste weiter, dann stoppte er mit kreischenden Reifen vor dem offenen Tor.
Pitt rannte in die gleiche Richtung und näherte sich schnell dem lang hingestreckten Wächter. An der grotesken Haltung seines Kopfs erkannte Pitt, dass das Genick des Mannes gebrochen und er auf der Stelle gestorben war. Da er nichts mehr für ihn tun konnte, fasste Pitt jetzt den Lieferwagen ins Auge.
Der Fahrer saß reglos hinterm Lenkrad und starrte nervös durch das Bab-üs Seläm-Portal. Da der Motor lief, konnte er Pitts Schritte nicht hören, bis dieser direkt neben dem Wagen auftauchte. Er schaute zum offenen Seitenfenster und sah ein Paar Hände auf sich zuschießen, die ihn am Kragen packten. Ehe er auch nur Anstalten machen konnte, sich zu wehren, wurden sein Kopf und sein Oberkörper durch das Seitenfenster gezerrt.
Pitt hörte weitere Schritte, nahm aus dem Augenwinkel jedoch nur einen Schatten wahr, während er noch mit dem Fahrer rang. Er hatte einen Arm um den Hals des Mannes geschlungen, so dass sich sein Kinn in der Armbeuge befand, und riss ihm fast den Kopf ab. Der Fahrer besann sich und versuchte, sich aus Pitts Umklammerung zu winden, rammte die Knie unter das Lenkrad und ruderte wie wild mit den Armen. Aber Pitt konnte den Druck auf den Hals des Mannes verstärken, bis er keuchend nach Luft schnappte und in seinem Arm schlaff wurde.
»Lassen Sie ihn los!«, schrillte plötzlich eine Frauenstimme.
Pitt wandte sich zu dem toten Museumswächter um, während er weiterhin den Hals des Lieferwagenfahrers in der Armbeuge behielt. Loren und Ruppe waren ihm gefolgt, um Avni zu helfen, und standen jetzt neben dem Toten. Ruppe war auf ein Knie gesunken und presste eine Hand auf eine heftig blutende Stirnwunde, während Loren neben ihm stand und Pitt mit Augen anstarrte, die vor Angst flackerten.
Neben ihnen war eine zierliche Frau in schwarzer Skimaske, schwarzem Pullover und schwarzer Hose aufgetaucht. Sie hatte den Arm ausgestreckt und zielte mit einer Pistole auf Lorens Kopf.
»Lassen Sie ihn los«, sagte sie noch einmal zu Pitt, »sonst stirbt die Frau.«
4
Der Topkapi-Palast war fast vierhundert Jahre lang die Residenz der osmanischen Sultane gewesen. Im Laufe seiner Geschichte zu einem ausgedehnten Labyrinth kunstvoll gekachelter Gebäude und Hallen ausgebaut und auf hügligem Gelände über dem Goldenen Horn gelegen, enthielt der Palast einen unermesslichen Schatz von Zeugnissen der bewegten Geschichte der Türkei. Die beliebten und sich reger Teilnahme erfreuenden Führungen boten einen Einblick in das Alltagsleben der zahlreichen Sultane und gewährten den Betrachtern Zugang zu einer eindrucksvollen Sammlung von Kunstwerken, Waffen und einmaligen Schmuckstücken. Doch neben all dem unschätzbaren Reichtum seiner wechselnden königlichen Bewohner beherbergte der Palast auch eine Sammlung heiliger islamischer Reliquien, die von den Gläubigen auf der ganzen Welt innig verehrt wurden. Und genau auf diese Objekte hatten die Diebe es abgesehen.
Mehrere Tage zuvor waren mit dem Lieferwagen eines Catering-Services Waffen und Plastiksprengstoff aufs Palastgelände geschmuggelt worden. Die Diebe hatten den Komplex am späten Nachmittag als Touristen getarnt betreten und sich in dem Geräteschuppen eines Hausmeisters versteckt. Nach Einbruch der Dunkelheit, lange nachdem die letzten Touristen gegangen und die Eingänge verschlossen worden waren, hatten sich die Diebe ihrer Waffen und des Sprengstoffs bemächtigt und den Reliquiensaal aufgesucht, wo zahlreiche der heiligen Objekte aufbewahrt wurden.
Der eigentliche Überfall dauerte kaum eine Minute lang, als sie sich mit Sprengstoff durch eine Seitenwand Zugang zu den heiligen Exponaten verschafften und dabei einen Wächter töteten. Eilig sammelten sie die Reliquien ein, die auf ihrer Wunschliste standen, und flüchteten durch das Mauerloch.
Die Diebe hatten zur Ablenkung sorgfältig eine ganze Serie von kleineren Explosionen an verschiedenen Punkten des Geländes ausgelöst, während sie zu Fuß in südlicher Richtung flüchteten. Sobald sie den Haupteingang hinter sich gelassen hätten, wären sie von dem wartenden Lieferwagen aufgegriffen und in Sicherheit gebracht worden. Sie würden nur wenige Minuten brauchen, um von dort in den Sultanahmet-Distrikt mit seinen zahllosen gewundenen Straßen und Gassen zu gelangen und spurlos in der Nacht unterzutauchen.
Polizeisirenen ertönten in einiger Entfernung, als zwei schwarz gekleidete Männer, jeder mit einem Leinensack auf der Schulter, durch das Bäb-üs Seläm sprinteten. Die Frau, die mit der Pistole auf Loren zielte, gab den Männern, als sie sich dem Lieferwagen näherten, knappe Befehle. Die beiden Diebe warfen die Säcke hinten in den Wagen hinein, zerrten den halb bewusstlosen Fahrer von seinem Sitz und legten ihn ebenfalls auf die Ladefläche. Einer der Männer rannte nach vorn und schlängelte sich auf den Fahrersitz, während der zweite Mann ebenfalls eine Pistole zückte und sie auf Loren richtete. Die Frau bellte einen weiteren kurzen Befehl.
»Sie da. Weg von dem Wagen«, sagte sie zu Pitt und richtete die Waffe jetzt auf ihn. »Diese Frau kommt mit uns. Wenn Sie sie lebend wiedersehen wollen, erzählen Sie der Polizei, dass wir durch das Tor des Gülhane-Parks geflohen sind.« Sie deutete mit der Waffe zur nordöstlichen Seite des Geländes.
Pitt ballte die Hände zu Fäusten, und seine Augen loderten vor Wut, doch es gab nichts, was er in diesem Moment hätte tun können. Die Frau schien seinen Zorn zu spüren und zielte auf seinen Kopf.
»Denken Sie nicht einmal daran«, warnte sie ihn.
