»Wo ist Holder?«, fragte sie Raban flüsternd.
Der Agent sah sie düster an und schüttelte den Kopf.
Nachdem sich Haasis ein wenig von seinem Schlag erholt hatte, stand er auf und brüllte seine Peiniger an.
»Was wollen Sie denn? Hier gibt es doch nichts, wofür es sich lohnen würde, einen Mord zu begehen!«
Sophie betrachtete den Trupp Angreifer zum ersten Mal ein wenig genauer. Offenbar waren es Araber, jeder mit einem schwarzen Kopftuch, das die untere Hälfte des Gesichts verhüllte. Trotzdem waren es nicht die typischen, in der Erde wühlenden Grabräuber auf der Suche nach alten Tontöpfen, die sich damit ein paar Schekel verdienen wollten. Sie trugen dunkle militärisch geschnittene Tarnanzüge und schwarze Stiefel, die neu aussahen. Und sie waren mit AK-74-Sturmgewehren bewaffnet, modernen Versionen der AK-47-Kalaschnikow. Sophie fragte sich einen Moment lang, ob sie nicht vielleicht eine militärische Kommandotruppe waren, die ihr Camp nur irrtümlich überfallen hatte. Aber einer von ihnen reagierte auf Haasis' Frage.
»Die Rolle. Wo ist sie?«, bellte der offensichtliche Anführer der Bande, ein Mann mit buschigen Augenbrauen und einer tiefen Narbe am rechten Unterkiefer.
»Welche Rolle?«, fragte Haasis.
Der Mann griff unter seine Jacke und holte aus einem Holster eine kleine SIG-Sauer-Pistole hervor. Damit zielte er auf Haasis' Oberschenkel und drückte einmal ab.
Der Pistolenknall löste den Aufschrei einer der Studentinnen aus, während Haasis zu Boden sank und sein Bein oberhalb der blutenden Wunde umklammerte. Eilig ergriff Sophie das Wort.
»Sie sind alle im großen Zelt«, sagte sie und deutete in die entsprechende Richtung. »Sie können Ihre Waffe wieder einstecken.«
Einer der Bewaffneten rannte in das Zelt und stöberte für ein paar Minuten darin herum, ehe er mit einer Porzellanschatulle in der einen und einer Papyrusrolle in der andren Hand wieder auftauchte.
»Da sind viele Rollen. Verpackt in Plastikfässer, mehr als ein Dutzend«, meldete er.
»Lasst nichts zurück«, befahl der Anführer. Dann deutete er mit einem Kopfnicken auf die Gefangenen.
»Bringt sie zum Amphitheater runter«, wies er zwei seiner Männer an.
Die beiden Bewaffneten befahlen den Gefangenen durch Gesten mit ihren Gewehren aufzustehen. Sophie half Sam auf die Füße, während zwei Studenten Dr. Haasis stützten. Mit heftigen Stößen wurden die Gefangenen über den Weg zum Strand hinuntergetrieben. Der Anführer mit der Gesichtsnarbe ging mit den Fundstücken zum Zelt und nahm seinem Helfer die Papyrusrolle aus der Hand. Er studierte sie mehrere Minuten lang im Licht einer der Hängelampen, dann ergriff er den Keramikbehälter und befahl dem Mann, einen Lastwagen zu holen, der außerhalb des Lagers parkte.
Aus seinem Versteck beobachtete Dirk das Geschehen, bis Sophie und die anderen aus dem Lager geführt wurden. Dann schlich er sich aus dem Ruinenfeld und stieg parallel zu den Gefangenen zum Strand hinunter. Auf der Suche nach einem Rettungsplan oder nach irgendetwas, das er als Waffe benutzen könnte, zerbrach er sich den Kopf. Aber die Möglichkeiten, die er Männern mit Maschinenpistolen gegenüber hatte, waren eher gering.
Die Lichtverhältnisse verschlechterten sich, sobald er sich vom Lager entfernte, und er hatte Mühe, auf dem steinigen Boden einen sicheren Tritt zu finden. Dabei behielt er den Strahl der Taschenlampe zu seiner Rechten, die von dem Wächter getragen wurde, der die Gruppe anführte, immer im Auge. Das Gelände wurde flacher, als Dirk eine ehemals gepflasterte Straße überquerte. Das Taschenlampenlicht verschwand hinter einer Mauer, weniger als zwanzig Meter seitlich von ihm entfernt, doch er konnte weiterhin die Schritte der Gefangenen hören, die den Pfad hinunterstolperten. Um sich nicht durch seine eigenen Schrittgeräusche zu verraten hielt er an und wartete, bis die Prozession einen gewissen Vorsprung gewonnen hatte, dann huschte er zu der Mauer. Loses Geröll knirschte unter seinen Sandalen, als er sich der Barriere näherte. Er tastete sich bis zu ihrem Ende daran entlang und lugte um die Ecke, immer noch auf der Suche nach dem wandernden Lichtstrahl.
Kalter Stahl presste sich plötzlich seitlich gegen seinen Hals und schnürte ihm beinahe die Luft ab. Dirks Kopf ruckte zur Seite, und er sah einen der mit Kopftuch verhüllten Araber auf der anderen Seite der Mauer auftauchen, der den Druck auf das Sturmgewehr in seiner Hand verstärkte. Selbst bei dem kaum vorhandenen Licht konnte Dirk den hasserfüllten Glanz in den dunklen Augen des Mannes erkennen.
»Eine Bewegung - und du bist tot«, flüsterte er.
15
Dirk spürte die Gewehrmündung ständig in seinem Nacken, während er den Pfad ins Lager hinaufgetrieben wurde. Dann wurde er ins Zelt mit den Ausgrabungsfunden gestoßen, wo einer der Araber die Plastikfässer für den bevorstehenden Abtransport aufstapelte. Der Mann hatte sein Kopftuch herunterrutschen lassen, so dass Dirk seine frettchenhaften Gesichtszüge betrachten konnte. Eine Sekunde später betrat der Terroristenführer das Zelt.
»Bedeck dein Gesicht«, bellte er den Mann auf Arabisch an. Sofort zog der Getadelte mit verärgerter Miene das Tuch hoch. Dann wandte sich der Anführer zu Dirk und dem anderen Wächter um.
»Warum hast du den Mann hierher gebracht?«, wollte er wissen.
»Ich habe die bewohnten Zelte gezählt, und wir hatten eine Person zu wenig. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er seinen Freunden zum Strand folgte.« Er hielt ein Nachtsichtgerät hoch, durch das er Dirks Absicht genau hatte beobachten können.
Der Anführer nickte, während er Dirk von Kopf bis Fuß musterte.
»Soll ich ihn töten oder zu den anderen bringen?«, fragte der Wächter.
Der Anführer schüttelte den Kopf. »Fessle ihn und lass ihn in den Lastwagen steigen. Eine Geisel könnte nützlich sein, bis wir von hier verschwunden sind.« Er zückte eine Pistole und richtete sie auf Dirk, damit der andere Mann seine Befehle ausführen konnte.
Der Wächter schnitt ein Stück Spannleine vom Vordach ab und fesselte Dirk Hände und Arme auf den Rücken. Ihn mit dem Gewehrlauf anstoßend drängte er Dirk aus dem Zelt und trieb ihn den Berghang hinauf. Nach etwa hundert Metern kamen sie an dem Polizisten namens Holder vorbei, der in einer Blutlache auf dem Bauch neben dem Weg lag. In der Nähe parkte ein ramponierter Gerätewagen, der vom Parkplatz aus neben den Weg gelenkt worden war.
Der Wächter dirigierte Dirk zum Heck des Lastwagens und versetzte ihm einen brutalen Stoß, der ihn bäuchlings auf die Ladefläche schleuderte. Ehe Dirk sich herumrollen konnte, kletterte ihm der Wächter nach und fesselte seine Füße mit einem weiteren Stück Schnur.
»Versuch lieber nicht, aus dem Wagen zu springen, mein großer Freund, sonst muss ich dich töten«, sagte der Wächter. Dabei verpasste er ihm noch einen schnellen Tritt gegen die Rippen, ehe er vom Lastwagen heruntersprang.
Dirk verdrängte den Schmerz so gut es ging, während er dem Wächter nachsah, der sich zum Lager entfernte. Er bewegte die Hände hin und her, aber die Fesseln waren zu eng, als dass er sich auf diese Weise hätte davon befreien können. Auf der Suche nach irgendeinem Werkzeug oder einem anderen Objekt rutschte er auf der Ladefläche bis zum Führerhaus, stieß jedoch nur gegen einen Stapel Kunststofffässer. Dann rutschte er wieder herum, bis er aus dem Lastwagen blicken konnte.
Das Fahrzeug besaß Flügeltüren, die Ladefläche hatte eine glatte Abbruchkante. Dirk schaute über den Rand der Ladefläche auf die hintere Stoßstange, eine verrostete Platte aus gebogenem Stahl und mit abblätternder weißer Farbe bedeckt. Die innen liegende Kante des Stoßdämpfers war dünn und von Rost zerfressen, aber durchaus als Schneidewerkzeug zu benutzen.
Mit Händen, die auf dem Rücken gefesselt waren, die Stoßstange zu erreichen war ein zirkusreifer Balanceakt, und Dirk rollte beim ersten Versuch beinahe aus dem Lastwagen. Aber indem er sich an einem Ende der Stoßstange mit den Füßen festhakte, konnte er die Schnur gegen die schartige Stahlkante drücken und daran hin und her schieben. Er hatte kaum die ersten Fäden der geflochtenen Schnur durchtrennt, als er auf dem Weg Schritte hörte. Schnell rollte er sich wieder auf die Ladefläche des Lastwagens zurück und schob die Hände unter seinen Körper.
Der erste Wächter erschien in Begleitung des Mannes mit dem Frettchengesicht. Beide waren mit Plastikfässern bepackt, die sie auf der Ladefläche abstellten. Frettchengesicht schwang sich dann in den Wagen, verstaute die Fässer direkt hinter dem Führerhaus und nutzte die Gelegenheit, seinen Komplizen zu übertreffen, indem er Dirk einen Fußtritt gegen den Hinterkopf versetzte, als er an ihm vorbeiging -
Dirk übertrieb seine Reaktion auf den Schmerz, stöhnte laut auf und begann sich auf der Ladefläche hin und her zu wälzen, als litte er unerträgliche Qualen. Der Araber quittierte das Ergebnis seiner Aktion mit einem Kichern und unterhielt sich schnatternd mit seinem Kameraden, während sie ins Archäologencamp zurückkehrten. Dirk nahm sofort wieder seine Position an der Stoßstange ein und bearbeitete die Handfesseln. Nach einer besonders heftigen Bewegung riss die Schnur. Dabei spürte er, wie die Stoßstangenkante sein Handgelenk ritzte. Schnell streifte er die Schnur von Armen und Händen ab. Sich herumrollend und aufrichtend, nahm er mit den befreiten Händen die Fesseln um seine Fußknöchel in Angriff. Aber er zögerte, als er knirschende Schritte auf dem Pfad hörte. Ein störrischer Knoten fixierte die Schnur. Er entspannte die Beine und lockerte den Knoten. Als die Schnur schlaff wurde, rutschte er in den Lastwagen zurück, drapierte die Schnur locker um seine Füße und legte sich dann, die Arme auf dem Rücken, wieder hin.
Auf dem Weg befand sich nur einer der Araber. Dirk erkannte ihn - es war Frettchengesicht -, und er lächelte unwillkürlich, als er sah, dass der Mann eine Ladung Fässer auf den Armen schleppte und keine Waffe bei sich hatte. Wie zuvor schon setzte er die Fässer am Rand der Ladefläche ab, dann kletterte er in den Laster hinein, um die Fässer hinter dem Führerhaus aufzustapeln. Dirk begann wieder übertrieben zu stöhnen und sich herumzuwälzen. Dabei suchte er eine bessere Position für sich. Er wartete, bis die Fässer an Ort und Stelle waren und der Araber sich umwandte, um ihm den obligatorischen Tritt zu versetzen. Doch in dem Augenblick, als der Fuß von Frettchengesicht erhoben war, machte Dirk einen Satz vorwärts und warf sich mit aller Wucht gegen das andere Bein des Mannes.
Nur auf diesem einen Fuß stehend verlor der Mann durch den Aufprall sofort das Gleichgewicht. Während er stürzte, sprang Dirk auf, packte den Fuß, der seine Brust getroffen hatte, und riss ihn nach oben. Sein erschrockener Peiniger krachte auf die Ladefläche, landete dabei auf dem Kopf und den Schultern. Gleichzeitig flogen drei Fässer durch die Luft. Eines rollte über Dirks Fuß, sprang auf, und der darin verstaute Keramikbehälter rutschte heraus. Dirk bückte sich, ergriff die Schatulle und zielte damit auf Frettchengesicht. Der Araber kämpfte sich auf die Füße, als Dirk den Behälter gegen die Schläfe des Mannes schmetterte. Der Behälter zerschellte, während der Wächter bewusstlos auf die Ladefläche kippte.
»Das tut mir aufrichtig leid, Dr. Haasis«, murmelte Dirk, während er eine zerknitterte Papyrusrolle aufhob und in ein Plastikfass stopfte. Dann fesselte er Frettchengesicht auf die gleiche Art und Weise, wie er selbst gefesselt worden war, und sprang aus dem Lastwagen.
Auf dem Pfad war niemand zu sehen, während Dirk zum vorderen Ende des Lastwagens huschte, dort aber zu seiner Enttäuschung nicht die Zündschlüssel des Fahrzeugs finden konnte. Er setzte den Weg über den Parkplatz fort, bewegte sich dabei betont lässig und langsam, ehe er ein angrenzendes Gemüsefeld erreichte und in einen schnellen Laufschritt verfiel. Aus Respekt vor dem Nachtsichtgerät des Wächters sah er seine größte Chance darin, so schnell wie möglich außer Sicht zu verschwinden.
Er nahm Kurs auf den Strand, bewegte sich durch schmale Gräben und trockene Flussbetten, die ihm den besten Schutz boten. Er zog in Erwägung, Caesarea ganz zu verlassen und zu versuchen, Hilfe von draußen zu bekommen. Aber er wusste, wenn die Polizei am Tatort erschien, wären die Diebe längst verschwunden. Und mit ihnen Sophie, Haasis und die anderen.
Er stolperte über die steinernen Überreste eines zweitausend Jahre alten Wohnhauses und danach an einem alten Garten vorbei, bis er einen Felsvorsprung erreichte, der über den Strand hinausragte. Unter ihm und ein wenig nach links versetzt gewahrte er den Schatten eines römischen Amphitheaters. Es war eine der am besten erhaltenen Bauten in Caesarea. Der hoch aufragende Halbkreis aus Steinbänken war nahezu unversehrt und wurde noch immer für Freiluftkonzerte und Theateraufführungen benutzt. Mit ihrem Sinn für Dramatik hatten die Römer das Theater so angelegt, dass die offene Seite zum Strand zeigte und den Theaterbesuchern einen atemberaubenden Anblick des Mittelmeers als Bühnenhintergrund darbot.
Dirk schob sich auf dem Felsvorsprung so weit nach vorn, dass er über die oberen Sitzreihen des Amphitheaters hinwegschauen konnte. Zwei sich kreuzende Taschenlampenstrahlen tief unten beleuchteten die Gefangenengruppe, die zusammengedrängt auf dem Strand hinter der Bühne kauerte. Dirk konnte die beiden bewaffneten Wächter sehen, die im Licht hin und her gingen und sich über dem Getöse der Brandung in der Nähe lautstark unterhielten. Er konnte auch erkennen, dass sie sich in einer denkbar ungünstigen Position befanden, um sich unbemerkt an sie anschleichen zu können. Rechts und links von ihnen erstreckte sich flacher Strand, und vor ihnen befand sich die offene Bühne des Amphitheaters.
Er verfolgte, wie ein schaumgekrönter Brecher auf den Strand rollte und sich bis auf zwanzig Meter an die Gruppe heranschob, ehe er sich wieder verlief. Die Flut hatte fast ihren Höchststand erreicht, wie er sehen konnte. Während sich die nächste Woge auf den Strand ergoss, fasste er einen Entschluss. Um die Gefangenen im Auge zu haben wandten die Wächter dem Meer den Rücken zu und würden aus dieser Richtung niemals mit einem Angriff rechnen. Also lag in einer Annäherung von der See aus seine einzige Chance.
Er schaute über den Strand und konnte kaum die schmale, ins Meer hinausragende Landzunge ausmachen, wo er die alten Papyrusrollen gefunden hatte. Über eine geeignete Taktik nachdenkend ärgerte er sich darüber, dass der größte Teil seiner Tauchausrüstung in seinem Zelt lag. Aber da war ja der Schacht, in dem die Ausgrabungsarbeiten noch nicht abgeschlossen waren. Es bestand die berechtigte Chance, dass dort noch einiges an Werkzeug herumlag. Und da gab es auch noch seinen Generator und den Wasserjet.
Er überlegte einen Moment lang, dann verzog sich sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
»Na ja, ein verrückter Plan ist besser als überhaupt kein Plan«, murmelte er, während er hastig an der Felsnase zum Strand hinabkletterte.
16
Sophie spürte die unaufhörlich starrenden Augen des Wächters fast körperlich. Auf und ab wandernd wie ein hungriger Tiger, richtete der kleinere der beiden Bewaffneten seinen blutunterlaufenen Blick fast bei jedem Schritt auf sie. Sie vermied ganz bewusst einen Augenkontakt, konzentrierte sich auf Sam und Raban oder schaute aufs Meer hinaus. Das ärgerte den Wächter sichtlich, und er wandte sich direkt an sie.
»Du da«, sagte er und deutete mit seinem Gewehr auf sie. »Steh auf.«
Sophie erhob sich langsam, hielt aber den Blick auf den Boden gerichtet. Der Bewaffnete schob die Gewehrmündung unter ihr Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben.
»Lassen Sie sie in Ruhe«, rief Raban mit matter Stimme.
Der Wächter kam herüber, holte mit dem Fuß aus und versetzte dem Agenten einen Tritt gegen das Kinn. Raban sackte in sich zusammen und blieb mit weit geöffneten starren Augen reglos im Sand liegen.
»Feigling«, sagte Sophie und blickte dem Araber schließlich voller Abscheu in die Augen.
Langsam kam er auf sie zu. Dabei hob er das Gewehr und strich mit der Mündung leicht über ihre Wange und ihr Kinn.
»Gefällt sie dir, Mahmoud?«, fragte sein Partner und verfolgte amüsiert das Techtelmechtel. »Sie ist hübsch, dafür dass sie Jüdin ist. Und für eine Polizistin sogar noch hübscher«, fügte er mit einem heiseren Lachen hinzu.
Mahmoud sagte nichts, sondern musterte Sophie mit wollüstigen Blicken. Er fuhr mit dem Gewehrlauf seitlich an ihrem Hals herab, dann folgte er damit dem Saum ihres Blusenausschnitts und drückte den kalten Stahl gegen ihre Haut. Als die Laufmündung den obersten Knopf ihrer Bluse erreichte, ließ der Mann sie dort verharren und drückte dagegen. Als der Knopf nicht nachgeben wollte, schob er den Lauf ein wenig zur Seite und versuchte einen Blick auf ihre linke Brust zu erhaschen.
Sophie wollte ihm das Knie in den Schritt rammen, entschied sich jedoch für einen schnellen Tritt gegen sein Schienbein in der Hoffnung, damit die Gefahr zu mindern, dass er sie tötete. Mahmoud machte einen Satz zurück, stöhnte vor Schmerzen, während er auf einem Fuß herumhüpfte. Sein Partner lachte laut über die Szene und häufte damit weitere Schmach auf seinen Partner.
»Die hat aber Temperament. Ich glaube, sie ist zu frech für dich«, hänselte er.
Mahmoud schüttelte sich und trat zu Sophie hinüber. Er kam so dicht an sie heran, dass sie seinen sauren Atem riechen konnte.
»Wir werden schon sehen, wer mehr Temperament hat«, zischte er mit zornfunkelnden Augen.
Dann wandte er sich um und wollte seinem Partner sein Gewehr reichen, als das laute Summen eines Generators am Strand einsetzte. Ein paar Sekunden später erklang über der Brandung das Rauschen sprühenden Wassers. Alle Augen wandten sich in die Richtung, und am Horizont war ein matter silberfarbener Bogen zu sehen, der in den Himmel schoss.
»Mahmoud, sieh mal nach, was da los ist«, befahl sein Partner, plötzlich ernst und wachsam.
Mahmoud beugte sich zu Sophie vor und flüsterte: »Wir werden unseren Spaß haben, wenn ich zurück bin.«
Sophies Augen waren wie tödliche Dolche, als sie ihm nachschaute, während er sich mit schussbereitem Gewehr über den Strand entfernte. Dann ließ sie sich in den Sand sinken und versuchte, ihre Hände zu verstecken, die vor Angst zitterten. Um sich zu beruhigen dachte sie an Dirk und fragte sich, ob er mit dieser Entwicklung vielleicht etwas zu tun hatte.
Während die Gestalt Mahmouds allmählich von der Dunkelheit verschluckt wurde, wanderte der andere Wächter nervös vor den Gefangenen auf und ab. Er ließ den Blick über den Strand schweifen, dann ging er um die Gruppe der Gefangenen herum und kontrollierte die leeren Sitzplätze des Amphitheaters mit seiner Taschenlampe. Da er nichts Verdächtiges finden konnte, kehrte er wieder zum Strand zurück.
Im Sand liegend rollte sich Sam herum und richtete sich auf, nachdem er sich ein wenig von dem Schlag gegen seinen Kopf erholt hatte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte ihn Sophie.
»Ganz okay«, antwortete er mit schwerfälliger Stimme. Er blickte zu seinen Mitgefangenen hinüber und orientierte sich langsam. Sein Blick wanderte weiter zu dem Bewaffneten hin, und dann deutete er mit unsicherer Hand in seine Richtung. »Wer ist das?«
»Einer von mehreren Terroristen, die uns als Geiseln genommen haben«, antwortete Sophie niedergeschlagen. Bei ihren letzten Worten verschluckte sie sich jedoch beinahe, da sie gerade zu dem Wächter hinschaute und erkannte, dass nicht er es war, nach dem Sam sich erkundigt hatte.
Ein Dutzend Meter hinter dem Araber war eine schattenhafte Gestalt aus der Brandung aufgetaucht und rannte auf den Wächter zu. Sie war groß und schlank und trug einen länglichen Gegenstand in den Armen. Sophies Herz machte einen wilden Satz, als sie erkannte, wer es war.
Dirk.
Der Wächter stand mit dem Rücken zum Meer und konzentrierte sich auf den Bereich um das Amphitheater. Nur eine knappe Drehung des Kopfes würde ihm Dirks Auftauchen verraten und diesen zu hilflosem Futter für das Sturmgewehr machen. Sophie erkannte, dass sie den Wächter ablenken musste, damit Dirk sich unbemerkt nähern konnte.
»Wie... wie heißen Sie?«, stotterte sie.
Der Wächter musterte sie fragend, dann lachte er.
»Wie ich heiße? Haha. Du kannst mich David nennen, den Schäfer. Genauso wie er hüte ich meine Herde.«
Er war offenbar stolz auf seinen Scherz und sah Sophie mit strahlenden Augen an. Sie versuchte, nicht zu der schattenhaften Gestalt zu blicken, die stetig näher kam.
»Was werden Sie mit den Fundstücken tun, David?«, fragte sie, um den Mann weiterhin zu beschäftigen.
»Na ja, verkaufen natürlich«, erwiderte er kichernd. In diesem Moment bemerkte er eine Bewegung hinter sich, doch er reagierte zu spät.
Ein flaches Schaufelblatt traf ihn seitlich am Kopf, als er sich umwandte. Der Treffer machte ihn kurzzeitig benommen, und er sank auf die Knie, während er versuchte, sein Gewehr in Anschlag zu bringen. Dirk holte gleich noch einmal aus, traf mit dem zweiten Schlag die andere Kopfseite des Mannes und schaltete ihn damit aus.
»Sind alle wohlauf?«, fragte Dirk und schnappte nach Luft, während Salzwasser von seinem Körper rann.
Sophie sprang auf und griff, erleichtert über sein Erscheinen, nach seinem Arm.
»Wir sind okay, aber es gibt noch einen zweiten Wächter, der gerade den Strand hinuntergegangen ist.«
»Ich weiß. Ich habe den Wasserjet in Gang gesetzt, um ihn wegzulocken.«
Er hatte den Satz kaum beendet, als sie hören konnten, wie der Generator in der Ferne stotternd verstummte und die Wasserfontäne in sich zusammensank.
»Er kommt sicher gleich zurück«, meinte Sophie leise.
Dirk ließ den Blick eilig über die kleine Gruppe der Gefangenen wandern. Sam saß mit einem benommenen Ausdruck in den Augen da und lehnte sich gegen Raban, der weiter aus einer Wunde blutete. Dr. Haasis lag mit einem Notverband aus einem zerrissenen Hemd um sein Bein im Sand und sah aus, als stünde er unter Schock. Die Studenten - drei Frauen und zwei Männer - starrten ihn mit einem Ausdruck hoffnungsloser Verzweiflung an. Dirk konnte erkennen, dass er mit dieser Gruppe niemals eine schnelle Flucht fertig bringen würde. Er schaute auf den bewusstlosen Wächter, dann wandte er sich an Sophie.
»Hilf mir, seine Jacke auszuziehen.«
Dirk hob den Oberkörper des Mannes an, während Sophie ihm seine weit geschnittene schwarze Jacke abstreifte. Danach packte Dirk den Mann unter den Achselhöhlen und schleifte ihn hinter die Gruppe der Gefangenen.
»Begraben Sie seine Beine und setzen Sie sich vor seinen Oberkörper«, befahl Dirk den beiden Studenten. Sie schaufelten eilig Sand auf die Füße und die Beine des Arabers, dann versuchten sie, seinen Oberkörper zu verstecken, indem sie sich mit übereinander geschlagenen Beinen vor ihn hockten.
Dirk nahm dem Wächter das Kopftuch ab und schlang es sich selbst um den Kopf, dann schlüpfte er in seine schwarze Jacke. Er rannte vor die Gruppe und hob das Sturmgewehr auf.
»Er kommt«, flüsterte jemand mit ängstlicher Stimme.
»Setz dich wieder«, sagte Dirk zu Sophie, während er die Waffe inspizierte. Es war ein fabrikgefertigtes AK-74, wahrscheinlich über Ägypten ins Land geschmuggelt. Dirk kannte sich ein bisschen mit der Waffe aus, da er mit einem ähnlichen Modell mal auf einem Schießstand geübt hatte. Er tastete die linke Seite ab, um sich zu vergewissern, dass der Funktionsschalter auf Automatik stand. Dann lud er durch. Er hob die Waffe und wandte sich zu der Gruppe um, als bewache er sie aufmerksam.
Mahmoud erschien am Strand und kam mit ungehaltener Miene auf die Gefangenen zu.
»Jemand hat mit dem Generator einen Springbrunnen erzeugt«, sagte er. »Das Wasser schoss zwanzig Meter in die Luft.«
Dirk wandte dem Mann den Rücken zu und wartete darauf, dass er näher kam. Als er das Gefühl hatte, dass er nahe genug war, drehte er sich langsam um und richtete wie zufällig das AK-74 auf Mahmouds Brust.
»Hast du gut auf die Kleine aufgepasst, während ich weg war?«, fragte der Araber. Dann erstarrte er.
