Sie schnappte sich ihre Handtasche, verließ ihr kleines Apartment mit Blick auf den Ölberg und fuhr in den alten Teil Jerusalems. Die Antiquities Authority residierte im Rockefeller Museum, einem weitläufigen weißen Kalksteingebäude im Nordosten der Altstadt von Jerusalem. Ausgestattet mit einem Personal von nur zwölf Mitarbeitern, hatte ihre Abteilung die schier unmögliche Aufgabe, die etwa dreißigtausend Kulturstätten überall in Israel zu beschützen.
»Guten Morgen, Soph«, begrüßte sie der leitende Detective der Abteilung, ein hagerer, leicht glubschäugiger Mann namens Sam Levine. »Darf ich dir einen Kaffee holen?«
»Danke, Sam, das fände ich prima«, sagte sie und kaschierte ein Gähnen, während sie in ihr kleines Büro ging. »Letzte Nacht wurde auf einer Baustelle in der Nähe meines Apartments gearbeitet, so dass ich kaum ein Auge geschlossen habe.«
Sam kam mit dem Kaffee zurück und ließ sich auf der anderen Seite ihres Schreibtisches auf einen Stuhl fallen.
»Wenn du sowieso nicht schlafen konntest, hättest du uns ja auch bei der Überwachung Gesellschaft leisten können«, sagte er grinsend.
»Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Nein, unsere Grabräuber, die in Hebron ihr Unwesen treiben, müssen sich eine freie Nacht gegönnt haben. Um Mitternacht haben wir Schluss gemacht, aber wir konnten immerhin ein ansehnliches Bündel Spitzhacken und Schaufeln einsammeln.«
Das wahrscheinlich Zweitälteste Gewerbe auf der Welt, Grabräuberei, rangierte auf der Trefferliste der Robbery Prevention Unit ziemlich weit oben. Mehrmals in der Woche führten Sophie oder Sam überall im Land nächtliche Überwachungen alter Gräberfelder durch, die Spuren frischer Ausgrabungen aufwiesen. Für Tongefäße, Schmuck und sogar die Knochen selbst gab es auf dem illegalen Antiquitätenmarkt, der sich über ganz Israel erstreckte, stets kaufwillige Interessenten.
»Jetzt, wo sie wissen, dass wir sie auf dem Kieker haben, werden sie sich wahrscheinlich für ein paar Wochen zurückhalten«, sagte Sophie.
»Oder sich ein anderes Betätigungsfeld suchen. Vorausgesetzt sie haben genug Geld, um sich neue Schaufeln zu kaufen«, fügte er hinzu und grinste wieder.
Sophie überflog ein paar Berichte und Zeitungsausschnitte auf ihrem Schreibtisch und schob dann einen der Artikel zu Sam hinüber.
»Ich mache mir Sorgen wegen dieser Ausgrabungen in Caesarea«, sagte sie.
Sam las den Artikel quer.
»Ja, ich hab schon davon gehört. Es ist ein Ausgrabungsprojekt, das von der Universität gesponsert wird und der Untersuchung alter Hafeneinrichtungen gilt. Es heißt hier, dass sie ein paar Gegenstände aus dem vierten Jahrhundert zutage gefördert und vielleicht sogar ein Grab gefunden haben. Glaubst du wirklich, dass Diebe es darauf abgesehen haben könnten?«
Sophie trank ihren Kaffee, dann stellte sie die Tasse mit einer heftigen Bewegung auf den Tisch.
»Der Reporter hätte auch gleich eine Fahne hissen und eine Leuchtreklame aufstellen können. Sobald irgendwo das Wort >Grab< gedruckt wird, wirkt es wie ein Magnet. Ich habe die Zeitungsreporter mindestens tausend Mal gebeten, auf die Nennung antiker Grabstätten zu verzichten, aber sie sind mehr daran interessiert, Zeitungen zu verkaufen, als unser Erbe zu schützen.«
»Warum fahren wir nicht runter und schauen uns dort um? Wir haben für heute Nacht sowieso eine Überwachung angesetzt, aber ich könnte die Jungs noch umdirigieren und dorthin schicken. Sie würden sich bestimmt über einen Ausflug an die Küste freuen.«
Sophie warf einen Blick auf ihren Schreibtischkalender und nickte dann. »Nach ein Uhr bin ich frei. Ich denke auch, wir sollten mal hinfahren und die Nacht über dort bleiben, wenn es so aussieht, als würde es sich lohnen.«
»Das ist doch ein Wort. Dafür stehl ich dir glatt noch eine zweite Tasse Kaffee«, sagte er und sprang von seinem Stuhl auf.
»Okay, Sam, du hast mich überredet.« Dann sah sie ihn ernst an. »Aber hör bitte damit auf, das Wort >stehlen< zu benutzen, wenn ich in der Nähe bin.«
Etwa fünfundvierzig Kilometer nördlich von Tel Aviv an der Mittelmeerküste gelegen, war Caesarea eine nur spärlich bevölkerte Enklave, die im Schatten ihrer historischen Vergangenheit als ein bedeutender Sitz römischer Macht ein bescheidenes Dasein führte. Im ersten Jahrhundert vor Christus von Herodes dem Großen als befestigte Hafenstadt erbaut, verfügte Caesarea über die berühmten Kennzeichen römischer Architektur. Ein Tempel mit hohen Säulen, ein gewaltiges Hippodrom und ein prachtvoller Palast am Meer schmückten die Stadt, die über massive gemauerte Aquädukte mit kühlem Trinkwasser aus dem Landesinneren versorgt wurde. Herodes' eindrucksvollste technische Meisterleistung war jedoch nicht an Land zu bewundern. Er hatte mächtige Wellenbrecher aus Zementblöcken entworfen und gebaut - und benutzte sie, um den größten geschützten Hafen des östlichen Mittelmeers zu schaffen. Der Erfolg des Hafens verhalf Caesarea zu größerer Bedeutung als die Hauptstadt von Judäa unter römischer Herrschaft, und die Stadt stellte für über dreihundert Jahre ein wichtiges Handelszentrum dar.
Sophie kannte die Überreste der alten Stadt, nachdem sie während ihres Studiums einen ganzen Sommer an der dortigen Ausgrabungsstätte verbracht hatte. Sie bog von der stark befahrenen Küstenschnellstraße ab, lenkte den Wagen durch ein im Bau befindliches Luxuswohnviertel und gelangte dann zu dem Trümmerfeld mit den Resten der römischen Baudenkmäler, das mittlerweile in einen geschützten Staatspark umgewandelt worden war. Die Jahrhunderte hatten es mit der alten Stadt nicht gut gemeint: Ihre alten römischen Bauwerke waren längst zu Staub zerfallen. Doch zahlreiche Überbleibsel der früheren städtischen Einrichtungen waren noch intakt, darunter auch ein großer Abschnitt eines Bogenaquädukts, das sich nicht weit von einem ziemlich großen, direkt am Meer gelegenen Amphitheater über den ockerfarbenen Sandstrand spannte.
Sophie parkte den Wagen auf einem Parkplatz in der Nähe des Eingangs auf der Hügelkuppe, nicht weit von einigen Befestigungsanlagen aus der Zeit der Kreuzfahrer.
»Das Team der Universität arbeitet in der Nähe des Hafens«, sagte sie zu Sam. »Es ist von hier aus nur ein kurzes Stück zu Fuß.«
»Ich frage mich, ob es da wohl irgendwo was zu essen gibt«, murmelte er und betrachtete trübsinnig die kahlen Hügel ringsum.
Sophie reichte ihm die Wasserflasche von der Rückbank. »In der Nähe der Küstenstraße gibt es sicherlich einige Restaurants, aber vorläufig musst du mit einer flüssigen Diät vorliebnehmen.«
Sie nahmen einen Weg, der sich zum Strand hinunterschlängelte und sich an mehreren Stellen vor der Uferwand verbreiterte. Sie kamen an einer verlassenen Straße vorbei, die einst von Wohnhäusern und kleinen Läden und Werkstätten gesäumt wurde, deren geisterhafte Überbleibsel kaum mehr als unordentliche Steinhaufen waren. Während sie dem Pfad folgten, öffnete sich vor ihnen der kleine Hafen. Von seinen Grenzen war kaum noch etwas zu erkennen, da die ursprünglichen Wellenbrecher schon vor Jahrhunderten vom Meer überspült worden waren.
Der Pfad führte zu einer weiten Lichtung, auf der kleine Steinhaufen verstreut waren, wohin das Auge blickte. Ein Stück entfernt war eine Gruppe beigefarbener Zelte zu sehen, und Sophie konnte ein oder zwei Personen ausmachen, die unter einem weiten Sonnensegel in der Mitte arbeiteten. Der Pfad verlief weitere einhundert Meter hügelabwärts bis dorthin, wo die Wellen des Mittelmeers über den Strand leckten. Zwei Männer waren zu sehen, die auf einem schmalen Streifen Land arbeiteten, eingerahmt von zwei Generatoren, die laut summend für elektrischen Strom sorgten.
Sophie steuerte auf das große Sonnensegel zu, das, wie sie erkennen konnte, über einem Bereich aufgespannt worden war, in dem soeben Ausgrabungen im Gange waren. Zwei junge Frauen standen in der Nähe eines Geröllhaufens und schaufelten Erde durch ein Sieb. Dann, nachdem sie sich etwas weiter genähert hatte, konnte Sophie einen älteren Mann sehen, der gebückt in einem Graben stand und die Erde mit einer kleinen Maurerkelle und einem Pinsel bearbeitete. Mit seiner zerknautschten Kleidung, einem kurzen grauen Bart und einer Brille, die er auf seiner Nasenspitze balancierte, trug Keith Haasis sämtliche Merkmale eines Universitätsprofessors, der sich allein seiner Wissenschaft verschrieben hatte.
»Wie viele römische Schätze haben Sie heute schon aus der Erde geholt, Dr. Haasis?«
Der bärtige Mann richtete sich im Graben auf, mit einem ungehaltenen Ausdruck im Gesicht, der sich jedoch sofort in ein breites Lachen verwandelte, als er die Fragerin erkannte.
»Sophie!«, rief er laut. »Wie schön, Sie hier zu sehen!« Er sprang aus dem Graben, kam schnell zu ihr gelaufen und umarmte sie.
»Das ist ja eine halbe Ewigkeit her«, sagte er.
»Wir haben uns doch erst vor zwei Monaten beim Archäologenkongress in Jerusalem getroffen«, erwiderte sie in leicht tadelndem Tonfall.
»Meine Rede: viel zu lange«, rief er lachend.
Früher hatte Sophie zahlreiche Seminare des Archäologieprofessors von der Universität in Haifa besucht, woraus sich später eine berufliche Freundschaft entwickelt hatte. Haasis war eine wertvolle Kontaktperson für sie, und zwar sowohl als archäologischer Experte als auch als Informant, was neue Fundorte und grabräuberische Aktivitäten betraf.
»Dr. Haasis, dies ist mein Assistent, Sam Levine«, sagte sie und stellte ihren Begleiter vor. Haasis machte die Besucher mit seinen studentischen Hilfskräften bekannt und geleitete Sophie und Sam dann zu einer Gruppe von Campingsesseln, die im Halbkreis um eine große Kühlbox angeordnet waren. Der Professor verteilte eiskalte Mineralwasserdosen, dann ließ er sich in einen Sessel fallen.
»Jemand müsste heute mal für ein wenig frischen Wind sorgen«, sagte er mit einem müden Lächeln. Dann sah er Sophie gespannt an und fragte: »Das ist doch sicher ein offizieller Besuch, nicht wahr?«
Sophie nahm einen Schluck aus ihrer Getränkedose und nickte.
»Gibt es einen besonderen Grund?«, fragte der Professor.
»Ein wenig übertriebene Publicity in der gestrigen Ausgabe der Yedioth Ahronoth«, sagte sie und holte den Zeitungsartikel aus einer Schultertasche. Sie reichte ihn Haasis und beobachtete mit strenger Miene, wie Sam seine Dose Mineralwasser leerte und sich eine zweite aus der Kühlbox holte.
»Ja, richtig. Vor ein paar Tagen war ein Lokalreporter wegen eines Interviews hier«, sagte Haasis. »Seine Geschichte muss in Jerusalem übernommen worden sein.«
Er lächelte Sophie an, als er ihr den Bericht zurückgab.
»Es ist doch nichts Schlimmes an ein bisschen Werbung für anständige archäologische Arbeit«, sagte er.
»Außer dass es eine ziemlich unverhüllte Einladung für jeden Dieb mit einer Schaufel ist«, erwiderte sie.
Haasis winkte ab. »Dieser Ort wurde seit Jahrhunderten ausgeplündert. Alles, was an »römischen Schätzen< jemals hier gelegen hat, ist längst verschwunden, fürchte ich. Oder war Ihr Agent nicht dieser Meinung?«
»Welcher Agent?«, fragte Sophie.
»Ich war wegen einer Besprechung in Haifa, aber meine Studenten berichteten, gestern sei ein Agent der Antiquities Authority hier gewesen und habe die Ausgrabungsstätte besichtigt. Stephanie«, rief er über die Schulter.
Eine der jungen Frauen am Erdsieb kam eilig herübergelaufen. Sie war schlank, noch keine zwanzig, und blickte Haasis mit einem Ausdruck tiefer Verehrung an.
»Stephanie, erzählen Sie doch mal von unserem gestrigen Besucher«, bat er.
»Er erklärte, er komme von der Robbery Prevention Unit und wolle sich über unsere Sicherheitsmaßnahmen informieren, daher habe ich ihn herumgeführt. Am meisten interessierte er sich für die Hafenausgrabung und das Papyrus-Dokument.«
Sophie und Sam sahen einander stirnrunzelnd an.
»Erinnern Sie sich noch an seinen Namen?«, fragte Sophie.
»Yosef oder so ähnlich. Er war ziemlich klein, dunkle Haut, lockiges Haar. Um ehrlich zu sein, er sah aus wie ein Palästinenser.«
»Hat er Ihnen irgendeinen Ausweis gezeigt?«, wollte Sam wissen.
»Nein, ich glaube nicht. Stimmt was nicht?«
»Nein, nein, alles in Ordnung«, sagte Haasis. »Danke, Stephanie. Wenn Sie wieder runtergehen, nehmen Sie für die anderen etwas zu trinken mit.«
Haasis v/artete, bis die junge Frau mit einem Arm voll Dosen gegangen war, dann wandte er sich an Sophie.
»War das keiner von Ihren Agenten?«, fragte er.
Sophie schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht von der Robbery Prevention Unit.«
»Vielleicht kam er von der Nationalpark-Verwaltung oder von einer Ihrer regionalen Dienststellen. Diese jungen Leute können sich heutzutage kaum mehr etwas richtig merken.«
»Das ist möglich«, erwiderte sie in zweifelndem Ton. »Können Sie uns Ihre Ausgrabungsstätten einmal zeigen? Am meisten interessiert mich das Grabmal. Wie Sie sicher wissen, hat sich die Grabräuberei rund um Jerusalem zur reinsten Heimindustrie entwickelt.«
Haasis lächelte, dann deutete er mit dem Daumen über die Schulter. »Es befindet sich direkt hinter uns.«
Die drei standen auf und gingen zu einem breiten Graben, der hinter den Sesseln verlief. Mehrere rote Plastikmarker steckten im Erdreich und kennzeichneten eine Ansammlung freigelegter Knochen. Sophie erkannte zwischen den teilweise noch mit Sand bedeckten sterblichen Überresten einen Oberschenkelknochen.
»Es gibt kein formelles Grabmal. Wir haben lediglich ein einzelnes Grab am Rand der Ausgrabungsstätte gefunden. Es steht in keiner Beziehung zu unserem augenblicklichen Projekt«, erklärte Haasis.
»Und was befand sich hier?«, fragte Sam.
»Wir tippen auf eine Art Frachtlager. Wir haben uns für diesen Ort entschieden, nachdem hier vor ein paar Jahren einige Waagen aus Bronze gefunden wurden. Wir hoffen, Reste von Getreide, Reis und anderen Lebensmitteln zu finden, die im Hafen umgeschlagen wurden. Wenn wir Glück haben, gewinnen wir eine genauere Vorstellung von der Art und dem Umfang der Warenmengen, die in Caesarea verteilt wurden, als es noch ein blühendes Handelszentrum war.«
»Wie passt dieses Grab dazu?«, fragte Sophie.
»Noch haben wir keine Datierung vorgenommen, aber ich vermute, der Tote war ein Opfer der muslimischen Invasion von 638. Das Grab befindet sich außerhalb des Gebäudes, daher denke ich, dass man den Toten durch Zufall gefunden und eilig verscharrt haben wird.«
»Im Zeitungsartikel war von einem Grabmal, >voll mit wertvollen Beigaben<, die Rede«, bemerkte Sam.
Haasis lachte. »Journalistische Freiheit, fürchte ich. Wir sind tatsächlich auf ein paar Knöpfe aus Tierknochen und den Absatz einer Sandale gestoßen, bevor wir die Ausgrabung unterbrachen. Aber das ist alles, was wir an »wertvollen Beigaben< in dem Grab gefunden haben.«
»Da dürften unsere lieben Grabräuber aus der Umgebung aber ziemlich enttäuscht sein«, sagte Sam.
»In der Tat«, meinte der Professor. »Denn den wahren Schatz haben wir am Hafendamm entdeckt.« Er deutete mit einem Kopfnicken zum Meer, von wo das Summen der Generatoren zu ihnen heraufdrang. »Wir fanden ein sehr altes Papyrusdokument, das uns in einige Aufregung versetzt hat. Kommen Sie, wir gehen zum Wasser hinunter, dann zeige ich Ihnen das gute Stück.«
Haasis ging mit Sophie und Sam zum Trampelpfad und geleitete sie den Hügel hinab. Scharfkantige Steinformationen ragten in seltsamen Mustern stellenweise aus dem Erdreich und erinnerten an die Vielfalt von Gebäuden der alten Stadt, die größtenteils längst bis zur Unkenntlichkeit zerfallen waren.
»Indem er Gussformen benutzte, um seine Zementblöcke herzustellen und einzusetzen, legte König Herodes zwei Hafendämme an, die wie ein Paar Arme aufeinander zuliefen«, dozierte Haasis im Gehen. »Danach wurden auf den Hafendämmen Lagerhäuser errichtet, und an der Hafeneinfahrt wurde ein Leuchtturm erbaut.«
»Ich kann mich an ein Forschungsprojekt erinnern, in dessen Verlauf im Wasser eine Anzahl großer Steine gefunden wurde, die man dem Leuchtturm zugeordnet hat«, sagte Sophie.