Der Mann mit der Pistole packte Loren am Arm und stieß sie grob auf die Ladefläche des Lieferwagens, dann folgte er ihr und schloss die Tür hinter sich. Die Frau ging rückwärts zur Beifahrertür und hielt ihre Pistole auf Pitt gerichtet, bis sie in den Wagen sprang. Der neue Fahrer gab sofort Vollgas, und der Lieferwagen entfernte sich mit qualmenden Reifen.
Pitt eilte daraufhin zu Ruppe hinüber, der inzwischen stolpernd auf die Füße gekommen war, jedoch von den Nachwirkungen des Schlags auf seinen Kopf, den ihm die Frau verpasst hatte, immer noch schwankte.
»Ihren Wagen«, sagte Pitt gehetzt.
Schnell holte Ruppe die Schlüssel hervor.
»Fahren Sie schon. Ich würde Sie nur aufhalten.«
»Sind Sie okay?«
»Nur ein Kratzer«, erwiderte Ruppe mit einem matten Lächeln und betrachtete seine blutverschmierte Hand. »Ich komm schon zurecht. Fahren Sie los, und ich informiere die Polizei, wenn sie eintrifft.«
Pitt nickte, während er die Schlüssel ergriff und zu dem Karman Ghia rannte. Der Motor des alten VW sprang schon beim ersten Startversuch an. Pitt legte sofort den Gang ein und ließ die Reifen durchdrehen, als er die Verfolgung des Lieferwagens aufnahm.
Der Grundriss des Topkapi-Geländes entsprach grob einem auf die Seite gekippten A, wobei sich jeweils am Ende eines Beins ein Eingang befand. Da sie damit rechneten, dass die Polizei das nördliche Tor des Gülhane-Parks nahm, flohen die Diebe zum Sultans-Tor im Süden. Trotz der zahlreichen Reisebusse, die täglich das Palastgelände befuhren, waren die mit Bäumen gesäumten Straßen eng und gewunden und ließen kein hohes Fahrtempo zu.
Pitt nahm die Hauptstraße, auf der sich der Lieferwagen entfernt hatte. Doch der war mittlerweile nicht mehr zu sehen. Während er mehrere enge Nebenwege passierte, spürte Pitt, wie sein Herz schneller zu schlagen begann — aus Furcht, dass er den Lieferwagen nicht mehr sichtete. Professionelle Diebe waren üblicherweise keine Mörder, versuchte er sich einzureden. Sie würden Loren wahrscheinlich bei der nächsten Gelegenheit, die sich bot, frei lassen. Aber dann dachte er an den Museumswächter, der mit voller Absicht überfahren worden war. Außerdem hatten sie außerhalb der Palastmauern zahlreiche Schüsse gehört. Er verspürte ein Frösteln, als ihm klar wurde, dass diese Diebe offensichtlich keinerlei Hemmungen hatten zu töten.
Er trat das Gaspedal fast bis aufs Bodenblech durch und entlockte dem luftgekühlten Volkswagenmotor ein gepeinigtes Jaulen. Der Karmann Ghia war alles andere als ein schnelles Fahrzeug, doch seine Größe und sein Gewicht verhalfen ihm zu außergewöhnlicher Wendigkeit. Pitt beanspruchte den kleinen Wagen bis an seine Grenzen und schaltete ständig zwischen zweitem und drittem Gang hin und her, während er die gewundene Straße hinunterjagte. Einmal nahm er eine Kurve zu schnell, so dass eine Radkappe davonsegelte und mit lautem Scheppern gegen einen Baumstamm prallte, als ein Hinterrad mit dem Bordstein unsanft Bekanntschaft machte.
Für ein kurzes Stück verlief die Straße geradeaus und gabelte sich dann. Pitt trat auf die Bremse und rutschte schlingernd auf die leere Kreuzung, während er überlegte, welche Richtung er nun einschlagen sollte. Ein schneller Blick zu beiden Seiten lieferte ihm keinerlei Aufschluss über den Verbleib des Lieferwagens. Pitt rief sich schnell die Bemerkung der Frau über den Gülhane-Park ins Gedächtnis. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, konnte sich jedoch daran erinnern, in welche Richtung sie mit der Pistole gedeutet hatte. Trotz der zahlreichen Kurven, die er mittlerweile genommen hatte, war er sicher, dass sie eine Gegend gemeint hatte, die sich zu seiner Rechten befand. Er rammte den Schalthebel in den ersten Gang, ließ die Kupplung springen und schoss die gepflasterte Straße links von ihm hinunter.
Die breiten Laubdächer einheimischer Eichen glitten über seinen Kopf hinweg, während er Vollgas gab und der Straße nach rechts folgte. Am Fuß eines kleinen Hügels erreichte er eine weitere Kreuzung. Diesmal entdeckte er ein Hinweisschild in englischer Sprache, »Exit«, mit einem Pfeil, der nach rechts wies. Nur leicht auf das Bremspedal tippend nahm er die Kurve mit kreischenden Reifen und geriet dabei mit dem Volkswagen für einen kurzen Moment auf die Gegenfahrbahn, auf der zum Glück keinerlei Verkehr herrschte.
Dafür verbreiterte sich die Straße und führte durch das Sultans-Tor. Pitt konnte erkennen, wie es vor ihm deutlich heller wurde, als die Bäume und Büsche des Palastgeländes dem lebhaften Betrieb im alten Stadtzentrum Istanbuls Platz machten. Ein gutes Stück vor sich erkannte Pitt auf der Straße Rücklichter, die soeben durch das Tor verschwanden.
Sie gehörten dem Lieferwagen.
Pitt schöpfte neue Hoffnung, während er das Gaspedal aufs Bodenblech nagelte und ebenfalls durch das Tor raste. Die Diebe hatten offensichtlich richtig vermutet, dachte er. Wenn die Polizei von Istanbul auf den Alarm reagierte, hatte sie es bisher nicht bis zum Sultans-Tor geschafft. Während er sich dem Tor näherte, gewahrte er die Körper zweier türkischer Soldaten, die neben der Straße lagen.
Er ignorierte sie, ließ das Tor hinter sich und lenkte scharf nach rechts. Dabei bremste er gleichzeitig, um ein lautes Quietschen der Reifen zu vermeiden. Ein kurzer Blick nach vorn verriet ihm, dass der Lieferwagen auf einem quer verlaufenden Boulevard in südlicher Richtung fuhr. Pitt folgte ihm und schaltete die Scheinwerfer aus, während er scharf abbog und zum Lieferwagen aufholte.
Tagsüber von einem unentwirrbaren Durcheinander von Autos und Fußgängern erfüllt, war es im historischen Sultanahmet-Distrikt im Stadtzentrum in den Nächten seltsam still. Pitt überholte ein ramponiertes Taxi und bremste scharf, als er sah, wie der Lieferwagen vor einer Verkehrsampel stoppte.