Ihm dämmerte, dass sein stummer Partner plötzlich gewachsen war, eine nasse kurze Hose trug und ihn mit grünen Augen musterte. Und dann war da noch die Kalaschnikow, die auf ihn zielte.
»Lass fallen«, befahl Dirk.
Sophie wiederholte das Kommando auf Arabisch, aber es war unnötig. Mahmoud wusste genau, was Dirk meinte. Der Araber sah erst Sophie und die Studenten an, dann wieder Dirk. Amateure, dachte er. Sein Partner, Saheem, mochte übertölpelt worden sein, aber das würde ihm nicht passieren.
»Ja, ja«, sagte er, nickte gehorsam und richtete die Waffe zu Boden. Doch dann ließ er sich auf ein Knie fallen, riss das Gewehr hoch und zielte auf Dirk.
Das AK-74 m Dirks Händen bellte zuerst. Vier Projektile bohrten sich in Mahmouds Brust und schleuderten ihn nach hinten, ehe er überhaupt die Chance hatte, den Abzug zu betätigen. Ein tiefer Seufzer drang noch über seine Lippen, doch seine letzten Worte wurden von einem entsetzten Schrei von einer der Studentinnen zugedeckt. Sophie sprang auf und trat neben Dirk.
»Er war ein mieses Schwein«, sagte sie und betrachtete den Toten voller Abscheu.
Dirk machte einen tiefen Atemzug, um seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, dann ging er zu Mahmoud und hob sein Gewehr auf. Oben auf dem Hügel ertönte plötzlich die Hupe des Gerätewagens und hallte über den Strand.
»Wahrscheinlich das Zeichen zum Aufbruch«, sagte Dirk. »Wir müssen jeden von hier wegschaffen und uns unsichtbar machen.«
Er ging zu der Gruppe hinüber und rief einen der Studenten, einen hageren Mann mit langen Beinen, zu sich.
»Thomas, Sie müssen Hilfe holen. Knapp eine Meile den Strand hinunter liegt eine größere Baustelle. Suchen Sie ein Telefon und sehen Sie zu, dass die Polizei schnellstens hierherkommt. Vergessen Sie aber nicht, ihnen zu erklären, was sie hier erwartet.«
Der junge Mann sah unsicher zu seinen Freunden hin, dann machte er kehrt und entfernte sich im Laufschritt den Strand hinunter. Dirk blickte sich prüfend um, dann trat er vor die restliche Gruppe.
»Wir müssen uns aus dem Staub machen, bevor sie herkommen, um ihre Freunde abzuholen. Mal sehen, ob wir es erst mal bis hinter das Amphitheater schaffen«, sagte er.
»Unser Freund bewegt sich«, erwiderte einer der Studenten und deutete auf die liegende Gestalt Saheems.
»Lassen Sie ihn liegen«, erwiderte Dirk. Er trat zu Sophie und reichte ihr eins der Sturmgewehre. »Hast du in der Israelischen Armee gedient?«, erkundigte er sich.
»Ja, zwei Jahre«, sagte sie. Die Wehrpflicht galt in Israel auch für Frauen. Ohne zu zögern ergriff sie das Gewehr.
»Kannst du unseren Rückzug sichern?«, fragte er.
»Ich kann es versuchen.«
Dirk beugte sich vor und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn. »Halt dich nah bei uns.«
Er half Dr. Haasis aufzustehen. In den Augen des Professors lag ein benommener Ausdruck, und seine Haut war fahlweiß von dem Schock, den die Schusswunde verursacht hatte. Mit Hilfe des anderen Studenten schleppte Dirk ihn über den Strand. Er führte die Gruppe zur Bühne des Amphitheaters und weiter an den Rand der übereinandergestaffelten Sitzreihen. Sophie folgte der Gruppe mit einigen Schritten Abstand und hielt nach etwaigen Verfolgern Ausschau.
Mühsam nach Luft ringend schleppte Dirk den schweren Körper von Dr. Haasis auf die Rückseite der Zuschauerränge. Nicht weit entfernt befand sich ein Lagerschuppen, den man erbaut hatte, um Teile der ständig benötigten Bühnentechnik darin zu lagern. Hinter diesen Schuppen schaffte Dirk den Archäologieprofessor und legte ihn behutsam auf den Boden. Die anderen Studenten und die verletzten Polizeiagenten ließen sich erschöpft neben dem Professor fallen, während Sophie als Letzte in ihr Versteck kam.
»Hier bleiben wir und warten auf die Polizei«, sagte Dirk, der mit ihrem augenblicklichen Standort durchaus zufrieden war.
»Dirk, ich sehe Lichter auf dem Hügelpfad«, meldete Sophie leise.
Sie blickten um die Ecke des Schuppens und entdeckten zwei Lichtpunkte, die sich tanzend den Hügel abwärts bewegten. Die Lichtstrahlen wanderten langsam bis zum Strand hinab, und gelegentlich war zu hören, wie Namen gerufen wurden. Einer der Lichtstrahlen erfasste Saheem, der es geschafft hatte, sich aufzurichten, aber immer noch benommen hin und her schwankte. Kurz darauf fanden sie die Leiche Mahmouds, und das aufgeregte Gemurmel der Araber wurde schlagartig lauter. Einer der Lichtstrahlen tastete sich zum Amphitheater hin und leuchtete über die Sitzreihen. Dirk legte Sophie einen Arm um die Schultern und zog sie von der Ecke des Schuppens zurück.
»Entschuldige«, flüsterte er und lockerte den Griff nur wenig. »Sie haben Nachtsichtbrillen.«
Sophie schlang einen Arm um Dirks Oberkörper und drückte ihn an sich. Für etwa eine Minute umarmten sie sich und blieben aneinandergeschmiegt stehen, ehe Dirk einen weiteren Blick riskierte. Zu seiner Erleichterung entfernten sich die Lichter den Strand hinunter und bewegten sich schon bald wieder den Hügel hinauf. Wenige Minuten später verriet ein schwaches Motorengeräusch, dass der Gerätewagen das Parkgelände verließ.
Zehn Minuten verstrichen, bis die Polizei mit lautem Sirenengeheul und zuckendem Blaulicht eintraf. Dirk und Sophie eilten zum Lager hinauf, als ein Streifenwagen, besetzt mit bewaffneten Polizisten und kläffenden Schäferhunden, unter zuckendem Blaulicht den Weg heruntergerast kam. Sie führten die Polizeitruppe zum Amphitheater, wo Dr. Haasis und die verwundeten Polizeiagenten schnellstens in einen Krankenwagen geladen wurden. Dirk nahm mit einiger Verwunderung zur Kenntnis, dass die Leiche Mahmouds verschwunden war. Wahrscheinlich hatten ihn seine Kameraden den Hügel hinaufgetragen und zusammen mit den gestohlenen Fundstücken weggeschafft.
Nach ausgiebiger Befragung durch die Polizei warf Dirk einen Blick in das Zelt mit den Ausgrabungsobjekten. Wie er erwartet hatte, waren sämtliche Papyrusbehälter mitgenommen worden. Was er jedoch nicht erwartet hatte, war, sämtliche anderen Artefakte aus dem Lagerhaus vorzufinden, die nach wie vor in unterschiedlichen Stadien der Analyse und Konservierung auf den Tischen lagen. Er trat aus dem Zelt und sah Sophie vom Parkplatz herüberkommen. Im Licht der Zeltlampen konnte er erkennen, dass ihre Augen gerötet waren und dass sie offenbar zitterte. Dirk ging ihr entgegen und ergriff ihre Hand.
»Sie haben gerade Arie Holder weggebracht«, sagte sie. »Erschossen. Wegen ein paar dämlicher Antiquitäten.«
»Sie waren als Diebe genauso wählerisch wie als Mörder. Sie haben sich nur die Papyrusrollen geschnappt und die anderen Artefakte zurückgelassen«, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf das Zelt.
Sophies Gesicht verhärtete sich. »Der falsche Agent hat ihnen einen Tipp gegeben. Die Studentin, Stephanie, meinte, er sei einer der nächtlichen Besucher gewesen.«
»Irgendeine Ahnung, wer ein solches Kommandounternehmen organisieren würde, um sich Antiquitäten für den schwarzen Markt zu beschaffen?«
Sophie nickte. »Ich würde auf die Mulis tippen. Das ist eine Bande von libanesischen Schmugglern mit möglichen Verbindungen zur Hisbollah. Sie sind vorwiegend dafür bekannt, Waffen und Drogen zu transportieren, aber sie haben auch schon mit Antiquitäten ihre Geschäfte gemacht. Sie sind die Einzigen, von denen ich weiß, dass sie auch für Antiquitäten einen Mord begehen würden.«
»Ich denke, dass diese Papyrusrollen nicht so einfach an den Mann zu bringen sein dürften.«
»Wahrscheinlich sind sie längst bezahlt. Dies war höchstwahrscheinlich ein Auftragsjob für einen reichen Sammler. Für jemanden, der keine Hemmungen hat.«
»Schnapp sie«, sagte Dirk leise.
»Allein schon wegen Holder werde ich das tun«, versprach sie mit Nachdruck. Sie blickte einige Sekunden lang hinaus aufs Meer, dann sah sie Dirk an, und ihre Miene entspannte sich ein wenig.
»Ich weiß nicht, ob überhaupt noch einer von uns am Leben wäre, wenn du nicht am Strand aufgetaucht wärst.«
Dirk lächelte. »Ich wollte nur ganz sichergehen, dass du mir ein zweites Rendezvous gewährst.«
»Das«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange, »kann ich dir fast garantieren.«
17
Pitt stand im Wartebereich des Terminals und seufzte erleichtert. Durch das Fenster beobachtete er, wie sich Lorens Maschine vom Terminal entfernte und einer Reihe von Flugzeugen anschloss, die auf ihre Starterlaubnis vom Atatürk International Airport warteten. Endlich konnte er sich entspannen, da er wusste, dass seine Frau außer Gefahr war.
Es war eine unangenehme Zeitspanne gewesen, seit er in Yeniköy auf dem Kai gestanden und zugesehen hatte, wie seine Verfolger auf der Bosporus-Fähre davonsegelten. Er und Loren hatten schnellstens ein Taxi angehalten und waren nach Istanbul zurückgekehrt. Dort hatten sie sich erst durch den Hintereingang in ihr Hotel geschlichen und hatten dann unauffällig ausgecheckt. Anschließend waren sie kreuz und quer durch die Stadt gefahren, um sicherzustellen, dass sie nicht verfolgt wurden, und hatten die Nacht in einem bescheidenen Hotel in der Nähe des Flughafens verbracht.
»Wahrscheinlich hätten wir zum amerikanischen Konsulat gehen und den Vorfall berichten sollen«, beklagte sich Loren, als sie ihr nicht sonderlich einladendes Zimmer betraten. »Sie hätten zumindest in einem hübschen Hotel für unsere Sicherheit sorgen können.«
»Du hast recht«, gab Pitt zu. »Nach siebenunddreißig Besprechungen mit einem Dutzend Bürokraten hätten sie für Donnerstag in einer Woche bestimmt eine sichere Bleibe für uns gefunden.« Es überraschte ihn nicht, dass sie nicht schon früher daran gedacht hatte, diplomatische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Trotz ihrer langjährigen Mitgliedschaft im Kongress hatte sie ihren Status nur selten genutzt, um eine Sonderbehandlung für sich zu beanspruchen.
»Das Außenministerium wird allerdings über alles erschöpfend informiert«, erwiderte sie. »Solche Typen gehören hinter Gitter.«
»Tu mir nur einen Gefallen und warte, bis du sicher zu Hause bist, ehe du mit dieser Geschichte herauskommst.«
Nach der Umbuchung ihrer Flüge brachte er sie zur ersten Maschine nach Washington. Da er bis zum Start seiner Maschine nach Chios noch Zeit hatte, gönnte er sich im Flughafencafe ein Frühstück und versuchte, Dr. Ruppe anzurufen. Zu seiner Überraschung meldete sich Ruppe unter der Nummer in Rom, die er Pitt genannt hatte.
»Rufen Sie vom Flughafen aus an?«, fragte Ruppe, als aus einem Lautsprecher über Pitts Kopf gerade eine Durchsage für die Passagiere eines in Kürze startenden Fluges plärrte.
»Ja, ich habe Loren eben in ihre Maschine gesetzt und warte jetzt auf meinen Flug.«
»Ich dachte, Sie beide wollten noch einen Tag in Istanbul bleiben?«
Pitt schilderte ihm in knappen Worten ihr Bosporus-Abenteuer.
»Gott sei Dank ist Ihnen nichts passiert«, sagte Ruppe und war von der Geschichte hörbar geschockt. »Diese Kerle müssen exzellente Verbindungen haben. Haben Sie das alles der Polizei gemeldet?«
»Nein«, erwiderte Pitt. »Ich war ein wenig misstrauisch, nachdem sie so schnell unseren Aufenthaltsort herausbekommen haben.«
»Wahrscheinlich war das klug von Ihnen. Die türkische Polizei steht in dem Ruf, ziemlich korrupt zu sein. Und angesichts der schlechten Nachrichten, die ich habe, hatten Sie wahrscheinlich recht, so zu handeln.«
»Was ist geschehen?«
»Ich erhielt einen Anruf von meinem Assistenten im Museum. Offensichtlich ist jemand am helllichten Tag in mein Büro eingebrochen und hat alles durchsucht. Die gute Nachricht ist, dass sie meinen Safe nicht gefunden haben, daher ist Ihre goldene Krone immer noch in Sicherheit.«
»Und die schlechte Nachricht?«
»Sie haben die Münzen und einige meiner Papiere inklusive Ihrer Lagekarte von dem Schiffswrack mitgenommen. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber mir scheint, als gäbe es zwischen all diesen Ereignissen irgendeine Verbindung. So etwas ist mir noch nie zuvor passiert.«
»Ein weiteres Nebenprodukt der mitteilungsfreudigen türkischen Polizei?«, fragte Pitt.
»Durchaus möglich. Mein Assistent hat den Einbruch bereits gemeldet, es wird eine Untersuchung durchgeführt. Aber genauso wie im Zusammenhang mit dem Topkapi-Einbruch behaupten sie, keinerlei Spuren zu haben.«
»Dabei müssten sie sich vor Hinweisen doch kaum retten können«, schimpfte Pitt.
»Also, ich denke, dass man im Moment nicht mehr tun kann. Ich kümmere mich um eine genaue Untersuchung und Analyse Ihrer Krone, sobald ich wieder in Istanbul bin.«
»Passen Sie auf sich auf, Rey. Ich rufe in ein paar Tagen wieder an.«
Pitt unterbrach die Verbindung und hoffte, dass ihr kurzes Intermezzo mit den Topkapi-Dieben damit beendet war.
Aber tief in seinem Innern hatte er das ungute Gefühl, dass dem nicht so sein würde.
18
Die im marokkanischen Stil gehaltene Villa bot von ihrem felsigen Standort über der türkischen Küste einen fesselnden Blick auf das Mittelmeer. Zwar war sie nicht so imposant wie einige der luxuriösen Schlösser am Meer, und doch hatte man sie mit einem feinen Gespür fürs Detail erbaut. Aufwendig glasierte Fliesen bedeckten die Außenmauern, und zierliche Türmchen krönten die Dachlinien. Dennoch überwog Funktionalität jegliche Opulenz, und größter Wert wurde auf die Erhaltung der Privatsphäre ihrer Bewohner gelegt. Eine hohe Steinmauer markierte die landeinwärts gelegene Grenze und verbarg das Innengelände vor den Augen der Einheimischen sowie der Touristen, die den nahe gelegenen Badeort Kusadasi über die Küstenstraße zu erreichen pflegten.
Ozden Celik stand vor dem großen Panoramafenster und blickte über das blau schimmernde Meer hinweg zu den schwach zu erkennenden Umrissen von Samos, einer griechischen Insel, die etwa fünfzehn Meilen entfernt lag.
»Es ist ein Hohn, dass die Inseln vor unserer eigenen Küste einer anderen Nation gehören«, stellte er mit Bitterkeit in der Stimme fest.
Marie saß an einem Schreibtisch und blätterte einen Stapel Bankpapiere durch. Der sonnendurchflutete Raum war ähnlich eingerichtet wie das Bosporus-Büro: mit handgeknüpften Teppichen auf dem Fußboden und antiken Sammlerstücken aus osmanischer Zeit, die Wände und Regale zierten.
»Ärgere dich nicht über die Versäumnisse von Leuten, die schon lange tot sind«, sagte sie.
»Das Land gehörte uns, als Süleyman regierte. Es war der große Atatürk, der unser osmanisches Reich geopfert hat«, sagte er spöttisch.
Marie ging auf diese Bemerkung nicht ein, da sie ihren Bruder schon so oft gegen den Gründer der modernen Türkei hatte wettern hören. Celik wandte sich mit glühenden Augen zu seiner Schwester um. »Unser Erbe darf nicht in Vergessenheit geraten, und niemand soll uns unsere rechtmäßige Bestimmung streitig machen dürfen.«
Sie nickte beiläufig. »Die Überweisung des Scheichs ist eingegangen«, sagte sie und wedelte mit einem Kontoauszug.
»Zwanzig Millionen Euro?«, fragte er.
»Ja. Wie viel hast du dem Mufti versprochen?«
»Ich habe angedeutet, dass ich zwölf Millionen erwarte, daher sollten wir ihm vierzehn geben und den Rest wie immer behalten.«
»Weshalb so großzügig?«, fragte sie.
»Wir müssen uns sein Vertrauen erhalten. Außerdem kann ich dann mehr Einfluss darauf nehmen, wofür das Geld ausgegeben wird.«
»Ich nehme an, du verfolgst eine bestimmte Strategie.«
»Natürlich. Schmiergelder für Anwälte und Richter fressen einen Großteil davon auf. Man muss sicherstellen, dass die Glückseligkeitspartei mit Mufti Battal als Präsidentschaftskandidat am nächsten Wahltag auch wirklich auf den Wahlzetteln erscheint. Die restlichen Gelder werden für die üblichen Maßnahmen verwendet - wie organisierte Kundgebungen, Promotion und Werbung sowie das Sammeln weiterer Spenden.«
»Seine Kasse dürfte sich angesichts des Drucks, den er auf seine Moscheen ausübt, und auch wegen seiner allgemein zunehmenden Popularität recht zügig füllen.«
»Wofür wir uns auf die Schulter klopfen können«, meinte Celik selbstgefällig.
Celik hatte mehrere Jahre gebraucht, um die richtige islamische Führungspersönlichkeit für die Verwirklichung seiner Ziele zu finden und zu kultivieren. Mufti Battal verfügte über genau die richtige Mischung aus Ego und Charisma, um die Bewegung anzuführen und trotzdem in Celiks Sinn beeinflusst werden zu können. Unter Celiks sorgfältig choreographierter Kampagne aus Schmiergeldern und unverhüllten Drohungen hatte sich Battal in der ganzen Türkei eine fundamentalistische Unterstützungsbasis geschaffen und sie nach und nach zu einer internationalen Bewegung ausgebaut. Ständig hinter den Kulissen aktiv, war Celik im Begriff, die religiöse Bewegung in eine politische umzuwandeln. Klug genug, um zu erkennen, dass seine eigenen Absichten in gewissen Bereichen auf öffentlichen Widerstand stoßen würden, hatte er sich an den populistischen Mufti gehängt.
»Aus den Medienberichten geht hervor, dass die öffentliche Empörung über den Topkapi-Diebstahl enorm ist«, sagte Marie. »Er wird als offener Affront gegen alle gläubigen Muslime betrachtet. Es würde mich nicht wundern, wenn dadurch die Popularität des Mufti noch um ein oder zwei Punkte zunimmt.«
»Genau das war die Absicht«, erwiderte Celik. »Ich muss dafür sorgen, dass er eine öffentliche Erklärung herausgibt, in der er die gewissenlosen Diebe aufs Strengste verurteilt«, fügte er mit einem hinterhältigen Grinsen hinzu.
Er ging zum Schreibtisch und entdeckte eine Reihe Münzen in einer mit Samt ausgeschlagenen Schatulle neben einem Stapel wissenschaftlicher Magazine und einer Seekarte. Es waren die Gegenstände, die Marie — als Touristin getarnt — bei ihrem Besuch des archäologischen Museums aus dem Büro des Archäologen entwendet hatte.
»Ist es nicht ziemlich riskant, an den Tatort eines Verbrechens zurückzukehren?«, fragte er.
»Es waren ja nicht gerade die Privatgemächer des Topkapi-Palastes«, erwiderte sie. »Ich dachte an die vage Möglichkeit, dass der zweite Sack mit den Reliquien Mohammeds dort gelandet sein könnte, bis ich von der Polizei etwas anderes erfuhr. Es war auch ziemlich einfach, in sein Büro einzudringen, und ich habe mich beeilt.«
»Gab es außer den Münzen noch irgendetwas Interessantes?«, fragte er und betrachtete bewundernd eins der Goldstücke, das er aus der Schatulle genommen hatte.
»Eine Keramikschatulle aus Iznik. Dazu eine Notiz des Archäologen, die besagt, dass sie ebenso wie die Münzen aus der Zeit Süleymans stammt. Offensichtlich stammt alles aus dem Schiffswrack, das von dem Amerikaner entdeckt wurde.«
Celik runzelte interessiert die Stirn. »Ist es möglicherweise ein Wrack aus der Zeit Süleymans?«, fragte er. »Darüber würde ich gerne mehr wissen.«
Es klopfte an der Bürotür, und ein größerer Mann in dunklem Anzug kam herein. Er hatte helle Haut und graue, harte Augen, die die dunklen Seiten des Lebens offenbar ausgiebig gesehen hatten.
»Ihre Besucher sind eingetroffen«, meldete er mit heiserer Stimme.
»Führ sie herein«, befahl Celik, »und komm mit einem anderen Janitschar zurück.«
Der Begriff Janitschar war viele Jahrhunderte alt und bezeichnete die Leibwachen und die Elitetruppen der osmanischen Sultane. Interessanterweise waren die ursprünglichen Janitscharen, die im islamischen Palast gedient hatten, keine Muslime, sondern Christen aus der Balkanregion gewesen. Bereits als Jugendliche zum Dienst einberufen, wurden sie zu Dienern, Leibwächtern und sogar Armeekommandeuren ausgebildet, um dem Sultan zu dienen.
Diesem Vorbild gemäß waren Celiks Janitscharen christliche Rekruten aus Serbien und Kroatien, die meistenteils früher beim Militär gedient hatten. In Celiks Fall wurden sie jedoch ausschließlich als Leibwächter und Söldner eingesetzt.
Der Janitschar verschwand für einen Moment, dann kehrte er mit einem Gefährten zurück und geleitete außerdem drei Männer in den Raum. Es waren die gleichen, die Pitt und Loren über den Bosporus verfolgt hatten. Sie kamen kleinlaut und mit besorgten Mienen herein und vermieden jeden Blickkontakt mit Celik.
»Habt ihr die Störenfriede beseitigt?«, fragte Celik ohne ein Wort der Begrüßung.
Der Größte der drei, der die verspiegelte Sonnenbrille getragen hatte, sprach für die Gruppe.
»Der Mann namens Pitt und seine Frau haben uns offenbar entdeckt und sind auf einer Fähre nach Sariyer geflohen. Dann haben wir sie wieder aufgestöbert, aber sie sind doch entkommen.«
»Demnach habt ihr versagt«, sagte Celik und ließ die Worte wie ein Henkerschwert im Raum stehen. »Wo sind sie zurzeit, Farzad?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Sie sind aus ihrem Hotel ausgezogen. Wir wissen nicht, ob sie sich noch in der Stadt aufhalten.«
»Die Polizei?«, fragte er und drehte sich zu Marie um.
Sie schüttelte den Kopf. »Bis jetzt wurde nichts gemeldet.«
»Dieser Mann, der Pitt heißt. Er ist entweder ein Glückspilz oder äußerst raffiniert.«
Celik ging zum Schreibtisch und nahm eine der Goldmünzen aus Ruppes Büro in die Hand.
»Er wird zweifellos zu dem Schiffswrack zurückkehren. Einem osmanischen Schiffswrack«, fügte er mit Nachdruck hinzu. Er trat dicht an Farzad heran und sah ihm in die Augen. »Du hast einmal versagt. Ein zweites Versagen werde ich nicht dulden.«
Er machte einen Schritt zurück und wandte sich an alle drei Männer. »Ihr werdet für eure Arbeit vollständig bezahlt. Ihr könnt euch euren Lohn auf dem Weg nach draußen abholen. Jeder von euch bleibt in der Versenkung, bis er für die nächste Mission gebraucht wird. Ist das klar?«
Alle drei Männer nickten schweigend. Einer der Janitscharen öffnete die Tür, und die Männer begaben sich schnellstens zum Ausgang.
»Einen Moment«, dröhnte plötzlich Celiks Stimme. »Atwar, auf ein Wort. Die anderen können gehen.«
Der Mann, der das blaue Oberhemd getragen hatte, blieb stehen, wo er war, während Farzad und der Perser den Raum verließen. Der erste Janitschar blieb ebenfalls zurück, schloss die Tür und trat hinter Atwar. Celik ging auf den Iraker zu.
»Atwar, du hast dich von diesem Mann namens Pitt während des Überfalls auf den Topkapi-Palast überwältigen lassen. Infolgedessen haben wir den Heiligen Mantel des Propheten, der sich bereits in unserer Hand befand, verloren. Und gestern hast du ihn abermals entkommen lassen, nicht wahr?«
»Er hat uns alle überrumpelt«, stammelte Atwar und sah Marie hilfesuchend an.
Sie sagte nichts, während Celik eine Schreibtischschublade öffnete und eine Bogensehne herausholte, die einen ganzen Meter lang war. Wie bei seinen osmanischen Vorfahren war dies sein bevorzugtes Hinrichtungsinstrument.
»Im Gegensatz zu Farzad hast du mich zweimal im Stich gelassen«, sagte Celik und nickte dem Janitschar zu.
Der Wächter trat vor, umarmte Atwar von hinten und fixierte seine Arme an den Seiten. Der Iraker versuchte, sich zu wehren, doch der Janitschar war zu stark, als dass er sich aus seinen Armen hätte befreien können.
»Es war ihre Schuld«, rief er und deutete mit dem Kopf auf Marie. »Sie hat uns befohlen, die Frau mitzunehmen. Es wäre nichts weiter geschehen, wenn wir sie hätten laufen lassen.«
Celik ignorierte seine Worte, kam langsam näher, bis er nur noch wenige Zentimeter vom Gesicht des verzweifelten Mannes entfernt war.
»Du wirst mich nicht mehr im Stich lassen«, flüsterte Celik ihm ins Ohr. Dann legte er die dünne Schnur in einer Schlinge um Atwars Hals und zog sie mit einem lackierten Holzknebel zu.
Der Mann schrie, doch seine Stimme verstummte schnell, als sich die Sehne um seinen Hals straffte. Sein Gesicht verfärbte sich blau, und seine Augen quollen hervor, während Celik den Knebel drehte und den Druck auf die Schlinge verstärkte. Ein Ausdruck perverser Freude irrlichterte in Celiks Augen, während er in das Gesicht des sterbenden Mannes blickte. Er hielt die Schlinge weiter fest, nachdem der Körper seines Opfers schlaff geworden war, als wolle er diesen Moment so lange wie möglich auskosten. Schließlich löste er die Garotte, nahm sie mit gemächlichen Bewegungen vom Hals des Toten, ehe er sie in die Schreibtischschublade zurücklegte.