»Wie schade, dass Herodes' Bauwerke den Mächten der See nicht widerstehen konnten«, sagte Sam, ließ den Blick übers Wasser schweifen und fand kaum noch einen sichtbaren Hinweis auf den Verlauf der ursprünglichen Hafenmolen.
»Ja, fast alle Zementblöcke liegen mittlerweile vollkommen unter Wasser. Aber mein eigentliches Interesse gilt dem dort«, sagte Haasis und deutete auf die unsichtbare Bucht. »Das Lagerhaus auf dem Hügel bietet den Studenten eine ideale Gelegenheit für praxisnahe Feldstudien, aber in Wahrheit sind es die Hafenanlagen, die Caesarea zu etwas ganz Besonderem machen.«
Sie überquerten den Strand und gelangten auf einen schmalen Landstreifen, der weit ins Meer ragte. Zwei Studenten hoben in mühevoller Arbeit einen tiefen Schacht mitten auf der Felszunge aus. In der Nähe war ein Taucher zu sehen, der unter Wasser mit einer von einem Kompressor betriebenen Hochdruckwasserlanze tätig war.
»Dies ist der Punkt, wo der Haupthafendamm begann«, erklärte Haasis und erhob die Stimme, um das tiefe Dröhnen des Kompressors in ihrer Nähe zu übertönen. »Wir glauben, dass so etwas wie ein Zollgebäude hier gestanden hat. Einer meiner Helfer hat das Papyrusdokument in einem geborstenen Tontopf da drüben entdeckt«, sagte er und deutete auf einen Graben nicht weit von ihnen. »Wir haben probeweise mehrere Gräben in verschiedene andere Pachtungen gegraben, bisher aber keine weiteren Artefakte gefunden.«
»Eigentlich erstaunlich, dass Ihr Schatz trotz der großen Nähe zum Wasser so gut erhalten geblieben ist«, sagte Sam.
»Wir sind auf Teile des Fundaments gestoßen, die deutlich über der Hochflutmarke liegen.«
Sie blickten in den Probeschacht, wo einer der Studenten auf eine kleine gekachelte Fläche deutete, die freigelegt war.
»Sieht so aus, als wären Sie im Keller angekommen«, bemerkte Sophie.
»Ja, ich fürchte, es ist nicht mehr allzu viel vorhanden, was sich auszugraben lohnt.«
»Was macht der Taucher?«
»Er ist Schiffsingenieur und hilft uns, die genaue Lage der Hafeneinrichtungen zu rekonstruieren. Offenbar nimmt er an, dass das Zollhaus über unterirdische Räume verfügt hat, und sucht nach einem unter Wasser gelegenen Zugang.«
Sophie ging zum Rand des Steindamms und blickte auf den Taucher hinunter. Er arbeitete in etwa drei Metern Wassertiefe unmittelbar unter ihr und richtete einen Druckwasserstrahl auf den festgebackenen Untergrund. Ohne etwas von seinem Publikum zu bemerken - das sich über ihm befand - unterbrach der Taucher seine Tätigkeit und schickte sich an aufzutauchen. Er hielt die Düse der Wasserlanze nach oben, so dass ein Wasserstrahl himmelwärts schoss, als die Düse die Meeresoberfläche durchbrach. Da sie genau in Zielrichtung stand, wurde Sophie mit einem Schwall Seewasser überschüttet, ehe sie sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen konnte.
»Sie verdammter Idiot!«, schimpfte sie und wischte sich mit triefenden Ärmeln das Salzwasser aus den Augen.
7
Als er erkannte, was er getan hatte, richtete der Taucher die Düse aufs Meer, schwamm zum Steindamm und schaltete den Kompressor ab. Er wandte sich zu seinem Opfer um, betrachtete die nasse Kleidung, die an ihrem Körper klebte, und spuckte das Atemventil aus.
»Sehe ich richtig? Eine Göttin aus dem Meer?«, fragte er mit einem entwaffnenden Lächeln.
Sophie schüttelte den Kopf und wandte ihm den Rücken zu. Dabei wuchs ihr Zorn, als sie Sam laut lachen hörte. Haasis unterdrückte ein Grinsen und kam ihr zu Hilfe.
»Sophie, ich habe ein Handtuch in meinem Zelt. Kommen Sie, trocknen Sie sich ab.«
Der Taucher steckte sich das Atemventil wieder in den Mund und verschwand unter Wasser, während Sophie dem Professor den Pfad hinauf folgte. Sie erreichten das Zelt des Archäologen, wo sie ihr Haar und die Kleidung trocken rieb, jedenfalls so gut es ging. Der warme Wind würde sicherlich dafür sorgen, dass ihre Kleidung schnell trocknete, doch sie fröstelte leicht, als sich die Verdunstungskälte auf ihrer feuchten Haut bemerkbar machte.
»Darf ich die Objekte, die Sie ausgegraben haben, einmal sehen?«, fragte sie.
»Natürlich. Sie befinden sich nebenan.«
Der Professor führte sie zu einem großen Zelt mit Spitzdach, das an einer Seite offen war. Darin lagen die Gegenstände, die aus den Resten des Lagerhauses geborgen worden waren - vorwiegend Scherben von Tontöpfen und Bruchstücke von Kacheln -, ausgebreitet auf einem langen, mit einem Leinentuch bedeckten Tisch. Die Studentin Stephanie war mit einer Kamera und einem Notizbuch damit beschäftigt, jedes Stück zu nummerieren, zu fotografieren und zu katalogisieren, ehe sie es jeweils in einen eigenen Plastikbehälter steckte. Haasis ignorierte diese Funde und steuerte Sophie zu einem kleinen Tisch im hinteren Teil des Zeltes. Auf dem Tisch stand ein einzelner verschlossener Kasten, dessen Deckel Haasis nun behutsam abnahm.
»Ich wünschte, wir hätten mehr gefunden«, sagte er bedauernd, während er zur Seite trat, damit Sophie einen Blick in den Kasten werfen konnte.
Darin lag der längliche Streifen eines bräunlichen Materials, zwischen zwei Glasscheiben zusammengepresst. Sophie identifizierte das Material sofort als Papyrus, eine bis zum Ende des ersten Jahrtausends im Vorderen Orient weit verbreitete Schreibunterlage. Das Stück war zerknittert und ausgefranst, jedoch konnte man die handgeschriebenen Symbole, die das Dokument bedeckten, deutlich erkennen.
»Offenbar handelt es sich um eine Frachtliste. Ich kann Hinweise auf eine große Menge Getreide und eine Viehherde erkennen, die im Hafen ausgeladen wurde«, sagte Haasis. »Eine eingehende Laboranalyse dürfte weitere Aufschlüsse liefern, aber ich denke, es wird eine Art Warenverzeichnis für den Zoll sein - von einem Frachtschiff, das Handelsgüter aus Alexandria lieferte.«
»Ein bedeutender Fund«, lobte Sophie. »Möglicherweise ergänzt er die Erkenntnisse, die aus den Überresten des Lagerhauses gewonnen wurden«, fügte sie hinzu und deutete auf die anderen Objekte.
»Bei meinem Glück werden sie ihnen sicherlich nachdrücklich widersprechen«, erwiderte er lachend.
Sie wandten sich beide um, als eine hochgewachsene Gestalt, die eine große Plastiktonne trug, das Zelt betrat. Sophie erkannte den Taucher. Er trug noch immer seinen Nasstauchanzug, außerdem waren die dunklen Haare feucht. Nach wie vor verärgert über ihre unfreiwillige Dusche, wollte sie eine bissige Bemerkung fallen lassen, spürte jedoch, wie ihre Stimme versagte, als sie fröhlich angelächelt wurde und in ein Paar dunkelgrüner Augen blickte, die scheinbar bis in ihr Herz zu blicken vermochten.
»Dirk, da sind Sie ja«, sagte Haasis. »Darf ich Sie mit der reizenden, aber noch nicht ganz trockenen Sophie Elkin von der Israel Antiquities Authority bekannt machen? Sophie, das ist Dirk Pitt jr., der uns von der U. S. National Underwater and Marine Agency ausgeliehen wurde.«
Der Sohn und Namensvetter des Chefs der Agentur kam herüber und stellte das Fass ab. Dann, immer noch entwaffnend lächelnd, reichte er Sophie die Hand. Sie protestierte nicht, als er sich damit Zeit ließ, seinen Griff zu lockern und ihre Hand wieder loszulassen.
»Ich entschuldige mich für die Dusche. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie dort standen.«
»Kein Problem, ich bin ja schon wieder fast völlig trocken«, erwiderte sie und wunderte sich, dass ihr Zorn plötzlich durch ein seltsames Kribbeln abgelöst wurde. Unbewusst ordnete sie ihre Frisur, um die Aussage zu unterstreichen.
»Ich hoffe, Sie erweisen mir die Ehre, sich heute von mir zum Abendessen einladen zu lassen, damit ich meinen Fehler wiedergutmachen kann«, sagte er.
Dieses direkte Angebot brachte sie völlig aus dem Konzept, und in Ermangelung einer passenden Antwort brachte sie nur ein paar unverständliche Silben über die Lippen. Irgendwo in ihrem Innern beschwerte sich eine Stimme darüber, dass sie ihre stets so lockere Art offenbar verloren hatte. Dankenswerterweise ergriff Haasis jetzt aber das Wort und rettete damit die Situation.
»Dirk, was ist in dem Behälter?«, fragte er und betrachtete neugierig das Fass.
»Nur ein paar kleine Fundstücke aus der unterirdischen Kammer«, erwiderte dieser grinsend.
Haasis' Kinnlade klappte nach unten. »Sie existiert also tatsächlich?«, fragte er. Jetzt war er es, dem die Stimme beinahe versagte.
Dirk nickte.
»Was für eine Kammer?«, fragte Sophie.
»Während ich die Reste der Hafenmole in Landnähe untersucht hatte, stieß ich in der Nähe von Keiths Schacht unter Wasser auf eine kleine Öffnung. Ich konnte zwar nur einen Arm hineinzwängen, doch ich spürte schon, wie meine Hand durch die Wasseroberfläche brach. Deshalb habe ich die Wasserlanze benutzt, um ein größeres Loch durch den Schlamm und die Verkrustungen zu blasen.«
»Wie groß ist der Hohlraum?«, fragte Haasis aufgeregt.
»Nicht sehr groß, etwa zwei Meter tief. Aber das meiste befindet sich über Wasser. Ich wage mich mal ganz weit vor und vermute, dass dieser Raum Teil eines Kellers zur Vorratslagerung war oder dass darin das Archiv des Hafens untergebracht gewesen sein könnte.«
»Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?«, wollte Sophie wissen.
Dirk trocknete das Fass, das er mitgebracht hatte, ab und öffnete vorsichtig den wasserdichten Deckel. Zum Vorschein kamen mehrere Keramikbehälter. Sie hatten eine rechteckige Form und waren orangerot. Er nahm einen Behälter aus dem Fass und reichte ihn Sophie.
»Ich hoffe, Sie können den Inhalt entziffern«, sagte er. »Auf der Schiffsingenieurschule hat man uns keine alten Sprachen beigebracht.«
Sophie stellte den Porzellankasten auf einen Tisch und befreite ihn vorsichtig von seinem Deckel. In dem Behälter lagen ein halbes Dutzend fest gewickelter Rollen aus irgendeinem Stoff.
»Das sind Papyrusrollen«, murmelte sie überwältigt.
Haasis konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er streifte sich ein Paar weißer Baumwollhandschuhe über und drängte sich neben Sophie.
»Lassen Sie mich mal sehen«, sagte er, nahm eine der Rollen heraus und breitete sie langsam auf der Tischplatte aus. Ein Text in einer seltsamen, aber gleichmäßigen und markanten Handschrift füllte die Seite.
»Das sieht aus wie Koptisch«, bemerkte Sophie, während sie über die Schulter des Professors lugte. Zur Zeit der römischen Herrschaft war Koptisch, in Ägypten unter Verwendung des griechischen Alphabets entstanden, im östlichen Mittelmeerraum die allgemein gebräuchliche Schriftsprache.
»Das ist es tatsächlich«, bestätigte er. »Es scheint eine Jahresabrechnung des Hafenmeisters über Hafen- und Kaigebühren zu sein. Dies sind die Namen der Schiffe sowie ihre jeweiligen Ladungen«, sagte er und fuhr mit einem behandschuhten Finger an zwei Buchstabenkolonnen entlang.
»Ist dies nicht ein Verweis auf den Kaiser?«, fragte Sophie und deutete auf einen Textblock, der sich über den Buchstabenkolonnen befand.
»Ja«, bestätigte Haasis und versuchte, die Überschrift zu übersetzen. »Es heißt so viel wie: Ein Bericht über die Hafengebühren von Caesarea. Oder so ähnlich. Angefertigt für Kaiser Marcus Maxentius.«
»Wenn ich mich richtig erinnere, war Maxentius ein Zeitgenosse Konstantins«, sagte Sophie.
»Maxentius herrschte im Westen und Konstantin im Osten, ehe Letzterer die gesamte Macht an sich riss.«
»Dann müsste das alles aus dem frühen vierten Jahrhundert stammen.«
Haasis nickte mit funkelnden Augen und warf dann einen Blick auf die anderen Rollen. »Damit gewinnen wir möglicherweise einen profunden Einblick in das Alltagsleben eines Judäa unter römischer Herrschaft.«
»Sicherlich eine ganze Menge Stoff für eine oder zwei Doktorarbeiten Ihrer Studenten«, sagte Dirk, während er die restlichen drei Keramikbehälter aus dem Fass holte. Dann klemmte er sich das leere Fass unter den Arm und verließ das Zelt.
»Dirk, Sie haben soeben einen Fund von historischer Bedeutung gemacht«, sagte Haasis staunend. »Wo um alles in der Welt wollen Sie jetzt hin?«
»Na wohin schon? Ein kühles Bad nehmen«, erwiderte er grinsend, »denn dort, wo das dort herkommt, liegt noch eine ganze Menge von dem gleichen Zeug herum.
8
Eine Stunde nach dem Morgengebet betrat Ozden Celik die Fatih-Moschee, eine der größten Moscheen Istanbuls, und fand die prachtvoll geschmückten inneren Hallen des Komplexes weitgehend verlassen vor. Er ging an der großen Gebetshalle vorbei, folgte einem Seitengang zum hinteren Teil des Gebäudes und gelangte von dort in einen kleinen Innenhof. Marmorne Trittsteine führten zu einem unscheinbaren Gebäude, das in einem Bereich stand, der für Touristen und Moscheebesucher gesperrt war. Celik ging zu dem Haus und öffnete eine massive Holztür.
Als er über die Schwelle trat, stand er in einem hellen und betriebsamen Büro. Hinter einem langen hölzernen Empfangstresen waren Arbeitszellen gruppenweise angeordnet und in allen Richtungen über den Großraum verteilt. Das Geräusch arbeitender Laserdrucker und klingelnder Telefone erfüllte die Luft und verlieh dem Ort die Atmosphäre eines Versandhaus-Call-Centers. Nur der Geruch vom Weihrauch und die Fotografien von türkischen Moscheen an den Wänden ließen etwas anderes vermuten. Dies und die Tatsache, dass keine einzige Frau zu sehen war.
Celik stellte fest, dass alle Büroangestellten Männer waren und Barte hatten. Viele trugen lange Mäntel und bearbeiteten mit unterschiedlichem Eifer die Tastaturen ihrer Computer. Als Celik an den Tresen trat, erhob sich dahinter ein junger Mann.
»Guten Morgen, Mr. Celik«, begrüßte er den Besucher. »Der Mufti erwartet Sie schon.«
Der Sekretär geleitete Celik an einer langen Reihe Arbeitsboxen vorbei zu einem geräumigen Büro. Die Innendekoration des Raums war bescheiden und bestand im Wesentlichen aus den obligatorischen türkischen Teppichen, die auf dem Fußboden lagen. Auffälliger waren die teilweise durchhängenden Bücherregale an den Wänden, die mit religiösen Büchern vollgepackt waren und die Gelehrtheit eines islamischen Mufti widerspiegelten.
Mufti Altan Battal saß hinter einem kahlen Schreibtisch und schrieb auf einem Notizblock, der von zwei aufgeschlagenen Büchern eingerahmt wurde. Er blickte auf und lächelte, als der Sekretär Celik ins Büro führte.
»Ozden, Sie sind angekommen. Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte er. »Hasan, sorg dafür, dass wir nicht gestört werden«, fügte er hinzu und schickte den Sekretär hinaus. Der Assistent verließ rückwärts gehend eilig den Raum und schloss hinter sich die Tür.
»Ich habe gerade nur noch ein wenig an meiner Freitagspredigt herumgefeilt«, sagte der Mufti und legte seinen Bleistift neben einem Mobiltelefon auf den Tisch.
»Diese Aufgabe sollten Sie lieber einem Ihrer Imame übertragen.«
»Vielleicht. Aber ich habe das Gefühl, dass genau darin meine Berufung liegt. Einen der Imame der Moschee damit zu betrauen könnte außerdem Eifersüchteleien zur Folge haben. Lieber sorge ich dafür, dass alle Imame von Istanbul mit einer einzigen Stimme sprechen.«
Als Mufti von Istanbul war Battal der theologische Führer aller dreitausend Moscheen der Stadt. Nur der Präsident des Diyanet Isleri, ein nicht durch Wahl vergebener Posten in der säkularen Regierung der Türkei, konnte größere spirituelle Macht über die muslimische Bevölkerung des Landes ausüben. Dennoch hatte Battal einen weit größeren Einfluss auf die Herzen und Gemüter der Moscheebesucher gewonnen.
Trotz seiner hohen Stellung hatte er nichts von dem klischeehaft strengen und weltfernen Kleriker mit rauschendem Bart an sich. Er war ein hochgewachsener, athletischer Mann mit einnehmendem Wesen. Noch nicht einmal fünfzig Jahre alt, spiegelte sein längliches Gesicht das sonnige Gemüt eines Labradorwelpen wider. Häufig trug er Anzüge anstelle von traditionellen langen Mänteln und entwickelte manchmal eine Art von spöttischem Humor, der seine Version eines fundamentalistischen Islam beinahe als etwas Fröhliches, Unbeschwertes erscheinen ließ.
Aber trotz seiner heiteren Ausstrahlung war die Botschaft, die er verkündete, eher düster und trist. Aufgewachsen mit den extremen fundamentalistischen Lehrsätzen islamischer Interpretation, unterstützte er lautstark den Islamismus, also die Ausbreitung des Islam als sowohl religiöse wie auch politische Bewegung. Zu seiner Weltsicht gehörten eine strenge Begrenzung der Frauenrechte und eine entschiedene Abkehr von der westlichen Kultur sowie den westlichen Sitten und Gebräuchen. Er hatte sich eine Machtbasis geschaffen, indem er gegen jedweden ausländischen Einfluss gewettert hatte, und sich dann - als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei zusehends verschlechterten - auf die weltliche Regierung eingeschossen. Obgleich er sich öffentlich jeglicher militanten Äußerung enthielt, vertraute er auf den Dschihad zur Verteidigung aller islamischen Interessen. Ebenso wie Celik wurde er von einer übermächtigen Selbstherrlichkeit angetrieben und strebte insgeheim die Führung des Landes als religiöser und politischer Führer an.