Sie passierten die Hagia Sophia, eines der grandiosesten Bauwerke aus byzantinischer Zeit. Vom römischen Kaiser Justinian als Basilika erbaut und später in eine Moschee umgewandelt, galt sie seit fast eintausend Jahren als größter Kuppelbau der Welt. Ihre alten Fresken und Mosaiken sowie ihre schiere Größe machten sie zu einer der bedeutendsten kulturellen Sehenswürdigkeiten Istanbuls.
Der Lieferwagen bog wieder nach rechts ab und überquerte den Sultanahmet-Platz und den Vorplatz der Hagia Sophia, wo eine Handvoll Touristen umherspazierte und die illuminierte Außenfassade des Bauwerks fotografierte. Pitt versuchte, den Abstand zwischen sich und dem Lieferwagen zu verringern, wurde jedoch durch zwei Taxis daran gehindert, die sich dicht vor ihm in den spärlich fließenden Verkehr einfädelten.
Der Lieferwagen wurde langsamer, um nicht aufzufallen, als ein Streifenwagen mit zuckendem Blaulicht und heulender Sirene auf einer Querstraße in Richtung Topkapi-Palast raste. Der kleine Fahrzeugkonvoi verließ den Platz und kam etwa einen Block weit, ehe er vor einer roten Ampel anhalten musste. Ein rostfleckiger Müllwagen rollte langsam durch die Querstraße und stoppte nicht weit vor der Straßenecke entfernt, um sich eines Müllhaufens anzunehmen. Für einen kurzen Moment blockierte der Mülltransporter den Lieferwagen, der außerdem von hinten durch eins der Taxis eingekeilt wurde.
Zwei Fahrzeuge weiter zurück beobachtete Pitt den Müllmann, der den Müllhaufen ausgesprochen gemütlich in Angriff nahm, und entschied, dass ihm diese Situation die Chance zum Handeln bescherte. Ohne zu zögern stieg er aus dem Karmann Ghia und eilte zum Heck des Lieferwagens, wobei er sich duckte und die Taxis als zusätzliche Deckung nutzte. Die Hecktür des Lieferwagens hatte getönte Fenster, doch Pitt konnte auf der rechten Seite eine Gestalt erkennen, die entweder sehr kurze Haare hatte oder eine Skimaske trug.
Die Ampel sprang auf grün um, der Lieferwagen rollte ein Stück vorwärts und war dann gezwungen, abermals zu stoppen, weil sich der Müllmann beim Einsammeln der voluminösen Plastikmüll-Säcke viel Zeit ließ. Pitt näherte sich dem Lieferwagen in geduckter Haltung, stellte einen Fuß auf die hintere Stoßstange und griff mit der rechten Hand nach dem Türgriff. Er riss die Tür auf und warf sich in den Wagen, die linke Faust geballt, um sofort zuzuschlagen.
Es war eine riskante Aktion, die seinen und Lorens Tod hätte zur Folge haben können. Aber das Überraschungsmoment war auf seiner Seite, und er vermutete zu Recht, dass der bewaffnete Dieb auf der Ladefläche seine Wachsamkeit vernachlässigte und sich im Erfolg des Raubzugs sonnte. Es gab aber noch einen anderen Grund, jede Vorsicht fahren zu lassen. Pitt wusste genau, dass er es sich niemals verzeihen würde, wenn er jetzt nicht handelte und Loren später etwas zustieß.
Als die Tür aufflog, überschaute Pitt augenblicklich die Lage, während er bereits in Bewegung war. Er hatte richtig getippt und sah, dass der bewaffnete Dieb auf der rechten Sitzbank saß. Ihm gegenüber befand sich der ursprüngliche Lieferwagenfahrer, der sich allmählich von Pitts Attacke auf seinen Hals erholte. Loren saß neben ihm und lehnte an einer Trennwand zwischen dem Laderaum und der Fahrerkabine. In dem kurzen Moment, den sie Augenkontakt hatten, konnte Pitt einen Ausdruck panischer Angst im Gesicht seiner Frau erkennen.
Er hatte die Situation völlig unter Kontrolle, da der Dieb seine Pistole nicht auf Loren richtete, sondern nur locker in der Hand hielt. Er starrte Pitt verblüfft durch seine Skimaske an, ehe Pitts Faust sein Kinn traf. Durch Adrenalin und mühsam gebändigte Wut unter Dampf gesetzt, hätte Pitt mit seiner Faust sicherlich die Karosserie des Lieferwagens durchlöchert, wenn er es gewollt hätte. So schickte der Treffer den Mann sofort ins Land der Träume und warf ihn rücklings auf die Ladefläche, ohne dass er dazu kam, auch nur zu versuchen, die Waffe in Anschlag zu bringen. Der andere Mann reagierte blitzartig, wahrscheinlich weil er diese Gelegenheit nutzen wollte, um sich für den Angriff kurz vorher zu revanchieren. Er warf sich auf Pitts ausgestreckten Körper und nagelte ihn auf der Ladefläche fest. Der Mann hatte eine Pistole in der Tasche, die er herauszuholen versuchte, während er den anderen Arm um Pitt schlang. Pitt richtete sich sofort auf, konnte den Mann jedoch nicht richtig abschütteln. Indem er nach einem Halt suchte, hakte er den Fuß unter die hintere Stoßstange und versuchte, sich mit seinem gesamten Körpergewicht nach hinten zu werfen. Während sein Angreifer regelrecht auf seinem Rücken klebte, streckte Pitt gleichzeitig Arme und Beine und wuchtete sich nach rückwärts und aus dem Lieferwagen hinaus.
Das Taxi stand mit laufendem Motor keinen halben Meter hinter dem Lieferwagen. Nachdem die beiden Körper einander umschlingend durch die Luft geflogen waren, landeten sie rücklings auf der Motorhaube des Taxis, wobei der Lieferwagenfahrer unter Pitt eingeklemmt war und die gesamte Wucht des Aufpralls einstecken musste. Der Mann stieß einen Pfeiflaut aus, als sämtliche Luft aus seinen Lungen gepresst wurde, und Pitt spürte, wie sich die Klammer um seinen Oberkörper lockerte. Pitt kam auf die Füße, schob den Arm des Mannes zur Seite und rammte seinen Ellbogen mehrmals gegen den Kopf des Mannes. Die Treffer reichten aus, um den Mann zu betäuben und kraftlos aufs Pflaster sinken zu lassen, ehe er die Pistole in seiner Tasche richtig zu fassen bekam.
Pitt atmete durch, schaute auf und sah Loren aus dem Lieferwagen klettern. In der Hand hatte sie einen der schwarzen Säcke.
»Okay, lass uns verschwinden«, drängte er, ergriff ihren Arm und zog sie hinter sich her die Straße hinunter. Sie machten ein paar unsichere Schritte zum Bürgersteig, wobei sich Loren gegen Pitts Versuche sträubte, sie zur Eile anzutreiben.
»In diesen Schuhen kann ich nicht rennen«, beschwerte sie sich.