»Bringt seine Leiche nach Einbruch der Dunkelheit hinaus aufs Meer und versenkt sie«, sagte er zu dem Janitschar. Der Wächter nickte, dann schleifte er den Toten aus dem Raum.
Die Mordtat schien Celik belebt zu haben, und er begann in seinem Büro auf und ab zu gehen. Er hatte wieder die Goldmünze ergriffen und ließ sie spielerisch durch seine Finger gleiten.
»Du hättest diese Idioten niemals engagieren dürfen«, sagte er zornig zu Marie. »Meine Janitscharen hätten niemals versagt.«
»In der Vergangenheit haben sie uns gute Dienste geleistet. Außerdem hast du ja gerade demonstriert, dass sie entbehrlich sind.«
»Wir können uns solche Fehler in Zukunft nicht mehr leisten«, dozierte er. »Es steht zu viel auf dem Spiel.«
»Ich werde die nächste Operation persönlich anführen. Apropos, bist du sicher, dass du in Jerusalem weitermachen willst? Ich weiß nicht, ob das, was sich damit gewinnen lässt, das Risiko wert ist.«
»Es könnte auf jeden Fall eine weit reichende, vereinigende Wirkung haben. Außerdem dürfte uns ein wenig übertriebene Furcht auf Seiten der Zionisten weitere zwanzig Millionen Euro von unseren arabischen Helfern einbringen.« Celik blieb für einen Moment stehen und sah seine Schwester an. »Mir ist schon klar, dass das Ganze nicht völlig gefahrlos ist. Bist du entschlossen weiterzumachen?«
»Natürlich«, erwiderte sie ohne mit der Wimper zu zucken. »Mein Kontakt bei der Hisbollah hat bereits mit einem Top-Agenten Verbindung aufgenommen, der für einen entsprechenden Preis bei der Mission behilflich sein wird. Und sollte es irgendwelche Schwierigkeiten geben, dann sind sie es, die als die Schuldigen dastehen.«
»Hatte die Hisbollah nichts gegen unsere Mission einzuwenden?«
»Ich habe sie nicht über alle Einzelheiten aufgeklärt«, erwiderte Marie mit einem verschlagenen Lächeln.
Celik ging zu seiner Schwester hinüber und streichelte zärtlich ihre Wange. »Du hast dich schon immer als die beste Partnerin erwiesen, die sich ein Mann wünschen kann.«
»Wir haben eine Bestimmung«, wiederholte sie seine vorherigen Worte. »Als unser Urgroßvater im Jahr 1922 von Atatürk ins Exil vertrieben wurde, endete das Erste Osmanische Reich. Unser Großvater und unser Vater lebten als Ausgestoßene und konnten den Traum der Restauration nicht erfüllen. Aber dank der Gnade Allahs liegt ein neues Reich vor uns. Wir können nicht viel anderes tun als zu handeln - zu Ehren unseres Vaters und aller vor ihm.«
Celik stand schweigend da, während Tränen seine Augen füllten und seine Hand die Goldmünze umklammerte, bis seine Faust zu zittern begann.
TEIL II
19
Das zitronengelbe Unterseeboot versank im heftig schwappenden Wasser des Moon Pools und verschwand schnell außer Sicht. Der Pilot tauchte eilig, weil er nicht allzu lange in der Nähe des Mutterschiffs bleiben wollte, während heftige Strömungen mit einem Wind der Stärke 7 gemeinsame Sache machten.
In den eisigen Gewässern der Orkneys nordöstlich des schottischen Festlands herrschte nur selten mildes Wetter. Beständig suchten nordatlantische Sturmfronten die felsigen Inseln mit mächtigen Brechern heim, während der orkanartige Wind scheinbar niemals nachließ. Aber dreißig Meter unter den schäumenden Wellen vergaßen die drei Passagiere des U-Boots das unwirtliche Wetter an der Oberfläche sehr schnell.
»Ich hatte ein wenig Angst vor dem Tauchgang, aber hier ist es tatsächlich viel ruhiger als auf diesem rollenden Schiff da oben«, ließ sich Julie Goodyear vom hinteren Sitz aus vernehmen. Sie war Geschichtsforscherin an der Universität Cambridge und unternahm soeben ihre erste Tauchfahrt, nachdem sie sich mit den unangenehmen Auswirkungen der Seekrankheit herumschlug, seit sie vor drei Tagen in Scapa Flow an Bord des NUMA-Forschungsschiffs Odin gekommen war.
»Miss Goodyear, ich garantiere Ihnen, diese Fahrt wird Ihnen so viel Spaß machen, dass Sie gar nicht mehr in die schwankende Badewanne da oben zurückkehren wollen«, erwiderte der Pilot in breitem texanischem Akzent. Jack Dahlgren, stahlgraue Augen und markanter Schnurrbart, bediente die Tauchkontrollen wie ein Herzchirurg, während er das Boot in die Tiefe lenkte.
»Sie haben sicher recht, das heißt, wenn mich hier drin nicht ein Anfall von Klaustrophobie heimsucht«, erwiderte Julie. »Ich weiß nicht, wie Sie beide es schaffen, ständig diese Enge zu ertragen.«
Obgleich Julie eine durchaus groß gewachsene Frau war, war sie trotzdem einige Zentimeter kleiner als Dahlgren und die Frau auf dem Sitz des Kopiloten. Summer Pitt wandte sich mit einem beruhigenden Lächeln zu ihr um.
»Wenn Sie sich auf die Welt da draußen konzentrieren«, sagte sie und deutete auf das vordere Sichtfenster des Tauchboots, »dann vergessen Sie sehr schnell, wie eng es hier drinnen ist.«
Mit langem rotem Haar und hellgrauen Augen bot Summer sogar in ihrem mit Ölflecken übersäten Tauch-Overall einen aufregenden Anblick. Mit ihren eins achtzig Körpergröße, barfuß gemessen, war die Tochter des NUMA-Direktors und die Zwillingsschwester ihres Bruders Dirk an Lokalitäten mit nur geringem Platzangebot durchaus gewöhnt. Als Ozeanographin in Diensten der Unterwasser-Agentur hatte sie viele Stunden in den bedrückend engen Cockpits kleiner Tauchboote verbracht, um den Meeresgrund zu studieren.
»Wie wäre es, wenn ich mal ein wenig Licht auf die ganze Geschichte werfe«, sagte Dahlgren, griff nach oben und legte zwei Schalter über seinem Kopf um. Zwei Reihen externer Scheinwerfer flammten auf und erhellten die dunkelgrüne See in ihrer Umgebung.
»Das ist besser«, sagte Julie, als sie fast fünfzehn Meter weit blicken konnte. »Ich hatte keine Ahnung, dass wir hier eine so gute Sicht haben würden.«
»Das Wasser scheint mir wirklich überraschend klar«, bemerkte Summer. »Die Sicht ist um einiges besser als in Norwegen.« Summer und die Mannschaft der Odin hatten soeben ein dreiwöchiges Projekt vor der norwegischen Küste abgeschlossen, in dessen Verlauf sie Temperaturschwankungen im Meer und ihre Auswirkungen auf die einheimische Meeresfauna untersucht hatten.
»Tiefe einhundertsiebzig Fuß«, meldete Dahlgren. »Wir müssten gleich auf dem Meeresgrund sein.«
Er justierte die Ballasttanks des Tauchboots, um seinen Auftrieb zu neutralisieren, als der sandige braune Meeresboden unter ihnen auftauchte. Indem er den Elektromotor des Vehikels einschaltete, ließ er das Boot Fahrt aufnehmen und nahm nach einem Blick auf den Kreiselkompass eine kleine Kurskorrektur vor.
»Wir haben fast Hochwasser, und die Strömung beträgt hier unten immer noch etwa zwei Knoten«, sagte er, als er den Druck gegen den Bootsrumpf ausglich.
»Nicht gerade die ideale Umgebung zum Freitauchen«, erwiderte Summer.
Sie glitten ein Stück weiter, bis ein großes, röhrenförmiges Objekt das Sichtfenster ausfüllte.
»Da ist ein Schornstein«, sagte Dahlgren.
»Er ist so groß«, rief Julie aufgeregt. »Ich kenne diese Schornsteine nur von körnigen alten Schwarzweißfotos, wo man sie im Größenverhältnis zum jeweiligen Schiff sehen kann.«
»Er scheint ziemlich hart runtergekommen zu sein«, meinte Summer, als sie sah, dass ein Ende des dünnen rostigen Schornsteinblechs zerbeult und eingedrückt war.
»Aus Augenzeugenberichten geht hervor, dass sich die Hampshire auf den Bug gestellt hat und tatsächlich umgeschlagen ist, während sie sank«, sagte Julie. »Zu diesem Zeitpunkt müssen die Schornsteine herausgerissen worden sein, wenn nicht sogar schon früher.«
Über eine Instrumentenkonsole schaltete Summer zwei Highdefinition-Videokameras ein.
»Die Aufnahme läuft, Jack. Da, links von uns, das sieht wie der Beginn eines Trümmerfeldes aus.«
»Schon gesehen«, antwortete Dahlgren und lenkte das Tauchboot quer zur Strömung.
Nicht weit vom Schornstein entfernt ragten ein paar dunkle Gegenstände aus dem Sand. Es waren vorwiegend unidentifizierbare, verrostete Trümmerstücke, die aus dem Schiff gefallen waren, als es umkippte und auf den Meeresgrund sank.
Summer entdeckte ein Messinggehäuse und eine Porzellanplatte inmitten weiterer nicht genau zu identifizierender Trümmerteile, als deren Anzahl im Sichtfeld deutlich zunahm. Dann erschien im Wasser vor ihnen nach und nach ein hoch aufragendes schwarzes Gebilde. Während sie sich dieser Erscheinung näherten, erkannten sie die unverwechselbaren Umrisse eines riesigen Schiffswracks.
Fast einhundert Jahre unter Wasser hatten von dem englischen Kreuzer aus dem Ersten Weltkrieg ihren Tribut gefordert. Das Schiff erschien als verknotete Masse aus rostigem Stahl und stand mit schwerer Schlagseite nach Steuerbord auf dem Meeresboden. Teile des Schiffes waren dank der Auswirkungen einer starken Strömung fast vollständig im Sand vergraben. Summer konnte erkennen, dass die Decksaufbauten längst zusammengebrochen waren, während das Deck aus Teakholz schon vor Jahrzehnten zerfallen sein musste. Sogar einige Teile der Rumpfpanzerung waren ins Schiffsinnere gestürzt. Der stattliche Kreuzer - und Überlebende der Skagerrak-Schlacht - war nur noch ein trauriger Schatten seiner selbst.
Dahlgren lenkte das U-Boot über das Heck der Hampshire und ließ es wie einen Helikopter darüber verharren. Dann dirigierte er es über das Schiff bis zum Bug, der sich teilweise in den Sand gebohrt hatte, da das Schiff mit dem Kiel auf dem Meeresgrund aufgesetzt hatte. Er wendete und lenkte das Tauchboot mehrmals über den Rumpf, so dass eine Videokamera digitale Sequenzen aufzeichnen konnte, während eine zweite Standkamera einzelne Bilder schoss, die später wie ein Mosaik zu einer detaillierten Fotografie des gesamten Wracks zusammengefügt werden konnten.
Während sie zum Heck zurückkehrten, deutete Summer auf eine große unregelmäßig gezackte Öffnung im freiliegenden Deck, ganz in der Nähe des achtern gelegenen Laderaums. Neben der Öffnung ragte ein geordneter, einige Meter hoher Trümmerstapel auf.
»Ein seltsames Loch«, meinte sie. »Das sieht nicht so aus, als hätte es etwas damit zu tun, dass das Schiff gesunken ist.«
»Der Trümmerstapel daneben verrät mir, dass bereits einige Plünderer an Bord gewesen sein müssen«, sagte Dahlgren. »Ist jemand in das Wrack eingedrungen, bevor die Regierung den Zugang untersagt hat?«
»Ja, das Wrack wurde in den dreißiger Jahren zuerst von Sir Basil Zaharoff entdeckt und teilweise geborgen«, berichtete Julie. »Sie waren hinter irgendwelchem Gold her, das sich angeblich an Bord befunden haben soll. Auf Grund der heftigen Strömungen konnten sie aber nicht viel aus dem Schiff herausholen. Offenbar glaubt niemand ernsthaft, dass sie viel Gold gefunden haben, wenn überhaupt.«
Dahlgren steuerte sie über das gewölbte Heck, bis er unter sich zwei leere Antriebswellen entdeckte, die aus dem Wrack herausragten.
»Auf jeden Fall hat sich jemand die großen Bronzepropeller geholt«, stellte Dahlgren fest.
»Die englische Regierung hat die Fundstelle des Wracks erst 1973 gesichert. Seitdem durfte niemand hinabtauchen. Ich habe drei Jahre gebraucht, nur um eine Fotografiererlaubnis zu erhalten, und das auch nur, weil mein Onkel Parlamentsmitglied ist.«
»Es schadet nie, wenn man Familienangehörige hat, die hohe Positionen bekleiden«, meinte Dahlgren und zwinkerte Summer zu.
»Ich bin nur froh, dass Ihre Agentur mir ihre Hilfe angeboten hat«, sagte Julie. »Ich weiß nicht, ob ich ausreichende Mittel hätte beschaffen können, um ein U-Boot samt Mannschaft zu mieten.«
»Bei unserem Norwegen-Projekt haben uns ein paar Mikrobiologen von der Universität Cambridge geholfen«, erzählte Dahlgren. »Sie brachten einige Kartons Old Speckled Hen mit. Verdammt nette Leute, daher haben wir uns gern revanchiert.«
»Old Speckled Hen?«, fragte Julie.
»Ein englisches Bier«, erklärte Summer und verdrehte leicht die Augen. »Tatsache ist: Als Jack hörte, dass es um ein Schiffswrack ging, war es eigentlich keine Frage, dass wir helfen würden.«
Dahlgren lächelte nur, während er das Tauchboot ein paar Meter weiter über den Kreuzer gleiten ließ. »Mal sehen, ob wir die Stelle finden, mit der sie auf diese Mine aufgelaufen sind«, sagte er schließlich.
»War es eine Mine oder ein Torpedo, das die Hampshire versenkt hat?«, fragte Summer.
»Die meisten Historiker glauben, dass der Kreuzer auf eine Mine gelaufen ist. In der Nacht, als das Schiff sank, herrschte ein heftiger Sturm. Die Hampshire sollte von einigen Zerstörern begleitet werden, doch sie konnte bei der rauen See nicht das Tempo halten, deshalb hat der Kreuzer die Fahrt ohne sie fortgesetzt. Dann kam es am Bug zu einer Explosion, was eine Kollision mit einer Mine plausibel erscheinen lässt. Das deutsche Minen-U-Boot U 75 hatte in der Gegend operiert und einige Minen vor der Küste gelegt.«
»Das Ganze klingt nach einer schrecklichen Tragödie«, meinte Summer.
»Das Schiff sank in weniger als zehn Minuten. Nur eine Handvoll Rettungsboote wurde zu Wasser gelassen. Sie wurden entweder am Schiffsrumpf zerschmettert oder sind bei der schweren See gekentert. Die Männer, die sich retten konnten, wurden vom eisigen Wasser überspült. Der größte Teil der Mannschaft starb, ehe man das Festland erreichte. Von den sechshundertfünfundfünfzig Mannschaftsangehörigen haben nur zwölf überlebt.«
»Lord Kitchener gehört nicht dazu«, sagte Summer leise. »Hat man seine Leiche gefunden?«
»Nein«, erwiderte Julie. »Er hat es nicht in eins der Rettungsboote geschafft, sondern ging mit dem Schiff unter.«
Nachdenkliches Schweigen herrschte im U-Boot, während die Insassen den versunkenen Soldatenfriedhof unter sich betrachteten. Dahlgren folgte dem Rumpf auf der Backbordseite in der Nähe des Hauptdecks, das an einigen Stellen eingebrochen war. Als sie sich dem Bug näherten, konnte Dahlgren einige gewölbte Rumpfplatten erkennen. Dann fiel das Scheinwerferlicht auf eine Öffnung mit einem Durchmesser von gut sieben Metern dicht unter der Wasserlinie.
»Kein Wunder, das sie so schnell gesunken ist«, stellte Dahlgren fest. »Man könnte glatt einen Lastwagen durch dieses Loch steuern.«
Er drehte das Tauchboot, bis seine Scheinwerfer in das Explosionsloch leuchteten und ein stählernes Chaos, das sich über zwei Decks erstreckte, aus dem Dunkel rissen. Ein großer Schellfisch tauchte aus dem Schiffsinneren auf, blickte neugierig auf die hellen Scheinwerfer, bis er wieder in der Dunkelheit verschwand.
»Nehmen die Kameras noch auf?«, wollte Julie wissen. »Das ist hochinteressantes Studienmaterial.«
»Ja, die Kameras laufen nach wie vor«, erwiderte Summer. »Jack, kannst du uns noch ein wenig näher an den Explosionsherd heranbringen?«, fragte sie und blickte aufmerksam durch das Sichtfenster.
Dahlgren betätigte die Steuerkontrollen, bis sie nur noch knapp einen halben Meter vom beschädigten Teil des Rumpfs entfernt waren.
»Ist Ihnen etwas Bestimmtes aufgefallen?«, wollte Julie wissen. »Ja. Sehen Sie sich doch bitte mal die Ränder der Öffnung dort an.«
Verständnislos inspizierte Julie die gezackte, verrostete Stahlkante. Im Pilotensitz beugte sich Dahlgren plötzlich mit großen Augen vor.
»Du meine Güte! Der Rand sieht aus, als wäre er nach außen gebogen«, sagte er.
»Offenbar ist das rund um die gesamte Öffnung der Fall«, sagte Summer.
Julie blickte verwirrt von Dahlgren zu Summer. »Was wollen Sie damit sagen?«, fragte sie schließlich. »Ich glaube, sie will damit sagen, dass die Deutschen zu Unrecht beschuldigt wurden«, erwiderte Dahlgren. »Warum das?«
»Weil«, sagte Summer und deutete auf das Leck, »die Explosion, die das Schiff versenkt hat, offenbar im Innern des Schiffes stattgefunden hat.«
Anderthalb Stunden später saßen die drei in der Offiziersmesse der Odin und sahen sich auf einem großen Flachbildmonitor Videobilder von der Hampshire an. Dahlgren ließ die ersten Sequenzen vom Wrack schnell durchlaufen, dann drosselte er die Geschwindigkeit, als sich die Kamera der Backbordöffnung näherte. Julie und Summer drückten sich am Monitor fast die Nasen platt, während sie die Bilder studierten.
»Halt genau hier an«, bat Summer.
Dahlgren stoppte das Video bei einer Nahaufnahme von der zerschmetterten Rumpfplatte.
»Da kann man es ganz deutlich erkennen«, sagte Summer und wies auf die zerfetzte Stahlkante, die sich nach außen bog, als wären es die Blätter einer Blüte. »Der Explosionsdruck muss aus dem Innern des Schiffes gekommen sein.«
»Konnte das von Zaharoffs Bergungsteam verursacht worden sein?«, fragte Julie.
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich«, erwiderte Dahlgren. »Obwohl sie bestimmt hier und da Sprengstoff eingesetzt haben und auf diese Weise vielleicht ins Schiffsinnere vorgedrungen sind. Sie hätten aber keinen Grund gehabt, eine derart große Öffnung zu schaffen, vor allem nicht so dicht beim Hauptdeck.« Er betätigte die Play-Taste des Geräts, während er sprach. »Wir haben Hinweise auf eine Explosion innerhalb des Rumpfs um die gesamte Öffnung herum gesehen, was nicht der Fall gewesen wäre, wenn Zaharoff lediglich versucht hätte, das bereits existierende Loch zu vergrößern.«
»Und was wäre mit der Explosion eines Munitionslagers, die vielleicht durch einen Torpedotreffer ausgelöst wurde?«, fragte Summer.
»Nicht groß genug«, erwiderte Dahlgren. »Nach dem, was wir im Innern sehen konnten, gab es dort erhebliche Schäden, aber die konzentrierten sich im Wesentlichen in Rumpfnähe. Wenn die Munition des Schiffes hochgegangen wäre, hätte sie sicherlich ganze Teile des Schiffs weggesprengt.«
»Demnach bleibt nur noch eine interne Explosion als Möglichkeit«, sagte Julie. »Vielleicht ist an den alten Gerüchten doch etwas dran.«
»An welchen alten Gerüchten?«, fragte Summer.
»Der Tod Lord Kitcheners im Jahr 1916 war ein bedeutsames Ereignis. Er war zwanzig Jahre zuvor der Held von Karthum im Sudan gewesen und galt als einer der Väter des Sieges über die Deutschen im Ersten Weltkrieg. Am bekanntesten wurde er wahrscheinlich durch das Rekrutierungsplakat mit seinem Bild, auf dem er mit dem Zeigefinger auf den Betrachter deutet und ihn auffordert, in die Armee einzutreten. Als seine Leiche nicht gefunden wurde, entstanden die wildesten Verschwörungstheorien, die besagten, dass er entweder den Untergang überlebt hat oder dass an seiner Stelle ein Double auf dem Schiff mitgefahren sei. Andere behaupteten, die IRA habe eine Bombe an Bord des Schiffes deponiert, als es ein paar Monate zuvor in Belfast generalüberholt wurde.«
»Ich vermute, das durchkreuzt die Pläne für Ihre Biografie«, sagte Summer.
»Wollten Sie die Hampshire denn wegen Kitchener untersuchen?«, fragte Dahlgren.
Julie nickte. »Der Vorschlag, den Zustand der Hampshire zu dokumentieren, kam ursprünglich von meinem Dekan, aber der wahre Antrieb dazu war eher meine geplante Biografie des Feldmarschalls. Ich vermute, ich werde wohl auf Kitcheners alten Wohnsitz in der Nähe von Canterbury zurückkehren und mich in sein Archiv vertiefen müssen.«
»Canterbury?«, fragte Summer. »Das liegt nicht weit von London, nicht wahr?«
»Nein, weniger als einhundert Meilen.«
»London ist meine nächste Station, nachdem wir nach Yarmouth zurückgekehrt sind.«
"Yarmouth ist unser nächster Hafen, den wir anlaufen, sobald wir Sie in Kirkwall abgesetzt haben«, lautete Dahlgrens Erklärung für Julie. »Wir nehmen dort frische Vorräte auf, danach fahren einige von uns nach Grönland, um an einem anderen Projekt teilzunehmen«, fügte er hinzu und sah Summer neidisch an.
»Ich fliege nächste Woche nach Istanbul, um meinem Bruder bei einem Projekt im Mittelmeer zu assistieren.“
»Das klingt nach viel Sonne«, sagte Julie. »Wem sagen Sie das«, knurrte Dahlgren.
»Vielleicht kann ich Ihnen ein paar Tage lang bei Ihren Recherchen behilflich sein, bevor ich von London abfliege«, bot Summer ihr an.
»Das würden Sie tun?«, fragte Julie, verblüfft über das Angebot. »In alten staubigen Büchern herumzublättern ist nicht das Gleiche, wie zu einem Schiffswrack hinabzutauchen.«
»Das macht mir nichts aus. Ich möchte selbst gern wissen, was wirklich mit der Hampshire passiert ist. Mein Gott, es ist doch das Mindeste, was ich tun kann, nachdem wir maßgeblich daran beteiligt waren, dass dieses Problem plötzlich aufgetaucht ist.«
»Vielen Dank, Summer. Das wäre wirklich großartig.«
»Nichts zu danken«, erwiderte sie lächelnd. »Außerdem, wer lässt sich freiwillig die Chance entgehen, ein solches Geheimnis aufzuklären?«
20
Der Laden mit dem Schild Salomon Brandy - Antiquitäten befand sich in einer ruhigen Seitenstraße in der Altstadt von Jerusalem, nicht weit von der Grabeskirche entfernt. Ebenso wie die vierundsiebzig anderen lizenzierten Händler im Land hatte Brandy die offizielle Erlaubnis des Staates Israel, Antiquitäten zu kaufen und zu verkaufen, vorausgesetzt es handelte sich bei den Artefakten nicht um Diebesgut.
Die gesetzliche Bestimmung war für die meisten Händler nur ein unbedeutendes Hindernis, da sie einfach legale Objektverfolgungsnummern benutzten, um Gegenstände nebulöser Herkunft zu verkaufen, die durch die Hintertür in den Laden gelangt waren. Die israelischen Antiquitätengesetze erzeugten seltsamerweise eine verstärkte Nachfrage nach echten und gefälschten Objekten aus dem Heiligen Land, indem sie den legalen Handel von Artefakten zuließen, eine Praxis, die von den meisten anderen Nationen unterbunden wurde. Sehr oft wurden Antiquitäten aus benachbarten Ländern nach Israel geschmuggelt, wo sie legitimiert und an andere Händler und Sammler auf der ganzen Welt weiterverkauft werden konnten.
Sophie Elkin betrat Brandys hell erleuchteten Laden und zuckte beim Klang eines lauten Summers zusammen, der durch das Öffnen der Tür aktiviert wurde. In dem kleinen Verkaufsraum befanden sich keine Kunden, doch er war vollgestopft mit Artefakten, die aus den Glaskästen vor allen vier Wänden nur so herauszuquellen schienen. Sie trat an eine Insel in der Mitte des Raums, die mit kleinen Tontöpfen gefüllt war, allesamt mit einem Aufkleber mit der Aufschrift Jericho versehen. Sophies geübte Augen erkannten auf Anhieb, dass dies ausnahmslos Nachbildungen waren, die schon bald zu wertvollen Erinnerungsstücken von unbekannten Touristen aufgewertet würden, die anlässlich einer in ihrem Leben einmaligen Pilgerfahrt ins Heilige Land gekommen waren.
Ein kleiner dicker Mann mit Pfannkuchengesicht und einer staubigen Schürze über seiner zerknautschten Kleidung trat aus einem Hinterzimmer hervor. Er stellte eine kleine Tonfigur auf die Theke, dann sah er Sophie mit deutlichem Unbehagen an.
»Miss Elkin, was für eine Überraschung«, sagte er in einem gepressten Tonfall, der anzeigte, dass ihr Erscheinen absolut nicht willkommen war.
»Hallo, Sal«, erwiderte Sophie. »Noch keine Touristen im Laden?“
»Ist noch früh. Am Vormittag besichtigen sie die Sehenswürdigkeiten, am Nachmittag kaufen sie dann ein.“
»Wir müssen uns unterhalten.«
»Meine Lizenz ist in Ordnung. Ich habe meine Berichte termingerecht eingereicht«, protestierte er.
Sophie winkte ab. »Was können Sie mir über den Diebstahl und die Schießereien in Caesarea erzählen?«
Brandy entspannte sich sichtlich, dann schüttelte er den Kopf. »Ein Tragödie. Wurde dabei nicht einer Ihrer Männer getötet?“
»Thomas Raban.«
»Ja, ich erinnere mich an ihn. Sehr laut und ungestüm. Er hat mir einmal damit gedroht, mir eine Schaufel um den Hals zu wickeln«, sagte er und verzog das Gesicht.