»Ich habe von mehreren Fronten gute Neuigkeiten zu berichten«, sagte Celik.
»Ozden, mein lieber Freund, ich weiß, dass Sie hinter den Kulissen stets für mein Anliegen tätig sind. Was haben Sie denn jetzt schon wieder für unsere Sache erreicht?«
»Ich bin kürzlich mit Scheich Zayad von der königlichen Familie der Emirate zusammengetroffen. Er ist mit Ihrer Arbeit höchst zufrieden und möchte eine weitere namhafte Spende machen.«
Battals Augen weiteten sich. »Obwohl er sich erst vor kurzem so großzügig gezeigt hat? Das ist ja eine wunderbare Nachricht. Aber ich kann mir sein Interesse an unserer Bewegung hier in der Türkei noch immer nicht erklären.«
»Er ist ein Mann mit Visionen«, erwiderte Celik, »der sich für eine genaue Befolgung der Scharia einsetzt. Er macht sich Sorgen wegen der zunehmenden Gefahren, die uns drohen, wie man an den Bombenattentaten gegen Moscheen hier und in Ägypten erkennen kann, die sich kürzlich erst ereignet haben.«
»Ja, abscheuliche Gewaltakte gegen unsere heiligen Stätten. Hinzu kommt noch der Diebstahl der Reliquien des Propheten aus dem Topkapi-Palast. All das sind unerträgliche Angriffe gegen unseren Glauben durch außenstehende Mächte des Bösen.«
»Der Scheich stimmt mit Ihren Ansichten überein. Er findet, dass die Sicherheit des Landes und der gesamten Region eher unter einer sunnitischen Herrschaft gewährleistet ist.«
»Was sicherlich zu Ihrer nächsten Neuigkeit führt, nicht wahr?«, sagte Battal mit einem wissenden Lächeln.
»Dann zwitschern es die Vögel schon von den Bäumen, hm? Nun, wie Sie vielleicht wissen, bin ich mit dem Führungsrat der Glückseligkeitspartei zusammengetroffen, und der hat zugestimmt, Sie als Kandidaten für das Amt des Präsidenten aufzustellen. Mehr noch, sie waren von Ihrer Bereitschaft, den Imam Keya als Präsidentschaftskandidaten zu ersetzen, ganz begeistert.«
»Ein Tragödie, dass er bei dem Bombenattentat auf die Moschee in Bursa ums Leben kam«, sagte Battal mit aufrichtigem Mitgefühl.
Celik unterdrückte einen wissenden Blick und nickte. »Die Parteiführung hat ihre Bereitschaft geäußert, sich Ihre grundsätzlichen Forderungen zu eigen zu machen«, fuhr er fort.
»Wir vertreten schließlich in etwa die gleiche Philosophie«, erwiderte Battal aufgeräumt. »Ihnen ist gewiss bewusst, dass die Glückseligkeitspartei bei der letzten Präsidentenwahl nur drei Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte.«
»Ja«, erwiderte Celik, »aber da stand Ihr Name nicht auf dem Stimmzettel.«
Dies war ein charmanter Appell an Battals Ego, das mit seiner seit kurzem zunehmenden Popularität regelrecht aufgeblüht war.
»Bis zur Wahl sind es nur noch wenige Wochen«, gab er zu bedenken.
»Was für uns doch sehr entgegenkommt«, erwiderte Celik. »Wir werden die Regierungspartei kalt erwischen, und sie wird kaum Zeit haben, wirkungsvoll auf Ihre Kandidatur zu reagieren.«
»Glauben Sie wirklich, dass ich eine reelle Chance habe?«
»Umfragewerte zeigen, dass Sie, wenn Sie ins Rennen gehen, weniger als zehn Punkte zurückliegen. Das ist ein Rückstand, der sich mit Hilfe gewisser Ereignisse leicht aufholen lässt.«
Battal betrachtete sein Bücherregal muslimischer Schriften. »Vielleicht ist es die einmalige Gelegenheit, die Missetaten Atatürks ungeschehen zu machen und unsere Nation auf den richtigen Weg zurückzuführen. Wir müssen uns in jedem Bereich unserer Regierung an die Scharia, das islamische Recht, halten.«
»Das ist unsere heilige Pflicht gegenüber Allah«, bekräftigte Celik.
»Gegen meine Kandidatur wird es eine starke Opposition geben, vor allem aus verfassungsrechtlichen Gründen. Sind Sie sicher, dass wir uns erfolgreich dagegen zur Wehr setzen können?«
»Sie vergessen, dass der Premierminister insgeheim auf unserer Seite steht. Er hat seine wahren Ansichten bisher immer vor der Öffentlichkeit geheim gehalten und wird uns bei der Bildung einer neuen Regierung in jeder Hinsicht unterstützen.«
»Ihr Selbstvertrauen freut mich, Ozden. Sie werden natürlich in der neuen Führung unseres Staates, gepriesen sei Allah, eine Schlüsselrolle bekleiden.«
»Ich erwarte nichts anderes«, erwiderte Celik selbstgefällig. »Was nun Ihre Ankündigung betrifft, am Rennen um die Präsidentschaft teilzunehmen, werde ich Ihren Beratern dabei behilflich sein, eine Massenkundgebung zu organisieren. Mit dem Geld des Scheichs werden wir eine Medienkampagne in Szene setzen, die die Opposition nur so wegfegt. Außerdem arbeite ich noch an einigen anderen Maßnahmen, um Ihre Popularität zu steigern.«
»So sei es«, sagte Battal, stand auf und schüttelte Celik die Hand. »Mit Ihnen an meiner Seite, mein Freund, was gibt es da noch, das wir nicht erreichen können?«
»Nichts, Meister. Überhaupt nichts.«
Celik verließ die Besprechung mit beschwingtem Schritt. Dieser naive Trottel ließ wirklich alles mit sich machen, dachte er. Sobald er gewählt wäre, würde Celik alle Fäden ziehen. Und sollte Battal es sich anders überlegen, dann hätte Celik noch ein paar schmutzige Tricks in petto, um den Mufti bei der Stange zu halten.
Als er die Moschee verließ und zu einem ungewöhnlich klaren und sonnigen Himmel aufblickte, hatte er das Gefühl, die Zukunft sehe wirklich sehr vielversprechend aus.
In einer nur schwach erleuchteten Kabine innerhalb der gesicherten Mauern von Fort Gordon, Georgia, saß George Withers, Sprachanalytiker für Türkisch, und folgte der Unterhaltung mittels schalldichter Kopfhörer. Withers war Angestellter im Georgia Regional Security Operations Center der NSA und gehörte zu einem Heer von Linguisten, die dafür bezahlt wurden, von der Armeebasis aus, die sich inmitten der bewaldeten Hügel um Augusta befand, jede im Nahen Osten stattfindende Kommunikation zu belauschen.
Im Gegensatz zu seiner sonstigen Abhörtätigkeit, zu der das gleichzeitige Übersetzen von satellitengestützten Telefongesprächen gehörte, hatte er es mit einer Unterhaltung zu tun, die schon einige Stunden alt war. Die Daten waren von einem Horchposten in der amerikanischen Botschaft in Istanbul übermittelt worden, nachdem man dort ein Mobilfunkgespräch mit der türkischen National Intelligence Organisation abgefangen hatte. Der Anruf war digital mitgeschnitten und verschlüsselt worden und wurde dann über eine Relaisstation der NSA auf Zypern nach Fort Gordon geschickt.
Withers hatte keine Ahnung, dass der Anruf tatsächlich von Battals eigenem Mobiltelefon gekommen war. Unbenutzt auf seinem Schreibtisch liegend war es per Fernsteuerung vom türkischen Geheimdienst aktiviert worden. Wie die meisten modernen Mobiltelefone besaß Battals Telefon ein eingebautes Ortungsmodul, das es ermöglichte, heimlich Software darauf zu laden. Dank dieser Software konnte - wenn es nicht benutzt wurde oder sogar wenn es ausgeschaltet war - das Mikrofon per Funk auf Aufnahme geschaltet und so jedes Audiosignal in seiner Umgebung gespeichert werden. Einmal aktiviert, konnten die Audiodaten dann mittels eines gewöhnlichen Anrufs weitergeleitet werden, ohne dass der Benutzer etwas davon bemerkte. Der Mufti war vom Chef des türkischen Geheimdienstes, einem überzeugten Säkularisten, dem Battals wachsende Popularität Sorgen bereitete, auf eine Überwachungsliste gesetzt worden. Battals Unterhaltung mit Celik und mit jeder anderen Person, die sein Büro betrat, wurde nun direkt an den türkischen Geheimdienst übermittelt. Insofern war der amerikanische Linguist, der in Georgia mithörte, der Belauscher eines Lauschers.
Sinn und Bedeutung des Gesprächs richtig einschätzend und davon ausgehend, dass es ungenehmigt übermittelt wurde, entschied Withers, dass es zwecks weiterer Bewertung an einen Analytiker des Geheimdienstes weitergeleitet werden sollte. Nach einem Blick auf die Schreibtischuhr, der ihn daran erinnerte, dass es für seine Mittagspause Zeit wurde, tippte er einen Befehl in den Computer. Sekunden später erschien dank der Stimm-Erkennungs-Software seiner Dienststelle eine Textversion des Gesprächs auf seinem Monitor. Withers las das Transkript durch, korrigierte einige Fehler und fügte ein oder zwei Textfragmente ein, die die Software nicht hatte erkennen können, und tippte zum Abschluss eine kurze Zusammenfassung mitsamt Kommentar. Nachdem er den Text per E-Mail an einen Spezialisten für türkische Angelegenheiten geschickt hatte, verließ er seinen Schreibtisch und machte sich auf den Weg zur Cafeteria. Dabei war er überzeugt, dass sein Bericht wahrscheinlich nie mehr ans Tageslicht geholt werden würde.
9
Der U.S. Director of National Intelligence verfolgte schweigend die allwöchentliche Stabskonferenz über eurasische und mittelöstliche Angelegenheiten. Von Natur aus eher wortkarg, war der pensionierte General namens Braxton der wichtigste Verbindungsmann des Präsidenten zum Department of Defense, zur Homeland Security, zur CIA und zu einem Dutzend anderer Agenturen, die für die Sicherheitsbelange der Nation zuständig sind.
Die Konferenz wurde von den üblichen Berichten über die aktuelle Lage in Afghanistan, Pakistan, im Irak und im Iran beherrscht. Dabei gab sich eine Prozession von Geheimdienstleuten und Vertretern des Pentagon die Türklinke des gesicherten Konferenzsaals im Liberty Crossing Intelligence Campus, dem erst vor kurzem fertig gestellten neuen Domizil des DNI in McLean, Virginia, in die Hand.
Die Konferenz dauerte schon fast drei Stunden, ehe der Tagesordnungspunkt Israel aufgerufen wurde. John O'Quinn, ein leitender Geheimdienstoffizier, der für das westliche Asien zuständig war, verließ so unauffällig wie möglich den riesigen Konferenztisch, um seine Kaffeetasse zu füllen, während sich ein CIA-Vertreter zur jüngsten Entwicklung auf der West Bank äußerte.
»Schon gut, schon gut, dort gibt es also nichts Neues«, unterbrach Braxton ungeduldig. »Werfen wir einen Blick auf das restliche Mittelmeer. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie über das Bombenattentat auf die Al-Azhar-Moschee in Kairo?«
O'Quinn kehrte eilig auf seinen Platz zurück, während der CIA-Vertreter die Frage beantwortete.
»Insgesamt gab es nur sieben Tote, weil die Explosion zu einem Zeitpunkt erfolgte, als nur wenige Besucher dort waren. Wir wissen nicht, ob das Absicht war oder nicht. Es gab lediglich eine Explosion, die die Hauptgebetshalle der Moschee aber schwer beschädigte. Wie Sie wissen, gilt die Al-Azhar-Moschee als die Staatsmoschee von Ägypten. Sie ist außerdem eins der ältesten und meistverehrten Symbole des Islam. Die öffentliche Empörung war enorm. Es kam zu mehreren Israel-feindlichen Kundgebungen und Protestmärschen in den Straßen Kairos. Wir sind uns ziemlich sicher, dass die Protestaktionen von der Muslim-Bruderschaft organisiert wurden.«
»Weiß man denn in Kairo, wer für das Bombenattentat verantwortlich ist?«
»Nein«, erwiderte der CIA-Mann. »Niemand mit auch nur einem Funken an Glaubwürdigkeit hat die Verantwortung übernommen, was angesichts der Begleitumstände des Attentats auch nicht verwunderlich ist. Wir befürchten, dass die Muslim-Bruderschaft durch das Attentat weiter an Boden gewinnt und ihren Einfluss auf das ägyptische Parlament verstärkt.«
»Das hat uns noch gefehlt, dass Ägypten mit dem Fundamentalismus liebäugelt«, murmelte Braxton kopfschüttelnd. »Was meint denn unser Geheimdienst, wer das durchgezogen hat?«
»Wir haben wirklich keine Ahnung, Sir. Wir untersuchen zwar mögliche Verbindungen zu Al Kaida, haben in dieser Richtung jedoch zurzeit keine sicheren Anhaltspunkte. Es gibt da ein ziemlich seltsames Detail von Seiten der ägyptischen Polizei. Sie behauptet, Reste von HMX am Tatort gefunden zu haben.«
»Was heißt das?«
»HMX ist ein unter strengster Kontrolle stehender Plastiksprengstoff. Absolutes High-End-Material, vorwiegend bei Kernwaffen und als Raketentreibstoff verwendet. Es ist allerdings nicht gerade das, was wir mit Al Kaida in Verbindung bringen würden. Außerdem finden wir es ein wenig seltsam, dass es in Ägypten aufgetaucht ist.«
O'Quinn, der direkt neben dem CIA-Mann saß, spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufstellten. Er räusperte sich schnell.
»Sind Sie sicher, dass es HMX war?«, fragte er.
»Wir warten noch auf unsere eigenen Testproben, aber das ist das, was die Ägypter berichtet haben.«
»Hat das für Sie eine besondere Bedeutung, O'Quinn?«, fragte General Braxton.
Der Geheimdienstoffizier nickte. »Sir, drei Tage vor dem Al-Azhar-Attentat explodierte eine Bombe in der Yesil-Moschee in Bursa in der Türkei. Möglicherweise haben Sie eine kurze Meldung darüber gelesen. Es gab drei Todesopfer, darunter einen prominenten Vertreter der Glückseligkeitspartei. Genauso wie in Ägypten war das Ziel des Attentats eine alte, weithin verehrte Moschee.« Hastig trank er einen Schluck Kaffee und fügte dann hinzu: »Die türkischen Behörden haben bestätigt, dass die Explosion durch ein Paket HMX-Sprengstoff ausgelöst wurde.«
»Demnach haben wir es mit zwei Bombenattentaten in zwei Ländern im Abstand von drei Tagen zu tun«, stellte der General fest. »Beide Male waren es historische Moscheen, beide Male offenbar geplantermaßen mit nur wenigen Todesopfern und beide Male mit dem gleichen Sprengstoff. Na schön, kann mir mal jemand verraten, wer dahinterstecken könnte und warum?«
Ein unbehagliches Schweigen senkte sich auf den Raum herab, ehe O'Quinn schließlich den Mut hatte, sich zu Wort zu melden.
»Sir, ich glaube, bis zu diesem Moment dürfte es niemandem bewusst gewesen sein, dass der gleiche Sprengstoff benutzt wurde.«
Der CIA-Mann pflichtete ihm bei. »Wir werden unsere Analytiker sofort nach einer möglichen Verbindung suchen lassen. Angesichts des ungewöhnlichen Sprengstoffs würde ich aber fast vermuten, dass der Iran seine Hände mit im Spiel hat.«
»Was denken die Türken?«, fragte Braxton.
»Wie in Ägypten hat bisher niemand die Verantwortung übernommen. Und wir haben keinen Hinweis darauf, dass die Türken irgendwelche Verdächtigen benannt haben.«
Der General begann auf seinem Platz hin und her zu rutschen, dabei richtete er seine kobaltblauen Augen wie ein Paar Drillbohrer auf O'Quinn. O'Quinn arbeitete noch kein ganzes Jahr für den General, aber er hatte bereits seinen professionellen Respekt errungen. Er konnte an seinem Verhalten erkennen, dass der Direktor mehr hören wollte, und schließlich bat dieser auch darum.
»Wie lautet Ihre Einschätzung?«, fragte der General in barschem Ton.
O'Quinns Gedanken rasten auf der Suche nach einer einleuchtenden Erwiderung in alle Richtungen. Aber er hatte mehr Fragen als Antworten.
»Sir, über das Bombenattentat in Ägypten kann ich nichts sagen, aber was den Anschlag auf die Moschee in Bursa betrifft, so sind viele der Meinung, dass es eine Verbindung zu den Diebstählen im Topkapi-Palast in Istanbul geben könnte.«
»Ja, ich habe etwas darüber gelesen«, erwiderte der General. »Soweit ich weiß, war eine Kongressabgeordnete in diesen Vorfall verwickelt.«
»Loren Smith, aus Colorado. Sie hat einen Teil der gestohlenen Artefakte retten können, ist dabei aber beinahe getötet worden. Irgendwie muss sie es geschafft haben, dass ihr Name nicht in die Zeitungen kam.«
»Das klingt nach jemandem, den ich in meinem Stab brauchen könnte«, murmelte Braxton.
»Ich glaube, bei dem Einbruch in den Topkapi-Palast wurde ebenfalls Sprengstoff benutzt«, fuhr O'Quinn fort. »Ich werde sofort versuchen in Erfahrung zu bringen, ob es zwischen den Anschlägen in Bursa und Kairo irgendwelche Parallelen gibt.«
»Was könnte denn das Motiv sein?«
»Die typischen Bombenattentate auf Moscheen entpuppen sich, wie wir im Irak erlebt haben, entweder als schiitische Anschläge auf sunnitische Moscheen oder umgekehrt«, sagte der CIA-Mann. »Obwohl ich im Fall der Türkei glaube, dass die schiitischen Muslime im Land eine weitgehend gewaltlose Minderheit darstellen.«
»Das ist richtig«, sagte O'Quinn. »Eher kämen kurdische Separatisten in Frage. In weniger als vier Wochen finden in der Türkei Nationalwahlen statt. Gut möglich, dass die Anschläge in der Türkei von den Kurden oder irgendeiner anderen politischen Splitterpartei ausgeführt wurden, um Unfrieden zu stiften, allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass dies eine Verbindung mit Kairo erklären würde.«
»Ich denke doch, dass die türkischen Behörden nicht lange damit gewartet hätten, die Kurden als mögliche Täter an den Pranger zu stellen, wenn sie der Meinung gewesen wären, dass sie tatsächlich hinter den Anschlägen stecken könnten«, sagte Braxton.