Pitt hörte aus der Richtung des Lieferwagens einen lauten Ruf, vergeudete jedoch keine Sekunde mit einem Blick dorthin. Stattdessen schob er seine Frau unsanft in die Nische eines kleinen würfelförmigen Gebäudes ein paar Schritte entfernt. Er folgte ihr eilig, als zwei Pistolenschüsse erklangen. Zementsplitter flogen durch die Luft, die Kugeln schlugen unweit ihrer Füße ein.
Die Türöffnung bot ihnen Schutz, jedoch nur für kurze Zeit. Es würde lediglich wenige Sekunden dauern, ehe sich die Frau mit der Pistole auf der Straße so weit genähert hatte, dass sie die beiden ungehindert ins Visier nehmen konnte.
»Wohin jetzt?«, fragte Loren gehetzt. Ihr Herz raste vor Angst.
Pitt inspizierte schnell eine verwitterte Tür am oberen Ende der Treppe.
»Die Antwort liegt auf der Hand, würde ich sagen«, erwiderte er und deutete mit einem Kopfnicken auf die Tür. »Wir gehen dort hinein.«
5
Zwei kräftige Fußtritte gegen die Holztür reichten aus, um das abgenutzte Bolzenschloss aus seinem Gehäuse zu brechen und die Tür zu öffnen. Loren und Pitt schlüpften eilig in einen kahlen Raum, der mit einer Theke und einer Registrierkasse ausgestattet war. Im hinteren Teil des Raums war eine breite, matt erleuchtete Treppe zu erkennen, die abwärts führte.
Von draußen konnten sie das Geräusch eiliger Schritte hören, die sich näherten. Pitt wandte sich um und drückte die Tür zu, während er gerade noch sehen konnte, wie eine schwarz gekleidete Frau im Laufschritt hinter dem Taxi hervorkam. Den Mündungsblitz ihrer Pistole sah er nicht mehr, dafür bekam er jedoch mit, wie sich das Geschoss nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt in die Tür bohrte.
»Ich denke, wir sollten runtergehen«, sagte er, fasste nach Lorens Hand und eilte zur Treppe. Sie waren ein paar Treppenstufen hinuntergelaufen, als Loren an seinem Arm zerrte.
»Das schaff ich nicht mit High-Heels«, sagte sie, als sie erkannte, dass sich die Treppe vor ihnen noch ein ganzes Stück weit in die Tiefe wand. Sie streifte schnell ihre Pumps ab und setzte den Weg dann barfuß fort.
»Warum berücksichtigen Designer von Damenschuhen niemals auch praktische Gesichtspunkte?«, fragte Pitt, als er sie einholte.
»Eine solche Frage kann nur von einem Mann kommen«, murrte sie, nach ihrer eiligen Flucht leicht außer Atem.
Sie rannten weiter die Treppe hinab, die noch mindestens fünfzig Stufen lang war. Ihre Diskussion über geeignetes Schuhwerk erstarb, als sie im sparsamen Licht der dort herrschenden Beleuchtung ihre Umgebung betrachteten.
Sie waren in eine riesige, künstlich geschaffene unterirdische Höhle hinabgestiegen. Es war ein ziemlich bizarres Bauwerk, wie man es niemals mitten in einer betriebsamen Stadt wie Istanbul erwartet hätte. Die Treppe endete auf einer hölzernen Plattform, von der aus man die gesamte Höhle überblicken konnte. Pitt betrachtete bewundernd einen Wald von zehn Meter hohen Marmorsäulen, die sich in der Dunkelheit verloren und deren Kapitelle ein vielfach gegliedertes Deckengewölbe trugen. Rote Deckenlampen erhellten den Raum und verliehen ihm eine beinahe höllenhafte Atmosphäre.
»Was ist das hier?«, fragte Loren halblaut, so dass ihre Stimme als Echo von den Steinwänden zurückgeworfen wurde. »Dieser Ort scheint mir in mehr als nur einer Hinsicht atemberaubend.«
»Es ist eine unterirdische Zisterne. Und zwar eine riesige, wie man sehen kann. Die Römer haben Hunderte davon unter den Straßen von Istanbul angelegt, um Wasser zu sammeln, das über Aquädukte aus ländlichen Gebieten hier hergeleitet wurde.«
Sie standen in der größten Zisterne Istanbuls, der Yerebatan Sarnici. Ursprünglich von Kaiser Konstantin angelegt und später von Justinian vergrößert, erstreckte sich die Anlage über eine Länge von fast einhundertsiebzig Metern. Zur Zeit ihrer Nutzung hatte sie ein Fassungsvermögen von 80 000 Kubikmetern Wasser. Während der osmanischen Herrschaft verkam sie zu einem vergessenen, mit Schlamm gefüllten Sumpf und wurde im zwanzigsten Jahrhundert von der türkischen Regierung restauriert. Um die römische Ingenieurskunst zu demonstrieren enthält die Zisterne sogar heute noch eine gewisse Menge Wasser.
In dem riesigen unterirdischen Raum war es nahezu vollkommen still - bis auf ein gelegentliches leises Plätschern, wenn Wasser von der Decke herabtropfte. Die Stille wurde plötzlich durch Schritte unterbrochen, als die schwarz gekleidete Frau den Vorraum durchquerte und die Steintreppe herunterkam. Pitt und Loren machten sich sofort aus dem Staub und folgten einer erhöhten, aus Holzbalken erbauten Rampe, die zum anderen Ende der Höhlenkammer führte.
Die Rampe gabelte sich und ging in einen runden Laufgang über, der den Touristen gestattete, die zahlreichen handgemeißelten Säulen zu betrachten, die die Decke der Zisterne trugen. Darunter bot das stille, seichte Wasser Hunderten von bunt schillernden Karpfen, die nie das Licht des Tages sahen, ein friedliches Zuhause. Pitt und Loren hatten jedoch kaum Zeit, die Fische zu betrachten, während sie zum Höhlenende rannten.
Die Holzrampen waren von der tropfenden Decke nass, und Loren rutschte wiederholt auf ihren bestrumpften Füßen aus. Einmal stürzte sie sogar, als sie einem scharfen Knick des Laufgangs folgten. Einige Sekunden lang blieb sie liegen und rang nach Luft, bis Pitt ihr beim Aufstehen half. Der Klang von Schuhen, die die Steintreppe hinter ihnen herabeilten, hallte durch die Höhle.
»Warum ist sie immer noch hinter uns her?«, fragte Pitt laut, während er Loren in eine Ecke zog.