Sophie hatte Brandy zwei Jahre zuvor während eines verdeckten Einsatzes erwischt, als er eine Ladung gestohlener Artefakte aus Masada angenommen hatte. Sie hatte auf eine Verhaftung verzichtet, als er sich bereit erklärte, insgeheim bei der Verfolgung der eigentlichen Diebe mitzuhelfen. Aber die Agentin der Antiquities Authority benutzte die alten Anschuldigungen gelegentlich, um sich bei ihm Informationen über andere Bereiche des Antiquitätenschmuggels zu beschaffen. Zwar wich Brandy den meisten ihrer Fragen aus, aber in der langen Zeit ihres Kontakts hatte er sie noch nie belogen.
»Ich will den Mann, der ihn auf dem Gewissen hat«, sagte Sophie.
Brandy zuckte die Achseln. »Ich fürchte, dabei kann ich Ihnen nicht helfen.«
»Sie hören doch schon mal irgendwelche Dinge, Salomon. Waren es die Mulis?«
Brandy schaute nervös zum Fenster, als befürchtete er, dort irgendwelche Fremden zu sehen, die ihn beobachteten. »Die Mulis sind eine gefährliche Organisation. Terroristen, die innerhalb unserer eigenen Grenzen operieren. Von ihnen sollte man sich möglichst fernhalten, Miss Elkin.«
»Stecken sie hinter dem Überfall?«
Brandy sah ihr in die Augen. »Es gibt gewisse Vermutungen«, antwortete er mit leiser Stimme. »Aber ich weiß mit letzter Sicherheit nicht mehr als Sie.«
»Ich kenne niemand anderen, der mit der Waffe in der Hand Antiquitäten stiehlt und keine Hemmungen hat abzudrücken.«
»Ich auch nicht«, gab Brandy zu. »Zumindest nicht in unserem Land.«
»Dann reden Sie, Salomon, wer würde solche Leute engagieren?«
»Ganz gewiss kein Händler«, antwortete er in abfälligem Tonfall. »Ich brauche Ihnen doch nicht zu erklären, wie es auf dem schwarzen Mark läuft. Im Wesentlichen werden die illegalen Ausgrabungen von bettelarmen Arabern durchgeführt, die für ihre Entdeckungen mit einem Trinkgeld bezahlt werden. Die Artefakte wandern dann durch die Hände zahlreicher Mittelsmänner - manchmal sind es Händler, manchmal auch nicht -, bis sie bei einem öffentlichen oder einem privaten Sammler landen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass kein Händler in Israel seine Geschäfte dadurch gefährden würde, dass er Objekte annimmt, an denen Blut klebt. Das Risiko wäre einfach zu groß.«
Obwohl Sophie kaum daran zweifelte, dass die Hälfte der Objekte in Brandys Laden aus illegalen Ausgrabungen stammten, wusste sie, dass er recht hatte. Die Qualität des Warenbestands der besten Händler beruhte auf geheimem, undurchsichtigem Geschacher, das das Vertrauen beider Parteien voraussetzte. Es war einfach zu gefährlich, mit den falschen Objekten Handel zu treiben. Für Artefakte dieser Art einen Mord zu begehen passte zu keinem der Händler, die Sophie kannte.
»Ich glaube, dass kein halbwegs kluger Händler sich wissentlich mit solchen Typen einlassen würde«, sagte sie. »Haben Sie von irgendwelchen Bemühungen gehört, römische Papyri aus dem vierten Jahrhundert zu verkaufen?«
»Also das ist es, was in Caesarea gestohlen wurde«, erwiderte er und nickte verstehend. »Nein, ich weiß nichts von Versuchen, derartige Gegenstände zu veräußern.«
»Wenn die Ware nicht auf dem Markt angeboten wird, dann muss es ein Job für einen privaten Sammler gewesen sein.«
»Das sehe ich genauso«, pflichtete ihr Brandy bei.
Sophie ging zur Theke und nahm eine kleine Tonfigur in die Hand, die die Form eines Ochsen mit einem vergoldeten Joch hatte. Eingehend studierte sie Gestaltung und Ausführung.
»Erste Tempel-Periode?«
»Sie haben scharfe Augen«, sagte er anerkennend. »Für wen ist die Figur?«
Brandy geriet ein wenig ins Stottern. »Für einen Bankier in Haifa. Er ist auf Tonarbeiten der Israeliten spezialisiert. Er besitzt eine kleine, aber beeindruckende Sammlung.«
»Sind auch irgendwelche Papyrusrollen dabei?«
»Nein, das ist nicht sein Interessengebiet. Er ist eher ein Hobbysammler und kein Fanatiker. Die wenigen Sammler, von denen ich weiß, dass sie sich für Papyri interessieren, suchen ganz bestimmte Texte oder Inhalte. Und keiner davon ist das, was man als hochkarätig bezeichnen würde.«
»Dann verraten Sie mir doch mal, Sal, wer sich für diese Rollen interessieren würde und über die Mittel verfügt, so weit zu gehen wie in unserem Fall, um in ihren Besitz zu kommen.«
Brandy blickte nachdenklich zur Decke.
»Was soll ich sagen? Ich kenne reiche Sammler in Europa und den USA, die wer weiß was tun würden, um besondere Artefakte zu erwerben. Aber es gibt in dieser Liga sicherlich Dutzende von Sammlern, von denen ich noch nie gehört habe.«
»Die Nachricht von den Rollen in Caesarea war höchstens einen Tag alt«, sagte Sophie. »Mir kommt es nicht sehr wahrscheinlich vor, dass ein westlicher Sammler so schnell reagieren konnte. Nein, Salomon, ich glaube, das Ganze wurde von einem Einheimischen initiiert. Gibt es irgendwelche Namen, die diesem Profil entsprechen?«
Brandy zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Sophie hatte nichts anderes erwartet. Sie wusste, dass die betuchten Sammler für Händler wie Brandy eine sichere Bank waren. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, wer hinter dem Überfall in Caesarea steckte, aber er würde auch ganz gewiss nicht den Verdacht auf einen seiner wichtigen Kunden lenken.
»Wenn Sie irgendetwas in dieser Richtung hören, egal, was, lassen Sie es mich wissen«, sagte sie. Sie machte Anstalten, den Laden zu verlassen, wandte sich jedoch noch einmal um und musterte ihn mit einem drohenden Blick.
»Wenn ich diese Mörder finde - und das werde ich ganz sicher —, dann nehme ich mir auch ihre Komplizen vor und mache keinen Unterschied zwischen Mittätern und Mitwissern«, erklärte sie.
»Ich gebe Ihnen mein Wort, Miss Elkin«, erwiderte Brandy unbeeindruckt.
Der Summer erklang, als die Ladentür geöffnet wurde und ein hagerer Mann mit steifer Körperhaltung hereinkam. Er hatte ein kantiges attraktives Gesicht, sandfarbenes zurückgekämmtes Haar und lebhafte blaue Augen, die aufleuchteten, als sie Sophie erkannten. In seiner abgetragenen Baumwollhose und mit einem Panamahut auf dem Kopf bot er den Anblick eines mit allen Wassern gewaschenen Abenteurers.
»Wenn das nicht die reizende Sophie Elkin ist«, sagte er mit einem affektierten englischen Oberschichtakzent. »Ist die Antiquities Authority hier, um ihre Sammlung biblischer Artefakte über die bisherigen Teile hinaus zu vervollständigen, die sie sich durch Beschlagnahme gesichert hat?«
»Hallo, Ridley«, erwiderte sie kühl. »Nein, nein, die Antiquities Authority ist nicht ins Sammler-Gewerbe eingestiegen. Uns ist es lieber, die Stücke bleiben hier in ihrer angestammten kulturellen Umgebung.«
Sie ging zu der Vitrine mit den Tonkrügen aus Jericho. »Ich bin nur hergekommen, um Mr. Brandys jüngste Lieferung von Fälschungen zu bewundern. Etwas, worüber Sie sicherlich auch so manches erzählen könnten.«
Es war eine scharfe, auf Ridley Bannister gemünzte Kritik. Als klassisch ausgebildeter Archäologe aus Oxford hatte er sich durch Bücher und Fernsehauftritte einen Ruf als hochrangiger Experte für Bibelgeschichte erworben. Obwohl ihn viele eher für einen Showman als für einen seriösen Akademiker hielten, leugnete doch niemand, dass er über bemerkenswerte Kenntnisse über die Geschichte dieser Region verfügte. Hinzu kam, dass er mit einem geradezu sprichwörtlichen Glück gesegnet war. Seine Kollegen staunten immer wieder über seine ungewöhnliche Fähigkeit, selbst an den unscheinbarsten Grabungsstätten erstaunliche Entdeckungen zu Tage zu fördern und an bislang wenig beachteten Orten Königsgräber, wichtige Steintafeln und exquisite Schmuckstücke zu lokalisieren. Ähnlich begnadet, was die Werbung in eigener Sache betraf, war er mittels lukrativer Buch- und Filmverträge zu beträchtlichem Wohlstand gelangt.
Sein Glück ließ ihn jedoch im Stich, als ihm ein Helfer eines Tages eine Steinplatte mit einer aramäischen Inschrift brachte, die auf das Jahr 1ooo vor Christus datiert war. Bannister identifizierte das Fundstück als möglichen Grundstein des Tempels Salomons und ahnte nicht, dass der Stein eine Fälschung war, mit der sich der Ausgrabende einen fetten Profit sichern wollte. Sehr zur Genugtuung seiner Fachkollegen blieb Bannister die Peinlichkeit eines tiefen Falls nicht erspart. Sein Ruf verblasste, und er geriet schnell aus dem Rampenlicht. Schon bald wurde er nur noch zu unbedeutenden Ausgrabungen hinzugezogen und fungierte gelegentlich sogar als Fremdenführer bei organisierten Rundreisen durch das Heilige Land.
»Sophie, Sie wissen genauso gut wie ich, dass unser Salomon der seriöseste Antiquitätenhändler in ganz Israel ist«, sagte er, um die Unterhaltung in unverfänglichere Bahnen zu lenken.
Sophie verdrehte die Augen. »Wie dem auch sei, auf jeden Fall scheint es mir für einen angesehenen Archäologen nicht besonders klug zu sein, im Laden eines Antiquitätenhändlers angetroffen zu werden«, sagte sie und ging zur Tür.
»Dito, Miss Elkin. War nett, Sie wiederzusehen. Wir sollten uns irgendwann demnächst mal auf einen Drink zusammensetzen.«
Sophie schenkte ihm ein eisiges Lächeln, dann machte sie kehrt und verließ den Laden. Bannister sah ihr durch das Schaufenster nach, während sie sich die Straße hinunter entfernte.
»Schönes Mädchen«, murmelte er. »Diese Beziehung hätte ich gern vertieft.«
»Mit der?«, fragte Brandy und schüttelte den Kopf. »Die würde Sie eher hinter Gitter stecken.«
»Ein Versuch könnte sich vielleicht lohnen«, meinte Bannister lachend. »Was hatte sie hier zu suchen?«
»Hat ein paar Fragen wegen des bewaffneten Überfalls in Caesarea gestellt.«
»Eine hässliche Geschichte.« Eingehend musterte er Brandy. »Sie haben doch nicht etwa damit zu tun, oder?«
»Natürlich nicht«, erwiderte der Händler, offenbar zutiefst beleidigt, dass Bannister eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung zog.
»Wissen Sie, was gestohlen wurde?«, wollte Bannister wissen.
»Elkin erwähnte ein paar Papyrus-Rollen. Viertes Jahrhundert, römisch.«
Die Beschreibung ließ Bannister aufmerken, doch er spielte nach außen hin weiter den Desinteressierten. »Irgendeine Idee über ihren Inhalt?«
Brandy schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man darauf irgendwas Bedeutsames aus dieser Periode finden kann.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich frage mich nur, wer diesen Diebstahl in Auftrag gegeben haben könnte.«
»Jetzt klingen Sie ja schon wie Miss Elkin«, sagte Brandy. »Ich habe wirklich nichts darüber gehört. Vielleicht sollten Sie mal den Fetten Mann fragen.«
»Ah ja. Aber nun zum Grund meines Besuches. Haben Sie die Amulette von meinem Helfer Josh erhalten?«
»Ja, mit einer Nachricht, ich solle sie noch zurückhalten, bis wir miteinander gesprochen haben.« Brandy ging ins Hinterzimmer und kam kurz darauf mit einer kleinen Schatulle zurück. Er öffnete sie und holte zwei grüne Steinanhänger heraus, jeder in der Form eines Widders.
»Hübsches Amulett-Paar aus der kanaanäischen Periode«, sagte Brandy. »Stammen sie vom Tel Arad?«
»Ja. Ein ehemaliger Student von mir leitet dort eine Ausgrabung für eine amerikanische Universität.«
»Der Junge könnte in große Schwierigkeiten geraten, wenn er dabei erwischt wird, wie er eine Ausgrabungsstätte plündert.«
»Dessen ist er sich bewusst, aber es ist ein außergewöhnlicher Fall. Der Junge ist absolut anständig. Er ist unabsichtlich in eine Grabstätte geraten und hat dort ein paar tolle Stücke gefunden. Insgesamt haben sie vier Amulette ausgegraben. Eins ging an die Universität und eins wurde dem Israelischen Museum gespendet. Die anderen beiden hat mir Josh zum Geschenk gemacht, weil ich ihm in den vergangenen Jahren des Öfteren geholfen habe.«
Brandy fragte: »Wollen Sie, dass ich sie verkaufe?«
Bannister lächelte. »Nein, mein Freund. Ich weiß zwar, dass Sie sicherlich ein ganz schönes Sümmchen erzielen würden, aber ich brauche das Geld nicht. Nehmen Sie eins für sich und tun Sie damit, was Sie wollen.«
Brandys Augen leuchteten auf. »Das ist aber großzügig.«
»Sie waren mir im Laufe der Jahre immer ein wertvoller Freund, und ich werde vielleicht demnächst Ihre Hilfe brauchen. Nehmen Sie es, und freuen Sie sich.«
»Shalom, mein Freund«, erwiderte Brandy und schüttelte Bannister die Hand. »Darf ich fragen, was Sie mit Ihrem Exemplar vorhaben?«
Bannister nahm es vom Tisch und betrachtete es kurz, dann steckte er es in die Tasche, während er zur Tür ging. »Ich bringe es dem Fetten Mann«, sagte er.
»Eine gute Idee«, erwiderte Brandy. »Er wird Ihnen eine Menge dafür zahlen.«
Bannister winkte ihm zum Abschied zu und trat vor sich hinlächelnd auf die Straße. Er baute darauf, dass ihn der Fette Mann für das Amulett gut bezahlen würde, aber mit etwas viel Wertvollerem als Bargeld.
21
Julie Goodyear schlenderte an dem riesigen Paar der schon seit langem verstummten Fünfzehn-Zoll-Schiffskanonen vorbei, die auf die Themse gerichtet waren, und stieg dann die Stufen zum Imperial War Museum hinauf. Die angesehene nationale Institution im Londoner Verwaltungsbezirk Southwark residierte in einem Klinkerbau aus dem neunzehnten Jahrhundert, der ursprünglich als Sanatorium für Geisteskranke konzipiert worden war. Neben seiner umfangreichen Sammlung von Fotografien, Kunstwerken und militärischen Utensilien aus dem Zweiten Weltkrieg verfügte das Museum auch über ein großes Archiv von Kriegsdokumenten und privaten Briefen.
Julie meldete sich am Empfangstisch in der Vorhalle, von wo sie in einem telefonzellengroßen Fahrstuhl zwei Stockwerke höher gebracht wurde. Danach musste sie zu Fuß noch eine Treppe hinaufsteigen, ehe sie ihr Ziel erreichte. Der Lesesaal des Museums war eine eindrucksvolle runde Bibliothek unter der hohen Zentralkuppel des Gebäudes.
Eine gelehrt wirkende Frau in braunem Kostüm lächelte, als sie die Besucherin erkannte, die sich dem Auskunftspult näherte.
»Guten Morgen, Miss Goodyear. Gilt Ihr Besuch wieder Lord Kitchener?«, fragte sie.
»Hallo, Beatrice. Ja, ich fürchte, die vielfältigen Geheimnisse des Feldmarschalls führen mich schon wieder hierher zurück. Ich habe vor ein paar Tagen angerufen und um einige ganz besondere Unterlagen gebeten.«
»Mal sehen, ob sie schon herausgesucht wurden«, erwiderte Beatrice und trat zum Schalter des Privaten Archivs, wo solche Bestellungen hinterlegt wurden. Eine Minute später kam sie mit einem dicken Stapel Dokumentenmappen unter dem Arm zurück.
»Ich habe eine Weißbuch-Untersuchung der Admiralität über den Untergang der HMS Hampshire und die offizielle Kriegskorrespondenz Lord Kitcheners aus dem Jahr 1916«, sagte die Bibliothekarin, während sie von Julie die Ausgabequittung unterschreiben ließ. »Offenbar ist alles, worum Sie gebeten haben, komplett vorhanden.«
»Danke, Beatrice. Es wird nicht lange dauern.«
Julie trug die Dokumente zu einem Tisch in einer Ecke und begann mit der Lektüre des Admiralitätsberichts über die Hampshire. Die darin enthaltenen Informationen waren allerdings eher dürftig. Sie hatte frühere Anschuldigungen gegen die Royal Navy von Seiten der Bewohner der Orkneys gesehen, die behaupteten, die Navy habe damit gezögert, Hilfe für das getroffene Schiff auszusenden, nachdem sein Verlust gemeldet worden war. Der offizielle Bericht vertuschte ganz eindeutig jegliches Fehlverhalten der Navy und wischte alle Gerüchte beiseite, das Schiff könnte durch etwas anderes gesunken sein als eine Treibmine.
Kitcheners Korrespondenz erwies sich als nur unwesentlich aufschlussreicher. Sie hatte seine Briefe schon vorher gelesen und sie als ziemlich nichtssagend empfunden. Kitchener hatte im Jahr 1916 den Posten des Kriegsministers innegehabt, und seine offiziellen Schreiben betrafen vorwiegend die Personal- und Rekrutierungsprobleme der englischen Armee. In einem Brief beklagte er sich zum Beispiel beim Premierminister darüber, dass Männer aus der Armee abgezogen wurden, um als Arbeiter in Munitionsfabriken an der Heimatfront eingesetzt zu werden.
Julie überflog die Seiten bis kurz vor dem fünften Juni, dem Tag seines Todes auf der Hampshire. Die Entdeckung, dass die Hampshire durch eine interne Explosion versenkt worden war, brachte sie dazu, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass jemand tatsächlich seinen Tod gewünscht haben konnte. Diese Überlegung führte sie zu einem ungewöhnlichen Brief, den sie schon Monate zuvor gesehen hatte. Indem sie die Aktenmappe durchsuchte, fand sie schließlich den Brief und starrte ihn verblüfft an.
Im Gegensatz zu der vergilbten militärischen Korrespondenz war dieser Brief immer noch schneeweiß und auf schwerem Büttenpapier geschrieben. Oben auf der Seite war der Schriftzug Lambeth Palace eingeprägt. Aufmerksam las Julie den Brief.
Sir,
im Namen Gottes und der Nation beschwöre ich Sie zum letzten Mal, das Dokument herauszugeben. Die Unantastbarkeit unserer Kirche hängt davon ab. Denn während Sie einen vorübergehenden Krieg gegen die Feinde Englands führen, befinden wir uns in einem ewigen Kreuzzug zur Rettung der Menschheit. Unsere Gegner sind niederträchtig und raffiniert. Sollten sie in den Besitz des Manifestes gelangen, könnte dies den Untergang unseres Glaubens bedeuten. Ich empfehle Ihnen mit Nachdruck, der Bitte der Kirche nachzugeben. In Erwartung Ihrer baldigen Antwort,
— Randall Davidson
Julie erkannte in dem Autor den Erzbischof von Canterbury. Am Rand entdeckte sie eine handschriftliche Notiz, die »Niemals!« lautete. Die Handschrift erkannte sie als diejenige Lord Kitcheners.
Der Brief verblüffte sie in mehreren Punkten. Sie wusste, dass Kitchener ein religiöser Mensch und regelmäßiger Kirchgänger gewesen war. Ihre bisherigen Recherchen hatten keinerlei Konflikte mit der Kirche von England zu Tage gefördert, geschweige denn mit dem Oberhaupt der Kirche, dem Erzbischof von Canterbury. Und dann war da dieser Hinweis auf das Dokument oder Manifest. Was konnte das bedeuten?
Obwohl der Brief in keinem Bezug zur Hampshire stand, war er doch verblüffend genug, um ihr Interesse zu wecken. Sie fertigte erst eine Fotokopie des Briefes an, und dann ging sie den restlichen Inhalt der Aktenmappe durch. Am Ende des Stapels Schriftstücke fand sie mehrere Dokumente, die sich auf Lord Kitcheners Reise nach Russland bezogen, darunter waren auch eine offizielle Einladung des Russischen Konsulats und ein Reiseplan für die Dauer seines Aufenthalts in Sankt Petersburg. Sie fotokopierte auch diese Schreiben und brachte die Mappe dann zu Beatrice zurück.
»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?«, erkundigte sich die Bibliothekarin.
»Nein, nur hier und da einen kleinen Hinweis.«
»Ich habe festgestellt, dass man sich, um historische Schätze zu heben, angewöhnen muss, jeden Stein auf seinem Weg umzudrehen. Irgendwann gelangt man ans Ziel.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Beatrice.«
Während sie das Museum verließ und zu ihrem Wagen ging, las Julie noch mehrmals den Brief und betrachtete schließlich eingehend die Unterschrift des Erzbischofs.
»Beatrice hat recht«, murmelte sie schließlich halblaut. »Ich muss noch viel mehr Steine umdrehen.«
Sie brauchte nicht weit zu gehen. Kaum eine halbe Meile weiter erhob sich der denkmalgeschützte Lambeth Palace. Er bestand aus einer Ansammlung alter Klinkerbauten am Ufer der Themse und diente traditionsgemäß als Londoner Residenz des Erzbischofs von Canterbury. Von besonderem Interesse war für Julie die Bibliothek des Lambeth Palace.
Sie wusste, dass das Bauwerk nicht für die Öffentlichkeit zugänglich war, daher parkte sie in einer Seitenstraße und ging zu Fuß zum Haupttor. Nachdem sie sich an der Sicherheitskontrolle ausgewiesen hatte, durfte sie bis zur Great Hall weitergehen, einem in gotischem Stil gehaltenen Bau aus rotem Klinker mit weißen Zierleisten. In diesem Gebäude befand sich eine der ältesten Bibliotheken Englands sowie der hauptsächliche Aufbewahrungsort der Archive der Kirche von England, die bis ins neunte Jahrhundert zurückreichten.
Sie trat zum Eingang und klingelte. Danach wurde sie von einem Jungen im Teenageralter in einen kleinen, aber modernen Lesesaal geführt. Am Aufsichtspult füllte sie Anforderungsscheine für zwei Dokumente aus und reichte sie einer jungen Frau mit kurzen roten Haaren.
»Die Papiere von Erzbischof Randall Davidson aus der Zeit von Januar bis Juli 1916«, las die junge Frau voller Interesse, »und alles, was mit First Earl Horatio Herbert Kitchener zu tun hat.«
»Mir ist klar, dass die letzte Bitte ein wenig seltsam, ist, aber ich möchte wenigstens mit einer Anfrage mein Glück versuchen«, sagte Julia.
»Wir können mit Hilfe des Computers die Datenbank des Archivs durchsuchen«, erwiderte die junge Frau wenig begeistert. »Und weshalb diese Anfrage?«
»Ich recherchiere für eine Biografie Lord Kitcheners«, erwiderte Julie.
»Darf ich bitte Ihren Leserausweis sehen?«
Julia suchte in ihrer Handtasche und reichte einen Bibliotheksausweis über den Tisch, da sie das Lambeth Palace Archiv schon mehrmals aufgesucht hatte. Die junge Frau notierte ihren Namen und ihre Adresse, dann warf sie einen Blick auf die Uhr an der Wand.
»Ich fürchte, wir können diese Dokumente vor Ende der Öffnungszeit nicht mehr heraussuchen. Die Daten sollten ihnen jedoch zur Verfügung stehen, sobald die Bibliothek am Montag früh wieder geöffnet ist.«
Julie sah die junge Frau enttäuscht an, da sie wusste, dass die Bibliothek erst in einer Stunde schließen würde.
»Na schön. Dann komme ich am Montag zurück. Vielen Dank.«
Die rothaarige junge Frau hielt die Anforderungskarten für die Dokumente in der Hand, bis Julie das Gebäude verlassen hatte. Dann rief sie den jungen Mann zu sich.
»Douglas, würdest du mich mal für einen Moment hier vertreten?«, fragte sie in drängendem Ton. »Ich muss ein ganz wichtiges Telefongespräch führen.«
22
Sein richtiger Name lautete Oscar Gutzman, aber jeder nannte ihn nur Fetter Mann. Der Ursprung des Spitznamens war auf den ersten Blick offensichtlich. Mit über dreihundert Pfund Gewicht und eins fünfzig Körpergröße schien er fast genauso breit wie hoch zu sein. Mit seinem kahl rasierten Schädel und den ungewöhnlich großen Ohren hätte er die Attraktion einer Freak-Show sein können. Aber trotz seiner grotesken äußeren Erscheinung war Gutzman einer der reichsten Männer in Israel.
Als Gassenjunge in den Straßen von Jerusalem aufgewachsen, hatte er zusammen mit arabischen Waisenkindern Münzen aus den Gräbern an den Berghängen gegraben oder sich seine Mahlzeiten in den christlichen Suppenküchen erbettelt. Seine Vertrautheit mit Jerusalems verschiedenen Religionen, in Verbindung mit der Überlebensfähigkeit eines streunenden Straßenköters, waren ihm später als Geschäftsmann von großem Nutzen. Indem er eine winzige Baufirma zum größten Hotelkonzern des Nahen Ostens ausbaute, wurde er ein Seifmade-Millionär, der mit den Machthabern der gesamten Region einen freundschaftlichen Umgang pflegte. Sein Streben nach Reichtum und Erfolg wurde nur noch von seiner Leidenschaft für Antiquitäten übertroffen.
Es war der sehr frühe Tod seiner jüngeren Schwester bei einem Verkehrsunfall vor einer Synagoge, der sein Leben verändert hatte. Wie andere, die von einem persönlichen Schicksalsschlag getroffen werden, begann er Gott zu suchen. Nur erstreckte sich seine Suche weniger auf das Spirituelle, sondern mehr auf das Greifbare, da er danach strebte, die Wahrheit der Bibel durch physische Beweise zu untermauern. Eine kleine Sammlung von Antiquitäten aus der Zeit der Bibel war mit seinem Reichtum exponentiell gewachsen und hatte das Hobby eines jungen Mannes in eine lebenslange Passion verwandelt. Seine Artefakte, mittlerweile hunderttausende, waren in den Lagerhäusern dreier Länder untergebracht. Nun — mit über sechzig Jahren - widmete Gutzman seine gesamte Zeit und sowohl die finanziellen als auch alle sonstigen Mittel seiner persönlichen Mission.
Ridley Bannister betrat ein vornehmes Boutique-Hotel, das auf einem besonders eleganten Abschnitt der Uferpromenade von Tel Aviv stand. Die Lobby war minimalistisch modern dekoriert, mit einer Reihe ungemütlich aussehender schwarzer Ledersessel auf einem schneeweiß gefliesten Fußboden. Bannister betrachtete das Arrangement als perfekt und ausgewogen, wenngleich er diesen Stil normalerweise verabscheute. Eine matronenhafte Hotelangestellte begrüßte ihn liebenswürdig, als er ans Empfangspult trat.