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, gab O'Quinn zurück und blätterte in seinen Konferenznotizen. Bei einer Kopie des von George Withers angefertigten Abhörtranskripts der NSA hielt er inne.
»Sir, in der Türkei gibt es noch eine weitere Entwicklung, die man genau im Auge behalten muss.«
»Reden Sie weiter«, forderte ihn der General auf.
»Alan Battal, ein muslimischer Mufti und ein in der Türkei führender fundamentalistischer Geistlicher, wird einem von der NSA abgehörten Telefongespräch zufolge bei der bevorstehenden Präsidentenwahl kandidieren.«
»Präsident Yilmaz hat seit mehreren Jahren unangefochten die Führungsposition inne«, stellte Braxton fest. »Außerdem ist die Türkei ein säkularer Staat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Battal mehr sein soll als ein unbedeutender Alibikandidat.«
»Ich fürchte, eben das ist nicht der Fall«, sagte O'Quinn. »Präsident Yilmaz' Popularität hat auf Grund des schlechten Zustands der Wirtschaft gründlich abgenommen, außerdem muss er sich gegen Korruptionsvorwürfe verteidigen, die Mitglieder seiner Regierung betrifft. Mufti Battal ist hingegen überall im Land zu einer prominenten Gestalt aufgestiegen, vor allem für die Armen und Arbeitslosen. Niemand kann sagen, wie er sich als politischer Kandidat verhalten wird, aber viele befürchten, dass er für den Amtsinhaber eine echte Gefahr darstellen könnte.«
»Erzählen Sie mir mehr über diesen Battal«, forderte ihn der General auf.
»Nun, Sir, laut seiner Biografie wurde er schon in sehr frühem Alter zum Waisen und musste in den Slums von West-Istanbul ums Überleben kämpfen. Als er einem alten Mann zu Hilfe kam, der von einem Gauner aus der Nachbarschaft beraubt wurde, entging er einem Leben in Armut. Aus Dankbarkeit schickte der Mann, ein Mitglied des Ältestenrats der Moschee, Battal auf eine private muslimische Schule und zahlte für seine Unterkunft und seine Verpflegung, bis er weit über zehn Jahre alt war. Die Schule war streng fundamentalistisch ausgerichtet, was eine Erklärung für seine heutigen Ansichten sein mag. Er neigt zu einer wissenschaftlichen Denkweise, ist jedoch auch ein begabter Redner, was seinen schnellen Aufstieg innerhalb der muslimischen Hierarchie Istanbuls begünstigt haben dürfte. Zurzeit gilt er als Chef-Theologe für ganz Istanbul. Obgleich im persönlichen Umgang durchaus charmant, werden seine Schriften und Predigten durch taliban-ähnliche Interpretationen des Islam geprägt. Hinzu kommen ständige Warnungen vor den Übeln des Westens und den Gefahren fremder Einflüsse. Man kann nicht sagen, was geschehen wird, wenn er gewählt werden sollte, aber wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, die Türkei praktisch über Nacht als Verbündeten zu verlieren.«
»Hat er denn überhaupt eine Chance, die Wahl zu gewinnen?«, fragte Braxton, während seiner Stimme das zunehmende Unbehagen bei dieser Vorstellung deutlich anzuhören war.
O'Quinn nickte. »Wir gehen davon aus, dass die Wahl zu seinen Gunsten ausgehen könnte. Und wenn das Militär seine Wahl unterstützt, dann ist alles möglich.«
Ein Oberst der Air Force, der am Tisch saß, atmete zischend ein. »Eine fundamentalistische Machtübernahme in der Türkei? Das wäre ein umfassendes Desaster. Die Türkei ist ein NATO-Land und einer unserer stärksten Verbündeten in dieser Region. Wir haben eine Vielzahl militärischer Mittel in dem Land stationiert, inklusive unserer taktischen Nuklearwaffen. Die Luftwaffenbasis in Incirlik ist für unsere Operationen in Afghanistan lebenswichtig.«
»Von den Horchposten auf ihrem Territorium ganz zu schweigen, mittels derer wir die Russen und die Iraner überwachen«, fügte der CIA-Mann hinzu.
»Die Türkei ist zurzeit der Hauptumschlagplatz für Nachschublieferungen nach Afghanistan, so wie damals in den Irak«, klagte ein Major der Armee, der neben dem Oberst saß. »Ein Verlust dieser Versorgungswege würde unseren gesamten Afghanistan-Einsatz gefährden.«
»Wir sehen alle möglichen katastrophalen Szenarien voraus«, meinte O'Quinn leise, »von einer Schließung des Bosporus und der damit verbundenen Unterbrechung des Stroms russischen Öls und Gases bis hin zu einem durch nichts mehr zu bremsenden Iran. Der gesamte Nahe Osten würde beeinflusst werden, und die Auswirkungen einer solchen Veränderung auf das Gleichgewicht der Mächte lassen sich so gut wie unmöglich voraussagen.«
»Die Türkei war immer ein stiller Freund und Handelspartner Israels gewesen und hat neben anderen Dingen große Mengen Lebensmittel und Trinkwasser exportiert«, sagte der CIA-Vertreter. »Wenn die Türkei und Ägypten einen Schwenk in Richtung Fundamentalismus vollziehen, würde das auch eine stärkere Isolation Israels zur Folge haben. Abgesehen davon, dass der Iran in seinem Machtstreben ermutigt würde, befürchte ich eine größere Aggressionsbereitschaft der Hamas, der Hisbollah und anderer erklärter Gegner Israels, was wiederum zu mehr Gewalt in dieser Region führen dürfte. Ein derartiger Machtumschwung könnte sich tatsächlich zu jenem von uns allen gefürchteten Funken entwickeln, der am Ende noch den Dritten Weltkrieg im Herzen des Nahen Ostens entfacht.«
Im Konferenzraum wurde es still, als Braxton und die anderen die Worte mit leisem Grauen verarbeiteten. Der General schüttelte schließlich seine lähmende Anspannung ab und gab in schneller Folge eine Reihe von Befehlen.
»O'Quinn, gleich morgen früh will ich einen vollständigen Bericht über diesen Mufti Battal auf meinem Schreibtisch haben. Außerdem brauche ich eine knappe Zusammenfassung für den Präsidenten. Am Freitag kommen wir wieder hier zusammen, dann erwarte ich eine gründliche Lagebeurteilung sowohl durch das Außenministerium wie auch von Seiten der CIA. Nehmen Sie jede Hilfe in Anspruch, die Sie brauchen«, fugte er mit zusammengebissenen Zähnen hinzu, »aber lassen Sie nicht zu, dass uns diese Angelegenheit aus den Händen gleitet.« Er schlug seine Konferenzmappe zu und starrte den CIA-Mann an.
»Der Dritte Weltkrieg?«, zischte er. »Mit mir nicht!«
10
Der Ruf zum Morgengebet drang durch das offene Hotelfenster und weckte Pitt früher, als ihm lieb war. Er verließ die behagliche Nähe Lorens, schwang sich aus dem Bett und sah aus dem Fenster. Die schwarzen Spitzen der Minarette der Sultanahmet-Moschee ragten nur ein paar Blocks entfernt in den dunstigen Himmel. Pitt stellte mit einem Anflug von Belustigung fest, dass der islamische Gebetsruf nicht mehr von einem Muezzin auf einem der Minarette kam, sondern aus Lautsprechern, die rund um die Moschee verteilt waren.
»Kannst du das Geschrei nicht abstellen?«, murmelte Loren unter einer Decke.
»Da musst du dich schon direkt an Allah wenden«, erwiderte Pitt.
Er schloss das Fenster und blickte nun durch die Scheibe auf die imposante Architektur der Moschee und die blauen Fluten des Marmarameeres dicht dahinter. Ein Konvoi von Frachtern sammelte sich bereits und wartete darauf, zur Fahrt durch den engen Bosporus starten zu können. Loren tauchte aus dem Bett auf, schlüpfte in einen Morgenmantel und gesellte sich zu ihrem Mann vor dem Panoramafenster.
»Ich hatte gar nicht begriffen, dass das Geplärre von der Moschee kam«, sagte sie ein wenig kleinlaut. »Sie ist wunderschön. Von den Osmanen erbaut, nehme ich an?«
»Ja, Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, glaube ich.«
»Wir können sie uns nach dem Frühstück ansehen. Aber nach all der Aufregung in der vergangenen Nacht ist das vielleicht die einzige Besichtigung, zu der ich mich heute aufraffen kann«, sagte sie und gähnte.
»Keine Einkaufsorgie im Großen Bazar?«
»Vielleicht beim nächsten Mal. Ich möchte, dass sich unser einziger ganzer Tag in Istanbul so entspannend wie möglich gestaltet.«
Pitt beobachtete, wie ein roter Frachter seine ufernahe Position verließ, und meinte dann: »Ich glaube, dann habe ich genau das Richtige für uns.«
Sie duschten und zogen sich schnell an, daraufhin bestellten sie sich das Frühstück auf ihr Zimmer. Sie machten gerade Anstalten aufzubrechen, als das Telefon klingelte. Pitt nahm den Hörer ab und unterhielt sich mehrere Minuten lang, dann legte er auf.
»Das war Dr. Ruppe. Er rief vom Flughafen aus an und wollte sich nur vergewissern, dass es dir gut geht«, erklärte Pitt.
»Ich würde mich um einiges besser fühlen, wenn du mir sagen könntest, dass die Polizei diese Verbrecher geschnappt hat.«
Pitt schüttelte den Kopf. »Offenbar nicht. Rey ist ein wenig in Rage, weil die örtlichen Medien den Einbruch und die Morde einer anti-muslimischen Vereinigung zuschreiben. Offenbar wurden einige wertvolle Schmuckstücke zu Gunsten mehrerer Reliquien Mohammeds zurückgelassen.«
»Du sprichst von Morden in der Mehrzahl«, sagte Loren.
»Ja, insgesamt wurden bei dem Coup fünf Wachmänner getötet.«
Loren verzog das Gesicht. »Und die Tatsache, dass einige der Mörder ein persisches Aussehen hatten, konnte die Polizei nicht auch in eine andere Richtung ermitteln lassen?«
»Die Polizei hat unsere Aussage. Ich bin sicher, dass sie von ganz anderen Voraussetzungen ausgehen und auch noch in ganz anderer Richtung ermitteln.« Tief in seinem Innern war Pitt sich dessen zwar nicht so sicher, doch er unterdrückte seinen Zorn bei dem Gedanken daran, dass seine Frau den Entführern ungeschoren hatte entfliehen können.
»Die andere Neuigkeit war Ruppe zufolge«, fuhr er fort, »dass sie unsere Namen und unsere Beteiligung aus den Zeitungen herausgehalten haben. Offensichtlich herrscht über den Diebstahl, den man als tiefe Beleidigung der muslimischen Gemeinschaft betrachtet, eine weit verbreitete Empörung.«
»Selbst nach unserem beinahe tödlichen Abenteuer ist das für mich okay«, meinte Loren versonnen. »Übrigens, was haben sie eigentlich gestohlen?«
»Sie haben sich mit einer Kriegsfahne aus dem Staub gemacht, die Mohammed gehört haben soll. Offenbar wäre die öffentliche Reaktion noch heftiger ausgefallen, wenn du den zweiten schwarzen Sack nicht gerettet hättest.«
»Und was befand sich darin?«
»Der Mantel Mohammeds, auch der Mantel des Propheten genannt, sowie ein Brief, den er geschrieben hat. Das alles sind Objekte, die zu den heiligen Reliquien gehören.«
»Es ist wirklich schlimm, dass jemand auf die Idee kommen konnte, diese Reliquien zu stehlen«, sagte Loren und schüttelte den Kopf.
»Komm jetzt, wir sollten uns lieber die Stadt noch einmal ansehen, ehe etwas anderes verschwindet.«
Sie verließen die Lobby des Hotels und betraten die mit pulsierendem Leben erfüllten Straßen von Alt-Istanbul. Pitt bemerkte einen Mann mit verspiegelter Sonnenbrille, der Loren unverfroren anstarrte, als er an ihr vorbei ins Hotel ging. Mit ihrer schlanken und ballerinagleichen Figur zog sie die Blicke der Männer geradezu magisch an. Bekleidet mit einer hellen Hose und einer amethystfarbenen Bluse, die fast die gleiche Farbe wie ihre Augen hatte, sah sie trotz der mehr als unruhigen Nacht, die sie hinter sich hatte, frisch und munter aus.
Sie gingen ein oder zwei Straßen weiter, blieben vor einem exklusiven Teppichladen namens Punto stehen und bewunderten einen edlen Serapi-Teppich, der im Schaufenster hing. Dann spazierten sie weiter bis zum Ende der Straße und durchquerten das Hippodrom, einen lang gestreckten schmalen Park, in dem in byzantinischer Zeit Wagenrennen veranstaltet worden waren. Gleich dahinter sahen sie die Moschee von Sultan Ahmet I.
Fertig gestellt im Jahr 1617, war sie die letzte der großen Moscheen Istanbuls. Sie bestand aus stufenförmig angeordneten Kuppeln und Halbkuppeln von ungewöhnlicher Pracht, die von einer mächtigen zentralen Kuppel überragt wurden. Als Pitt und Loren den Innenhof der Moschee mit seinen dekorativen Arkaden betraten, waren die meisten Teilnehmer am Morgengebet von fotografierfreudigen Touristen abgelöst worden.
Sie begaben sich in die Gebetshalle, deren weiter Innenraum durch hoch angesetzte Reihen bunter Glasfenster matt erleuchtet wurde. Über ihnen waren die Kuppeln mit aufwendig gemusterten Fliesen ausgekleidet, viele davon in den verschiedensten Blauschattierungen, denen die Moschee ihren Namen - Blaue Moschee - verdankte. Pitt studierte einen Bogengang mit geblümten Fliesen, die in Iznik gebrannt worden waren.
»Sieh dir mal das Muster an«, sagte er zu Loren. »Es ist fast identisch mit dem auf der Keramikschatulle, die wir aus dem Schiffswrack geholt haben.«
»Du hast recht«, meinte Loren, »obwohl die Farbgebung ein wenig abweicht. Herzlichen Glückwunsch, das ist ein weiterer Beweis, dass dein Wrack um sechzehnhundert gesunken sein dürfte.«
Pitts Freude war nur von kurzer Dauer. Als er eine grün gekachelte Wand auf der gegenüberliegenden Seite der Gebetshalle betrachtete, entdeckte er einen Mann mit Sonnenbrille, der in seine Richtung schaute. Es war derselbe Mann, der Loren vor dem Hotel angestarrt hatte.
Ohne ein Wort schob Pitt Loren langsam zum Ausgang und hielt sich dabei nahe bei einer Gruppe deutscher Touristen, die an einer Führung teilnahmen. Unauffällig ließ er den Blick über die Besucher der Moschee wandern, um in Erfahrung zu bringen, ob Sonnenbrille irgendwelche Komplizen hatte. Pitt gewahrte einen hageren Perser mit buschigem Schnurrbart und finsterer Miene, der ganz in der Nähe umherschlenderte. Er wirkte zwischen den anderen Touristen, die sich die Hälse verrenkten und zur Decke der Moschee blickten, völlig fehl am Platze. Es kam ihm zwar unwahrscheinlich vor, dass die Topkapi-Diebe sie so schnell gefunden haben sollten, doch Pitt erinnerte sich auch an die Drohung der Frau in der Zisterne. Er beschloss, der Frage auf den Grund zu gehen.
Indem sie mit den Deutschen die Gebetshalle verließen, schlüpften Pitt und Loren wieder in ihre Schuhe, die sie vorher ausgezogen hatten, und folgten den Deutschen auf den Innenhof hinaus. Pitt beobachtete aus den Augenwinkeln, dass der Perser das Gleiche tat.
»Blei!, hier«, sagte Pitt zu Loren, dann machte er kehrt und ging schnell über die Marmorplatten zu dem Mann hinüber.
Der Perser drehte sich sofort um und tat so, als würde er eine Säule hinter sich betrachten. Pitt trat auf den Mann zu, der einen Kopf kleiner war als er, und schaute auf ihn herab.
»Verzeihen Sie«, sagte Pitt. »Können Sie mir verraten, wer in Atatürks Grabmal liegt?«
Anfangs wich der Mann Pitts Blick aus und sah stattdessen zum Ausgang der Gebetshalle hinüber, wo Sonnenbrille jetzt stand. Als dieser leicht den Kopf schüttelte, fuhr der Mann herum und musterte Pitt hasserfüllt.
»Woher soll ich wissen, wo dieser Hund begraben ist«, stieß er hervor und funkelte Pitt auf eine überheblich drohende Art und Weise an, wie man sie nur bei jemandem antreffen konnte, den ein entbehrungsreiches Leben auf der Straße abgehärtet hatte. Ein Undercoveragent der Polizei war er ganz gewiss nicht. Als Pitt die verräterische Ausbuchtung einer Pistole in einem Schulterhalfter unter dem weiten Hemd des Mannes bemerkte, entschied er, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen. Er hatte noch einen letzten warnenden Blick für den Mann, dann machte er kehrt und entfernte sich. Dabei rechnete er fast mit einer Kugel in den Rücken und hoffte, dass die Besucherscharen und der Sicherheitsdienst der Moschee ausreichten, um eine sofortige Attacke zu verhindern.
»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte Loren, als er wieder bei ihr war.
»Ich habe nur nach der Uhrzeit gefragt. Komm, sehen wir zu, dass wir ein Taxi finden.«
Die deutschen Moscheebesucher bewegten sich langsam zum Hofausgang, aber Pitt ergriff Lorens Hand und zog sie an ihnen vorbei und gelangte hinaus, ehe sich die Gruppe im Ausgang drängte und ihn versperrte. Pitt machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen und zurückzublicken, da er mit Sicherheit wusste, dass Sonnenbrille und der Perser sie verfolgen würden. Als er mit Loren auf die Straße hinaustrat, hatte er Glück und fand auf Anhieb ein Taxi, aus dem soeben ein älteres Touristenpaar ausstieg.