»Es könnte damit zu tun haben«, erwiderte sie und hielt den schwarzen Sack hoch, den sie noch immer in einer Hand hielt. »Ich habe ihn aus dem Lieferwagen mitgenommen. Ich dachte, er könnte vielleicht von Bedeutung sein.«
Pitt quittierte den Instinkt seiner Frau mit einem anerkennenden Lächeln. »Das ist er wahrscheinlich sogar«, sagte er. »Aber er ist nicht wichtig genug, um deswegen sein Leben zu riskieren.«
Die Schritte der Verfolger hatten das Ende der Treppe erreicht und klangen jetzt hohl, als sie sich über die Holzrampe bewegten. Pitt und Loren rannten noch ein Stück und waren plötzlich am Ende des Laufgangs angekommen.
»Geben Sie mir den Sack, und ich lasse Sie unbehelligt gehen.«
Die Stimme der Frau hallte drohend durch die Höhle. Nach einer kurzen Pause waren ihre Schritte wieder zu hören, diesmal deutlich schneller. Obwohl im matten Licht nicht zu sehen holte sie hörbar zu ihnen auf.
»Ins Wasser«, flüsterte Pitt, nahm Loren den schwarzen Sack ab, während er sie zum Geländer schob. Behindert durch ihr langes Kleid, kletterte sie unbeholfen über die Querstange und ließ sich von Pitt dabei helfen, ins hüfttiefe Wasser zu gleiten. Dabei erschauerte sie unwillkürlich wegen der Kälte des Wassers und der unmittelbaren Gefahr, in der sie schwebten.
»Versteck dich hinter der letzten Säule und lass dich nicht blicken, bis ich dich rufe«, wies er sie an.
»Was tust du?«
»Ich gebe ihr den Sack zurück.«
Er beugte sich unter dem Geländer hindurch und hauchte ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen, dann verfolgte er, wie sie an mehreren Säulenreihen vorbeiwatete, bis sie hinter einer weiteren Gruppe dieser Säulen verschwand. Beruhigt, dass sie sich in einem halbwegs sicheren Versteck befand, machte er kehrt und ging auf der Plattform ein Stück zurück. Ein donnernder Knall ließ ihn stehen bleiben, während ein paar Schritte vor ihm ein Stück der oberen hölzernen Geländerstange herausgesprengt wurde und ins Wasser fiel. Er entdeckte die Gestalt seiner Verfolgerin in gut dreißig Metern Entfernung und suchte sich eilends eine neue Position, in der er durch eine Reihe Säulen geschützt war.
Seine Gedanken rasten, denn in seiner neuen Deckung wäre er nur für wenige Sekunden sicher. Er betrachtete den schwarzen Sack, in dem sich zwei leichte Gegenstände befanden. Auf den leeren Laufgängen gab es keine Möglichkeit, ihn zu verstecken, daher wanderte sein Blick zu den hohen Säulen in seiner Nähe. Er stellte fest, dass an jeder dritten Säule dicht unter der Krone eine rote Lampe befestigt war, die in der Zisterne für indirektes Licht sorgte. Während sich die Schritte der Frau näherten, wog Pitt den Sack in der Hand und trennte die beiden Gegenstände durch das Tuch. Dann drehte er den Stoff in der Mitte zwischen den Gegenständen zusammen, so dass der Sack einer Hantel mit je einem Objekt an den Enden glich. »Fallen lassen!«, hörte er die Frau rufen.
Pitt vertraute darauf, dass sie bei der schwachen Beleuchtung noch zu weit entfernt war, um einen gezielten Schuss abzufeuern, daher machte er zwei schnelle Schritte in Richtung Geländer. Die Pistole bellte wieder, und Pitt gewahrte aus den Augenwinkeln zwei Mündungsblitze, während die Schüsse durch die Höhle hallten. Eine Kugel traf das Geländer, die andere sirrte dicht an seinem Ohr vorbei. Bereits in Bewegung, hatte er keine andere Wahl, als seine Absicht vollends in die Tat umzusetzen.
Gleichzeitig mit einem dritten Schritt holte er aus und schleuderte den Sack mit aller Kraft in die Höhe. Ohne innezuhalten packte er die obere Geländerstange und schwang sich darüber. Der Sack wirbelte immer noch durch die Luft, als Pitt bereits ins Wasser tauchte. Er schwamm sofort zur Rampe, schlängelte sich zwischen ihren Stützen hindurch und schlug die Richtung zu seiner Verfolgerin ein. Mit kontrollierten Bewegungen glitt er durch das seichte Wasser und achtete darauf, an der Oberfläche keine Turbulenzen zu erzeugen. Als erfahrener Freitaucher legte er problemlos fünfundzwanzig Meter zurück, ehe er zum Luftholen auftauchen musste.
Er verhielt sich absolut still und holte unter der Rampe unhörbar Luft, während er nach der Frau Ausschau hielt. Seiner richtigen Einschätzung zufolge hatte er sie unter der Rampe passiert, während sie zu der Stelle eilte, wo sie ihn hatte ins Wasser springen hören. Von unten konnte er beobachten, wie sie auf der anderen Seite der Rampe mit gezückter Pistole auf und ab ging und die Wasserfläche absuchte.
Er zog sich wieder unter die Rampe zurück und folgte ihr in die andere Richtung, bis sie einen Schwenk machte. In diesem Bereich war die Beleuchtung stärker, als ihm lieb war, doch die abknickende Rampe bot ihm ausreichend Deckung, um einen Angriff zu versuchen. Er wollte sich gerade an einer der Stützen nach oben ziehen, als er auf der Steintreppe weitere Schritte hörte. Im Hintergrund erklang eine Autohupe auf der Straße.
»Miss Maria, wir müssen sofort verschwinden«, rief eine männliche Stimme auf Türkisch. »Die Polizei kontrolliert schon die Straßen um den Topkapi-Palast.«
Pitt ließ sich wieder ins Wasser gleiten, als die Frau in seine Richtung rannte. Er hörte sie über sich, verhielt sich jedoch vollkommen still und konnte feststellen, dass sie bereits die Steintreppe hinaufeilte. An ihrem oberen Ende hielt sie noch für einen kurzen Moment inne, dann hallte ihre schrille Stimme durch die Zisterne.
»Ich werde Sie nicht vergessen«, rief sie.
Ihre Schritte entfernten sich, und die Hupe verstummte. Pitt hockte reglos im kalten Wasser und lauschte dem gespenstischen Echo der fallenden Wassertropfen. In der beruhigenden Gewissheit, dass sich ihre Verfolger tatsächlich aus dem Staub gemacht hatten, kletterte er zurück auf die Rampe und begab sich an ihr Ende, wobei er mehrmals Lorens Namen rief.
Seine frierende Frau trat hinter einer der Säulen hervor und watete zur Rampe, wo Pitt sie aufs Trockene hievte. Obwohl ihr Haar völlig zerzaust und ihre Kleidung durchnässt war und sie vor Kälte zitterte, sah sie Pitt strahlend an.
»Bist du okay?«, fragte er.