»Ich bin mit Mr. Gutzman verabredet. Mein Name ist Bannister«, sagte er.
Nach einem kurzen Telefongespräch, um die Richtigkeit von Bannisters Angaben zu bestätigen, wurde er von einem stämmigen Wachmann zu einem privaten Lift geleitet und in die oberste Etage gebracht. Als er aus dem Fahrstuhl trat, wurde sofort die Tür zum Penthouse aufgerissen, und der Fette Mann kam heraus, eine dicke Zigarre im Mund.
»Ridley, kommen Sie rein, mein Junge, kommen Sie«, begrüßte ihn Gutzman mit pfeifender Stimme.
»Sie sehen gut aus, Oscar«, entgegnete Bannister und schüttelte seinem Gastgeber die Hand, bevor er seine Wohnung betrat.
Bannister staunte immer wieder über Gutzmans Apartment, das eher an ein Museum erinnerte als an eine Wohnung. Regale und Vitrinen standen überall herum, beladen mit Tongefäßen und -figuren, Schnitzereien, Schrifttafeln und anderen antiken Fundstücken. Jedes Teil war sicherlich einige tausend Jahre alt. Gutzman führte ihn durch einen Korridor, dessen Wände mit alten römischen Mosaiken bedeckt waren, die aus einem öffentlichen Badehaus in Karthago stammten. Sie gingen unter einem Steinbogen aus den Ruinen von Jericho hindurch und gelangten in einen luxuriösen Wohnraum mit Blick auf den schimmernden Sand des Gordon Beach und das funkelnde Mittelmeer dahinter.
Als er sich in einen Polstersessel sinken ließ, stellte Bannister zu seiner Überraschung fest, dass die Wohnung bis auf eine Hausangestellte leer war. Bei seinen früheren Besuchen hatte er stets eine ganze Schar Antiquitätenhändler angetroffen, die sich gegenseitig die Tür in die Hand gegeben hatten, immer in der Hoffnung, dem reichen Sammler ihre jüngsten teuren Fundstücke verkaufen zu können.
»Diese Hitze... ich finde sie immer bedrückender«, sagte Gutzman und schnappte nach dem kurzen Weg von der Wohnungstür in den Wohnraum bereits gierig nach Luft. Dann sank er ebenfalls in einen Sessel.
»Marta, bitte etwas Kaltes zu trinken«, rief er seiner Hausangestellten zu.
Bannister holte den Anhänger aus der Tasche und drückte ihn Gutzman in die Hand.
»Ein Geschenk für Sie, Oscar. Es kommt aus Tel Arad.«
Gutzman studierte den Anhänger, und ein breites Lächeln trat auf sein Gesicht.
»Das ist sehr hübsch, Ridley, ich danke Ihnen. Ich habe ein ähnliches Exemplar aus Nahal Besor. Frühkanaanäisch, würde ich sagen.«
»Sie liegen richtig, wie immer. Ist der neu?«, fragte Bannister und deutete auf einen kleinen Glasteller mit modelliertem Rand auf dem Kaffeetisch.
»Ja«, sagte Gutzman, während seine Augen glänzten. »Ich habe ihn gerade erst erworben. Ausgegraben in Beth She'an. Glasgeschirr aus dem zweiten Jahrhundert. Wahrscheinlich in Alexandrien hergestellt. Sehen Sie sich mal die Politur an.«
Bannister nahm den Teller hoch und untersuchte ihn gründlich.
»Er ist in einem hervorragenden Zustand«, lobte er.
Marta, die Hausangestellte, erschien, brachte zwei Gläser Limonade und verschwand wieder in der Küche.
»Nun, Ridley, wie lauten denn die neuesten Nachrichten aus der Welt der legalen Archäologie?«, fragte Gutzman und kicherte verhalten.
»Es gibt einige neue Projekte, die nächstes Jahr in Angriff genommen werden sollen. Das Israelische Museum sponsert Ausgrabungen an der Küste von Galiläa, auf der Suche nach einer frühen Siedlung, während die Universität Tel Aviv die Genehmigung für neue Forschungen in Megiddo erhalten hat. Offenbar geht es bei den meisten akademischen Unternehmungen darum, bereits begonnene Projekte fortzusetzen. Es gibt natürlich auch noch eine Reihe von ausländischen theologisch geförderten Ausgrabungen, aber die führen, wie wir wissen, nur selten zu bedeutenden Ergebnissen.«
»Richtig, aber wenigstens beweisen sie mehr Phantasie als die akademischen Institute«, sagte Gutzman spöttisch.
»Ich habe mir zwei Orte angesehen, von denen ich glaube, dass Sie sich dafür interessieren könnten. Der eine ist Beit Jala. Falls Bathsebas Grab existiert, dann, so denke ich, müsste es dort zu finden sein, in ihrer Geburtsstadt, die damals den Namen Giloh trug. Ich habe bereits eine Ortsbeschreibung und einen Ausgrabungsplan angefertigt.«
Gutzman forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, doch fortzufahren.
»Die zweite Ausgrabungsstätte befindet sich in der Nähe von Gibeon. Es besteht die minimale Chance zu beweisen, dass König Manassehs Palast dort gestanden hat. Es sind noch einige Recherchen notwendig, aber dieses Projekt sieht ganz vielversprechend aus. Ich kann - wie zuvor schon — die nötigen Papiere für die Schirmherrschaft der anglikanischen Kirche beschaffen, wenn Sie Ihre Unterstützung zusagen.«
»Ridley, Sie haben mich immer mit aufregenden Funden überrascht, und es hat mir oftmals große Freude gemacht, Sie bei Ihren Ausgrabungen zu unterstützen. Aber ich fürchte, dass meine Tage als Sponsor solcher Projekte allmählich zu Ende sind.«
»Sie waren immer ausgesprochen großzügig, Oscar«, erwiderte Bannister und unterdrückte seinen Zorn über den offensichtlichen Verlust eines lebenslangen Wohltäters.
Gutzman blickte aus dem Fenster, einen Ausdruck von Ferne in den Augen.
»Ich habe den größten Teil meines Privatvermögens darauf verwendet, Artefakte zu erwerben, die die Richtigkeit der biblischen Texte beweisen«, sagte er. »Ich besitze Lehmziegel, die angeblich aus dem Turm von Babel stammen. Ich verfüge über die Fragmente von Fundamenten, die möglicherweise den Tempel Salomons getragen haben. Ich besitze eine Million Objekte aus biblischer Zeit. Trotzdem gibt es bei jedem dieser Stücke immer noch einen Hauch von Zweifel.«
Plötzlich bekam er einen Erstickungsanfall, atmete pfeifend, hustete und schnappte mühsam nach Luft, bis er sich wieder erholte und von seiner Limonade trank.
»Oscar, brauchen Sie Hilfe?«, fragte Bannister.
Der Fette Mann schüttelte den Kopf. »Mein Emphysem ist in letzter Zeit schlimmer geworden«, keuchte er. »Die Ärzte haben nicht viel Hoffnung.«
»Unsinn«, machte ihm Bannister Mut. »Sie sind doch stark wie David.«
Gutzman lächelte, dann erhob er sich langsam. Dieser Akt schien ihn mit frischer Kraft zu erfüllen, und er ging mit festen Schritten zu einem Schrank und kehrte mit einer kleinen Glasscheibe zurück.
»Sehen Sie sich das einmal an«, sagte er und reichte die Glasscheibe dem Archäologen.
Bannister nahm das Glas und stellte fest, dass es eigentlich zwei Glasscheiben waren, zusammengeklebt und mit einem Dokument in der Mitte. Indem er die Doppelscheibe ans Licht hielt, konnte er erkennen, dass es sich bei dem rechteckigen Stück zwischen den Glasscheiben um Papyrus handelte, der mit einer deutlichen, horizontalen Schrift bedeckt war.
»Eine sehr schöne koptische Handschrift«, stellte er fest.
»Wissen Sie, was da steht?«
»Ich kann ein paar Worte verstehen, aber ohne mein Referenzmaterial bin ich ein wenig aufgeschmissen«, gab er zu.
»Es ist der Bericht des Hafenmeisters von Caesarea. Er beschreibt darin die Gefangennahme eines Piratenschiffes durch eine römische Galeere. Die Piraten hatten demnach Waffen eines römischen Centurios, der zur Scholae Palatinae gehörte, in ihrem Besitz.«
»Caesarea«, sagte Bannister und runzelte die Stirn. »Wenn mich nicht alles täuscht, wurden dort bei dem erst kürzlich verübten Diebstahl auch einige Papyrusrollen entwendet. Und es ist mindestens ein Mord begangen worden.«
»Ja, sehr unglücklich das Ganze. Das Dokument verweist ziemlich eindeutig auf den Anfang des vierten Jahrhunderts«, überging Gutzman den Einwurf.
»Interessant«, meinte Bannister und fühlte sich in der Nähe seines Gastgebers plötzlich ziemlich unbehaglich. »Und die Bedeutung?«
»Ich denke, die Handschrift liefert einen potentiellen Beweis für die Existenz des Manifests sowie einen wichtigen Hinweis auf die Art der Ladung.«
Das Manifest. Darum ging es also, dachte Bannister. Der alte Knacker sah praktisch schon dem Tod ins Auge und wollte doch um jeden Preis noch schnell die Existenz Gottes beweisen, bevor seine Zeit zu Ende ging.
Bannister musste innerlich grinsen. Er hatte mit der Jagd nach dem legendären Manifest eine Menge Geld von Gutzman und der Kirche von England eingesackt. Vielleicht ließ sich ja noch mehr herausholen.
»Oscar, Sie wissen, dass ich hier und in England ausgiebig gesucht und nichts gefunden habe.«
»Es muss noch einen anderen Weg geben«, murmelte der alte Sammler.
»Wir sind beide zu dem Schluss gekommen, dass es wahrscheinlich gar nicht mehr existiert, falls überhaupt jemals.«
»Das war vor diesem Fund«, sagte Gutzman und tippte auf die Glasscheibe. »Ich bin schon viel zu lange in dieses Spiel verstrickt. Ich kann die Verbindung geradezu riechen. Es ist ganz real, und ich weiß es. Ich habe mich und meinen gesamten Besitz diesem einen Ziel verschrieben — und nichts anderem.«
»Es ist ein überzeugender Hinweis«, sagte Bannister diplomatisch.
»Das wird«, sagte der Fette Mann mit müder Stimme, »die Erfüllung meine Lebenstraums werden. Ich hoffe, Sie helfen mir, dieses Ziel zu erreichen, Ridley.«
»Sie können sich auf mich verlassen«, versprach Bannister.
Marta erschien wieder und erinnerte Gutzman diesmal an einen Arzttermin. Bannister verabschiedete sich und verließ das Apartment. Während er das Hotel hinter sich ließ, dachte er über die Papyrusrolle nach und überlegte, ob Gutzmans Vermutungen möglicherweise zutreffen konnten. Der alte Sammler kannte sich in seinem Metier aus, das musste man ihm lassen. Weitaus mehr Sorge bereitete es Bannister, eine Möglichkeit zu finden, von den neuen Bemühungen des alten Mannes auch zu profitieren. In Gedanken versunken übersah Bannister einen jungen Mann in einem blauen Overall, der neben seinem Wagen wartete.
»Mr. Bannister?«, fragte der junge Mann.
»Ja.«
»Ein Kurierbrief für Sie, Sir«, sagte er und reichte Bannister einen länglichen, dünnen Briefumschlag.
Bannister stieg in seinen Wagen und verriegelte die Türen, ehe er den Brief öffnete. Er schüttelte den Inhalt aus dem Umschlag und verfolgte mit großen Augen wie ein Erster-Klasse-Flugticket nach London in seinen Schoß fiel.
»Summer, hier drüben!«
Nachdem sie mit einer Reisetasche über der Schulter aus dem Zug aus Great Yarmouth gestiegen war, musste Summer einen Moment lang den dicht bevölkerten Bahnsteig absuchen, ehe sie auf einer Seite Julie entdeckte, die ihr heftig zuwinkte.
»Danke, dass Sie mich abholen«, sagte sie und begrüßte die Historikerin mit einer Umarmung. »Ich weiß nicht, ob ich alleine hier rausfinden würde«, fügte sie hinzu und betrachtete staunend den riesigen überdachten Bahnhof der Liverpool Street Station im Nordosten Londons.
»Dabei ist es im Grunde völlig simpel«, erwiderte Julie lächelnd. »Sie folgen einfach den anderen Ratten aus dem Labyrinth.«
Sie führte Summer an mehreren Bahnsteigen vorbei und durch eine betriebsame Bahnhofshalle zu einem nahe gelegenen Parkplatz. Dort stiegen sie in einen kleinen grünen Ford, der an ein überdimensionales Insekt erinnerte.
»Wie war die Reise runter nach Yarmouth?«, fragte Julie, während sie den Wagen durch den Londoner Verkehr lenkte.
»Miserabel«, antwortete Summer mit einer Grimasse. »Nachdem wir Scapa Flow verlassen hatten, sind wir in eine nördliche Unwetterfront geraten und hatten während unserer gesamten Fahrt durch die Nordsee mit orkanartigem Wind zu kämpfen. Ich bin noch immer ein wenig wackelig auf den Beinen.«
»Ich glaube, ich sollte meinem Schicksal danken, dass ich von Schottland aus fliegen konnte.«
»Was gibt es denn Neues über die Hampshire und ihren Untergang?«, fragte Summer. »Haben Sie inzwischen irgendeine Verbindung mit Lord Kitchener gefunden?«
»Nur ein paar Andeutungen, nichts Konkretes, fürchte ich. Ich habe mir die offizielle Beurteilung des Untergangs der Hampshire durch die Admiralität angesehen, aber die war nur ein banales Weißbuch, das die Vernichtung einer deutschen Mine zuschrieb. Ich hab mir auch die Behauptung näher angesehen, die IRA habe eine Bombe in dem Schiff deponiert, aber dafür gibt es absolut keinen schlüssigen Beweis.«
»Irgendeine Möglichkeit, dass die Deutschen eine Bombe gelegt haben könnten?«
»Nein, in den deutschen Archiven gibt es dafür ebenfalls nicht den geringsten Hinweis, daher ist auch das völlig unwahrscheinlich. Sie sind überzeugt, dass eine Mine von U 75 für den Untergang verantwortlich war. Unglücklicherweise hat der U-Boot-Kapitän, Kurt Beitzen, den Krieg nicht überlebt, deshalb haben wir keinen offiziellen deutschen Bericht über das Ereignis.«
»Also zwei Sackgassen. Was hat es denn mit diesen Andeutungen auf sich?«, fragte Summer.
»Also, ich habe mir einige meiner Dokumente über Kitchener noch einmal angesehen und mir seine Schreiben aus dem Krieg vorgenommen. Zwei ungewöhnliche Dokumente sind mir dabei ins Auge gesprungen. Im Spätfrühling 1916 bat er die Armeeführung aus nicht näher erläuterten Gründen um die Bereitstellung von zwei Leibwächtern. In dieser Zeit waren Leibwächter eine absolute Seltenheit und allenfalls für den König bestimmt. Das andere Dokument war ein seltsamer Brief, den ich in seiner militärischen Korrespondenz gefunden habe.«
Als sie vor einer Verkehrsampel anhalten mussten, griff sie nach hinten in einen Aktenordner und reichte Summer eine Kopie des Briefs von Erzbischof Daniel.
»Wie ich schon sagte, es sind zwei Dokumente, die wahrscheinlich keine besondere Bedeutung haben.«
Summer überflog den Brief und nahm seinen Inhalt stirnrunzelnd zur Kenntnis.
»Dieses Manifest, das er hier erwähnt... ist das irgendein kirchliches Dokument?«, fragte sie.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Julie. »Deshalb ist das Archiv der Kirche von England im Lambeth Palace unsere erste Station. Ich habe mir die persönlichen Unterlagen des Erzbischofs heraussuchen lassen - in der Hoffnung, dass wir dort etwas finden, das uns weiterbringt.«
Sie überquerten die Themse auf der London Bridge und gelangten so nach Lambeth, wo Julie den Ford vor dem Palast parkte. Summer war von der Schönheit des alten Gebäudes direkt am Wasser, von wo aus man den Buckingham Palast auf der anderen Seite des Flusses sehen konnte, sofort gefesselt. Sie gingen zur Grand Hall und wurden in den Lesesaal der Bibliothek geführt. Summer bemerkte einen schlanken, attraktiven Mann, der an einem Fotokopierer stand und sie freundlich anlächelte, als sie eintraten.
Die Archivarin hatte bereits einen dicken Stapel Aktenordner bereitgelegt, als Julie zu ihrem Tisch kam.
»Dies sind die schriftlichen Zeugnisse des Erzbischofs. Ich furchte allerdings, wir haben nichts im Archiv, das sich auf Lord Kitchener bezieht«, meinte die junge Frau.
»Das ist schon in Ordnung«, erwiderte Julie. »Vielen Dank für Ihre Suche.«
Die beiden Frauen gingen zu einem freien Tisch, teilten den Stapel zwischen sich auf und begannen dann, die Dokumente zu inspizieren.
»Der Erzbischof war offenbar ein fleißiger Schreiber«, stellte Summer beeindruckt fest.
»Offensichtlich. Dies ist seine Korrespondenz nur für das erste Halbjahr von 1916.«
Während sie ihren Stapel in Angriff nahm, bemerkte Summer, wie der Mann am Fotokopierer ein paar Bücher zusammenraffte und damit an einem Tisch direkt hinter ihnen Platz nahm. Ihre Nase nahm einen Hauch von Eau de Cologne wahr, moschusartig, aber angenehm, der von dem Mann zu ihr herüberwehte. Ein schneller Blick über die Schulter verriet ihr, dass er an der rechten Hand einen altmodischen ovalen Ring aus Gold trug.
Sie blätterte die Briefe durch, die im Wesentlichen Mitteilungen über Finanz- und Organisationsfragen für die subalternen Bischöfe in England sowie deren Antworten enthielten. Nach einer Stunde hatten die Frauen jeden ihrer Dokumentenstapel zur Hälfte durchgearbeitet.
»Hier ist ein Brief von Kitchener«, verkündete Julie plötzlich.
Summer blickte gespannt über den Tisch. »Und was steht drin?«
»Offenbar ist es eine Antwort auf den Brief des Erzbischofs, da er dem Datum zufolge nur ein paar Tage später geschrieben wurde. Er ist ganz kurz. Ich lese mal vor.«
Euer Exzellenz,
ich bedauere, Ihrer kürzlich geäußerten Bitte nicht nachkommen zu können. Das Manifest ist ein Dokument von enormer historischer Bedeutung. Es verlangt danach, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden, wenn auf der Welt wieder Frieden herrscht. Sollte es in Ihre Hände gelangen, befürchte ich, dass die Kirche seine Veröffentlichung verhindert, um ihre festgefügten theologischen Positionen zu schützen.
Ich bitte Sie, Ihre Untergebenen, die mich unablässig verfolgen, zurückzurufen.
Ihr gehorsamer Diener,
H. H. Kitchener
»Was könnte das für ein Manifest sein?«, fragte Summer.
»Keine Ahnung«, antwortete Julie. »Aber Kitchener hatte ganz eindeutig eine Kopie davon in seinem Besitz und hielt es für wichtig.«
»Die Kirche offenbar ebenfalls.«
Summer hörte, wie sich der Mann hinter ihr räusperte und über den Tisch lehnte.
»Entschuldigen Sie, dass ich gelauscht habe, aber sagten Sie gerade >Kitchener?<, fragte er mit einem entwaffnenden Lächeln.
»Ja«, erwiderte Summer. »Meine Freundin Julie arbeitet an einer Biografie des Feldmarschalls.«
»Mein Name ist Baker«, log Ridley Bannister und erreichte auf diese Art und Weise, dass auch seine neuen Bekannten sich vorstellten. »Darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie im Imperial War Museum möglicherweise bessere Quellen für historische Dokumente über Lord Kitchener finden können?«
»Nett, dass Sie mich darauf aufmerksam machen, Mr. Baker«, sagte Julie, »aber ich habe das Material dort bereits gründlich geprüft.«
»Und das hat Sie hierher geführt?«, wunderte er sich. »Ich würde nicht erwarten, dass sich der Einfluss eines Kriegshelden auch auf die Kirche von England erstreckt.«
»Ich interessiere mich nur für eine kurze Korrespondenz mit dem Erzbischof von Canterbury«, erklärte sie.
»Dann ist dies hier ja genau der richtige Ort«, sagte Bannister lächelnd.
»Und in welcher Angelegenheit recherchieren Sie?«, wollte Summer von ihm wissen.
»Es ist eigentlich nur ein Hobby. Ich interessiere mich für die Standorte alter Abteikirchen, die zerstört wurden, als Heinrich VIII. die Klöster auflösen ließ.« Er hielt ein altes Buch mit dem Titel Das alte England und seine Kirchen hoch, dann wandte er sich wieder an Julie.
»Haben Sie irgendwelche neuen Geheimnisse über Kitchener zu Tage gefördert?«
»Diese Ehre gebührt Summer. Sie hat mitgeholfen zu beweisen, dass das Schiff, mit dem er unterging, möglicherweise eine Bombe an Bord hatte.«
»Die Hampshire?«, fragte er. »Ich dachte, es wäre längst bewiesen, dass sie von einer deutschen Seemine versenkt wurde.«
»Das Explosionsloch deutet eher darauf hin, dass die Sprengung innerhalb das Schiffes stattfand«, erwiderte Summer.
»Vielleicht treffen dann die alten Gerüchte, die IRA habe eine Bombe deponiert, am Ende doch zu«, sagte er.
»Sie kennen die Geschichte?«, fragte Julie.
»Ja«, antwortete Bannister. »Die Hampshire wurde Anfang 1916 zur Generalüberholung nach Belfast geschickt. Einige nehmen an, bei dieser Gelegenheit sei eine Bombe im Schiff versteckt und Monate später gezündet worden.«
»Sie wissen offenbar eine Menge über die Hampshire«, stellte Summer fest.
»Ich interessiere mich brennend für alles, was den Ersten Weltkrieg betrifft«, sagte Bannister mit einem leisen Lachen. »Und wo setzen Sie Ihre Recherchen fort?«
»Wir fahren nach Kent, um noch einmal in Kitcheners persönlichen Papieren auf Broome Park zu stöbern«, sagte Julie.
»Haben Sie sein letztes Tagebuch gesehen?«, fragte Bannister.
»Wie sollte ich?«, sagte Julie überrascht. »Es gilt doch als verschollen.«
Bannister schaute auf seine Armbanduhr. »Du liebe Güte, wie die Zeit vergeht. Ich fürchte, ich muss mich jetzt beeilen. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Ladys«, sagte er, erhob sich und deutete eine Verbeugung an. »Möge Ihre Suche nach historischen Erkenntnissen in vollem Umfang erfolgreich sein.«
Er gab der Bibliothekarin seine Bücher zurück, dann winkte er den beiden Frauen zum Abschied noch einmal zu und verließ den Lesesaal.
»Ein wirklich reizender Bursche«, schwärmte Julie.
»Ja«, meinte Summer. »Er wusste wirklich bestens Bescheid über Kitchener und die Hampshire«, fügte sie etwas skeptischer hinzu.
»Das stimmt. Ich glaube nicht, dass es sehr viele Leute gibt, die wissen, dass Kitcheners letztes Tagebuch verschwunden ist.«
»Könnte es nicht mit ihm und dem Schiff untergegangen sein?«
»Das weiß niemand. Üblicherweise benutzte er für seine Aufzeichnungen kleine gebundene Notizbücher, die jeweils die Eintragungen eines Jahres enthielten. Seine Notizen von 1916 wurden nie gefunden, daher wird allgemein angenommen, dass er sie auf der Hampshire bei sich hatte.«
»Was halten Sie von Mr. Bakers Andeutung, dass die IRA die Hampshire gesprengt haben könnte?«
»Das ist eine der phantastischen Theorien, die nach dem Untergang laut wurden und für deren Richtigkeit ich keinerlei Bestätigung gefunden habe. Schwer zu glauben, dass die Hampshire für über ein halbes Jahr eine Bombe an Bord gehabt haben soll. Die IRA, oder die Irish Volunteers, wie sie zu dieser Zeit genannt wurden, konnten unmöglich so weit im Voraus gewusst haben, dass Kitchener einen Fuß auf das Schiff setzen würde. Sie entwickelten sich außerdem erst anlässlich des Osteraufstands im April 1916 zu einer militanten Gruppierung, also lange nachdem die Hampshire Belfast verlassen hatte. Noch aufschlussreicher ist die Tatsache, dass sie die Urheberschaft für den Untergang niemals öffentlich übernommen haben.«
»Dann sollten wir weitersuchen«, sagte Summer und schlug einen neuen Ordner mit den Papieren des Erzbischofs auf.
Sie arbeiteten noch eine weitere Stunde, ehe die Stapel deutlich kleiner wurden. Kurz vor dem Ende des letzten Ordners richtete sich Summer plötzlich auf, als sie den kurzen Brief eines Bischofs aus Portsmouth las. Sie überflog ihn ein zweites Mal, ehe sie ihn Julie reichte.
»Sehen Sie sich das mal an«, sagte sie.
»>Das Paket wurde abgeliefert und der Bote weggeschickt<«, sagte Julie und las laut weiter. »>Das zur Diskussion stehende Objekt wird in 72 Stunden nicht mehr von Bedeutung sein.< Unterschrieben mit Bischof Lowery, Diözese Portsmouth.«
Julie ließ den Brief sinken und sah Summer ratlos an. »Ich fürchte, ich erkenne nicht, was daran von Bedeutung sein soll«, gestand sie.
»Dann schauen Sie mal auf das Datum.«
Julie warf einen Blick auf den Briefkopf. »2. Juni 1916. Drei Tage, bevor die Hampshire sank«, murmelte sie überrascht.
»Ich denke«, sagte Summer ruhig, »allmählich wird die Sache interessant.«
23
Nach Verlassen der Bibliothek überquerte Ridley Bannister das Gelände des Lambeth Palace und ging zu einem kleinen Klinkerbau neben dem Hauptgebäude. Er betrat das Haus durch eine unauffällige Tür und gelangte in ein enges Büro, in dem eine Handvoll Männer in den Uniformen des Wachdienstes Videomonitore beobachteten oder an Computern arbeiteten. Den fragenden Blick eines Mannes in der Nähe der Tür ignorierend ging Bannister weiter zu einem separaten Büro am Ende des Raums und trat durch seine offene Tür ein.
Ein Mann mit Falkenaugen und fettigen Haaren saß an einem Schreibtisch und verfolgte auf seinem Computer-Monitor eine Videoübertragung. Bannister konnte die Gestalten Julies und Summers an einem Tisch im Lesesaal sehen. Der Mann blickte auf und musterte Bannister verärgert.
»Da sind Sie ja endlich, Bannister. Sie sollten sich doch bei mir melden, bevor die Ladys herkamen. Jetzt haben Sie Ihre Tarnung aufliegen lassen.«
Bannister ließ sich auf einen Holzstuhl vor dem Schreibtisch fallen. »Tut mir leid, alter Junge, man hat heute Morgen im Savoy vergessen, mich zu wecken. Ich möchte Ihnen trotzdem für die Flugtickets danken. Schön, dass Sie diesmal daran gedacht haben, die Erste Klasse zu buchen.«
Wütend biss der Sicherheitschef des Erzbischofs von Canterbury die Zähne zusammen.
»Haben Sie die Aktenordner bereinigt, ehe sie ihnen übergeben wurden?«, fragte er und deutete auf den Computerbildschirm.