»Zur Anlegestelle der Eminönü-Fähre, und zwar so schnell Sie können«, wies er den Taxifahrer an.
»Weshalb die Eile?«, fragte Loren, als Pitt sie hastig in den "Vagen schob.
»Ich glaube, wir werden beschattet.«
»Von diesem Mann, mit dem du in der Moschee gesprochen hast?«
Pitt nickte. »Und von einem anderen Kerl mit Sonnenbrille, den ich schon vorher vor unserem Hotel gesehen habe.«
Während sich das Taxi in den fließenden Verkehr einfädelte, schaute Pitt aus dem Heckfenster. Eine kleine orangefarbene Limousine mit einem einsamen Fahrer stoppte mit quietschenden Reifen am Bordstein. Pitt ließ den Blick zum Ausgang der Moschee wandern, der immer noch von den deutschen Touristen verstopft wurde. Er grinste unwillkürlich, als er beobachtete, wie sich der Perser mühsam durch das Gedränge kämpfte.
»Warum gehen wir nicht zur Polizei?«, fragte Loren mit einer Stimme, in der ein Anflug von Angst mitschwang.
Pitt lächelte sie beruhigend an. »Sollen wir uns unseren einzigen Ruhetag in Istanbul verderben?«
11
Das gelbe Taxi tauchte schnell im Verkehr unter und ließ die Moschee mit ihrer prächtigen Kuppel und ihren schlanken Minaretten im Rückspiegel kleiner werden. Hätte sich der Fahrer nach Norden gewandt und sich einen Weg durch das belebte Labyrinth der historischen Altstadt gesucht, hätte er die orangefarbene Limousine leicht abschütteln können. Doch in seinem Bemühen, möglichst schnell ans Ziel zu gelangen, lenkte der umsichtige Taxifahrer seinen Wagen nach Süden zu einer Schnellstraße mit Mittelstreifen namens Kennedy Caddesi.
Verzweifelt versuchten die Verfolger aufzuholen. Die orangefarbene Limousine kurvte in rasanter Fahrt von der Moschee weg, nachdem sie die beiden Passagiere aufgegabelt hatte, und wäre beinahe von einem Reisebus abgedrängt worden, als sie sich durch den dichten Verkehr schlängelte.
»Ich glaube, sie sind nach rechts abgebogen«, sagte der Fahrer zögernd.
»Fahr«, befahl Sonnenbrille auf dem Beifahrersitz und bedeutete dem Fahrer mit einem Kopfnicken, er solle seinem Instinkt gehorchen.
Der Wagen wandte sich nach Süden, überfuhr eine auf Rot geschaltete Ampel, ehe er hinter einer langsam dahinkriechenden Autoschlange bremsen musste. Der Perser, der auf dem Rücksitz saß, deutete plötzlich die Straße hinunter, wo er ein gelbes Taxi entdeckte, das zwei Blocks entfernt auf die Kennedy Caddesi abbog. »Das muss ihr Taxi sein«, rief er.
Der Fahrer nickte und umklammerte das Lenkrad fester, so dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er konnte nicht viel mehr tun, als sich durch die verstopften Straßen zu wühlen, und bedachte die anderen Fahrzeuge ringsum mit wüsten Flüchen, während die Sekunden vertickten. Als er endlich eine Lücke im Gegenverkehr ausmachte, raste er einen Block weit über die linke Fahrbahn und fädelte sich dann wieder auf der rechten Spur ein. Der Verkehr kam erneut in Bewegung, also bog er eilig auf die Caddesi ab, trat das Gaspedal durch und raste wie ein Rennfahrer die Schnellstraße hinunter.
Die Schnellstraße wand sich um die östliche Grenze des Topkapi-Komplexes und verlief parallel zum Bosporusufer. Der Verkehr bewegte sich auf der Straße zügig nach Norden und dann nach Westen am Goldenen Horn entlang, einer lang gestreckten Bucht, die den europäischen Teil Istanbuls durchschneidet. Pitt blickte auf den Wasserweg hinunter und beobachtete ein großes grünes Baggerschiff, das die Fluten nicht weit vom Ufer aufwühlte. Während sich das Taxi der Galata-Brücke näherte, die sich über das Goldene Horn spannte und im Beyoglu endete, tauchte plötzlich eine langgezogener Pulk von Reisebussen und Automobilen auf und drosselte das Tempo auf Kriechgeschwindigkeit. Das Taxi verließ die Caddesi bei der nächsten Gelegenheit und rollte zu einer Anlegestelle unweit der Brückenbasis hinunter.
»Bogaz Hatti-Kai in Eminönü«, verkündete der Taxifahrer. »Die nächste Fähre legt gleich da drüben ab«, fügte er mit einer Bewegung seines Arms hinzu. »Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie sie noch.«
Pitt bezahlte den Fahrer, legte ein großzügiges Trinkgeld dazu und warf dann einen Blick auf die Straße hinter ihnen, während er aus dem Taxi ausstieg. Da er die orangefarbene Limousine nirgendwo sehen konnte, spazierte er mit Loren gemütlich zum Fahrkahrtenschalter.
»Das Wasser zieht dich wirklich magisch an, nicht wahr?«, sagte Loren und ließ den Blick über eine ganze Flotte größerer Fähren wandern, die an einem Kai vertäut lagen.
»Ich dachte mir, dass eine gemütliche Kreuzfahrt über den Bosporus genau das ist, was uns der Arzt jetzt verschreiben würde.«
»Das klingt tatsächlich verlockend«, gab sie zu und freute sich auf eine ausgedehnte Besichtigungsfahrt. »Aber nur wenn wir allein sind und am Ende ein Mittagessen wartet.«
Pitt grinste. »Für das Mittagessen kann ich garantieren. Und unsere Freunde haben wir offenbar ebenfalls abgehängt.«
Nachdem sie ihre Tickets gelöst hatten, gingen sie zu einer der Anlegebrücken, enterten eine moderne Personenfähre und suchten sich Platz an einem Fenster. Ein dreifaches Hornsignal kündigte die Abfahrt der Fähre an, ehe die Gangway zur Seite gezogen wurde.
Auf der Uferstraße stoppte die orangefarbene Limousine mit kreischenden Bremsen. Ihre beiden Passagiere sprangen heraus. Sie rannten am Fahrkartenschalter vorbei und auf die Landungsbrücke, nur um zusehen zu müssen, wie die Fähre bereits in die Meerenge kreuzte. Mühsam nach Luft ringend starrte Sonnenbrille hinter der Fähre her und drehte sich dann zu dem Perser um.
»Beschaff uns ein Boot«, zischte er. »Auf der Stelle!«
Mit zwanzig Meilen Länge und nur selten mehr als eine Meile breit, ist der Bosporus eine der schönsten und am dichtesten befahrenen Wasserstraßen der Welt. Istanbul in zwei Hälften teilend war er von Anfang an eine historische Handelsroute, die von den alten Griechen, Römern und Byzantinern eifrig genutzt wurde. In moderner Zeit hatte er sich zu einer wichtigen Verbindungsader für Russland, Georgien und andere Länder, die an das Schwarze Meer grenzten, entwickelt. Tanker, Frachter und Containerschiffe verstopfen ständig den engen Wasserweg, der die Kontinente Europa und Asien voneinander trennt.
Das Fährschiff stampfte unter einem klaren blauen Himmel mit gemütlichem Tempo nach Norden, vorbei an der imposanten Skyline Istanbuls. Das Schiff passierte schon bald die Bosporus-Brücke und später auch die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke, beides hoch aufragende Hängebrücken, die sich in eleganten Bögen über die Wasserstraße spannten. Pitt und Loren tranken heißen Tee, während sie den Schiffsverkehr und die auf den Uferhügeln erbauten Villen betrachteten. Der belebte Uferstreifen ging nach und nach in eine Folge stattlicher Villen, ausländischer Botschaften und ehemaliger Paläste über, die vor einem Hintergrund saftig grüner Waldlandschaft ihre gediegene Pracht entfalteten.
Die Fähre legte mehrere gemütliche Zwischenstopps ein, ehe das Schwarze Meer in Sicht kam.
»Möchtest du zum Oberdeck hinaufsteigen, um besser sehen zu können?«, fragte Pitt.
Loren schüttelte den Kopf. »Dort sieht es mir zu windig aus. Wie wäre es stattdessen noch mit einem weiteren Tee?«
Pitt nickte zustimmend und ging zu einem kleinen Cafe hinüber und bestellte zwei Gläser schwarzen Tees. Wären sie aufs Oberdeck hinaufgestiegen, hätte Pitt das kleine mit drei Männern besetzte Schnellboot sehen können, das mit Kurs auf die Fähre über die Fluten des Bosporus hüpfte.
Die Fähre schwenkte schon bald zum europäischen Ufer ab und legte im Hafen von Sariyer neben zwei kleineren Autofähren an. Sariyer war ein altes Fischerdorf und strahlte immer noch den historischen Charme vieler Orte am oberen Bosporus aus, die nach und nach von solventen Pensionären und Rentnern überrannt wurden.
»Hier soll es einige gute Fischrestaurants geben«, las Loren aus einer Reisebroschüre vor. »Was hältst du davon, wenn wir aussteigen, um zu Mittag zu essen?«
Pitt war einverstanden, und sie schlossen sich einem Pulk Touristen an, die sich auf der Gangway drängten, um das Schiff zu verlassen. Der Pier befand sich in der Nähe eines größeren Hügels. Rechts von ihnen erstreckte sich das Städtchen entlang des Seeufers. Die Hauptstraße der Ortschaft endete in einem kleinen Park direkt am Wasser links von ihnen. Pitt wurde auf ihn aufmerksam, als dort ein alter Citroen Traction Avant auf eine Rasenfläche rollte.
Sie spazierten über einen kleinen Fischmarkt und schauten zu, wie frisch gefangene Seebarsche aus einem kleinen Fischerboot ausgeladen wurden. Sie kamen an zwei konkurrierenden Fischrestaurants vorbei und entschieden sich für ein kleines Hafencafe am Ende des Blocks. Eine aufmerksame Kellnerin geleitete sie zu einem Tisch mit Blick auf die Meerenge und servierte kurz darauf eine Auswahl von Kostproben typischer türkischer Speisen.
»Du solltest mal den Tintenfisch kosten«, sagte Loren und schob Pitt ein gummiartiges Stück Tentakel in den Mund.
Pitt biss ihr spielerisch in einen Finger. »Das passt sehr gut zu diesem weißen Käse«, sagte er, nachdem er den Fisch hinuntergeschluckt hatte.
Sie genossen die Mahlzeit und beobachteten den Schiffsverkehr auf der Meerenge sowie die Touristen, die sich in den Restaurants nebenan niedergelassen hatten. Nachdem sie ihr reichhaltiges Fischmenü verzehrt hatten, streckte Pitt die Hand nach einem Glas Wasser aus, als Loren plötzlich seinen Arm umklammerte.
»Hast du eine Gräte verschluckt?«, fragte er, als er ihren angespannten Gesichtsausdruck gewahrte.
Loren schüttelte langsam den Kopf, während sie ihren Griff lockerte. »Draußen vor der Tür steht ein Mann. Er gehörte zu den Männern im Lieferwagen vergangene Nacht.«
Pitt trank einen Schluck aus seinem Wasserglas und drehte sich wie zufällig zum Cafeeingang um. Vor der Tür konnte er einen dunkelhäutigen Mann in einem blauen Oberhemd sehen, der sich dort herumdrückte. Er schaute gerade zur Straße, so dass Pitt sein Gesicht nicht erkennen konnte.
»Bist du sicher?«, fragte Pitt.
Loren sah, wie der Mann einen kurzen Blick durchs Fenster warf, ehe er sich wieder abwandte. Sie sah ihren Mann mit einem ängstlichen Flackern in den Augen an und nickte.
»Ich erkenne seine Augen«, sagte sie.
Auch Pitt kam das Profil bekannt vor, und Lorens Reaktion überzeugte ihn, dass sie sich nicht irrte. Es musste der Mann sein, den Pitt auf der Ladefläche des Lieferwagens ausgeschaltet hatte.
»Wie konnten sie uns bis hierher verfolgen?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Wir waren die letzten Fahrgäste auf der Fähre, aber sie müssen schon nahe genug gewesen sein, um uns an Bord gehen zu sehen«, überlegte Pitt laut. »Wahrscheinlich sind sie uns in einem anderen Boot gefolgt. Und die Restaurants in der Nähe der Anlegestelle zu kontrollieren dürfte nicht allzu lange gedauert haben.«
Auch wenn er nach außen hin die Ruhe selbst war, machte sich Pitt große Sorgen um die Sicherheit seiner Frau. Die Topkapi-Diebe hatten in der vergangenen Nacht bewiesen, dass sie auch vor Mord nicht zurückschreckten. Wenn sie sich die Mühe gemacht hatten, sie zu verfolgen, dann nur aus einem Grund - um sich dafür zu rächen, dass sie die Einbrecher bei dem Überfall gestört hatten. Plötzlich wurde ihm klar, dass die Frau in der Zisterne keinesfalls eine leere Drohung ausgestoßen hatte.
Die Kellnerin des Cafes erschien an ihrem Tisch, schob das Geschirr zusammen und fragte, ob sie noch ein Dessert wünschten. Loren wollte schon den Kopf schütteln, doch Pitt kam ihr zuvor.
»Ja, gern. Zwei Kaffees und zwei Portionen von Ihrem köstlichen Baklava, bitte.«
Während die Serviererin in die Küche eilte, beschwerte sich Loren bei Pitt.
»Ich kann nichts mehr essen. Vor allem jetzt nicht«, meinte sie und blickte vielsagend zum Eingang.
»Das Dessert ist für ihn, nicht für uns«, erwiderte er leise. »Geh auf die Toilette und mach das so auffällig wie möglich, dann warte an der Küche auf mich.«
Loren reagierte sofort, tat so, als würde sie Pitt etwas ins Ohr flüstern, erhob sich dann und ging durch einen kurzen Flur, der zur Küche und zu den Toiletten führte. Pitt bemerkte, wie sich der Mann an der Tür anspannte, während er ihre Aktion verfolgte, und sich dann wieder entspannte, als die Serviererin den Kaffee und das Dessert an den Tisch brachte. Pitt legte einen Stapel türkische Lira auf den Tisch und rammte eine Gabel in ein dickes Stück Baklava. Verstohlen blickte er zur Tür und sah, dass sich der Mann wieder zur Straße umdrehte. Pitt ließ die Gabel fallen und sprang blitzschnell von seinem Stuhl auf.
Loren wartete am Flurende, als Pitt an ihr vorbeieilte, ihre Hand ergriff und sie in die Küche zog. Ein erschrockener Koch und ein Tellerwäscher hielten in ihren jeweiligen Tätigkeiten inne und starrten Pitt wortlos an, als er sie anlächelte, »Hallo« sagte und sich mit Loren im Schlepptau an einigen brodelnden Töpfen vorbeischlängelte. Durch eine Hintertür gelangten sie in eine kleine Gasse, die nach vorn zur Hauptstraße führte. Sie eilten bis zur Ecke und entfernten sich vom Restaurant, als Loren Pitts Hand drückte.
»Was ist mit diesem Trolley?«, fragte sie.
Ein auf altmodisch getrimmter motorisierter Straßenbahnwagen mit Gummireifen, mit dem Touristen von einem Ende der Stadt zum anderen transportiert werden konnten, kam ihnen auf der Straße entgegen.
»Wir steigen von der anderen Seite zu«, entschied Pitt sofort.
Sie überquerten die Straße, kurz bevor der Wagen auf ihrer Höhe war, und sprangen schnell an Bord. Die Sitzplätze waren allesamt besetzt, daher mussten sie stehen, als der Wagen am Cafe vorbeifuhr. Der Mann im blauen Oberhemd stand immer noch davor und ließ den Blick ohne besonderes Interesse über den Straßenbahnwagen gleiten, als er an ihm vorüberrollte. Pitt und Loren wandten sich ab und vetsuchten, sich hinter einem der Passagiere zu verbergen, doch ihre Deckung war eher dürftig. Die Augen des Mannes wurden starr, als er Lorens purpurfarbene Bluse entdeckte. Dann fuhr er herum und drückte sein Gesicht gegen das Restaurantfenster. Pitt konnte den geschockten Gesichtsausdruck des Mannes deutlich erkennen, als er hinter dem Wagen, der sich auf der Straße von ihm entfernte, herschaute. Er nahm sofort die Verfolgung auf, zog dabei ein Mobiltelefon aus einer Tasche und wählte hektisch eine Nummer, während er losrannte.
Loren sah Pitt mit einem entschuldigenden Ausdruck in den Augen an. »Sorry, er hat mich wohl gesehen.«
»Nicht schlimm«, erwiderte Pitt und versuchte ihre Angst mit einem aufmunternden Grinsen zu vertreiben. »Schließlich ist es eine kleine Stadt.«
Der Trolley legte einen kurzen Zwischenstopp am Fischmarkt ein, wo die meisten Passagiere ausstiegen. Da ihr Verfolger nicht locker ließ und nur noch einen Block entfernt war, suchten sich Pitt und Loren freie Plätze und duckten sich, während der Straßenbahnwagen beschleunigte.
»Ich glaube, ich habe in der Nähe der Anlegestelle einen Polizisten gesehen«, sagte Loren.
»Wenn er nicht dort ist, schaffen wir es vielleicht, auf eine andere Fähre aufzuspringen.«
Der Trolley fuhr einen Block weiter, dann näherte er sich seiner Haltestelle in der Nähe des Fährhafens. Das altersschwache Fahrzeug rollte noch, als Pitt und Loren absprangen und zum Kai rannten. Aber diesmal fasste Pitt nach Lorens Arm und blieb abrupt stehen.
Der Kai war jetzt leer, die nächste Fähre würde erst in einer halben Stunde eintreffen. Mehr Sorgen bereiteten Pitt jedoch zwei Männer in der Nähe der Einfahrt in den kleinen Hafen. Der eine war der Perser aus der Blauen Moschee. Er eilte neben seinem Freund mit der Sonnenbrille über den Kai.
»Ich finde, wir sollten uns eine andere Transportmöglichkeit suchen«, sagte Pitt und steuerte Loren in die andere Richtung. Sie gingen zur Straße, wo ein Peugeot Kabriolet aus den sechziger Jahren vorbeiratterte, begleitet von einer kleinen Gruppe Einheimischer, die dem Wagen zu Fuß zu dem kleinen Park am Wasser folgten. Pitt und Loren näherten sich den Türken und versuchten, sich unter sie zu mischen, um dort Deckung zu finden. Doch ihr Versuch scheiterte, als der Mann im blauen Hemd, der vor dem Cafe Wache gehalten hatte, auf der Straße erschien. Er rief seinen Komplizen etwas zu, ruderte aufgeregt mit den Armen und deutete dann in Pitts Richtung.