»Na klar. Sind sie weg?«
Pitt nickte und hielt ihre Hand, während sie auf der Rampe zur Treppe gingen.
»Ein übles Volk«, sagte sie. »Ich möchte wissen, wie viele Leute sie bei ihrem Überfall getötet haben.«
Pitt verzichtete auf eine Schätzung. »Haben sie dir etwas getan?«, fragte er stattdessen.
»Nein, aber sie hatten eindeutig keine Hemmungen zu töten. Es schien ihnen völlig egal zu sein, als ich ihnen erklärte, ich sei Amerikanerin und Kongressabgeordnete.«
»Offenbar sind Politiker hier noch schlechter angesehen als in Amerika«, meinte Pitt nicht ohne eine Prise Sarkasmus.
»Hast du ihr den Sack gegeben?«, fragte Loren.
»Nein, ich fürchte, sie musste mit leeren Händen abziehen. Wie du ja sicher gehört hast, hat sie aber nicht die Absicht, uns zu vergessen.«
»Wo hast du ihn versteckt?«
Pitt blieb stehen und deutete auf die Krone einer Marmorsäule, die nur wenige Schritte entfernt aus dem Wasser ragte. An der Lampenfassung am oberen Ende der Säule hing der zusammengedrehte schwarze Stoffsack.
»Er ist gar nicht versteckt«, sagte er mit dem Anflug eines Grinsens. »Er befindet sich nur ein wenig außer Reichweite.«
6
»Noch eine Tasse Tee, Scheich?«
Der Gast nickte, während sich sein Gastgeber anschickte, schwarzen Tee in seine Tasse einzuschenken. Mit knapp dreißig Jahren war er der jüngste von fünf Söhnen einer der Herrscherfamilien der Vereinigten Arabischen Emirate. Er war von eher schmächtigem Wuchs und trug ein makellos gebügeltes schneeweißes Kopftuch, das mit einer golddurchwirkten Agal befestigt war und kaum vermuten ließ, dass seine Familie über ein Milliardenvermögen an Petrodollars verfügte.
»Die Bewegung des Mufti scheint in der Türkei eine gesunde Basis zu haben«, sagte er und stellte die Teetasse auf den Tisch. »Ich freue mich über die Fortschritte, von denen Sie berichtet haben.«
»Mufti Battal hat eine treue Gefolgschaft«, erwiderte der Gastgeber und blickte zum Porträt eines weise aussehenden Mannes in schwarzem Gewand und Turban, das an einer der Wände des Raumes hing. »Die Zeiten und die Verhältnisse haben der Bewegung zu verstärktem Zulauf verholfen, und die zunehmende Popularität des Mufti hat ihr Ansehen enorm gesteigert. Uns bietet sich nun endlich die realistische Gelegenheit, die Türkei und ihre Rolle in der Welt grundlegend zu verändern. Um eine solche Veränderung herbeizuführen sind natürlich beträchtliche Ressourcen erforderlich.«
»Ich engagiere mich für das Anliegen hier genauso, wie ich mich für die Muslimbruderschaft in Ägypten engagiere«, entgegnete der Scheich.
»Genauso wie unsere ägyptischen Brüder werden wir uns im Namen Allahs vereinen«, sagte der Gastgeber und verneigte sich.
Der Scheich erhob sich und durchquerte das Hochhausbüro, das so aussah und auch eine Atmosphäre hatte wie eine Moschee. Kleine Kelim-Gebetsteppiche waren auf einer freien Fläche vor einer nach Mekka ausgerichteten Mihrab ausgebreitet. Vor der gegenüberliegenden Wand stand ein hohes Bücherregal, das mit alten Ausgaben des Koran gefüllt war. Nur ein großes strahlendes Panoramafenster lockerte die strenge und Andacht heischende Inneneinrichtung etwas auf.
Der Scheich trat ans Fenster und bewunderte den Ausblick, der sich ihm bot. Das Bürohochhaus stand auf dem asiatischen Ufer des Bosporus und gestattete einen atemberaubenden Blick auf das alte Istanbul am europäischen Ufer auf der anderen Seite des schmalen Wasserwegs. Der Scheich betrachtete die Minarette der Süleyman-Moschee in der Ferne.
»Istanbul hat großen Respekt vor der Vergangenheit, so wie es sich auch gehört«, sagte er. »Man kann nicht zu Größe gelangen, wenn man nicht die Vergangenheit würdigt und sie als Fundament benutzt.«
Er wandte sich zu seinem Gastgeber um. »Meine Brüder wurden im Westen erzogen und ausgebildet. Sie tragen englische Anzüge und haben ein Faible für schnelle Automobile«, sagte er abfällig. »Aber Sie sind nicht so wie sie.«
»Nein«, erwiderte der Scheich nachdenklich. »Ich habe die islamische Universität in Medina besucht. Seit meiner Jugend habe ich mich Allah verschrieben. Es gibt keinen wichtigeren Sinn im Leben, als das Wort des Propheten zu verkünden.« Er wandte sich vom Fenster ab.
»Die Gefahren, die uns drohen, werden nicht weniger«, sagte er. »In Kairo zünden Zionisten in der Al-Azhar-Moschee eine Bombe, doch niemand auf der Welt entrüstet sich darüber.«
»Mufti Battal und ich sind entrüstet.«
»Ich ebenso. Derartige Taten dürfen nicht ignoriert werden«, sagte der Scheich.
»Wir müssen das Fundament unseres Hauses stärken, um allen feindlichen Mächten von außen widerstehen zu können.«
Der Scheich nickte zustimmend. »Wie Sie wissen, bin ich mit einem beträchtlichen Vermögen gesegnet. Ich werde die Sunniten hier weiterhin unterstützen. Ich teile in vollem Umfang die Weisheit Istanbuls, was die Würdigung unserer Vergangenheit betrifft.«
»Mit ihrer Hilfe wird uns der Segen Allahs zuteilwerden.«
Der Scheich ging zur Tür. »Ich werde die Überweisung der Gelder in Kürze veranlassen. Bitte bestellen Sie Mufti Battal meine herzlichen Grüße.«
»Er wird dankbar und erfreut sein. Allah sei gepriesen.«
Der Scheich reagierte in gleicher Weise, und dann gesellte er sich zu einer Gruppe Begleiter, die ihn vor der Tür erwartete. Als die arabischen Besucher das Foyer verlassen hatten, schloss der Gastgeber die Tür, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und nahm einen Schlüssel aus der obersten Schublade. Er schloss eine unauffällige Seitentür auf und betrat ein angrenzendes Büro, das fast dreimal so groß war wie das erste. Der Raum war nicht nur groß, sondern auch prachtvoll eingerichtet und - was seine Atmosphäre betraf das genaue Gegenteil. Er war hell erleuchtet und mit einer stilvollen Mischung zeitgenössischer Kunst und klassischer Ölgemälde, einzigartiger handgeknüpfter Teppiche und antiker europäischer Möbel aus dem neunzehnten Jahrhundert ausgestattet. Von Spotscheinwerfern an der Decke angestrahlt, bestanden die Attraktionen des Raumes in einander gegenüberliegenden Wandregalen, voll mit wertvollen Antiquitäten und Reliquien aus osmanischer Zeit. Darunter waren auch wertvolle Porzellanvasen, kunstvolle Wandteppiche und mit Edelsteinen besetzte Waffen. In der Mitte eines der Regale war das Glanzstück der Sammlung zu sehen: ein golddurchwirkter Waffenrock an einer Ankleidepuppe in einem Glaskasten. Laut einer Schrifttafel in der Vitrine hatte der Rock einst Mehmed I. gehört, einem osmanischen Sultan, der im fünfzehnten Jahrhundert regiert hatte.