»Ich habe die Ordner schon vorher durchsucht, Judkins«, sagte Bannister und schnippte ein Staubkörnchen von seinem Jackett. »Es ist nichts Belastendes darin.«
Judkins' Gesicht lief rot an. »Sie hatten den Befehl, die Ordner durchzusehen und zu säubern«, sagte er.
»Befehl? Befehl, sagten Sie?«, erwiderte Bannister mit einem unergründlichen Grinsen. »Bin ich etwa ohne mein Wissen in die Privatarmee des Erzbischofs aufgenommen worden?«
Von dem Zeitpunkt an, als die Männer zum ersten Mal zusammengetroffen waren, hatten sie sich nicht gemocht, und diese Abneigung hatte sich im Laufe der Zeit eher noch verstärkt. Aber Judkins war Bannister als Kontaktmann zugewiesen worden, und es gab nur wenig, was die Männer dagegen hätten tun können. Der Archäologe Bannister reizte Judkins so weit es ging, ohne seine vertraglichen Vereinbarungen mit der Kirche zu verletzen.
»Sie sind ein Angestellter des Bischofs und werden seinen Anweisungen dementsprechend Folge leisten«, erwiderte der Sicherheitschef mit brennenden Augen.
»Ich bin nichts dergleichen«, widersprach Bannister. »Ich bin ein einfacher Kämpfer für die historische Wahrheit. Während es durchaus zutreffen mag, dass der Erzbischof meine Dienste von Zeit zu Zeit in Anspruch genommen hat, bin ich in keiner Weise verpflichtet, befehle zu befolgen < oder dem geschätzten Erzbischof in irgendeiner anderen Weise entgegenzukommen.«
Judkins enthielt sich einer Erwiderung und starrte Bannister stumm an, während er darauf wartete, dass sich sein Blutdruck wieder normalisierte. Als sein Gesicht schließlich seine rote Färbung verlor, ergriff er wieder das Wort.
»Sicherlich hätte ich eine andere Wahl getroffen, aber der Erzbischof hat sich nun einmal für Sie als denjenigen entschieden, der ihn über historische Entdeckungen im Nahen Osten, die Auswirkungen auf die herrschende Kirchendoktrin haben könnten, auf dem Laufenden halten soll. Dieses angebliche Manifest und seine frühere Verbindung mit der Kirche wurde als besonders heikel und bedeutsam eingestuft. Wir, ich meine der Erzbischof, müssen wissen, weshalb sich diese Historikerin aus Cambridge für die Papiere von Erzbischof Davidson interessiert und welche Risiken sich daraus für die Kirche ergeben.«
Bannister quittierte Judkins' mühsam demonstrierte Unterwürfigkeit mit einem schmalen Grinsen.
»Julie Goodyear ist eine Historikerin aus Cambridge, die mehrere als wichtig eingestufte Biografien über führende Persönlichkeiten des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben hat. Zurzeit arbeitet sie an einer Lebensbeschreibung Lord Kitcheners. Miss Goodyear und die Amerikanerin, Summer Pitt, haben offenbar herausbekommen, dass Kitcheners Schiff, die Hampshire, durch eine interne Explosion versenkt wurde. Sie nehmen also an, dass eine Verbindung zu dem seligen Erzbischof Davidson besteht.«
Bei dieser Neuigkeit wurde Judkins leichenblass.
»Mein lieber Judkins, ist etwas nicht in Ordnung?«
»Nein«, antwortete der Sicherheitschef und schüttelte heftig den Kopf. »Was ist mit diesem Manifest?«
»Der Erzbischof weiß, dass ich bereits vor mehreren Jahren eingehend danach gesucht habe. Unter beträchtlichen Kosten, wie ich hinzufügen darf«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Ich bin ziemlich sicher, dass es vor langer Zeit mit Kitchener auf der Hampshire verschwunden ist.«
»Ja, das sieht der Erzbischof genauso. Jedoch gibt es möglicherweise noch einige damit im Zusammenhang stehende historische Ereignisse, die sich als — sagen wir mal - nachteilig für die Kirche und peinlich für den Erzbischof erweisen könnten. Ich will, dass Sie sich jetzt um die beiden Frauen kümmern.«
»Sie wollen?«, fragte Bannister und hob eine Augenbraue.
»Der Erzbischof will«, verbesserte sich Judkins verärgert. »Bleiben Sie ihnen auf den Fersen und vernichten Sie alles, was sich als problematisch entpuppen könnte.«
»Ich bin Archäologe und kein Berufskiller.«
»Sie wissen, was zu tun ist. Erledigen Sie es. Sie haben meine Nummer.«
»Ja. Und haben Sie auch meine Nummer?«, fragte Bannister und erhob sich. »Die Nummer meines Bankkontos auf den Bermudas, meine ich?«
»Ja«, knurrte Judkins ungehalten. »Und jetzt verschwinden Sie.«
Der Sicherheitschef konnte nur den Kopf schütteln, während sich Bannister würdevoll vor ihm verbeugte und aus seinem Büro hinausmarschierte, als gehöre es ihm.
25
Die helle morgendliche Mittelmeersonne heizte das Deck der Aegean Explorer bereits auf, als Rudi Gunn mit der ersten Tasse Kaffee des Tages in der Hand ins Freie trat. Er erschrak, als er in nur ein oder zwei Meilen Entfernung vom Schiff ein ihm völlig fremdes Stück türkischer Küste entdeckte. Er hörte das Surren eines Außenbordmotors in einiger Entfernung und kniff suchend die Augen zusammen, bis er das Zodiac des Schiffes auf den Wellen zum Festland hüpfen sah.
Sein noch leicht benommener Geist konzentrierte sich auf das aktuelle Forschungsprojekt, dann eilte er zum Schiffsheck. Als er an einem weißen Tauchboot vorbeikam, sah er zu seinem Missfallen das AUV in seinem ausgepolsterten Gestell liegen. Das torpedoförmige Robot-Vehikel war mit einer Anzahl Sensoren ausgerüstet, mit denen es Wasserproben sammeln konnte, während es unabhängig vom Schiff operierte. Als er sechs Stunden zuvor ins Bett gefallen war, war die Explorer dem AUV gefolgt, während es zehn Meilen vom Ufer entfernt ein großes Testfeld absuchte.
Er trank einen tiefen Schluck Kaffee, machte kehrt und ging nach vorn, dann stieg er zwei Treppen zur Kommandobrücke hinauf. Dort traf er Pitt, der soeben zusammen mit dem Kapitän des Schiffes, Bruce Kenfield, eine Karte der küstennahen Gewässer studierte.
»Guten Morgen, Rudi«, begrüßte Pitt den Besucher. »Du bist aber früh auf den Beinen.«
»Ich konnte unten in meiner Koje hören, wie die Maschinen gedrosselt wurden«, erwiderte Gunn. »Warum haben wir gestoppt?«
»Kemal hat erfahren, dass seine Frau in einen Verkehrsunfall verwickelt wurde. Es ist offensichtlich nichts Ernstes, aber wir bringen ihn auf jeden Fall an Land, damit er nach ihr schauen kann.«
Kemal war Meeresbiologe des türkischen Umweltministeriums und auf die NUMA abkommandiert worden, um bei dem Forschungsprojekt zu assistieren.
»Das ist Pech«, sagte Gunn. »Wenn das Zodiac wieder da ist, wie lange dauert es dann, zu unserem Suchfeld zurückzukehren und die Arbeit aufzunehmen?«
Pitt schüttelte lächelnd den Kopf. »Rein technisch betrachtet können wir die Arbeit nicht wieder aufnehmen, bis Kemal oder ein Ersatz an Bord ist. Aus der Einladung der türkischen Regierung geht unmissverständlich hervor, dass, solange wir in türkischen Gewässern operieren, ständig ein Vertreter des Umweltministeriums an Bord sein muss. Zurzeit sieht es so aus, als würden wir drei oder vier Tage verlieren.«
»Wir hinken unserem Zeitplan schon jetzt hinterher«, schimpfte Gunn. »Erst ist Wasser in unseren Sensor eingedrungen, und jetzt das. Wir müssen das Projekt verlängern, um sämtliche Regionen zu untersuchen, die wir zugesagt haben.«
»Dann tun wir das.«
Gunn bemerkte, dass sich Pitt nicht so wie er über die neueste Entwicklung zu ärgern schien. Das war ungewöhnlich für jemanden, von dem er wusste, dass er nur ungern Dinge halbfertig liegen ließ.
»Seit deiner Rückkehr aus Istanbul hatten wir nur zwei volle Tage auf dem neuen Suchraster«, sagte Gunn. »Und jetzt hängen wir schon wieder untätig herum, und du regst dich nicht einmal auf. Was ist los?«
»Es ist ganz einfach, Rudi«, erwiderte Pitt. »Die Arbeit an dem Algen-Projekt zu unterbrechen bedeutet, dass die Bergung des osmanischen Schiffswracks fortgesetzt werden kann«, sagte er mit einem Augenzwinkern.
Weniger als vier Stunden, nachdem das Zodiac wieder an Bord gehievt worden war, erreichte die Aegean Explorer Chios und ging etwa einhundert Meter von dem osmanischen Schiffswrack entfernt vor Anker. Nur wenig Zeit war nach Pitts und Giordinos erstem Tauchgang für die Untersuchung des Wracks aufgewendet worden, und der Meeresarchäologe des Schiffes, Rodney Zeibig, hatte kaum Gelegenheit gehabt, ein Aluminiumgitter über die freiliegenden Partien des Wracks zu decken.
Eilends unterwies Zeibig eine Handvoll taucherfahrener Wissenschaftler in der Kunst der Unterwassererkundung und -dokumentation, dann koordinierte er eine sorgfältige Inspektion des Wracks. Pitt, Giordino und sogar Gunn beteiligten sich an den Tauchgängen, fotografierten und vermaßen das Wrack und bohrten an verschiedenen Punkten rund um den Fundort Probeschächte in den Meeresgrund. Eine kleine Menge von Artefakten, vorwiegend Porzellangegenstände und einige Eisenteile, wurde eingesammelt, während man weitere Bereiche des Wracks freilegte.
Pitt stand nicht weit von der Heckreling der Aegean Explorer entfernt und betrachtete die zunehmende Zahl von Schaumkronen, die sich unter einem auffrischenden Westwind bildeten. Ein leeres Zodiac tanzte wild auf den Wogen, vertäut an einer Boje, die die Lage des Wracks markierte. Zwei Taucher brachen plötzlich durch die Wasseroberfläche, dann wälzten sie sich über den Randwulst ins Schlauchboot. Einer der Männer löste die Leine, während der andere den Außenbordmotor startete. Dann nahmen sie in schneller Fahrt Kurs auf das Forschungsschiff. Pitt ließ ein Kabel an der Schiffsseite hinab und half dabei, das Zodiac mitsamt seinen beiden Insassen an Deck zu hieven.
Rudi Gunn und Rod Zeibig sprangen heraus und kämpften sich aus ihren Nasstauchanzügen.
»Es ist da draußen ein wenig unruhig geworden«, meinte Zeibig, ein stets gut gelaunter Mann mit hellen blauen Augen und grau meliertem Haar.
»Ich habe angeordnet, unsere Tauchaktivitäten zu unterbrechen, bis sich der Wind wieder gelegt hat«, sagte Pitt. »Laut Wettervorhersage soll es morgen früh schon wieder ruhig sein.«
»Gute Idee«, erwiderte der Archäologe, »auch wenn ich vermute, dass Rudi wie auf glühenden Kohlen sitzen wird, bis er endlich wieder zum Wrack zurückkehren kann.«
»Habt ihr was Interessantes gefunden?«, fragte Pitt.
Gunn nickte mit aufgeregt glänzenden Augen. »Ich habe in Rasterfeld C 1 begraben und bin dabei auf einen großen behauenen Stein gestoßen. Ich konnte jedoch nur eine kleine Ecke freilegen, ehe ich wieder auftauchen musste. Ich glaube, es ist so etwas wie ein Obelisk oder eine Stele.«
»Vielleicht erhalten wir damit einen weitere Hinweis auf die Herkunft des Schiffes«, sagte Pitt.
»Ich hoffe nur, dass wir uns den Fund nicht mit jemandem teilen müssen«, sagte Zeibig und deutete mit einem Kopfnicken zur Steuerbordreling.
In etwa zwei Meilen Entfernung war eine Hochleistungsmotorjacht zu sehen, die direkt auf die Aegean Explorer zuhielt. Sie stammte von einer italienischen Boostwerft, war rundum mit getönten Scheiben verglast und hatte ein großes offenes Heck. Eine rote türkische Fahne mit weißem Halbmond und Stern flatterte zusammen mit einer kleineren Fahne mit nur einem einzigen goldenen Halbmond an einem Mast. Obwohl sie deutlich kleiner war als eine Monte-Carlo-Showjacht, konnte Pitt erkennen, dass er ein teures Luxusboot vor sich hatte. Die drei Männer beobachteten, wie sich die Jacht bis auf etwa eine halbe Meile näherte, stoppte und sich dem Spiel der Wellen überließ.
»Ich würde mir wegen eures Wracks keine allzu großen Sorgen machen, Rod«, sagte Gunn. »Die sehen nicht so aus, als wollten sie hier irgendwelche archäologischen Untersuchungen durchführen.«
»Wahrscheinlich ist es nur jemand, der hier rumschnüffelt, um zu sehen, was ein Forschungsschiff hier draußen zu suchen hat«, sagte Pitt.
»Oder wir versperren einem Villenbesitzer am Ufer die Sicht aufs Meer«, murmelte Gunn.
Pitt vermutete, dass niemand außer Ruppe die genaue Position des Wracks kannte. Vielleicht hatte er bereits das Türkische Ministerium für Kultur und Tourismus informiert, dachte er. Aber dann fiel ihm ein, dass in Ruppes Büro eingebrochen worden war und seitdem seine Seekarte und einige Artefakte verschwunden waren. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er hörte, wie jemand auf dem Vorschiff seinen Namen rief. Er wandte sich um und sah Giordino, der sich unter der Kommandobrücke aus einer Tür lehnte.
»Für dich ist gerade irgendeine Info aus Istanbul über Funk gekommen«, rief Giordino.
»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte Pitt. »Ich komme gleich«, rief er zurück und drehte sich wieder zu den beiden anderen Männern um.
»Ich wette, das ist Dr. Ruppes Analyse unserer ersten Artefakte aus dem Wrack«, sagte er.
»Die würde ich gern sehen«, sagte Zeibig.
Die beiden Taucher zogen sich eilig um, dann trafen sie sich mit Pitt und Giordino in der kleinen Kabine, in der mehrere Computer standen, die an das Satellitenkommunikationssystem angeschlossen waren. Giordino reichte Pitt einen mehrseitigen Ausdruck, dann setzte er sich vor einen der Computer.
»Dr. Ruppe hat außer dem Bericht auch noch ein paar Fotos per E-Mail geschickt«, sagte er und tippte auf eine Taste, um eine Datei zu öffnen. Die Nahaufnahme einer Goldmünze füllte den Bildschirm.
Pitt überflog den Bericht und gab ihn dann an Zeibig weiter.
»Haben wir immer noch ein osmanisches Schiffswrack vor uns?«, fragte Gunn.
»So gut wie sicher«, erwiderte Pitt. »Dr. Ruppe hat eine Vergleichsmünze aus einer Prägewerkstatt in Syrien gefunden, die seiner Meinung nach mit den Münzen in Als Kassette identisch ist. Sie stammt etwa von 1570. Unglücklicherweise musste er sich beim Vergleich auf sein Gedächtnis verlassen, da die Münzen aus seinem Büro gestohlen wurden.«
»Ich muss ihm zustimmen«, sagte Giordino. »Ich finde, sie sieht genauso aus.«
»Man weiß, dass die Prägezeichen zwischen 1560 und 1580 benutzt wurden«, las Zeibig aus dem Bericht vor.
»Demnach wissen wir, dass das Wrack nicht älter als 1560 sein kann«, sagte Gunn. »Eine Schande, dass die gesamte Kassette Münzen gestohlen wurde. Mit ihrer Hilfe hätten wir das Alter sicherlich genauer bestimmen können.«
»Der andere Altershinweis war der Keramikbehälter, in dem sich die Krone befand«, sagte Pitt. »Wie Loren und ich anhand der Kacheln in der Blauen Moschee haben erkennen können, stammt das Muster aus Iznik.«
Giordino sprang weiter zu den nächsten Fotografien, die eine Reihe bekannter Kachelmuster aus Iznik zeigten.
»Leider wurde der Behälter ebenfalls aus Ruppes Büro entwendet. Wir müssen uns auch hier auf unser Gedächtnis verlassen.«
»In seinem Bericht schreibt er, dass auf den Kacheln Muster zu sehen sind, die im späten sechzehnten Jahrhundert in Iznik modern waren«, sagte Zeibig.
»Immerhin haben wir einige Übereinstimmungen«, stellte Giordino fest.
»Außerdem kann ich nach eingehender Betrachtung des Wracks feststellen, dass es mit den Schiffskonstruktionen, die während des sechzehnten Jahrhunderts im Mittelmeerraum üblich waren, identisch ist«, fügte Zeibig hinzu und blickte von dem Bericht auf.
»Das wären dann drei von drei«, sagte Gunn. »Womit wir zu König Als Krone kämen«, sagte Pitt und hob die Stimme.
Giordino rief ein neues Foto auf, auf dem ein detailliertes Bild der Krone zu sehen war. Die Ablagerungen von ihrem langen Aufenthalt im Meer waren entfernt worden, und übrig geblieben war ein Kopfschmuck, der so aussah, als hätte er gerade erst die Werkstatt des Goldschmieds verlassen.
»Gott sei Dank war mein Baby in Dr. Ruppes Schatzkammer sicher«, sagte Giordino.
»Dr. Ruppe nennt dies einen der bedeutendsten Funde in türkischen Gewässern und gleichzeitig auch einen der rätselhaftesten«, sagte Pitt. »Trotz umfangreicher Recherchen konnte er die Form und die Größe der Krone nicht als Vergleich heranziehen, um ihre Herkunft zu bestimmen. Er schaffte es jedoch nach gründlicher Reinigung, die schwache Inschrift auf der Innenseite zu entziffern.«
Giordino holte ein vergrößertes Foto von der Krone auf den Bildschirm, während Zeibig in dem Bericht bis zur Beschreibung weiterblätterte.
»Die Inschrift ist in lateinischer Sprache«, sagte er mit fragendem Blick. »Ruppe übersetzte sie wie folgt: >Für Artrius zum Dank für die Gefangennahme der Reliquienpiraten. - Konstantin.<«
»Ruppe fand Hinweise auf einen römischen Senator namens Artrius. Zufällig lebte er zur Zeit der Herrschaft Konstantins«, sagte Pitt.
»Konstantins des Großen?«, platzte Gunn heraus. »Des römischen Kaisers? Also, der lebte doch eintausend Jahre früher.«
Im Raum wurde es still, als jeder die Fotografie betrachtete. Niemand hatte mit einer solchen Diskrepanz zu den anderen im Wrack gefundenen Artefakten gerechnet, vor allem nicht in Gestalt von etwas so Bemerkenswertem wie der goldenen Krone. Und doch gab es nicht den geringsten Hinweis, weshalb sie sich an Bord des Schiffes befunden hatte. Pitt lehnte sich langsam zurück, erhob sich dann und brach das Schweigen.
»Ich sage es nur ungern«, bemerkte er mit einem betont gequälten Lächeln, »aber ich denke, das heißt, dass König Al soeben zum Kaiser befördert wurde.«
26
Broome Park war ein typischer alter englischer Herrensitz. Im Jahr 1911 von Kitchener erworben, bestand er aus einem imposanten Backsteinhaus im jacobinischen Stil, erbaut während der Regierungszeit Karls des Ersten und umgeben von 190 Hektar üppig bewachsener Parklandschaft. In der kurzen Zeit, die er das Gut bewohnte, unternahm Kitchener große Anstrengungen, um die Gärten des Landsitzes zu verschönern, und legte auch ein oder zwei kunstvolle Brunnen an. Aber ebenso wie Frack und Zylinder oder Pferd und Wagen blieben die ursprüngliche Eleganz und Anziehungskraft von Broome Park für eine frühere Zeit reserviert.
Sechzig Meilen südöstlich von London bog Julie in Dover ab und folgte der kurzen Straße bis zum Landsitz. Zu ihrer Überraschung sah Summer zwei Paare auf einem Grasstreifen gleich hinter einem Schild, das sie auf Broome Park willkommen hieß, Golf spielen.
»Es ist die typische Geschichte, so wie überall in England«, erklärte Julie. »Historische Anwesen werden von Generation zu Generation weitergegeben, bis der Erbe eines Tages aufwacht und feststellt, dass er sich die Steuer und Instandhaltung nicht leisten kann. Zuerst wird das umliegende Land verkauft, dann werden drastischere Maßnahmen ergriffen. Einige Häuser werden in Hotels oder Pensionen umgewandelt, andere werden für Konferenzen oder Tagungen an große Firmen vermietet oder als Veranstaltungsort für Konzerte oder Theaterfestivals genutzt.«
»Oder sogar zu Golfkursen umgebaut«, sagte Summer.
»Genau. Broome Park hatte von allen wahrscheinlich das traurigste Schicksal. Der größte Teil des Herrenhauses wurde auf Time-Sharing-Basis verkauft oder vermietet, während man auf den Ländereien einen Golfplatz anlegte. Ich bin sicher, dass sich Horatio Herbert bei diesem Anblick im Grabe umdreht.«
»Ist das Anwesen denn noch im Besitz der Erben Kitcheners?«
»Kitchener war Zeit seines Lebens Junggeselle, aber er hat den Landsitz seinem Neffen Toby vermacht. Tobys Sohn Aldrich leitet den Betrieb zurzeit, doch er kommt auch langsam in die Jahre.«
Julie lenkte den Wagen auf einen großen Parkplatz, dann gingen sie zum Eingang und kamen auf dem Weg dorthin an einem nur nachlässig gepflegten Rosengarten vorbei. Richtig beeindruckt war Summer erst, als sie die Haupthalle betraten, die von einem großen Kristalllüster und einem imposanten Ölgemälde des alten Herrn beherrscht wurde, dessen ernste graue Augen sogar noch von der Leinwand herab der Welt ihren Willen aufzwingen wollten.
Ein drahtiger weißhaariger Mann saß an einem Schreibtisch und las in einem Buch, doch dann blickte er auf und lächelte, als er Julie hereinkommen sah.
»Hallo, Miss Goodyear«, sagte er und sprang aus seinem Sessel auf. »Ich habe Ihre Nachricht erhalten, dass Sie heute Vormittag herkommen wollten.«
»Sie sehen gut aus, Aldrich. Ist das Haus voll?«
»Die Geschäfte gehen ganz gut, danke. Heute sind noch ein paar Gäste angekommen, die nur kurze Zeit bleiben.«
»Das ist meine Freundin Summer Pitt, die mir bei meinen Recherchen behilflich ist.«
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Miss Pitt«, sagte er und streckte ihr eine Hand entgegen. »Sie wollen sicherlich gleich mit Ihrer Arbeit beginnen, also warum gehen wir nicht schon einmal nach hinten?«
Er führte sie durch eine Seitentür in einen privaten Flügel, in dem sich auch seine eigene Wohnung befand. Sie durchquerten einen Wohnraum, der mit Gegenständen aus Nordafrika und dem Nahen Osten gefüllt war. Kitchener hatte sie erworben, während er in seiner Militärzeit in dieser Region stationiert war. Dann öffnete Aldrich eine weitere Tür und geleitete sie in ein holzgetäfeltes Arbeitszimmer. Summer bemerkte, dass eine ganze Wand von hohen Mahagoniaktenschränken verdeckt wurde.
»Ich hätte angenommen, dass Sie sämtliche Aufzeichnungen Onkel Herberts längst auswendig kennen«, sagte Aldrich lächelnd zu Julie.
»Ich habe sicherlich genug Zeit damit verbracht«, gab ihm Julie recht. »Wir müssen nur seine persönliche Korrespondenz aus den Monaten vor seinem Tod durchgehen.«
»Die befindet sich im letzten Schrank auf der rechten Seite.« Er drehte sich um und ging zur Tür. »Ich bin wieder am Empfang, falls Sie irgendwelche Hilfe brauchen sollten.«
»Vielen Dank, Aldrich.«
Die beiden Frauen tauchten sofort in den Aktenschrank ein. Summer sah zu ihrer Erleichterung, dass diese Korrespondenz um einiges persönlicher und interessanter erschien als das Material im Imperial War Museum. Sie las einige Dutzend Briefe von Kitcheners Verwandten sowie eine endlose Folge von Briefen an Bauunternehmer, die von Kitchener umschmeichelt und gedrängt wurden, ihre Renovierungsarbeiten auf Broome Park abzuschließen.
»Sehen Sie mal, wie reizend das ist«, sagte sie und hielt die postkartengroße Zeichnung eines Schmetterlings hoch, die Kitcheners dreijährige Nichte ihm geschickt hatte.
»Der bärbeißige alte General stand seinen Schwestern und Brüdern und deren Kindern sehr nahe«, sagte Julie.
»Die persönliche Korrespondenz eines Menschen zu lesen ist eine wunderbare Methode, jemanden kennenzulernen, nicht wahr?«, sagte Summer.
»Das stimmt wirklich. Es ist eine Schande, dass der handgeschriebene Brief im Zeitalter der E-Mail zu einer vergessenen Kunstform geworden ist.«
Sie suchten fast zwei Stunden lang, ehe sich Julie auf ihrem Stuhl aufrichtete.
»Wie ich schon immer gesagt habe, es ist gar nicht mit der Hampshire untergegangen«, platzte sie heraus. »Wovon reden Sie?«
»Von seinem Tagebuch«, antwortete Julie mit großen Augen. »Hier, sehen Sie sich das mal an.«
Es war ein Brief eines Army-Sergeants namens Wingate, geschrieben ein paar Tage, bevor die Hampshire versenkt wurde. Summer las mit Interesse, wie der Sergeant sein Bedauern darüber ausdrückte, Kitchener auf seiner bevorstehenden Reise nicht begleiten zu können, und dem Feldmarschall für diesen wichtigen Trip alles Gute wünschte. Es war aber erst das kurze Postskriptum am Ende der Seite, das sie hatte erstarren lassen.
»P. S. Habe Ihr Tagebuch erhalten. Werde bis zu Ihrer Rückkehr darauf aufpassen«, las sie laut vor.
»Wie konnte mir das nur entgehen?«, murmelte Julie.
»Sonst ist es ein völlig unverfänglicher Brief in einer sehr schlampigen Handschrift«, sagte Summer. »Ich hätte ihn sicherlich ebenfalls übersehen. Aber es ist ein wunderbarer Fund. Wie aufregend, dass sein letztes Tagebuch vielleicht doch noch existiert.«
»Aber es liegt nicht bei seinen offiziellen Aufzeichnungen. Wie lautete der Name des Soldaten?«
»Sergeant Norman Wingate.«
»Ich kenne diesen Namen, kann ihn aber gerade nicht einordnen«, erwiderte Julie und zermarterte sich das Gehirn.
Ein schrilles Quietschen drang aus einem anderen Raum herüber. Sie sahen zur Tür und entdeckten Aldrich, der das Arbeitszimmer mit einem Teewagen betrat, an dem ein Rad defekt war.