»Was tun wir jetzt?«, fragte Loren, als sie sah, dass sich die Männer auf dem Kai in ihre Richtung bewegten.
»Geh einfach weiter«, erwiderte Pitt.
Seine Augen sprangen hin und her und suchten nach einem Fluchtweg, doch ihre einzige Möglichkeit bestand zu diesem Zeitpunkt darin, im Schutz der Fußgängergruppe zu bleiben. Sie folgten den Leuten in den Park und gelangten zu einer weiten Rasenfläche, auf der Oldtimer-Autos in zwei Reihen geparkt waren. Pitt erkannte unter den auf Hochglanz polierten Fahrzeugen mehrere Citroen- und Renault-Modelle aus den 1950cm und 1960cm.
»Offenbar ein Treffen von Liebhabern französischer Autos«, vermutete Pitt.
»Ich wünschte, wir könnten ungestört daran teilnehmen«, erwiderte Loren und blickte immer wieder über die Schulter.
Während sich die Menschengruppe auf dem Rasenplatz verteilte, ging Pitt mit Loren zu einer Menschentraube in der ersten Reihe. Sie drängten sich um das Prachtstück der Ausstellung, einen funkelnden Talbot-Lago vom Anfang der fünfziger Jahre, mit einer Karosserie des italienischen Designers Giacinto Ghia. Während sich Pitt in der Gruppe der Autofans langsam nach hinten schob, beobachtete er ihre Widersacher.
Die drei Männer betraten soeben den Park. Sonnenbrille war offensichtlich der Anführer. Er dirigierte die beiden anderen Männer jeweils auf eine Seite des Rasenplatzes, während er selbst auf die mittlere Wagenreihe zuging.
»Ich glaube nicht, dass wir auf dem gleichen Weg von hier wegkommen, auf dem wir hergekommen sind«, sagte Pitt. »Wir sollten versuchen, einen Vorsprung zu halten. Vielleicht können wir vom anderen Ende des Parks aus irgendwie die Hauptstraße erreichen und einen Bus oder einen Pkw anhalten.«
»Zu diesem Zeitpunkt hätte ich nicht einmal etwas dagegen, es mit einem Carjacking zu versuchen«, erwiderte Loren mit grimmiger Entschlossenheit. Sie ging schneller, suchte sich einen Weg zwischen den Autos, während Pitt stets einen oder zwei Schritte hinter ihr blieb. Sie versuchten so gut es ging, die anderen Schaulustigen als Deckung zu benutzen, doch die Anzahl der Ausstellungsbesucher um sie herum nahm ständig ab, während sie an den Exponaten vorbeigingen. Nicht lange, und sie standen vor dem letzten Ausstellungsstück, einem zweitürigen Kabriolett aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, das silbermetallic und grün lackiert war. Ein älterer Mann saß in dem Wagen und klebte gerade ein Schild mit der Aufschrift Zu verkaufen von innen an die Windschutzscheibe.
»Das ist unsere letzte Deckungsmöglichkeit«, stellte Pitt fest. »Jetzt nichts wie schnellstens rüber zu den Bäumen.«
Pitt ergriff Lorens Hand und startete mit ihr über den einzig verbliebenen Rasenstreifen. Eine dichte Baumreihe markierte die Parkgrenze, hinter der, wie Pitt sicher zu wissen glaubte, die Küstenstraße verlief.
Sie waren gerade zwanzig Meter weit gekommen, als sie das, was sie vor sich sahen, abrupt stoppen ließ. Hinter den Bäumen konnten sie eine hohe Mauer erkennen, die die südliche Hälfte des Parks umfriedete. Zum Schutz des Privathauses auf der anderen Seite war die Mauerkrone mit Glasscherben besetzt. Pitt wusste, dass Loren nicht einmal mit seiner Hilfe die Mauer schnell genug überklettern und sich vor ihren Verfolgern in Sicherheit bringen, geschweige denn vermeiden konnte, sich dabei eine blutige Verletzung einzuhandeln.
Pitt wirbelte herum und entdeckte die drei Männer sofort. Sie bewegten sich noch weitgehend unauffällig zwischen den Oldtimern und kamen nur langsam näher. Pitt zog Loren an der Hand hinter sich her, als er wieder den Weg zu den ausgestellten Automobilen einschlug.
»Was tun wir jetzt?«, fragte Loren, und die Angst in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Pitt sah sie mit einem verwegenen Funkeln in den Augen an. »Um Monty Halls Worte zu verwenden: Wir gehen aufs Ganze.«
12
»Besitzt er ein Cotal-Getriebe?«, fragte Pitt.
Der ältere bärtige Mann beugte sich herüber und öffnete die Fahrertür.
»Natürlich«, sagte er mit deutlich amerikanischem Akzent. »Kennen Sie sich mit Delahayes aus?« Sein Gesicht hellte sich erwartungsvoll auf, als er den hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann und seine attraktive Frau neben dem Wagen stehen sah.
»Ich habe diese Automarke schon immer bewundert«, erwiderte Pitt, »vor allem wegen ihrer Karosserieformen.«
»Dies ist ein 1948er Modell 135 Kabriolett mit einer maßgeschneiderten Karosserie aus der Pariser Werkstatt von Henry Chapron.«
Das große zweitürige Kabriolett hatte klare, aber markante Linien, die sich die Autohersteller kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grund ihrer eleganten Schlichtheit zum Vorbild genommen hatten. Loren bewunderte die auffällige grüne und silberne Lackierung, die das Auto noch lang gestreckter erscheinen ließ.
»Haben Sie den Wagen selbst restauriert?«, wollte sie wissen.
»Ja. Von Beruf bin ich Bergbauingenieur. Ich habe den Wagen im Schuppen einer alten Datscha in Georgien gefunden, während ich gerade an einem Projekt in der Nähe der Schwarzmeerküste gearbeitet habe. Er war in einem ziemlich üblen Zustand, aber immerhin vollständig. Ich habe ihn nach Istanbul gebracht und mit Hilfe einheimischer Experten restauriert. Er ist zwar noch nicht reif für einen Schönheitswettbewerb, aber ich finde, er sieht schon ganz gut aus. Sie haben damals eine ganze Menge Geschwindigkeit aus seinem Sechs-Zylinder-Motor rausgeholt, daher fährt er wie der Teufel.« Er streckte Pitt eine Hand entgegen. »Übrigens, ich heiße Clive Cussler.«
Pitt erwiderte den Händedruck des Mannes, dann stellte er sich und Loren vor.
»Er ist wirklich eine Schönheit«, fügte Pitt hinzu, während er die Besucher der Oldtimer-Ausstellung ständig im Auge behielt. Der Mann mit der Sonnenbrille war noch fünf Wagen von ihm entfernt und starrte ihn drohend an. Dabei kam er ständig näher. Pitt konnte auch die beiden anderen Männer sehen, die zwar noch weiter entfernt waren, sich jedoch von den Seiten näherten und ihn in die Zange zu nehmen drohten.
»Warum wollen Sie den Wagen verkaufen?«, fragte er, während er Loren unauffällig ein Zeichen gab, zur Beifahrertür hinüberzugehen.
»Ich will für einige Zeit rüber nach Malta und habe dort keinen Platz für den Wagen«, sagte der Mann mit enttäuschter Miene. Er lächelte, als Loren die Selbstmördertür auf der linken Seite öffnete. Ein schwarz-brauner Dackel, der schlafend auf dem Sitz gelegen hatte, sah sie ungehalten an, dann sprang er aus dem Auto und trabte zu seinem Besitzer. Loren rutschte auf den mit Leder bezogenen Beifahrersitz und winkte Pitt zu.
»Sie sehen in dem Wagen richtig gut aus«, sagte Cussler mit dem typischen Charme eines Autoverkäufers.
Loren erwiderte sein Lächeln. »Ist es okay, wenn wir eine kleine Probefahrt durch den Park machen?«, fragte sie.
»Natürlich. Der Schlüssel steckt.« Der Mann sah Pitt fragend an. »Sie kennen sich mit dem Cotal-Getriebe aus? Sie brauchen nur auf die Kupplung zu treten, um zu starten und zu stoppen.«
Pitt nickte, während er sich hinter das Lenkrad des rechts gesteuerten Wagens schwang. Er drehte den Zündschlüssel und hörte befriedigt, wie der Motor sofort ansprang und rund lief.
»Wir sind gleich wieder zurück«, sagte er und winkte dem Eigentümer.
Pitt setzte mit dem Wagen zurück, dann fuhr er zur hinteren Reihe der Oldtimer-Ausstellung — in der Hoffnung, von dem Mann mit der Sonnenbrille nicht gesehen zu werden. Der Verfolger kam soeben um den letzten Wagen in der Reihe herum und entdeckte Pitt hinterm Lenkrad, als sich der Delahaye in Bewegung setzte. Pitt trat vorsichtig auf das Gaspedal, um zu vermeiden, dass die Hinterräder auf der glatten Grasnarbe durchdrehten, während der Wagen mit einem Ruck anfuhr. Sonnenbrille zögerte, dann rief er, er solle anhalten. Pitt ignorierte die Aufforderung, während die Reifen auf dem Boden Halt fanden und der alte Wagen zügig beschleunigte und den Mann hinter sich zurückließ.
Pitt konnte noch weitere Rufe über dem Motorenlärm hören, dann stieß Loren einen Warnruf aus. Der Topkapi-Dieb im blauen Oberhemd erschien neben der Wagenreihe ein Dutzend Meter vor ihnen.
»Er ist bewaffnet«, schrie Loren in Panik, als der Wagen auf den Mann zuraste.
Pitt konnte erkennen, dass der Mann eine Pistole herausgeholt hatte und sie zur Tarnung gegen seinen Oberschenkel presste. Er stand in der Nähe eines Peugeot Kombiwagens mit Holzkarosserie und wartete darauf, dass der Delahaye mit ihm auf gleiche Höhe kam.
Bei hochtourig singendem Motor schaltete Pitt mit dem winzigen, aus dem Armaturenbrett ragenden Ganghebel in den zweiten Gang. Nur ein paar Schritte entfernt hob der Mann im blauen Oberhemd die Hand mit der Pistole.
»Ducken!«, brüllte Pitt, dann trat er das Gaspedal durch.
Der mit einem Dreifachvergaser ausgerüstete Motor entwickelte seine volle Kraft und warf Pitt und Loren nach hinten in ihre Sitze. Die plötzliche Beschleunigung brachte auch die Zeiteinteilung des Schützen durcheinander, und in der Eile versuchte er, blind durch die Windschutzscheibe zu schießen. Pitt hatte jedoch nicht vor, ihm dazu die Chance zu lassen.
Indem er das Lenkrad scharf nach rechts herumriss, zielte Pitt mit dem runden Bug des Delahaye direkt auf den erschrockenen Schützen. Vom Heck des Peugeot blockiert, hatte der Mann nur eine Möglichkeit zu reagieren. Wild rückwärts laufend verzichtete er darauf, einen gezielten Schuss anzubringen, um zu vermeiden, als Kühlerfigur zu enden.
Der vordere Kotflügel des Delahaye schrammte an der Stoßstange des Peugeot entlang, bis er das Bein des Schützen streifte und ihn vom Wagen wegschleuderte. Zwei Schüsse wurden mit der Pistole abgefeuert, ehe er neben dem Peugeot zusammenbrach und sich schmerzverkrümmt auf dem Erdboden wälzte. Beide Schüsse lagen allerdings viel zu hoch. Einer durchlöcherte das Leinenverdeck, der andere ging in die Luft.
Pitt kurbelte hektisch am Lenkrad, um einer Kollision mit den restlichen Oldtimern auszuweichen. Über den Rasen schleudernd erwischte der Delahaye beinahe den mit Melonen beladenen Kleinlaster eines Bauern, der gerade durch die Parkeinfahrt hereinkam. Erschrockene Besucher stoben in alle Richtungen davon, als Pitt auf den Hupknopf hämmerte. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, dass sich Sonnenbrille und der Perser dem gestürzten Schützen näherten. Aber keiner der beiden hatte eine Waffe in der Hand.
Loren lugte hinter dem Armaturenbrett hervor, das Gesicht schneeweiß. Während sie in Richtung Parkausfahrt rollten, zwinkerte Pitt ihr aufmunternd zu.
»Dieser Bursche hatte recht«, sagte er lächelnd. »Der Schlitten fährt wirklich wie der Teufel.«
Pitt tat so, als wüsste er genau, wohin er wollte, verließ in rasanter Fahrt den Park, hielt sich auf der Hauptstraße links in Richtung Süden am Bosporus entlang nach Istanbul. Seine Verfolger zögerten nicht, die Jagd sofort wieder aufzunehmen, indem sie den Bauern mit vorgehaltener Pistole zwangen, aus seinem Kleinlaster zu steigen. Nachdem sie ihren verletzten Komplizen zuerst eingeladen hatten, sprangen die beiden anderen ins Fahrzeug und rasten aus dem Park hinaus, wobei Melonen wie Kanonenkugeln nach allen Richtungen von der Ladefläche heruntergeschleudert wurden.
Trotz des ehrwürdigen Alters des Delahaye waren Pitt und Loren, was ihr Fahrzeug betraf, eindeutig im Vorteil. Der französische Wagen hatte seine Wurzeln im Rennsport, hatten sich die Delahayes doch vor dem Krieg in Le Mans stets erfolgreich geschlagen. Unter den stromlinienförmigen Karosserien, die für reiche und berühmte Pariser maßangefertigt wurden, arbeiteten ausschließlich Hochleistungsmotoren. Eine nach dem Standard der 1950er harte Federung und die hochtourige Maschine gaben Pitt ausreichend Gelegenheit, schnell zu fahren. Die enge, gewundene Straße mit ihrem nicht allzu spärlichen Nachmittagsverkehr sorgte jedoch, wie sich herausstellte, für eine gewisse Chancengleichheit ihrer Verfolger.
Mit durchgetretenem Gaspedal regelrecht durch die Kurven fliegend nutzte Pitt beim Schalten ausgiebig die Vorteile des Cotal-Getriebes. Dank des Einsatzes einer elektromagnetischen Kupplung erlaubte ihm das Getriebe den Gangwechsel durch ein einfaches Antippen des kleinen Schalthebels im Armaturenbrett. Da er selbst eine eigene Sammlung von Oldtimern besaß, die in einem Flugzeughangar in der Nähe von Washington, D. C„ untergebracht war, hatte er im Umgang mit alten Automobilen viel Erfahrung. Es war eine Leidenschaft - ganz so wie seine Liebe zum Meer. Und er stellte fest, dass er es durchaus genoss, den Delahaye bis an seine Leistungsgrenzen zu beanspruchen, auch wenn die Begleitumstände wenig erfreulich waren.
Loren behielt konsequent das Heckfenster des Kabrioletts im Auge, als sie mit kreischenden Reifen durch eine S-Kurve segelten. Sie bemerkte, dass Pitt die Stirn runzelte, als er einen Blick auf das Armaturenbrett warf.
»Stimmt was nicht?«
»Die Tankanzeige tendiert gegen null«, erwiderte er. »Ich furchte, eine Testfahrt nach Istanbul ist jetzt nicht drin.«
Eine Zunahme an Verkehr kostete sie nach und nach ihren Vorsprung, und auf einem längeren geraden Straßenabschnitt konnte Loren schließlich den Kleinlaster entdecken, der stetig zu ihnen aufholte.
»Wir müssen irgendetwas finden, wo viel Betrieb herrscht und wir sie abschütteln können«, sagte sie.
Auf der kleinen Straße, die durch eine Gegend mit stattlichen Villen führte, gab es dafür nur wenige Möglichkeiten. Noch mehr Autos verstopften die Straße, als sie sich dem Dorf Buyukdere näherten, und Pitt nutzte jede Gelegenheit, die langsameren Fahrzeuge zu überholen. Unterstützt durch den herrschenden Verkehr, hielt der Kleinlaster einen konstanten Abstand von einer Viertelmeile, mit nur einer Handvoll Fahrzeuge zwischen ihnen.
Pitt dachte daran, einen Abstecher in den dichter bewohnten westlichen Teil des Dorfes zu machen, doch dichter und langsamer Verkehr verstopfte die Hauptstraße in die Ortschaft. Er verzichtete auf die Durchfahrt und blieb auf der Küstenstraße, die plötzlich auf einen Brückenabschnitt über das Wasser führte. Eine größere Lücke im Gegenverkehr ausnutzend beschleunigte Pitt rasant und passierte eine längere Autoschlange, die von einem träge dahinrollenden Müllwagen behindert wurde. Er hatte den größten Teil des hinderlichen Verkehrs abgeschüttelt, als die Straße wieder über Land verlief und sie durch die Bosporus-Version eines Botschaftsviertels rollten, wo zahlreiche ausländische Konsulate ihre feudalen Sommersitze entlang der Küste unterhielten.
»Wie hält sich unser Melonen-Express?«, fragte Pitt, während sein Blick auf der Straße vor ihm klebte.
»Er überholt gerade den Müllwagen eine halbe Meile hinter uns«, meldete Loren, ehe die Fahrzeuge hinter ihnen in einer weiten Kurve verschwanden.
Der grüne Delahaye jagte an den blumenüberwucherten Gartenanlagen der Sommerresidenz der britischen Botschaft vorbei, als Pitt plötzlich gezwungen war, scharf zu bremsen. Ein Stück vor ihnen versuchte ein Umzugswagen erfolglos, rückwärts in die Einfahrt eines Privathauses zu setzen, und blockierte dabei beide Fahrtrichtungen der Küstenstraße.
»Mach endlich Platz!«, schimpfte Loren lautstark.
Der Lastwagenfahrer hörte sie zwar nicht, aber es hätte sowieso nichts bewirkt. Er ließ den Lastwagen ein Stück vorwärts rollen, um einen zweiten Versuch zu machen, wobei er das Geplärre der Autohupen ignorierte.
Pitt suchte die Straße schnell nach einer Ausweichmöglichkeit ab und wurde nur ein einziges Mal fündig. Er schaltete in den ersten Gang, fuhr ein Stück geradeaus und bog in die offene Einfahrt eines mit einer Mauer umgebenen Anwesens auf der rechten Straßenseite ein. Die gepflasterte Straße verwandelte sich in eine Rollsplittpiste, und dann gelangten sie auf das Grundstück eines altehrwürdigen Holzhauses, das einmal im Besitz der dänischen königlichen Familie gewesen war. Eine imposant geschwungene Zufahrt teilte einen weitläufigen, zugewucherten Garten, ehe sie vor den Eingangsstufen des lachsfarbenen Haupthauses endete.