Eine zierliche Frau mit kurzem schwarzem Haar saß auf einem Diwan und las in einer Zeitung. Ihre Anwesenheit rief einen ungehaltenen Ausdruck im Gesicht des Mannes hervor. So ging er wortlos an ihr vorbei. An einem mit Holzschnitzereien verzierten Schreibtisch am Fenster nahm er eine Kufiya vom Kopf und schlüpfte aus einem schwarzen Gewand. Darunter kamen ein modisches Oberhemd und eine moderne sportliche Hose zum Vorschein.
»War dein Treffen mit dem Scheich erfolgreich?«, fragte sie und ließ die Zeitung sinken.
Ozden Aktan Celik nickte bejahend.
»Ja, dieser jämmerliche Wicht königlichen Geblüts hat sich zu einer weiteren Barspende bereit erklärt. Zwanzig Millionen, um genau zu sein.«
»Zwanzig?«, fragte die Frau und bekam große Augen. »Deine Überredungskünste sind in der Tat beeindruckend.«
»Dabei geht es doch nur darum, einen verwöhnten reichen Araber gegen den anderen auszuspielen. Wenn unser kuwaitischer Wohltäter von der Spende des Scheichs erfahrt, wird er allein schon wegen seines Egos gezwungen sein, ihn zu übertreffen. Natürlich hat dein letzter Abstecher nach Kairo für eine beträchtliche Erhöhung des Einsatzes gesorgt.«
»Es ist schon erstaunlich, wie gewinnbringend sich die zionistische Bedrohung ausnutzen lässt. Stell dir nur mal vor, wie viel Geld gespart werden würde, wenn die Araber und die Israelis einander um den Hals fielen und Freundschaft schlossen.«
»Sie würden schon bald einen neuen Sündenbock finden, den sie für alles verantwortlich machen können, was ihnen nicht passt«, sagte Celik und ließ sich hinter dem Schreibtisch in den Sessel sinken. Er war ein wohlproportionierter Mann mit schütterem schwarzem Haar, das an den Seiten nach hinten gekämmt war. Seine Nase war ein wenig breit, aber er hatte ein markantes Gesicht und wäre damit auf der Titelseite des Gentlemen's Quarterly sicher nicht fehl am Platze gewesen. Nur seine dunklen Augen wiesen auf einen Bruch in seiner Persönlichkeit hin, indem sie einen ständigen Wechsel emotionaler Extremzustände signalisierten. Jetzt loderte unverhohlener Zorn in ihnen, als sie die Frau fixierten.
»Maria, mir wäre es um einiges lieber gewesen, wenn du nicht so schnell aus der Versenkung aufgetaucht wärest. Vor allem nicht nach deiner chaotischen Vorstellung von gestern Nacht.« Die Drohung in seinem Blick war unverkennbar.
Doch ganz gleich, welche Einschüchterungstaktik er auch verfolgen mochte, sie verfehlte ihre Wirkung auf die Frau vollkommen.
»Die Operation lief in jeder Hinsicht ab wie geplant. Unsere Flucht hat sich lediglich durch die Einmischung lästiger Gaffer ein wenig verzögert.«
»Und die Beschaffung der mohammedanischen Artefakte behindert«, zischte er erbost. »Ihr hättet sie alle töten sollen, auf der Stelle.«
»Vielleicht. Aber wie sich herausgestellt hat, waren zwei von ihnen amerikanische Regierungsvertreter, darunter auch eine Kongressangehörige. Ihr Tod hätte unser Ziel in den Hintergrund gerückt. Und wie es aussieht, haben wir unser Ziel doch wohl erreicht.« Sie faltete die Zeitung, in der sie gelesen hatte, zusammen und warf sie auf Celiks Schreibtisch.
Es war eine Ausgabe der Milliyet, einer türkischen Tageszeitung, deren Schlagzeilen unübersehbar verkündeten: »Todesopfer bei Überfall auf Topkapi. Heilige Reliquien gestohlen.«
Celik nickte. »Ja, ich habe die Berichte auch gelesen. Die Medien machen einheimische Heiden für den Diebstahl und die Schändung unserer heiligen muslimischen Reliquien verantwortlich. Also genau die Schlagzeilen, die wir uns gewünscht haben. Aber du vergisst, dass wir einige einheimische Reporter dafür bezahlt haben. Was glaubt denn die Polizei?«
Maria trank einen Schluck Wasser, ehe sie antwortete. »Das wissen wir nicht. Mein Informant bei der Polizei konnte nur die elektronische Kopie des Protokolls beschaffen. Es scheint, als hätten sie keine richtigen Verdächtigen, obgleich die amerikanische Frau einige Personen beschreiben konnte und angab, dass sich unser Team offenbar auf Arabisch untereinander verständigt hat.«
»Ich sagte dir ja, dass mir die Idee, irakische Agenten einzusetzen, nicht sonderlich behagte.«
»Sie sind bestens ausgebildet, mein Bruder, und dienen - wenn sie geschnappt werden sollten — als geeignete und sichere Sündenböcke. Für unsere Zwecke ist ein schiitischer Dieb fast genauso gut geeignet wie ein westlicher Ungläubiger. Sie werden gut dafür bezahlt, den Mund zu halten. Und außerdem glauben sie, dass sie für ihre schiitischen Brüder arbeiten. Ohne sie hätte ich dies hier nicht beschaffen können«, fügte sie hinzu und öffnete einen kleinen Aktenkoffer, der neben ihren Füßen auf dem Fußboden stand.
Sie griff hinein und holte einen flachen Gegenstand hervor, der lose in braunes Papier eingewickelt war. Sie stand auf und legte das Paket vor Celik auf den Schreibtisch. Seine hin und her zuckenden Augen blieben an dem Paket hängen, dann begann er es mit zitternden Händen auszupacken. Unter dem Papier kam ein Beutel aus grünem Taft zum Vorschein. Er öffnete ihn und zog behutsam seinen Inhalt heraus. Es war eine verblichene schwarze Fahne, an deren Rändern ganze Stücke herausgerissen waren. Er betrachtete die Fahne fast eine ganze Minute lang, ehe er sie vorsichtig hochhob und auseinanderfaltete.