»Entschuldigen Sie die Störung, aber ich dachte, eine Teepause würde Ihnen sicher guttun«, sagte er und schenkte beiden Tee ein.
»Das ist sehr nett von Ihnen, Mr. Kichener«, sagte Summer und nahm eine der heißen Tassen entgegen.
»Aldrich, erinnern Sie sich vielleicht an einen Bekannten Lord Kitcheners mit dem Namen Norman Wingate?«, fragte Julie.
Aldrich massierte sich die Stirn, während seine Augen nachdenklich zur Decke blickten.
»War er nicht einer von Onkel Herberts Leibwächtern?«, fragte er.
»Das ist es«, sagte Julie, als es ihr wieder einfiel. »Wingate und Stearns waren die beiden bewaffneten Wächter, die ihm vom Premierminister bewilligt worden waren.«
»Ja«, bestätigte Aldrich. »Der andere Mann... Stearns, sagten Sie, war sein Name? Also, er ging mit Onkel Herbert auf der Hampshire unter. Aber Wingate nicht. Ich glaube, er war krank und nahm gar nicht an der Reise teil. Ich erinnere mich, dass sich mein Vater viele Jahre später oft mit ihm zum Lunch getroffen hat. Offenbar hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er den Unfall überlebt hat.«
»Wingate schrieb, dass sich das letzte Tagebuch des Feldmarschalls in seinem Besitz befinde. Wissen Sie, ob er es Ihrem Vater übergeben hat?«
»Nein, dann wäre es sicher hier bei seinen restlichen Papieren. Wahrscheinlich hat Wingate es als Andenken an den alten Mann einfach behalten.«
Ein leiser Summer ertönte im anderen Teil des Hauses. »Ach, das ist jemand am Empfang. Genießen Sie den Tee«, sagte er dann und verließ das Arbeitszimmer.
Summer las den letzten Brief noch einmal und betrachtete die Absenderangaben.
»Wingate hat das aus Dover geschrieben«, sagte sie. »Liegt das nicht gleich vor der Tür?«
»Ja, weniger als zehn Meilen entfernt«, erwiderte Julie.
»Vielleicht gibt es in der Stadt noch irgendwelche Angehörigen von Norman, die etwas wissen.«
»Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich, aber einen Versuch ist es allemal wert.«
Mit Hilfe von Aldrichs Computer und des regionalen Telefonbuchs stellten die Frauen eine Liste aller Wingates zusammen, die in der Grafschaft Kent wohnten. Dann riefen sie abwechselnd jeden Inhaber des Namens an, in der Hoffnung, auf diese Weise einen Nachkommen Norman Wingates zu finden.
Die Telefonrecherche erbrachte jedoch keinen nützlichen Hinweis. Nach einer Stunde legte Summer den Hörer auf und strich kopfschüttelnd den letzten Wingate auf ihrer Liste.
»Über zwanzig Eintragungen und nicht mal die Spur einer Spur«, stellte sie enttäuscht fest.
»Der beste Treffer, den ich anbieten kann, war jemand, der annahm, dass Norman ein Großonkel gewesen sein könnte, aber sonst konnte er mir nicht weiterhelfen«, berichtete Julie. Sie sah auf ihre Armbanduhr.
»Ich glaube, wir sollten jetzt zu unserem Hotel fahren«, sagte sie. »Die restlichen Aufzeichnungen können wir uns morgen früh ansehen.«
»Wir wohnen gar nicht auf Broome Park?«
»Ich habe ein Hotel in Canterbury für uns ausgesucht, in der Nähe der Kathedrale. Ich dachte, Sie wollen sie sich vielleicht einmal ansehen. Außerdem«, fuhr sie fort und ließ die Stimme zu einem Flüstern herabsinken, »ist hier das Essen nicht so gut.«
Summer lachte, dann stand sie auf und reckte die Arme. »Ich werde Aldrich nichts verraten«, versprach sie. »Ich überlege nur, ob wir unterwegs nicht einen kurzen Zwischenstopp einlegen können.«
»Und wo sollte das sein?«, fragte Julie neugierig.
Summer nahm den Brief Wingates vom Tisch und las die Absenderadresse laut vor. »Dorchester Lane vierzehn, Dover«, sagte sie mit einem gequälten Lächeln.
Der Motorradfahrer setzte einen schwarzen Helm mit dunkel getöntem Visier auf und lugte hinter dem Heck eines Lieferwagens hervor. Er wartete geduldig, bis Julie und Summer durch den Eingang von Broome Park ins Freie traten. Sorgfältig darauf achtend, sich nicht blicken zu lassen, beobachtete er, wie sie in ihren Wagen stiegen und über den Parkplatz zur Ausfahrt rollten. Er startete seine schwarze Kawasaki und lenkte sie in weitem Abstand langsam hinter dem Wagen her. Als er sah, dass Julie die Richtung nach Dover einschlug, ließ er erst ein paar andere Wagen vorbei, dann fädelte er sich in den Verkehr ein und folgte dem kleinen grünen Ford.
27
Das Dover von heute ist eine betriebsame Hafenstadt, die am besten als Heimathafen der Fähre nach Calais und für ihre weltberühmten Kreidefelsen an der Küste im Osten bekannt ist. Julie fuhr bis in das historische Stadtzentrum, ehe sie anhielt und sich bei einem Passanten nach dem weiteren Weg erkundigte. Sie fanden die Dorchester Lane ein paar Blocks vom Hafen entfernt. Es war eine ruhige Wohnstraße mit alten Backsteinreihenhäusern aus den 188oern. Die Frauen parkten den Wagen unter einer stattlichen Birke, stiegen die Eingangstreppe des Hauses Nummer vierzehn hinauf und klingelten. Nach einer längeren Pause wurde die Tür von einer zerzaust aussehenden Frau Mitte zwanzig geöffnet. Sie hatte einen schlafenden Säugling in den Armen.
»Oh, das tut mir schrecklich leid, dass wir stören«, flüsterte Julie. »Hoffentlich haben wir das Baby nicht geweckt.«
Die Frau schüttelte lächelnd den Kopf. »Dieses Kind würde sogar während eines U2-Konzerts schlafen.«
Julie stellte sich und Summer vor. »Wir suchen Informationen über einen Mann, der vor längerer Zeit unter dieser Adresse hier gewohnt hat. Sein Name war Norman Wingate.«
»Das war mein Großvater«, erwiderte die Frau und sah ihre Besucherinnen gespannt an. »Ich bin Ericka Norris. Wingate war der Mädchenname meiner Mutter.«
Julie sah Summer an und lächelte ungläubig.
»Bitte, wollen Sie nicht hereinkommen?«, fragte Ericka Norris einladend.
Die junge Frau führte sie in ein zwar bescheiden, aber gemütlich möbliertes Wohnzimmer und setzte sich mit dem schlafenden Kleinkind in einen Schaukelstuhl.
»Sie haben ein reizendes Zuhause«, stellte Julie fest.
»Meine Mum ist hier aufgewachsen. Ich glaube, sie erzählte mal, Großvater habe es vor dem Ersten Weltkrieg erworben. Sie hat fast ihr ganzes Leben hier verbracht, da sie und mein Dad es meinem Großvater abgekauft haben.«
»Lebt sie noch?«
»Ja, sie ist rüstige vierundneunzig Jahre alt. Wir mussten sie vor ein paar Monaten in ein Seniorenheim bringen, wo sie die angemessene Pflege erhält. Sie bestand darauf, dass wir hier einziehen, als der Kleine unterwegs war. Dann hätten wir zumindest mehr Platz.«
»Ihre Mum könnte uns vielleicht weiterhelfen«, sagte Julie. »Wir suchen nach alten Aufzeichnungen aus dem Krieg, die Ihr Großvater vielleicht mal besessen hat.«
Norris überlegte einen Moment. »Mum hat alles bekommen, was meine Großeltern hinterlassen haben«, sagte sie. »Ich weiß allerdings, dass sie das meiste im Laufe der Jahre weggeworfen hat. Aber es sind noch immer ein paar alte Bücher und Fotografien im Kinderzimmer, die Sie sich gerne ansehen dürfen.«
Leise führte sie sie eine Treppe hinauf und in ein kleines hellblau dekoriertes Zimmer mit einer hölzernen Wiege an einer Wand. Das Kind legte sie behutsam in die Wiege. Dabei gab es einen leisen Jammerlaut von sich, schlief aber gleich wieder ein.
»Hier drüben sind die Sachen meines Großvaters«, flüsterte sie und trat an ein hohes Holzregal. Alte, in Leinen gebundene Bücher füllten die Fächer. Davor standen Schwarzweißfotos von Männern in Uniform. Julie nahm eine Fotografie hoch, die einen jungen Soldaten zeigte, der neben Kitchener stand. »Ist das Ihr Großvater?«
»Ja, mit Lord Kitchener. Er führte die gesamte Armee während des Krieges. Wussten Sie das?«
Julie lächelte. »Ja. Er ist auch der eigentliche Grund, weshalb wir hergekommen sind.«
»Großvater sprach oft davon, dass er beinahe mit Kitchener gestorben wäre - auf seinem Schiff, während der Fahrt nach Russland. Aber sein Vater war gerade schwerkrank, und Kitchener hatte ihn von der Reise freigestellt.«
»Ericka, wir haben einen Brief von Ihrem Großvater gefunden, aus dem hervorgeht, dass ihm Kitchener sein persönliches Tagebuch zur Aufbewahrung geschickt hat«, sagte Julie. »Wir hoffen, dieses Tagebuch hier zu finden.«
»Wenn Großvater es behalten hat, dann muss es hier sein. Bitte, schauen Sie sich ruhig um.«
Julie hatte Kitcheners frühere Aufzeichnungen gelesen, die er stets in kleinen Büchern mit festem Einband verewigt hatte. Sie ließ den Blick über die Buchrücken im Regal schweifen und erstarrte, als sie ein ähnlich gebundenes Buch auf dem obersten Regalbrett entdeckte.
»Summer... reichen Sie an dieses kleine blaue Buch da oben heran?«, fragte sie mit mühsam gebremster Erregung.
Summer erhob sich auf die Zehenspitzen, griff nach oben, holte das Buch heraus und reichte es Julie. Der Herzschlag der Historikerin beschleunigte sich, als sie feststellte, dass weder auf dem Rücken noch auf dem Buchdeckel ein Titel aufgedruckt war. Langsam schlug sie das Buch auf und blätterte weiter zu einer linierten Titelseite. In gestochener Handschrift stand dort zu lesen:
TAGEBUCH VON HHK 1. JAN. 1916
»Das ist es«, platzte Summer heraus und starrte auf die Buchseite.
Julie blätterte weiter und begann mit der Lektüre der ersten Eintragungen, in denen der Autor seine Bemühungen schilderte, weitere Gelder zur Bezahlung neuer Rekruten bewilligt zu bekommen. Sie blätterte bald bis zum letzten Eintrag weiter, der sich etwa in der Mitte des Buches befand und auf den 1. Juni 1916 datiert war. Dann klappte sie es zu und sah Ericka Norris hoffnungsvoll an.
»Dieses verschollene Tagebuch wurde von Historikern, die sich mit Kitchener beschäftigen, immer wieder gesucht«, sagte sie andächtig.
»Wenn es für Sie so wichtig ist, dann nehmen Sie es ruhig mit«, sagte die junge Frau und machte eine Geste in Richtung des Buches, als hätte es für sie keinerlei Bedeutung. »Hier wird es so bald niemand lesen«, fügte sie hinzu und sah lächelnd auf ihr schlafendes Kind.
»Ich werde es der Kitchener-Sammlung auf Broome Park stiften, falls Sie es sich jemals anders überlegen sollten.«
»Großvater würde sich gewiss freuen, wenn er wüsste, dass es noch immer Leute gibt, die sich für Kitchener und den, wie er es nannte, >Großen Krieg< interessieren.«
Julie und Summer bedankten sich bei der jungen Mutter für das Tagebuch, dann schlichen sie auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und verließen das Haus.
»Ihr Abstecher nach Dover hat sich als unerwarteter Glücksfall erwiesen«, sagte Julie strahlend, während sie zu ihrem Wagen gingen.
»Beharrlichkeit führt fast immer zum Erfolg«, erwiderte Summer.
In ihrer Begeisterung über den Fund achtete Julie nicht auf das schwarze Motorrad, das ihnen von der Dorchester Lane und auf die Straße nach Canterbury folgte und dabei mit gleich bleibender Geschwindigkeit einen Abstand von mehreren Wagen zu ihnen hielt.
Während Julie fuhr, blätterte Summer in dem Tagebuch und las besonders interessante Passagen laut vor.
»Hören Sie sich das mal an«, sagte sie. »>Dritter März. Habe soeben einen unerwarteten Brief des Erzbischofs von Canterbury erhalten, in dem er darum bittet, das Manifest in Augenschein nehmen zu dürfen. Endlich ist die Katze aus dem Sack, obgleich ich nicht weiß, wie es dazu kommen konnte. Der selige Dr. Worthington hat mir seine lebenslange Verschwiegenheit geschworen, aber vielleicht ist er im Angesicht des Todes schwach geworden. Egal. Ich habe die Einladung des Erzbischofs abgelehnt - mit dem Risiko, mir seinen Zorn zuzuziehen, in der Hoffnung, dass die Angelegenheit aufgeschoben werden kann, bis wieder Frieden herrscht<.«
»Dr. Worthington, sagten Sie?«, fragte Julie. »Er war um die Jahrhundertwende ein bekannter Archäologe aus Cambridge. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, hat er mehrere bedeutende Ausgrabungen in Palästina durchgeführt.«
»Das wäre wirklich eine seltsame Verbindung«, meinte Summer und blätterte weiter. »Kitchener hatte recht damit, dass er den Zorn des Erzbischofs erregt hat. Zwei Wochen später hat er Folgendes geschrieben: >Wurde heute Morgen von Bischof Lowery von Portsmouth im Namen von Erzbischof Davidson angerufen. Er äußerte wortgewandt den Wunsch, dass ich zum Wohle der Menschheit das Manifest der Kirche von England schenken soll. Er versäumte es jedoch, sich dazu zu äußern, in welcher Weise die Kirche Gebrauch von dem Dokument machen will. Von Anfang an ging es mir nur um die wohlmeinende Suche nach der Wahrheit. Jetzt wird leider offenbar, dass meine Kirche von Angst geleitet wird und Unterdrückung und Vertuschung beabsichtigt. Einmal in ihren Händen, könnte das Manifest für immer verschwinden. Das darf ich nicht zulassen, und darüber habe ich Bischof Lowery in Kenntnis gesetzt, zu seiner außerordentlichen Enttäuschung. Obwohl dies noch nicht der Zeitpunkt ist, glaube ich, dass beim Abschluss des großen Konflikts die Veröffentlichung des Manifests der Menschheit einen Funken Hoffnung geben wird.<«
»Er misst diesem Manifest offenbar allergrößte Bedeutung bei«, sagte Julie. »Und jetzt ist Bischof Lowery auf den Plan getreten. Sein rätselhafter Brief an Davidson im Juni wird plötzlich um einiges interessanter.«
»Kitchener liefert zwar keine Details, aber sein Kummer über die Kirche nimmt zu«, sagte Summer. »Im April schreibt er: >Die Pläne für die Sommeroffensive in Frankreich sind nahezu vollständig. Die ständigen Belästigungen durch die Lakaien des Erzbischofs werden allmählich erdrückend. Der P. M. hat meiner Bitte um ein Sicherheitskommando entsprochen. Glücklicherweise brauchte ich ihm nicht die genauen Gründe zu nennen.<«
»Also betreten unsere Freunde Wingate und Stearns endlich die Bühne«, stellte Julie fest.
Summer blätterte schneller die Seiten durch, während sie sich den Außenbezirken von Canterbury näherten.
»In seinen April- und Mai-Einträgen ist vorwiegend von Planungen für die Kriegsführung und von gelegentlichen Familientreffen auf Broome Park die Rede. Aber Moment mal, hören Sie sich das an: fünfzehnter Mai. Erhielt einen weiteren Drohanruf von Bischof Lowery. Mit seiner absolut schändlichen Art würde er dem Land wahrscheinlich besser dienen, wenn er den Militärischen Geheimdienst anstelle der Diözese Portsmouth leiteten Einen Tag später schreibt er: >Wurde auf der Straße von einem anonymen Mitglied der Kirche von England angegriffen, der die Herausgabe des Manifests verlangte. Corporal Stearns hat den Banditen ohne größere Probleme außer Gefecht gesetzt. Ich fange allmählich an zu bedauern, dass ich das vermaledeite Ding siebenundsiebzig gefunden habe... oder es im letzten Jahr von Dr. Worthington übersetzen ließ. Wer hätte gedacht, dass ein alter Fetzen Papyrus, gekauft von einem Bettler während unserer Reise durch Palästina, derartige Ereignisse auslösen würde?<«
Summer schlug die nächste Seite auf. »Hat das Datum irgendeine Bedeutung für Sie?«, wollte sie von Julie wissen.
Julie ließ sich ihre früheren Aufsätze über Kitchener durch den Kopf gehen. »Das war kurz vor seinem heldenhaften Einsatz in Khartum. Ich glaube, 1877 war er im Nahen Osten stationiert. Das war etwa zu der Zeit, als er einen Vermessungstrupp der Armee in Nordpalästina übernahm. Es war ein Projekt, das durch den von Queen Victoria eingerichteten Palestine Exploration Fund finanziert wurde.“
»Er war als Landvermesser tätig?«
»Ja, und er leitete den Vermessungstrupp, als dessen Kommandant erkrankte. Sie leisteten hervorragende Arbeit, obwohl sie mehrmals von örtlichen Araberstämmen bedroht wurden. Viele seiner in Palästina gesammelten Daten wurden sogar noch bis in die 1960er Jahre benutzt. Aber was Kitchener betrifft, so bereiste er zu jener Zeit den Nahen Osten, daher kann man nicht genau festlegen, wo er dieses Manifest erworben haben könnte. Unglücklicherweise begann er erst Jahre später, Tagebuch zu führen.«
»Es muss sehr alt sein, wenn es ein Papyrusdokument ist.« Summer kam zum Ende des Tagebuchs und hielt bei einem Eintrag Ende Mai inne.
»Julie, das ist es«, stieß sie aufgeregt hervor. »Er schreibt: >Habe eine weitere düstere Warnung vom Erzbischof erhalten. Ich wage zu behaupten, dass sie offenbar vor nichts Halt machen, um ihre angestrebten Ziele zu erreichen. Ich habe kaum Zweifel, dass sie nicht längst heimlich auf Broome Park waren und sich dort umgeschaut haben. Ich hoffe, dass meine Reaktion ihre Aktivitäten ein wenig eindämmen wird. Ich habe ihnen mitgeteilt, dass ich das Manifest nach Russland bringen werde und es der Orthodoxen Kirche in Sankt Petersburg leihweise zur Aufbewahrung überlasse, bis der Krieg beendet ist. Man stelle sich ihre Enttäuschung vor, wenn sie wüssten, dass ich es bis zu meiner Rückkehr tatsächlich bei Sally unter den wachsamen Augen von Emily hinterlegt habe.<«
»Hat er es demnach gar nicht nach Russland mitgenommen?«, fragte Julie, und die Aufregung ließ ihre Stimme fast überkippen.
»Offensichtlich nicht. Aber hören Sie weiter. Am ersten Juni schreibt er: >Vorerst mein letzter Eintrag. Ich bin von neugierigen Augen umgeben. Ich habe ein ungutes Gefühl wegen meiner bevorstehenden Reise, aber es ist lebenswichtig, dass die Russen an unserer Seite bleiben und mit Deutschland keinen einseitigen Waffenstillstand aushandeln. Ich werde Corporal Wingate dieses Tagebuch zur Aufbewahrung übergeben. H. H. K.<«
»Ich habe andere Berichte gelesen, denen zufolge ihm nicht sehr wohl war, als er in See stach, und dass ihm vor dieser Reise graute«, sagte Julie. »Er muss irgendeine Vorahnung gehabt haben.«
»Wahrscheinlich, sonst hätte er sicher nicht das Tagebuch zurückgelassen. Aber die wichtigere Frage ist doch: Wer war Sally?«
»Sie muss jemand gewesen sein, der absolut vertrauenswürdig war, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich bei meinen Recherchen über Kitchener jemals auf jemanden namens Sally gestoßen bin.«
»Vielleicht eine Sekretärin oder die Ehefrau eines Offizierskollegen?«, fragte Summer.
Julie schüttelte den Kopf.
»Wie wäre es mit einem Kosenamen für eine seiner Helferinnen?«
»Nein, ich glaube, dass es dann auch irgendeinen Hinweis in seiner Korrespondenz geben würde, aber an so etwas kann ich mich nicht erinnern.«
»Es kann eigentlich auch nicht sein, dass er dieses Dokument irgendwelchen oberflächlichen Bekannten anvertraut haben soll. Was ist mit dem anderen Namen - Emily?«
Julie überlegte einen Moment lang, während sie darauf wartete, in einen Kreisverkehr einzufahren, der den Verkehr ins Stadtzentrum von Canterbury weiterleitete.
»Ich kann mich an zwei Emilys erinnern. Kitcheners Großmutter mütterlicherseits hieß Emily, allerdings war sie 1916 schon lange tot. Dann war da noch sein ältester Bruder, der eine Enkelin namens Emily hatte. Wenn wir ins Hotel kommen, muss ich mal in meinen Stammbäumen nachschauen, wann sie geboren wurde. Ihr Vater, Kitcheners Neffe, hieß Hai. Er war ziemlich regelmäßig auf Broome Park anzutreffen.«
»Wäre dann die jüngere Emily nicht eine Cousine von Aldrich?«, fragte Summer.
»Ja, richtig. Vielleicht können wir Aldrich morgen früh nach ihr fragen.«
Julie hatte das Stadtzentrum erreicht und machte Summer auf die berühmte Kathedrale Canterburys aufmerksam. Ein paar Blocks weiter hielt sie vor dem Chaucer Hotel, einem der bescheidenen, aber gemütlichen alten Gasthöfe der Stadt. Nachdem sie sich in nebeneinanderliegenden Zimmern eingerichtet hatten, trafen sich die Frauen zum Abendessen im Restaurant des Hotels. Summer verzehrte eine große Portion Fish and Chips und begriff erst in diesem Moment, wie hungrig dieser Tag sie gemacht hatte. Julie ging es ähnlich, als sie ihren leeren Pastateller von sich schob.
»Wenn Sie einen Verdauungsspaziergang machen wollen, können wir zur Kathedrale spazieren«, bot Julie an.
»Ich weiß Ihr Angebot als Fremdenführerin durchaus zu schätzen«, sagte Summer, »aber ich würde, wenn ich ganz ehrlich bin, lieber noch weiter in Kitcheners Tagebuch herumstöbern.«
Dieses Geständnis zauberte ein strahlendes Lächeln auf Julies Gesicht. »Ich hatte im Stillen gehofft, dass Sie das sagen würden. Seit wir uns im Hotel eingecheckt haben, kann ich es kaum erwarten, die Notizen intensiv zu studieren.«
»Neben dem Foyer habe ich einen kleinen Salon gesehen. Wir könnten eine Kanne Tee bestellen und uns mit dem Tagebuch dorthin zurückziehen. Ich mache Notizen, während Sie diesmal lesen«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
»Das wäre großartig«, signalisierte Julie ihr Einverständnis. »Ich hole das Tagebuch und einen Notizblock aus meinem Zimmer, und wir treffen uns dort.«
Sie nahm die Treppe in den zweiten Stock, betrat ihr Zimmer und hielt abrupt inne, als sie sah, dass ihre Papiere kreuz und quer über das ganze Bett verstreut waren. Die Tür wurde hinter ihr zugeschlagen, und gleichzeitig erlosch das Licht. Ein Schatten kam auf sie zu und sie wollte einen Schrei ausstoßen, doch eine Hand in einem Handschuh verschloss ihren Mund, ehe ihre Stimme einen Laut erzeugen konnte. Ein Arm legte sich um ihre Taille und presste sie gegen den Angreifer, der anscheinend wattierte Kleidung trug. Dann traf eine tiefe Stimme ihr Ohr.
»Nur ein Laut - und Sie erleben den morgigen Tag nicht mehr.«
28
Summer wartete im Salon zwanzig Minuten lang, ehe sie in Julies Zimmer anrief. Da niemand antwortete, wartete sie weitere fünf Minuten, bis sie hinaufging und an der Tür klopfte. Ihre Sorge vertiefte sich, als sie ein »Nicht stören«-Schild am Türknauf baumeln sah. Sie entdeckte eine Hotelangestellte, die sich Betten machend den Korridor hinunterarbeitete, und bat sie, in Julies Zimmer nachzusehen. Als sie die Tür öffnete und das Licht anknipste, stieß das Zimmermädchen einen unterdrückten Schrei aus.
Julie saß auf dem Fußboden, die Arme auf dem Rücken und mit einem Laken an den Bettrahmen gefesselt. Ein weiteres Laken war um ihre Fußgelenke geknotet, während ein Kissenbezug ihren Kopf verhüllte. Ein verzweifeltes Zappeln ihrer Arme und Beine verriet, dass sie noch sehr lebendig war.
Summer drängte sich an dem Zimmermädchen vorbei und riss Julie den Kissenbezug vom Kopf. Julies große Augen sahen Summer erleichtert an, während die Amerikanerin einen Strumpf löste, der als Knebel um Julies Kopf geknotet war.
»Sind Sie verletzt?«, fragte Summer und war schon dabei, Julie von ihren Armfesseln zu befreien.
»Nein... ich bin okay«, stammelte Julie und drängte Tränen der Angst und Erleichterung zugleich zurück. »Nur ein bisschen geschockt.«
Sie gewann die Fassung schnell wieder, während ihre Stimme fester wurde.
»Eigentlich war er sogar ausgesprochen behutsam. Ich glaube nicht, dass er mir irgendetwas antun wollte.“
»War es nur ein einziger Mann?« Julie nickte.
»Konnten Sie ihn sehen?«
»Nein, leider nicht. Ich glaube, er hatte sich im Bad versteckt, und ich bin an ihm vorbeigegangen. Er knipste das Licht aus und zog mir diesen Kissenbezug über den Kopf. Ich habe keine Ahnung, wie er aussah. Ich erinnere mich nur, dass seine Kleidung sich wie wattiert anfühlte.«
Kurz darauf erschien der Hotelmanager, gefolgt von zwei Beamten der Polizei von Canterbury. Sorgfältig durchsuchten sie das Zimmer, dann ließen sie sich von Julie, Summer und dem Zimmermädchen eine genaue Beschreibung der Ereignisse geben. Die Historikerin hatte ihre Handtasche im Zimmer zurückgelassen, aber der Dieb hatte sie nicht mitgenommen. Julie sah Summer erschrocken an, als sie erkannte, dass Kitcheners Tagebuch der einzige Gegenstand war, der in ihrem Zimmer fehlte.
»Ein typischer Hoteldiebstahl«, hörte Summer einen der Polizisten draußen auf dem Gang zum Hotelmanager sagen. »Sie hat ihn offensichtlich im Zimmer überrascht, und er hat sie gefesselt, bevor er flüchtete. Ich brauche Ihnen sicher nicht zu erklären, dass die Chancen, den Kerl zu fassen, eher gering sind.«
»Ja, leider habe ich so etwas schon früher erlebt«, erwiderte der Manager. »Vielen Dank, Detective.«
Der Hotelmanager kehrte ins Zimmer zurück, entschuldigte sich wortreich bei Julie und versprach, während der Nacht für erhöhte Sicherheit auf dem Flur zu sorgen. Nachdem er sich verabschiedet hatte, bot Summer an, Julie in ihrem Zimmer schlafen zu lassen.