Ein Gärtner, der damit beschäftigt war, auf der Insel in der Mitte Rosen zu schneiden, verfolgte mit ungläubigen Blicken, wie der französische Wagen auf das Gelände rollte, als wäre er einer der ursprünglichen Bewohner des Anwesens. Neugierig beobachtete er, wie der Delahaye hinter einigen dichten Büschen bremste und stehen blieb, anstatt bis zur Eingangstreppe der Villa vorzufahren. Ein paar Sekunden später begriff er auch, weshalb.
Angekündigt durch das schrille Kreischen rutschender Reifen, raste der alterschwache Kleinlaster plötzlich durch das offene Tor. Der Fahrer nahm die Kurve zu schnell, und das Heck des Lasters schleuderte gegen einen steinernen Torpfosten, so dass der linke hintere Kotflügel abgerissen wurde. Ein paar restliche Melonen hüpften noch von der Ladefläche herunter, zerplatzten am Torpfosten und hinterließen dabei eine klebrige Spur orangefarbenen Fruchtfleisches, das im Zeitlupentempo am Pfosten herab zu Boden rann.
Der Fahrer gewann schnell die Kontrolle über den Wagen zurück und nahm den Delahaye aufs Korn, der mit laufendem Motor nicht weit vor ihm stand. Pitt lockte den Kleinlaster mit Absicht, denn er wollte nicht, dass er stoppte und die Ausfahrt blockierte. Schnell trat er aufs Gaspedal, ließ die Kupplung ruckartig kommen und schleuderte mit den Hinterrädern eine Wolke aus Staub und Geröll hoch, während der Wagen einen Satz vorwärts vollführte. Der Kleinlaster holte zügig auf, aber nicht bevor Pitt den geschwungenen Teil der Zufahrt erreicht hatte, der am Wohnhaus vorbeiführte. Er gab Vollgas, lenkte nach links und jagte an der Villa vorbei und in die gegenüberliegende Kurve.
Nur ein Dutzend Meter dahinter lehnte sich der Perser im Kleinlaster mit einer Glock Automatik aus dem Beifahrerfenster und feuerte auf den französischen Wagen los. Wegen der Krümmung der Kurve musste er die Pistole vor die Windschutzscheibe des Lasters halten, um zu zielen, was seine Genauigkeit nicht gerade verbesserte. Ein paar Kugeln schlugen in den Kofferraum des Delahaye ein, doch die Insassen und die Technik des Wagens blieben unversehrt.
Mittlerweile prügelte Pitt den Oldtimer durch die zweite Kurve und streichelte das Gaspedal, um das Tempo konstant zu halten. Am äußeren Rand der Kurve stand eine große Venusstatue mit zum Himmel erhobenem Arm neben der Zufahrt.
»Achtung!«, warnte Loren, als der Delahaye auf die Marmorstatue zudriftete.
Pitt hielt das Lenkrad fest in Position und trat stärker aufs Gaspedal. Mehrere Kugeln sirrten über das Wagendach hinweg, während der Wagen weiter in Richtung der imposanten Venus rutschte. Die Räder des Sportwagens drehten durch, dann fraßen sie sich allmählich in den Rollsplitt, und der Wagen änderte allmählich seine Bewegungsrichtung. Loren hielt sich am Armaturenbrett fest, während der Bug des Delahaye aufs Gras geriet und sich in Richtung der Marmorstatue schob. Aber die Hinterräder fanden nach und nach Halt und schoben den vorderen Teil des Wagens an der Statue vorbei und zurück auf den Fahrweg. Pitt und Loren hörten ein lautes Knirschen, als der hintere Kotflügel den Sockel der Venus streifte. Es ließ jedoch nach, als alle vier Räder wieder Rollsplitt unters Profil bekamen.
»Du hast ihr den Arm abgebrochen«, bemerkte Lauren, als sie aus dem Heckfenster auf die Statue blickte.
»Ich kann nur hoffen, dass der Eigentümer des Delahaye ausreichend versichert ist«, sagte Pitt, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Während der Delahaye zur Einfahrt preschte, versuchte der Kleinlaster gerade, die zweite Kurve zu nehmen. Der Perser hatte noch immer die Pistole in der Hand und ließ sie aus der Beifahrertür heraushängen. Wieder nahm er den Delahaye unter Beschuss, während er den Fahrer antrieb, das Tempo zu steigern. Aber mit seinem höher liegenden Schwerpunkt und den abgenutzten Reifen konnte der Kleinlaster den Slalom des französischen Sportwagens durch die Kurve unmöglich imitieren. Bei dem Versuch, wenigstens das gleiche Tempo zu erreichen, verloren die Reifen des schwerfälligen Fahrzeugs sofort die Bodenhaftung, und der Laster rutschte in Richtung der Venusstatue. In seiner Panik, von der Zufahrt zu driften, trat Sonnenbrille auf die Bremse, wodurch sich die Querbewegung allerdings nur verstärkte.
Der Hausmeister verfolgte mit offenem Mund, wie der alte Truck in steilem Winkel gegen die Venus krachte. Das bereits demolierte Kunstwerk verschwand in einer Staubwolke, während der Kleinlaster vorwärts hüpfte und sich zu drehen begann. Er rutschte zurück auf die Rollsplittpiste, kreiselte drei Mal, ehe er in eine Gruppe junger Weiden pflügte. Das Fahrzeug rutschte noch ein Stück, ehe es an einem Kastanienbaum zum Stehen kam und die drei Insassen gegen das Armaturenbrett geschleudert wurden.
Sonnenbrille sackte auf seinem Sitz nach hinten und massierte eine geschwollene Lippe, die er sich bei einem unfreiwilligen Kontakt mit dem Lenkrad eingehandelt hatte. Neben ihm versuchte der Mann im blauen Hemd, den Blutstrom aus seiner malträtierten Nase zu stoppen. Nur der Perser hatte die Kollision unversehrt überstanden, weil er sich mit dem freien Arm abgestützt hatte.
Da der Motor des Lasters noch lief und offensichtlich unbeschädigt geblieben war, wandte er sich an den Fahrer.
»Los! Hinter ihnen her!«
Sonnenbrille schüttelte seine Benommenheit ab, legte den Rückwärtsgang ein und lenkte den Truck auf den Fahrweg zurück. Als er aufs Bremspedal trat, erklang hinter dem Führerhaus ein lautes Rumpeln. Der Perser schaute aus dem Heckfenster und sah den abgetrennten Kopf der Venus auf der Ladefläche hin und her rollen.
Als sie die Auffahrt erreichten, hatte Pitt das Anwesen schon längst wieder verlassen. Da sich seine Hoffnung erfüllt und der Umzugswagen in der Zwischenzeit seine Rangierprobleme gelöst hatte, war die Küstenstraße jetzt frei. Pitt konnte dem betagten Wagen auf der asphaltierten Straße endlich wieder die Sporen geben.
»Wir haben uns vielleicht einen kleinen Vorsprung verschafft«, sagte er, »aber uns wird sicher gleich der Sprit ausgehen.«
Loren beugte sich vor und sah, dass die Nadel der Tankanzeige über der »Leer«-Markierung zitterte.
»Vielleicht gibt die Venus sie ja nicht mehr frei«, sagte Loren hoffnungsvoll.
Als sie am Sommersitz der österreichischen Botschaft vorbeijagten und die Straße wieder einen geraden Verlauf nahm, konnten sie vor sich die Häuser eines weiteren Küstendorfes erkennen. Am Kai des kleinen Hafens war eine große Autofähre zu sehen, die soeben Passagiere und Automobile für die nächste Fahrt über den Bosporus aufnahm.
»Die Fähre ist vielleicht unsere beste Chance«, sagte Pitt, während die Straße zum Hafenviertel steil abfiel.
»Ja, um endlich diese friedliche, erholsame Rundfahrt zu machen, von der du mir erzählt hast«, murmelte Loren.
Ein spitzbübisches Grinsen spielte um Pitts Lippen. »Friedlich, vielleicht, aber für jemand anderen.«
Sie fuhren an einem Schild mit dem Namen der Ortschaft - Yeniköy - vorbei und gelangten durch den spärlichen Verkehr zum Hafen. Pitt stoppte hinter einem offenen Lastwagen, der mit Teppichen beladen war und darauf wartete, auf die Fähre gewunken zu werden. Er ließ den Blick über den Kai schweifen und entdeckte ebenso wie zuvor in Sariyer eine Reihe von Hafenbars und Restaurants.
»Da ist der Track«, platzte Loren heraus.
Pitt blickte die Straße hinauf und entdeckte den Kleinlaster etwa eine halbe Meile entfernt kurz vor der Ortseinfahrt. Er drehte sich zu Loren um und deutete mit dem Daumen auf eine Seitenstraße.
»Geh in dieses Restaurant mit der grünen Markise und bestell mir schon mal ein Bier«, bat er.
»Meinst du die Spelunke mit den dunklen Fenstern?«, fragte sie zweifelnd, während ihr Blick an einigen weitaus respektableren Etablissements hängen blieb.
Pitt nickte.
»Was ist mit unserer Rundfahrt?«
»Wir überlassen unsere Plätze unseren Freunden. Warte dort, bis ich auch hinkomme. Und jetzt geh«, sagte er und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Er schaute ihr nach, wie sie ausstieg, die Straße hinaufeilte und dann zögernd die schmuddelige Bar betrat. Ein paar Sekunden später verfolgte er im Rückspiegel, wie sich der Pick-up dem Hafenkai näherte. Leicht belustigt nahm Pitt zur Kenntnis, dass der vordere Kotflügel des Trucks völlig zerbeult und mit Marmorstaub bedeckt war. Dort, wo sich der Scheinwerfer befunden hatte, klaffte nun ein Loch, das an eine leere Augenhöhle erinnerte. Zweifellos hatten die Verfolger den französischen Wagen entdeckt, während sie sich mit ihrem lädierten Truck drei Fahrzeuge hinter Pitt in die Warteschlange vor der Fähre einreihten.
Pitt bemerkte, wie sich der Teppichtransporter vor ihm in Bewegung setzte, während sich die Auffahrrampe der Fähre leerte. Er gab eilig Gas und lenkte den Delahaye geschickt an dem Lastwagen vorbei und handelte sich ein ärgerliches Hupsignal seines Fahrers ein. Der große Transporter bot immerhin ein wenig Deckung und würde, wie Pitt hoffte, verbergen, dass er der einzige Insasse des Sportwagens war.
Pitt bezahlte beim Kassierer die Gebühr für die Überfahrt, lenkte den Wagen auf das überdachte Autodeck der Fähre und parkte hinter einer kleinen Limousine, auf deren Rücksitz einige Kinder herumturnten. Er schlängelte sich eilig aus dem Wagen und blickte zum Hafenkai hinüber. Der Teppichwagen stand mit laufendem Motor neben dem Kassierer und versperrte den anderen Fahrzeugen den Weg, während der Fahrer in seinen Taschen nach dem Geld für die Überfahrt suchte. Falls einer der Verfolger den Pick-up verlassen hatte, war er jedenfalls noch nicht zu sehen. Pitt ließ einen prüfenden Blick über die Fähre gleiten.
Es war ein zweistöckiges Schiff mit einem überdachten Unterdeck für die Fahrzeuge, während die Passagiere auf dem Oberdeck Platz fanden. Gerade wollte er zu einer Treppe gehen, als er einen fliegenden Händler entdeckte, der den Kindern in der Limousine vor ihm Popcorn verkaufte. Der Mann war fast ebenso groß wie Pitt, hatte in etwa die gleiche Statur und ebenso dunkles, welliges Haar wie er.
»Entschuldigen Sie«, rief Pitt dem Mann zu. »Könnten Sie so nett sein und auf meinen Wagen aufpassen, während ich auf die Toilette gehe?« Er holte einen Zehn-Lira-Schein aus seiner Brieftasche.
Der Händler sah die Banknote und nickte eifrig. »Natürlich, klar«, antwortete er.
Pitt drückte dem Mann den Schein in die Hand, dann deutete er auf die Fahrertür.
»Steigen Sie ruhig ein«, sagte er. »Wenn jemand in dem Wagen sitzt, wird sich bestimmt niemand daran zu schaffen machen.«
Der Mann stellte sein Popcorn-Tablett ab und schwang sich bereitwillig auf den Fahrersitz, offensichtlich stolz, in einem derart eleganten und alten Automobil sitzen zu dürfen.
»Ich bin gleich wieder zurück«, versprach Pitt mit einem Augenzwinkern und eilte dann zur Treppe hinüber.
Er stieg zum Oberdeck hinauf und drängte sich durch die Passagiere zum Schiffsheck. Der Kleinlaster rollte gerade die Rampe hinauf, als er über die Seitenreling blickte und feststellen konnte, dass alle drei Männer noch im Führerhaus saßen.
Der Pick-up war das letzte Fahrzeug, das an Bord gekommen war, und die Hafenarbeiter zogen die Auffahrrampe ein, während die Schiffscrew eine Barriere am Heck aufstellte. Pitt spürte unter seinen Füßen ein Zittern, als der Schiffsmotor in Gang gesetzt wurde, dann kündigte ein dreifaches Hornsignal die bevorstehende Abfahrt der Fähre an. Er ging weiter bis zur Heckreling und wartete darauf, dass sich die Schraube zu drehen begann. Dann blickte er zum Vorderschiff.
Am oberen Ende der mittleren Treppe sah er Sonnenbrille auftauchen, der die Passagiere hastig kontrollierte. Pitt konnte sich die dummen Gesichter seiner Verfolger gut vorstellen, als sie sich an den Delahaye anschlichen und einen Popcornverkäufer hinter seinem Lenkrad antrafen. Er hatte jedoch keine Zeit, um sein Amüsement auszukosten, da das Schiff unter seinen Füßen plötzlich zu schwanken begann und das Wasser am Heck der Fähre aufschäumte.
Nun kletterte er eilig über die Reling und verursachte unter den Passagieren einige Unruhe, die sofort die Aufmerksamkeit seines Verfolgers mit der Sonnenbrille erregte. Der Mann rannte über das Deck, doch Pitt verschwand bereits außer Sicht. Er turnte abwärts, bis er mit ausgestreckten Armen an einem Geländerpfosten hing und sich dann auf das Unterdeck fallen ließ. Er landete in einer Hocke, sprang auf, flankte über die Heckabsperrung und machte einen verzweifelten Satz in Richtung Kai.
Die Fähre hatte sich bereits ein paar Schritte weit vom Festland entfernt, als Pitt zu seinem Sprung ansetzte. Er erreichte den Rand der Autorampe mit einer Fußspitze, katapultierte sich nach vorn und schlug einen Purzelbaum. Dann rollte er die Rampe hinunter, kam zur Ruhe und erhob sich langsam. Die Fähre nahm zügig Fahrt auf, zwischen ihrem Heck und dem Kai klaffte bereits eine Lücke von gut fünf Metern.
Pitt verfolgte, wie Sonnenbrille auf dem Oberdeck der Fähre zur Heckreling rannte und deprimiert auf den wachsenden Abstand zwischen Schiff und Festland starrte. Der Verfolger richtete seinen Blick auf Pitt, griff instinktiv zum Pistolenhalfter, das er unter seiner leichten Sommerjacke trug, ehe er auf sein Vorhaben verzichtete.
Amüsiert betrachtete Pitt die Gestalt, dann winkte er ihr freundlich zu, als wäre sie ein alter Freund. Sonnenbrille stand reglos da und erwiderte Pitts Blick, das Gesicht war eine eisige Maske aus Granit, während die Fähre Kurs auf das gegenüberliegende Ufer nahm.
13
Die untergehende Sonne zauberte einen goldenen Schimmer auf die von Westen auflaufenden Brecher, die gegen die israelische Küste brandeten. Dankbar, dass die Hitze des Tages endlich nachgelassen hatte, blickte Sophie zum blauen Horizont, wandte sich dann um und betrat das Zelt mit den Ausgrabungsfunden. Professor Haasis beugte sich über eine Papyrusrolle. Sein Gesicht strahlte, während er versuchte, den uralten Text zu entschlüsseln. Sophie musste unwillkürlich lächeln, denn der Mann erinnerte sie an ein Kind in einem Süßwarenladen.
»Gönnen Sie Ihrem Gehirn eine Ruhepause, Professor«, sagte sie. »Das alles ist morgen auch noch hier.«
Haasis schaute mit einem verlegenen Lächeln hoch. Auf einem langen Tisch waren mehr als ein Dutzend Keramikbehälter vor ihm aufgestellt. Jeder enthielt mehrere kleine Papyrusrollen. Widerstrebend wickelte er die Rolle, die er gerade untersuchte, auf und legte sie in einen der Behälter zurück.
»Ja, ich denke, ich sollte mal eine Pause machen, um zu essen«, sagte er. »Aber ich kann nicht anders. Es sind so erstaunlich viele Daten. Auf dieser letzten Rolle, zum Beispiel«, sagte er und tippte auf die Porzellanbox, »wird geschildert, wie ein anatolisches Handelsschiff, beladen mit Getreide aus Ägypten, einen sicheren Hafen aufsuchen musste, weil sein Mast geborsten war. Es sind diese kleinen, fast alltäglichen Geschichten, die mein Herz höher schlagen lassen.«
»Das klingt ja nicht gerade danach, als wäre dieser Fund so bedeutend wie die Qumran-Schriften«, meinte Sophie mit einem verhaltenen Kichern.
»Also, der einfache Mann auf der Straße kann damit vielleicht nicht viel anfangen«, erwiderte er, »aber für diejenigen, die ihr Leben der Geschichtsforschung verschrieben haben, ist es so, als habe man plötzlich ein Fenster zur Vergangenheit gefunden, das bisher immer verschlossen gewesen war.«
Haasis streifte seine weißen Baumwollhandschuhe ab. »Ich muss das alles schnellstens ins Labor der Universität bringen lassen, um es eingehend zu analysieren und zu konservieren, aber ich kann der Verlockung einfach nicht widerstehen, einen ersten Blick darauf zu werfen.«
Als er sich erhob und sich streckte, hatte er bis auf drei alle Behälter geöffnet und untersucht.
»Was ist mit Dirk?«, erkundigte er sich. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er den letzten Behälter abgeliefert hat.«
Sophie zuckte die Achseln und bemühte sich, gleichgültig zu erscheinen. Aber die gleiche Frage war ihr auch schon durch den Kopf gegangen. Der Gedanke an Dirks Einladung zum Abendessen hatte sie den ganzen Nachmittag nicht mehr losgelassen. Sie hatte sich sogar davongeschlichen, um zu duschen und ihr Haar durchzukämmen, und zum ersten Mal ärgerte sie sich, kein Schminkzeug mitgenommen zu haben. Sie spürte, wie ihr Herz fast stehen blieb, als hinter ihr plötzlich jemand das Zelt betrat. Sie fuhr herum und stellte enttäuscht fest, dass es nur Sam war.