»Sancaki Serif. Die heilige Fahne Mohammeds«, flüsterte er andächtig.
Es war eine der wertvollsten Reliquien des Topkapi-Palasts und historisch gesehen vielleicht sogar die wichtigste. Die schwarze wollene Fahne, hergestellt aus dem Turban eines besiegten Feindes, hatte dem Propheten Mohammed als Kriegsbanner gedient. Er hatte sie in die wichtige Schlacht von Badr mitgenommen, wo sein Sieg dem Islam zum Aufstieg verholfen hatte.
»Damit hat Mohammed die Welt verändert«, sagte Celik, während seine Augen eine funkelnde Mischung aus Ehrfurcht und Fanatismus ausstrahlten. »Wir werden das Gleiche tun.«
Er trug sie durch den Raum und legte sie auf die Glasvitrine, in der Sultan Mehmeds Rock aufbewahrt wurde.
»Und wie konnten die anderen Reliquien verloren gehen?«, fragte Celik und wandte sich zu der Frau um.
Maria starrte zu Boden und dachte über eine passende Antwort nach. »Die amerikanische Frau nahm sich den zweiten Sack, als sie aus dem Lieferwagen flüchtete. Sie versteckten sich dann in der Yerebatan Sarnici. Ich war gezwungen zu verschwinden, ehe ich ihn zurückholen konnte«, fügte sie verärgert hinzu.
Celik sagte nichts, doch seine Augen schienen die Frau wie ein Paar Laser zu durchbohren. Abermals begannen seine Hände zu zittern, doch diesmal vor kaum gebändigter Wut. Maria versuchte, einer Explosion zuvorzukommen.
»Die Mission war trotzdem ein Erfolg. Selbst wenn nicht alle ausgewählten Reliquien beschafft werden konnten, ist die Wirkung die gleiche. Das Eindringen und Entwenden der Kriegsfahne wird die erhoffte Reaktion in der Öffentlichkeit auslösen. Denk an unseren großen Plan. Dies ist nur ein Schritt in unserem Vorhaben.«
Celik beruhigte sich, suchte jedoch immer noch nach einer Erklärung.
»Was hatten diese amerikanischen Touristen mitten in der Nacht im Topkapi-Palast zu suchen?«
»Dem Polizeibericht zufolge waren sie im Archäologischen Museum in der Nähe des Bäb-üs-Seläm-Tors, wo sie sich mit einem der Kuratoren getroffen haben. Der Mann - sein Name lautet Pitt - ist eine Art Unterwasserexperte der amerikanischen Regierung. Offenbar hat er in der Nähe von Chios ein altes Schiffswrack entdeckt und mit einem Fachmann für Meeresarchäologie über seinen Fund gesprochen.«
Celik spitzte bei der Erwähnung des Wracks die Ohren. »War es ein osmanisches Schiff?«, fragte er und betrachtete das Gewand in der Glasvitrine.
»Darüber habe ich keine weiteren Informationen.«
Celik studierte die farbenfrohen Stickereien des alten Kleidungsstücks. »Unser Vermächtnis muss erhalten werden«, sagte er leise, als befände er sich in einer Trance, die ihn in die Vergangenheit katapultiert hatte. »Die Schätze des Königreichs gehören von Rechts wegen uns. Kümmere dich darum, ob du mehr über dieses Schiffswrack in Erfahrung bringen kannst.«
Maria nickte. »Das dürfte möglich sein. Was ist mit diesem Mann namens Pitt und seiner Frau? Wir wissen, wo sie abgestiegen sind.«
Celik starrte weiter auf den Rock. »Das ist mir egal. Töte sie, wenn du willst, aber tu es unauffällig. Und dann halt dich für unser nächstes Projekt bereit.«
Maria nickte, wobei ein schmales Lächeln um ihre Lippen spielte.
Sophie Elkin zog eine Bürste durch ihr glattes schwarzes Haar und warf dann einen kurzen Blick in den Spiegel. Bekleidet mit einer abgetragenen Khakishorts und einem dazu passenden Baumwollhemd - und ohne irgendwelches Make-up — konnte ihr Äußeres kaum unscheinbarer sein. Doch ihre natürliche Schönheit war nicht zu übersehen. Sie hatte ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, eine zierliche Nase und sanft blickende aquamarinblaue Augen. Trotz der vielen Stunden, die sie unter freiem Himmel verbrachte, war ihre Haut glatt und makellos. Ihr Aussehen hatte sie hauptsächlich von ihrer Mutter geerbt, einer Französin, die sich in Paris in einen israelischen Geologiestudenten verliebt hatte und mit ihm nach Tel Aviv gegangen war.
Sophie hatte schon immer wenig auf ihr Aussehen geachtet und ihre Weiblichkeit nach Möglichkeit unterdrückt. Bereits als Kind hatte sie die Kleider verschmäht, die ihre Mutter ihr kaufte, und stattdessen Hosen vorgezogen, damit sie sich an den oftmals rauen Abenteuerspielen der Jungen in ihrer Nachbarschaft beteiligen konnte. Als Einzelkind hatte sie ihrem Vater, der die Geologische Abteilung der Universität von Tel Aviv leitete, sehr nahegestanden. Das selbstständige Mädchen hatte ihn stets begeistert auf seinen Feldstudien begleitet, in deren Verlauf er die geologischen Formationen der umliegenden Wüsten untersuchte. Dabei hatte sie am abendlichen Lagerfeuer die Geschichten von den biblischen Ereignissen, die nicht selten genau dort stattgefunden hatten, wo sie gerade campierten, gierig aufgesogen.
Die Tätigkeit ihres Vaters hatte dazu geführt, dass sie Archäologie studierte. Im Verlauf ihres Studiums musste sie schließlich miterleben, wie ein Kommilitone wegen des Diebstahls von Artefakten aus den Universitätsarchiven verhaftet wurde. Dieser Zwischenfall machte sie mit der düsteren Schattenwelt des Antiquitätenschwarzhandels bekannt, den sie mehr und mehr zu hassen lernte, weil er für die Zerstörung wichtiger archäologischer Fundorte verantwortlich war. Nachdem sie promoviert hatte, verzichtete sie auf eine weitere akademische Karriere und ging stattdessen zur Israel Antiquities Authority. Mit Hingabe und Beharrlichkeit arbeitete sie sich innerhalb weniger Jahre bis auf den Chefposten der Antiquities Robbery Prevention Unit hoch. Die Liebe zu ihrem Beruf ließ ihr nur wenig Zeit für ein Privatleben, und so verabredete sie sich nur selten, da sie meist bis tief in die Nacht arbeitete.