»Habt ihr Lust, zum Abendessen zu gehen? Im Kantinenzelt gibt es Spaghetti mit Fleischbällchen«, verkündete er. Ein roter Saucenfleck an seinem Kinn verriet, dass er sich bereits eine Portion gesichert hatte.
»Das klingt vielversprechend«, erwiderte Haasis. »Kommen Sie mit, Sophie, gehen wir essen.«
Die Agentin der Antiquitätenpolizei trat langsam zum Ausgang und hatte große Mühe, ihre Enttäuschung zu überspielen.
»Sam«, fragte sie, »ist für heute Nacht alles vorbereitet?«
Ihr Assistent nickte. »Raban und Holder müssten in einer Stunde hier eintreffen. Ich habe ihnen erklärt, dass wir die Überwachung bis Mitternacht durchführen.«
»Professor Haasis hat uns ein Zelt angeboten, daher denke ich, dass ich über Nacht bleiben werde. Du kannst ja mit den Jungs nach Hause fahren, wenn du möchtest.«
»Das werde ich wohl auch tun. Auf dem Erdboden zu schlafen macht nicht mehr so viel Spaß wie damals, als ich noch... dreizehn war«, erwiderte Sam und deutete auf seinen Rücken.
Sie verließen das Zelt und trafen auf Dirk, der draußen unter dem Vordach stand und sich ein Strandlaken über den Arm gehängt hatte, so dass er wie ein Kellner aussah. Bekleidet war er mit einer Baumwollhose und einem Polohemd, und Sophie musste unwillkürlich denken, dass er sich sehr ansprechend herausgeputzt hatte. Es fiel ihr schwer, ein Lächeln zu unterdrücken.
»Ich glaube, wir hatten eine Verabredung zum Abendessen«, sagte er zu ihr und deutete eine Verbeugung an.
»Das hätt ich doch beinah vergessen«, log sie.
Er ergriff ihren Arm und geleitete sie hinter Sam und Haasis her, während die Gruppe zum nahen Kantinenzelt spazierte. Sophie wollte den beiden Männern in das Zelt folgen, spürte jedoch, wie Dirk sie in die entgegengesetzte Richtung zog.
»Essen wir nicht mit den anderen?«, fragte sie.
»Nur wenn Sie eine ausgesprochene Vorliebe für Spaghetti aus der Dose haben«, erwiderte er.
»Nein, nein, nicht unbedingt«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Gut. Dann erwartet uns Cap Pitt.«
Er führte Sophie zur Wasserlinie hinunter, wo sie ein kurzes Stück den Strand entlanggingen. Als sie eine Felsleiste erreichten, die ins Meer ragte, drehte sich Dirk um und half ihr dabei, über die Steine zu klettern, die darauf verstreut lagen.
»Dies war mal der Standort eines römischen Palastes«, sagte Sophie, als sie sich an eine vorangegangene Ausgrabung erinnerte, die einem größeren Bauwerk gegolten hatte, das griechische Säulen und einen Zierteich besaß.
»Viele nehmen an, dass er von König Herodes erbaut wurde, nachdem er den Hafen angelegt hat«, erwiderte Dirk und demonstrierte damit, dass er sich über Caesarea informiert hatte.
»Ich kann mich aber nicht erinnern, dass hier ein Restaurant war«, sagte Sophie mit einem neckischen Grinsen.
»Es ist gleich hinter dieser letzten Mauer.«
Sie kletterten durch die Ruinen bis zur Spitze der Felszunge. Hinter einer zerbröckelten Mauer gelangten sie zu einer geschützten Nische mit einem eindrucksvollen Blick aufs Meer. Sophie lachte, als sie eine Eisbox neben einem kleinen Hibachi-Grill entdeckte, der bereits mit rot glühender Holzkohle gefüllt war.
»König Herodes' Cafe ist geöffnet. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, unter freiem Himmel zu essen«, sagte Dirk und breitete das Badetuch auf einer sandigen Stelle aus. Schnell holte er eine Flasche Weißwein aus der Kühlbox und füllte zwei Gläser.
»Auf alle verdammten Idioten«, sagte er und stieß mit ihr an. Sophie errötete und trank schweigend von ihrem Wein.
»Was steht auf der Speisekarte?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Frischer Seebarsch, heute Nachmittag von mir ganz persönlich gefangen. Mit Zitrone in Olivenöl gegrillt, dazu ein Kebab aus Gemüse, das aus einem Kibbuz stammt, ein Stück die Straße rauf.« Er hielt zwei Spieße mit Pfefferschoten, Tomaten und Zwiebeln hoch.
»Jetzt bin ich richtig froh, dass ich auf die Spaghetti verzichtet habe«, meinte Sophie.
Dirk legte die Kebabs und zwei Fischfilets auf den kleinen Grill und servierte kurz darauf die Abendmahlzeit. Sophie fand, dass das frische Essen köstlich schmeckte, und leerte hungrig ihren Teller.
»Das war sensationell«, sagte sie und stellte ihren leeren Teller ab. »Sind Sie sicher, dass an Ihnen kein Sterne-Koch verloren gegangen ist?«
Dirk lachte. »Sogar ganz sicher. Stellen Sie mich in eine Küche, und ich bringe nicht mehr zustande als ein paar Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade. Aber wenn Sie mir einen Grill geben, laufe ich zur Höchstform auf.«
»Das kann ich nur bestätigen«, sagte Sophie lächelnd.
Während er zum Nachtisch eine kleine Melone zerteilte, fragte sie, wie ihm seine Arbeit bei der NUMA gefiel.
»Ich könnte mir keinen besseren Job wünschen. Ich darf ständig im Meer oder in seiner Nähe arbeiten, und das so gut wie überall auf der Welt. Die meisten unserer Projekte sind interessant und lebenswichtig zugleich, um das Leben in unseren Ozeanen zu erhalten. Und außerdem habe ich meine Familie immer in der Nähe.«
Er bemerkte den dunklen Schatten, der bei der Erwähnung seiner Familie über Sophies Gesicht glitt.
»Mein Vater ist der Direktor der NUMA«, erklärte er. »Und dann habe ich eine Zwillingsschwester namens Summer, die als Ozeanografin bei der NUMA arbeitet. Eigentlich habe ich es meinem Vater zu verdanken, dass ich nach Israel kommen konnte. Er hat mich von einem Projekt freigestellt, an dem wir vor der türkischen Küste gearbeitet haben.«
»Professor Haasis hat mir erzählt, dass er bei der NUMA mehrere alte Freunde hat und auf diese Organisation große Stücke hält«, sagte sie.
»Er selbst hat hier aber auch eine ganze Menge geleistet«, erwiderte Dirk.
»Demnach ist Ihr Aufenthalt in Caesarea nur kurz?«
»Das befurchte ich, ja. Nur noch zwei Wochen, dann muss ich in die Türkei zurück.«
Er reichte ihr einen Teller mit Melonenscheiben und fragte dann: »Jetzt sind Sie aber an der Reihe. Wie sind Sie zu der Nummer einer Archäologin mit Pistole gekommen?«
Sophie lächelte.
»Durch ein Interesse für Geologie und Geschichte, das mir mein Vater wahrscheinlich schon in früher Jugend anerzogen hat, vermute ich. Ich liebe die Archäologie und das Graben in unserer Vergangenheit. Aber es hat mich immer gestört, miterleben zu müssen, wie unsere kulturellen Schätze aus reinem Gewinnstreben geplündert werden. Mit meiner Tätigkeit bei der Antiquities Authority glaube ich, daran einiges ändern zu können, obwohl wir gegenüber den Bösen hoffnungslos in der Unterzahl sind.«
Dirk deutete mit einer ausholenden Geste auf die Küste. »Caesarea wurde im Laufe der Jahrhunderte ziemlich gründlich durchgekämmt. Glauben Sie tatsächlich, dass die Grabungen des Professors hier gefährdet sind?«
»Ihre Entdeckung hat bewiesen, dass man immer noch kulturelle Schätze finden kann. Mehr Sorgen macht mir eigentlich das Grab, dessen Existenz ein Lokalreporter törichterweise publik gemacht hat. Dass jemand hier war und sich als Agent meiner Dienststelle ausgegeben hat, beruhigt mich auch nicht gerade.«
»Na ja, wenigstens haben wir kein Gold oder sonst irgendeinen Schatz gefunden. Jeder Plünderer, der sich zu uns verirrt, dürfte zutiefst enttäuscht sein.«
»Sie würden sich wundern, welche seltsamen Wünsche einen Antiquitätensammler antreiben können. Viele Sammler betrachten kulturelle Altertümer ebenfalls als wertvollen Schatz, was letztlich allen zum Nachteil gereicht. Ihre Papyrusrollen würden auf dem Schwarzmarkt ein kleines Vermögen einbringen. Ich werde mich jedenfalls um einiges besser fühlen, wenn ich weiß, dass Professor Haasis sämtliche Fundstücke sicher zur Universität von Haifa transportiert hat.« Sie sah auf ihre Armbanduhr.
»Ich sollte wirklich ins Lager zurückgehen und unsere abendliche Überwachungsaktion vorbereiten.«
Dirk schenkte ihr ein halbes Glas Wein nach.
»Noch einen Schluck für den Heimweg?«
Sophie nickte und nahm das Glas, während sich Dirk mit seinem eigenen Glas dicht neben sie setzte. Die Brandung donnerte ringsum gegen die Felsen, während sich die Nacht mit ihrer dunkelblauen Dämmerung auf sie herabsenkte. Es war ein erholsamer, romantischer Augenblick, wie es ihn in Sophies Leben schon lange nicht mehr gegeben hatte. Sie sah Dirk von der Seite an und flüsterte: »Tut mir leid, dass ich Sie heute angeschrien habe.«
Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie zärtlich. Dabei ließ er sich Zeit, seine Lippen von ihrer Wange zu lösen.
»Du kannst es ja irgendwann später wiedergutmachen«, sagte er.
Sich aneinanderkuschelnd leerten sie ihre Weingläser, bis sich Sophie zwang, ihren gemeinsamen Abend zu beenden. Hand in Hand wanderten sie über den Strand zurück und dann den Hügel hinauf zu ihrem Camp. Eine mit Generatorstrom gespeiste Lampenkette über den Zelten erhellte das Lager mit fahlweißem Licht. Sam saß auf einer Steinmauer und unterhielt sich mit zwei Männern in dunkler Kleidung.
»Ich schlafe im letzten Zelt auf der linken Seite«, sagte Dirk zu Sophie. »Achte darauf, dass die Grabräuber meinen Schlaf nicht stören.“
»Gute Nacht, Dirk.“
»Gute Nacht.«
Dirk beobachtete, wie Sophie zu ihren Kollegen ging, und schlug dann den Weg zu seiner Zeltreihe ein. Ehe er sich für die Nacht zurückzog, machte er einen kurzen Abstecher zu dem Zelt mit den Artefakten, in dem noch Licht brannte. Haasis saß schon wieder am Tisch und beugte sich, mit einem Vergrößerungsglas in der Hand, über eine Papyrusrolle.
»Haben Sie wieder ein Jahrhundertgeheimnis entschlüsselt?«, fragte Dirk.
»Das nicht gerade, aber es ist trotzdem faszinierend. Kommen Sie, sehen Sie es sich einmal an. Ich denke, es wird Ihnen gefallen.«
Dirk trat näher und blickte über Haasis' Schulter auf den dünnen Bogen fasrigen Papiers, der mit einer markanten geschwungenen Schrift bedeckt war.
»Das sind böhmische Dörfer für mich«, sagte er mit einem entwaffnenden Grinsen.
»Oh, Entschuldigung«, entgegnete Haasis. »Ich gebe Ihnen eine knappe Übersetzung. Diese Rolle enthält eine Beschreibung von Hafentätigkeiten um circa 330, glaube ich. Die Rede ist unter anderem von einem beschädigten zypriotischen Plünderer, der von einer kaiserlichen römischen Trireme aufgebracht wurde. Das Schiff wurde anschließend nach Caesarea geschleppt, wo die Hafenbehörden zahlreiche Blutspuren an Bord fanden sowie eine Anzahl römischer Waffen. Außerdem hatten viele Mannschaftsmitglieder frische Verletzungen, die auf einen kurz zuvor stattgefundenen Kampf hinweisen.«
»Piraten?«, fragte Dirk.
»Offenbar. Der Vorfall erregte einiges Aufsehen, zumal die persönliche Rüstung eines Centurios namens Plautius an Bord gefunden wurde. Wie sich herausstellte, gehörte er zur Scholae Palatinae, was immer das gewesen sein mag.«
»Wahrscheinlich hatte dies keine besonders angenehmen Folgen für die zypriotische Crew.«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Haasis. »Das Schiff wurde requiriert und als Handelsschiff in Dienst genommen, während man die Mannschaft kurzerhand hingerichtet hat.«
»Eine schnelle und drastische Rechtsprechung, das muss man schon sagen«, meinte Dirk und hob einen der Keramikbehälter hoch. »Sind auf allen Rollen solche aufregenden Schilderungen zu finden?«
»Nur für Altertumsfanatiker, wie ich einer bin«, sagte Haasis lächelnd, dann rollte er das Schriftstück zusammen und legte es in eine der Schatullen zurück. »Ich habe mir die meisten Rollen angesehen: Sie enthalten vorwiegend bürokratische Eintragungen wie die Auflistung von eingenommenen Hafengebühren und Ähnliches. Nichts Ungewöhnliches, aber insgesamt betrachtet erhalten wir auf diese Art und Weise einen wichtigen Einblick in das hiesige Alltagsleben vor zweitausend Jahren.«
Er wickelte den Porzellanbehälter in ein Tuch, legte ihn auf einen Aktenschrank und schaltete dann die Deckenbeleuchtung aus. Die anderen Behälter waren ebenfalls sorgfältig eingewickelt und für den Transport zur Universität in Kunststofffässer gepackt worden.
»Ich lasse etwas liegen, das man sich morgen früh ansehen kann«, sagte er und gähnte. »Meinen Sie, Sie haben alles geborgen, was sich in der Kammer befunden hat?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Dirk, »aber ich leihe mir gerne eine Ihrer Maurerkellen aus und schaue noch einmal genau nach, um ganz sicherzugehen.«
»Ich hätte niemals gedacht, dass sich der Einsatz eines Schiffsingenieurs bei einem Ausgrabungsprojekt als so ergiebig erweisen würde«, sagte Haasis, während er mit Dirk das Zelt verließ.
Oben auf dem Hügel entdeckten sie Sophie, die mit einem ihrer Agenten Streife ging.
»Und als ich nach Caesarea kam, hätte ich niemals vermutet, dass hier solche aufregenden Entdeckungen auf einen warten«, erklärte Dirk mit einem Augenzwinkern und machte sich zu seinem Zelt auf, um zu Bett zu gehen.
14
Das Knattern von Maschinengewehrfeuer ließ Dirk auf seiner Pritsche kerzengerade hochfahren.
Die Schüsse klangen gefährlich nah. Dirk hörte laute Rufe, dann wurde das Feuer mit einer Pistole beantwortet. Er schlüpfte schnell in eine Shorts und Sandalen, dann stolperte er aus dem Zelt, als eine ganze Kaskade von Schüssen aus verschiedenen Waffen durch das Lager hallte. Sofort dachte er an Sophie, doch er hatte kaum Zeit zu reagieren. Erst hörte er, dann sah er zwei Gestalten den Pfad herunterrennen, beide mit automatischen Gewehren herumfuchtelnd.
Dirk ging sofort hinter seinem Zelt in Deckung, dann huschte er zu einer niedrigen Mauer, nicht weit hinter dem Lager. Er schwang sich über die Mauer und entfernte sich in ihrem Schutz von den Zelten. Im hinteren Teil des Lagers befanden sich die verfallenen Reste mehrerer Gebäude, die einst zu der alten Hafenstadt gehört hatten. Er suchte sich einen Weg zwischen den Geröll- und Schutthaufen und kam über eine kleine Anhöhe zu einer niedrigen Trennwand. Die dunkle Steinbarriere bot ihm ein sicheres Versteck, von wo aus er das gesamte Lager überblicken konnte.
Während seine schnelle Reaktion diese Flucht ermöglicht hatte, waren seine Lagergefährten nicht so erfolgreich gewesen. Sophie hatte als Nächste reagiert und war in der Nähe des Pfades mit der Pistole in der Hand aus ihrem Zelt herausgestürmt. Aber einer der Schützen stand nur ein paar Schritte entfernt und hatte sein automatisches Gewehr sofort auf sie gerichtet, ehe sie sich noch den Schlaf aus den Augen reiben konnte. Als sie in den Gewehrlauf starrte, hatte sie keine andere Wahl, als ihre Waffe auf den Erdboden fallen zu lassen. Der Schütze reagierte, indem er mit dem Gewehr gegen ihre Schulter stieß, so dass sie auf die Knie sank.
»Was ist hier los?«, rief Professor Haasis, während er halb bekleidet aus seinem Zelt auftauchte.
»Klappe halten«, befahl der andere Schütze und rammte seinen Gewehrkolben gegen die Rippen des Professors. Haasis flog nach vorn und gab einen Schmerzenslaut von sich, als sein Körper auf den Erdboden prallte. Sophie kroch zu ihm hinüber und half ihm auf die Füße, wobei beide im Licht der Lampen über ihnen heftig schwankten. Ein weiterer Angreifer erschien auf dem Pfad und übernahm es, Sophie und Haasis zu bewachen, während die anderen Schützen die Archäologiestudenten aus den Zelten trieben. Sophie blickte zu Dirks Zelt und ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, als einer der Schützen feststellte, dass es leer war.
Oben auf dem Pfad kam es zu einem lauten Tumult, dann kamen mehrere Gestalten in Sicht. Einer der Agenten der Antiquities Authority, den rechten Arm blutüberströmt, kam den Weg heruntergestolpert, während er Sam mühsam stützte. Sophies Stellvertreter hatte eine Platzwunde, die sich quer über die Stirn zog, und setzte die schlurfenden Füße benommen voreinander. Zwei weitere Männer mit Gewehren gingen hinter ihnen und trieben die verwundeten Männer vor sich her ins Lager.
»Sam, bist du okay?«, rief Sophie und ging den beiden Agenten entgegen. Sie half Sam dabei, sich neben den anderen Gefangenen auf dem Erdboden niederzulassen. Eine der Studentinnen kümmerte sich um den Agenten namens Raban und wickelte ein zerrissenes Hemd um seinen verwundeten Arm, während Sophie eine flache Hand auf Sams blutende Stirn presste.