»Gern, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich glaube, ich würde mich um einiges sicherer fühlen«, sagte sie. »Ich will nur schnell meine Zahnbürste holen.«
Julie ging in ihr Bad und rief Summer plötzlich zu sich.
»Was ist, Julie«, fragte sie und trat über die Schwelle.
Julie hatte einen angespannten Ausdruck im Gesicht und deutete auf einen kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Der Zimmerdieb hatte ihr eine mit ihrem eigenen pinkfarbenen Lippenstift geschriebene Warnung auf dem Spiegel hinterlassen. Kurz und präzise, lautete sie: »Vergessen Sie K.«
29
Am nächsten Morgen erwachte Julie nach einer unruhigen Nacht. Angst und Nervosität hatten sich nach und nach in ein Gefühl hilflosen Ausgeliefertseins verwandelt, fast so, als wäre sie vergewaltigt worden. Sie stand schon früh auf und raste innerlich vor Zorn.
»Wer konnte wissen, dass das Tagebuch hier oben lag?«, fragte sie und ging im Hotelzimmer auf und ab. »Wir hatten es doch selbst gerade erst gefunden.«
Summer war im Bad und frisierte sich. »Vielleicht hatte er von dem Tagebuch gar keine Ahnung«, erwiderte sie. »Es ist doch möglich, dass er nur herausfinden wollte, was wir wissen, und dabei Glück gehabt hat.«
»Das wäre möglich. Aber weshalb dann diese Warnung? Wie kommt es, dass Kitcheners Tod nach fast einhundert Jahren immer noch bei irgendjemandem für Unruhe sorgt?«
Summer sprühte sich einen Hauch Parfüm hinter die Ohren, dann kam sie zu Julie ins Zimmer. »Eins ist zumindest sicher. Es muss jemand sein, der über das Manifest oder den Untergang der Hampshire erheblich mehr weiß als wir.«
»Oder beides«, pflichtete ihr Julie bei. Sie fing den Duft von Summers Parfüm auf. »Das riecht aber gut«, sagte sie.
»Danke. Das hat mir eine Freundin in British Columbia geschenkt.«
»Das Eau de Cologne«, platzte Julie plötzlich heraus. »Das hätte ich beinahe vergessen. Der Eindringling, der mich letzte Nacht fesselte, hatte den Duft eines Herrenparfüms an sich. Ich bin sicher, dass es der gleiche Duft war wie bei dem Mann, den wir in der Bibliothek im Lambeth Palace kennen gelernt haben.«
»Sie meinen Mr. Baker? Glauben Sie, er war das?«
»Ich bin mir im Augenblick bei keiner Frage sicher, aber ich denke, er könnte es gewesen sein. Erinnern Sie sich nicht? Er hat uns doch nach dem Tagebuch gefragt. Ich fand diese Frage ohnehin ein wenig seltsam.«
»Sie haben recht. Wir fragen in der Bibliothek nach, wenn wir nach London zurückkehren«, sagte Summer. »Es besteht die gute Chance, dass ihn die Bibliothekarin identifizieren kann.«
Julie war ein wenig erleichtert, doch diese Offenbarung regte ihre Wissbegierde an.
»In der Zwischenzeit können wir nach Broome Park fahren und uns erkundigen, was Aldrich von seiner Cousine Emily weiß.«
Sie nahmen ein eiliges Frühstück im Hotel ein, dann fuhren sie mit dem Wagen zum ehemaligen Landsitz Lord Kitcheners hinaus. Zwei Meilen außerhalb von Canterbury hüpfte der Wagen durch eine tiefe Bodenwelle in der Fahrbahn.
»Irgendetwas ist nicht in Ordnung«, sagte Julie, als sie in der Lenksäule ein heftiges Vibrieren wahrnahm.
Der Wagen traf auf eine weitere Querrille in der Fahrbahn, und die Insassen verspürten einen heftigen Ruck, gefolgt von einem metallischen Kreischen. Summer sah aus dem Fenster und entdeckte zu ihrem Schrecken, wie das rechte Vorderrad ihres Ford vor ihr auftauchte und auf den Seitenstreifen rollte. Der Wagen zog sofort scharf nach rechts und auf die Gegenfahrbahn. Julie riss das Lenkrad nach links, um gegenzusteuern, aber es erfolgte keine Reaktion.
Die radlose Bremstrommel schrammte in einem dichten Funkenregen über den Asphalt, während sich der Wagen gegen den Uhrzeigersinn zu drehen begann. Die drei noch verbliebenen Reifen radierten qualmend über den Fahrbahnbelag, während der Wagen noch eine Kreiseldrehung ausführte und dann rückwärts von der Straße rutschte. Er hüpfte über die erhöhte Fahrbahnbegrenzung, schleuderte über eine kleine Grasfläche, ehe er sich frontal in eine flache Böschung bohrte. Während sich die Staubwolken senkten, schaltete Julie den laufenden Motor aus und drehte sich dann zu Summer um.
»Alles okay?«, fragte sie atemlos.
»Ja«, antwortete Summer und atmete ebenfalls tief durch, »das war ja ein unerwarteter Tiefflug. Ich vermute, dass wir eine Menge Glück gehabt haben.«
Sie sah, dass Julie totenblass war und die Hände immer noch um das Lenkrad krampfte.
»Das war er«, sagte sie leise.
»Nun, wenn er es war, dann wird er sich um einiges mehr anstrengen müssen, um uns aufzuhalten«, erwiderte Summer trotzig, da sie Julies Kampfgeist wecken wollte. »Sehen wir zu, dass wir wieder irgendwie auf die Straße kommen.«
Während sie die Tür öffnete, kam ein schwarzes Motorrad röhrend näher. Der Fahrer bremste nur leicht und betrachtete neugierig den gestrandeten Wagen. Dann gab er Gas und setzte seine Fahrt fort.
»Komm bloß nicht auf die Idee, uns zu helfen«, schimpfte Summer, während die schwarze Erscheinung hinter einer Kurve verschwand.
Sie überquerte die Straße und fand das verwaiste Rad auf dem Bankett. Sie richtete es auf und rollte es zum Wagen. Julie war ausgestiegen, saß jedoch mit zitternden Händen auf einem großen Stein. Summer öffnete den Kofferraum und holte den Wagenheber heraus, dann bugsierte sie ihn unter die vordere Stoßstange. Der Untergrund war hart und einigermaßen eben, so dass sie die Bremstrommel hochhieven konnte. Trotz einiger tiefer Kratzer auf der Bremstrommel und an der Nabe konnte sie das Rad auf die Nabe setzen und befestigte es mit drei Schrauben, die sie sich von den anderen Rädern holte. Sie vergewisserte sich, dass alle Schrauben an den restlichen Wagenrädern fest angezogen waren, dann verstaute sie den Wagenheber wieder im Kofferraum.
»Summer, das haben Sie hervorragend hinbekommen«, lobte Julie. Sie hatte sich ein wenig beruhigt und ihr Zittern unter Kontrolle bekommen. »Ich dachte schon, ich müsste den Automobilclub um Hilfe bitten.«
»Mein Vater hat mir beigebracht, wie man mit Autos umgeht«, erwiderte Summer mit einem stolzen Grinsen. »Er sagt immer, dass jede Frau fähig sein sollte, ein Rad zu wechseln.«
Julie untersuchte einen kleinen Kratzer an der hinteren Stoßstange, dann reichte sie Summer den Wagenschlüssel.
»Macht es Ihnen etwas aus, das letzte Stück zu fahren? Meine Nerven schaffen das einfach nicht mehr.«
»Ganz und gar nicht«, antwortete Summer. »Solange es Ihnen nichts ausmacht, wenn ich bei jedem Schlagloch auf die Bremse steige.«
Sie nahm die Schlüssel entgegen, schwang sich in den Fahrersitz auf der rechten Seite, startete den Wagen und lenkte ihn zurück auf die Straße. Das Auto bereitete ihnen nun keine Probleme mehr, und sie rollten schon bald auf den Parkplatz von Broome Park. Die beiden Frauen betraten das Herrenhaus und trafen Aldrich dabei an, wie er im Garten-Atrium frische Croissants und Tee bereitstellte. Julie erwähnte nichts von ihrer Autopanne, während sie ihn für einen kurzen Moment beiseitenahm.
»Aldrich, ich würde Ihnen gern einige Fragen über Emily Kitchener stellen.«
Die Augen des alten Mannes begannen sofort zu leuchten. »Emily war eine reizende Lady. Erst gestern Abend habe ich einem Gast von ihr erzählt. Sie ging abends gern im Garten spazieren, um die Nachtigallen singen zu hören. Es ist schwer zu glauben, dass sie mittlerweile schon seit zehn Jahren tot ist.«
»Hat sie hier auf dem Anwesen gewohnt?«, fragte Summer.
»O ja. Mein Vater nahm sie hier auf, nachdem ihr Mann bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen war. Das muss um das Jahr 1970 gewesen sein. Sie wohnte in der heutigen Windsor Suite in der obersten Etage.«
»Können Sie sich vielleicht daran erinnern, ob sie Freundinnen oder Bekannte namens Sally hatte?«, fragte Julie.
»Nein, an jemanden mit dem Namen Sally erinnere ich mich nicht«, erwiderte er kopfschüttelnd.
»Hat sie jemals davon gesprochen, irgendwelche Dokumente oder Papiere von Lord Kitchener erhalten zu haben?«, wollte Summer weiter wissen.
»Sie hat mir gegenüber niemals etwas Derartiges erwähnt. Natürlich muss sie sehr jung gewesen sein, als der Lord starb. Sie können sich gern unter ihren persönlichen Dingen umsehen, wenn Sie wollen. Ich habe unten im Keller ein paar Kartons mit ihrem Nachlass.«
Summer schickte Julie einen hoffnungsvollen Blick.
»Wenn es Ihnen keine zu großen Umstände macht«, sagte Julie zu Aldrich.
»Überhaupt nicht. Ich kann Sie jetzt gleich nach unten bringen.«
Aldrich ging mit ihnen in seine Privatwohnung und dort durch eine verriegelte Tür zu einer Treppe. Am Ende der Treppe erreichten sie einen schwach erleuchteten Keller, der eigentlich nicht mehr war als ein breiter Korridor, der unter einem Teil des Haupthauses verlief. Alte Holzkisten und mit Staub bedeckte Möbel waren auf beiden Seiten des Ganges aufgestapelt worden.
»Viele von den alten Möbeln gehörten dem Earl«, erklärte Aldrich, während er sie durch den Gang führte. »Ich muss in nächster Zeit unbedingt mal wieder eine Versteigerung veranstalten.«
Am Ende des Korridors kamen sie zu einer massiven Tür mit einem schweren Riegel.
»Das war mal eine Vorratskammer«, sagte er und streckte die Hand nach dem Riegel aus, ehe er bemerkte, dass er bereits zurückgezogen war. »Sie haben die Tür immer ganz dicht verschlossen, um die Ratten draußen zu halten«, sagte er lächelnd zu Summer.
Er betätigte einen außen liegenden Lichtschalter, dann fasste er nach einem stabilen Handgriff und zog die schwere Tür auf, hinter der sich ein etwa drei Meter langer Raum mit Regalen auf beiden Seiten und einem Holzschrank am Ende befand. Die Regale waren vollgestopft mit Pappkartons, von denen die meisten mit Dokumenten und Nachlassakten gefüllt waren.
»Das dort müssten Emilys Sachen sein«, sagte er, ging zum Ende des Kellerraums und deutete auf ein Regalbrett in Hüfthöhe, auf dem drei Kartons mit der Aufschrift E. J. Kitchener standen.
»Emily Jane Kitchener«, sagte Aldrich. »Am einfachsten wäre es für Sie, wenn Sie sich die Kartons gleich hier unten vornehmen. Soll ich Sie nachher abholen lassen?«
»Danke, Aldrich, aber das wird nicht nötig sein«, erwiderte Julie. »Wir schließen ab und finden schon allein wieder hinaus.«
»Ich hoffe, Sie leisten uns heute beim Abendessen Gesellschaft. Wir veranstalten nämlich im Garten ein traditionelles Fish Fry«, sagte der alte Hausverwalter, machte kehrt und verließ den Vorratsraum.
Summer schaute amüsiert hinter ihm her. »Ein wirklich reizender alter Knabe«, sagte sie.
»Ein Gentleman der alten Schule«, pflichtete Julie ihr bei und zog zwei der Kartons nach vorn. »Los geht's. Einer für Sie, einer für mich.«
Summer kam herüber und klappte den Karton auf, der, wie sie bemerkte, nicht zugeklebt war. Der Inhalt bot ein ungeordnetes Durcheinander, als wären die Gegenstände achtlos in den Karton geworfen oder irgendwann durchwühlt worden. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie eine Säuglingsdecke herausnahm und auf ein leeres Regalbrett legte. Daneben platzierte sie Kinderkleidung, eine große Puppe und mehrere kleine Porzellanfiguren. Ganz unten im Karton fand sie noch ein paar Stücke Modeschmuck und ein Buch mit Kinderreimen.
»Karton Nummer eins ist mit Kindheitserinnerungen gefüllt«, sagte sie und legte die Gegenstände behutsam wieder in den Karton. »Nichts von Bedeutung, fürchte ich.«
»Ich habe hier auch nicht mehr Glück«, meldete Julie und stellte ein Paar mit Pailletten besetzte Stiefel aufs Regalbrett. »Vorwiegend Schuhe, Pullover und ein paar Abendkleider.« Schließlich nahm sie auch noch ein flaches Tablett aus dem Karton. »Und ein angelaufenes silbernes Essbesteck«, fügte sie hinzu.
Die Frauen stellten die Kartons wieder zurück und öffneten dann gemeinsam den dritten Karton.
»Das sieht ein wenig vielversprechender aus«, sagte Julie und nahm einen dünnen Stapel Briefe heraus.
Während sie die Briefe durchblätterte und teilweise überflog, untersuchte Summer den restlichen Inhalt des Kartons. Er bestand vorwiegend aus Büchern Emilys sowie gerahmten Fotos von ihr und ihrem Ehemann. Auf dem Grund des Kartons fand sie einen großen Briefumschlag, der mit alten Fotografien gefüllt war.
»Auch hier Fehlanzeige«, sagte Julie, beendete die Lektüre des letzten Briefs und steckte ihn wieder in seinen Umschlag. »Das sind alles alte Briefe von ihrem Mann. Nirgendwo wird unser geheimnisvolles Mädchen erwähnt. Ich vermute, das Rätsel um Sally bleibt ungelüftet.«
»Immerhin war es ein Versuch«, erwiderte Summer, zog die Fotografien aus dem Umschlag und breitete sie auf dem Regalbrett aus, damit auch Julie sie betrachten konnte. Es waren ausnahmslos sepiafarbene Schnappschüsse, fast ein Jahrhundert alt. Julie hob ein Foto von einer jungen Frau in Reitkleidung hoch, die die Zügel eines Pferdes in der Hand hielt.
»Sie war eine schöne junge Frau«, stellte Summer fest und betrachtete das feingeschnittene Gesicht mit den eindringlichen Augen, die denen ihres berühmten Onkels recht ähnlich waren.
»Hier ist ein Foto mit Kitchener«, sagte Julie und deutete auf eine frühere Abbildung in einem Garten. Kitchener stand in seiner Uniform neben einem jungen Ehepaar mit seiner kleinen Tochter zwischen ihnen. Das Mädchen hatte eine Puppe im Arm. Summer erkannte das Kind als jüngere Version der Emily auf dem Bild mit dem Pferd.
»Darauf sieht sie aus, als wäre sie vier Jahre alt«, sagte Summer, nahm das Foto und schaute auf die Rückseite, um nachzusehen, ob dort ein Datum notiert war. Sie vergaß beinahe zu atmen, als sie die Worte las.
»April 1916. Onkel Henry und Emily mit Sally auf Broome Park.«
Sie hielt Julie das Foto vor die Nase. Julie las die Notiz, dann drehte sie das Foto um und studierte stirnrunzelnd das Bild.
»Aber das ist Emily mit ihren Eltern. Ihre Mutter hieß Margaret, glaube ich.«
Summer sah sie an und lächelte fröhlich. »Sally ist die Puppe.«
Als Julie endlich begriff, durchstöberte Summer bereits den ersten Karton von Emily Kitcheners Hinterlassenschaft. Kurz darauf holte sie die blonde Puppe mit Porzellangesicht und einer Schürze mit Schachbrettmuster heraus. Indem sie die Puppe hochhielt, verglich Summer sie mit der Puppe auf dem Foto.
Es war dieselbe.
»Er sagte, das Manifest sei bei Sally in sicherer Verwahrung«, murmelte Julie. »Und Sally ist eine Puppe.«
Die beiden Frauen studierten die Puppe, deren Kleider und Gliedmaßen von den intensiven Kinderspielen eines Mädchens vor fast einem Jahrhundert abgenutzt waren. Mit vorsichtig tastenden Fingern drehte Summer die Puppe um und zog ihr die karierte Schürze und das dazu passende Baumwollkleid aus. Eine dicke Naht war auf dem Rücken der Puppe zu sehen, die dafür sorgte, dass die Füllung nicht herausquoll. Nur war die Naht grob und ungleichmäßig ausgeführt und passte überhaupt nicht zu der sorgfältigen Art und Weise, mit der die anderen Teile der Puppe angefertigt worden waren.
»Das sieht mir nicht wie das Werk einer kunstfertigen Näherin aus«, stellte Summer fest.
Julie kramte in einem der anderen Kartons und förderte ein vom Alter fleckiges Tischmesser zutage.
»Wollen Sie nicht einen chirurgischen Eingriff ausführen?«, fragte sie gespannt und reichte Summer das Messer.
Summer legte die Puppe bäuchlings auf das Regalbrett und begann am obersten Nahtstich zu sägen. Das stumpfe Tafelmesser konnte dem zähen Katgut-Faden kaum beikommen, aber schließlich zerschnitt Summer doch die ersten Stiche. Dann legte sie das Messer beiseite, zog den Rest der Naht auseinander und öffnete die Rückseite der Puppe. In ihrem Innern befand sich eine zusammengepresste Masse aus Baumwollwatte.
»Verzeih mir, Sally«, sagte sie und holte die Watte behutsam heraus, als wäre die Puppe ein lebendiges Wesen. Julie blickte gespannt über Summers Schulter, sank jedoch enttäuscht zurück, als sie sah, dass der Oberkörper der Puppe mit nichts als Baumwolle gefüllt war. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf, während Summer ein dickes Knäuel der Füllung hervorzog.
»Es war eine dumme Idee«, murmelte sie.
Aber Summer war noch nicht fertig. Sie blickte in die Höhlung und tastete mit den Fingerspitzen darin herum. »Moment mal, ich glaube, da ist noch was.«
Julie machte große Augen, als sie sah, wie Summer die Finger ins linke Bein der Puppe schlängelte und einen Gegenstand ergriff. Summer zog und zerrte daran herum, bis sie eine mehrere Zentimeter lange, in Tuch eingewickelte Röhre herausfischte. Julie beugte sich vor, während Summer den Gegenstand auf das Regalbrett legte und vorsichtig aus dem Tuch wickelte. Zum Vorschein kam ein Stück zusammengerolltes Pergament. Summer hielt die obere Kante fest und rollte es dann auf dem Regalbrett aus, während beide Frauen den Atem anhielten.
Das Pergament war unbeschriftet. Doch sie sahen sofort, dass es als Schutz einer kleineren Rolle gedient hatte. Es war ein bambusfarbenes Papyrusblatt mit einem einzigen Schriftblock in der Mitte.
»Das... das muss das Manifest sein«, flüsterte Julie und starrte das uralte Dokument gebannt an.
»Es ist offenbar in einer alten Sprache geschrieben«, stellte Summer fest.
Julie betrachtete die Schriftzeichen, die ihr vertraut vorkamen. »Es ist so ähnlich wie Griechisch«, sagte sie, »aber ich habe so etwas noch nie gesehen.«
»Sehr wahrscheinlich ist es Koptisch«, sagte eine männliche Stimme hinter ihnen.
Die Frauen zuckten bei der unerwarteten Bemerkung zusammen. Sie fuhren zur Tür herum und sahen zu ihrem Schrecken Ridley Bannister im Türrahmen stehen. Er war mit einer dick wattierten Lederjacke und einer Hose bekleidet, wie sie normalerweise von Motorradfahrern bei Querfeldeinrennen getragen wurden. Aber keine der beiden Frauen achtete auf seine ungewöhnliche äußere Aufmachung. Sie konzentrierten sich ausschließlich auf den stupsnasigen Revolver in seiner Hand, mit dem er auf sie zielte.
30
»Sie waren es, der mich in meinem Hotelzimmer überfallen hat«, platzte Julie heraus, als sie endlich die Ledermontur wiedererkannte.
»Überfallen ist ein ziemlich hartes Wort«, widersprach Bannister lässig. »Ich sehe es lieber so, dass wir Forschungsergebnisse ausgetauscht haben.«
»Sie haben sie gestohlen, meinen Sie sicher«, sagte Summer.
Bannister schickte ihr einen gekränkten Blick. »Aber überhaupt nicht«, hielt er dagegen. »Streng genommen nur ausgeliehen. Sie werden feststellen, dass das Tagebuch bei den restlichen Papieren Kitcheners oben eine neue Heimat gefunden hat.«
»Oh, ein reumütiger Dieb«, meinte Summer daraufhin spöttisch.
Bannister ignorierte die bissige Bemerkung.
»Ich muss schon sagen, ich bin von Ihren detektivischen Fähigkeiten beeindruckt«, sagte er, an Julie gewandt. »Dieses in Leder gebundene Tagebuch war ein erstaunlicher Fund, obwohl die Eintragungen des Earls alles andere als aufregend waren. Aber dann auch noch Sally zu identifizieren. Eine enorme Leistung.«
»Wir waren eben nicht so schlampig wie Sie«, sagte Summer.
»Ja, nun, ich hatte auch nur begrenzt Zeit, mich mit Emily Kitcheners Hinterlassenschaft zu befassen. Aber wie dem auch sei, es war eine gute Arbeit. Ich habe selbst vor zehn Jahren danach gesucht - erfolglos.« Er hob die Pistole und winkte damit.
»Wären die Ladys jetzt vielleicht so nett und würden sich ein wenig zurückziehen? Ich muss mich nämlich mit dem Manifest schnellstens auf den Weg machen.«
»Wollen Sie sich das auch wieder ausleihen?«, fragte Julie.
»Diesmal nicht, fürchte ich«, erwiderte Bannister mit einem raubtierhaften Lächeln.
Julie warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf die Rolle, ehe sie langsam zurückwich.
»Verraten Sie uns noch etwas - welche Bedeutung hat dieses Manifest denn eigentlich?«, fragte sie.
»Solange seine Echtheit nicht bestätigt wurde, kann man das mit letzter Sicherheit gar nicht sagen«, antwortete Bannister und kam herüber, um das Pergament mit der Papyrusrolle an sich zu nehmen. »Es ist nur ein altes Dokument, von dem einige vermuten, dass es die theologischen Machtverhältnisse erschüttern kann.« Er ergriff die Rolle mit der freien Hand und verstaute sie behutsam in der Innentasche seiner Jacke.
»Wurde Kitchener deswegen getötet?«, fragte Julie.
»Ich nehme es doch an. Aber das sollten Sie lieber die Kirche von England fragen. Es war nett, mit Ihnen zu schwatzen, verehrte Ladys«, sagte er und ging rückwärts zur Tür, »aber ich fürchte, meine Maschine startet in Kürze.«
Er verließ den Vorratsraum und machte Anstalten, die Tür hinter sich zu schließen.
»Sperren Sie uns bitte nicht hier unten ein«, bat Julie.
»Keine Sorge«, sagte Bannister. »Ich werde Aldrich nach einem Tag anrufen und ihm mitteilen, dass in seinem Keller zwei reizende Damen eingeschlossen sind. Goodbye.«
Die Tür fiel zu, gefolgt von dem Geräusch des Riegels, als dieser vorgeschoben wurde. Dann knipste Bannister die Beleuchtung des Vorratsraums aus und ließ ihn in Finsternis versinken. Er schlich sich nach oben in Aldrichs Wohnung, legte die ungeladene Webley-Pistole in die Vitrine mit Kitcheners militärischen Utensilien zurück, aus der er sie Minuten zuvor erst herausgefischt hatte. Nachdem er gewartet hatte, bis niemand im Foyer zu sehen war, verließ er unbemerkt das Haus und schwang sich auf sein gemietetes Motorrad.
Drei Stunden später rief er vom Flughafen Heathrow den Sicherheitschef des Lambeth Palace an.
»Judkins, hier ist Bannister.«
»Bannister«, antwortete der Sicherheitschef in scharfem Ton. »Ich warte schon die ganze Zeit, dass Sie sich endlich melden. Haben Sie diese Goodyear-Tante verfolgt?«
»Ja. Sie und die Amerikanerin waren auf Broome Park und haben Kitcheners Dokumente ausgegraben. Sie sind noch immer dort.«
»Werden sie ein Problem sein?«
»Nun, sie sind ein wenig misstrauisch und haben sicherlich den richtigen Baum angebellt.«
»Aber haben sie irgendetwas, das uns schaden könnte?«, fragte der Sicherheitschef ungeduldig.
»O nein«, erwiderte Bannister und klopfte grinsend auf seine Brusttasche. »Sie haben nichts. Überhaupt nichts.«
31
In der verriegelten Vorratskammer war es so dunkel wie in einer Felsenhöhle. Summer stützte sich mit einer Hand auf das Regalbrett, während sie darauf wartete, dass sich ihre Augen an die plötzliche Dunkelheit gewöhnten. Doch ohne irgendeine Lichtquelle gab es absolut nichts zu sehen. Sie erinnerte sich an ihr Mobiltelefon und holte es aus der Tasche. Es verbreitete einen bläulichen Lichtschimmer.
»Keine Netzverbindung hier unten, fürchte ich, aber zumindest haben wir ein Nachtlicht«, sagte sie.
Indem sie ihr Mobiltelefon als Taschenlampe benutzte, ging sie zur Tür, stemmte sich zuerst mit der Schulter dagegen und versetzte ihr dann ein paar harte Tritte mit dem Schuhabsatz. Die dicke Tür gab keinen Millimeter nach, und sie wusste, dass nicht einmal ein Sumoringer fähig wäre, den Riegel abzubrechen. Also kehrte sie zu Julie zurück, leuchtete sie mit dem Mobiltelefon an und sah einen ängstlichen Ausdruck in ihrem Gesicht.
»Das Ganze gefällt mir kein bisschen«, sagte Julie mit zittriger Stimme. »Ich glaube, ich muss gleich losschreien.«
»Wissen Sie was, Julie, das ist eine gute Idee. Warum tun wir es nicht?«
Summer legte den Kopf in den Nacken und stieß einen lauten Schrei aus. Julie stimmte sofort mit ein und rief wiederholt um Hilfe.
Durch die dicke Tür der Vorratskammer gedämpft, waren die Schreie im Haus darüber nur schwach zu hören. Die wenigen Gäste, die die Rufe hörten, nahmen an, dass jemand seinen iPod zu laut eingestellt hatte. Und Aldrichs alte Ohren nahmen überhaupt nichts davon wahr.
Die Frauen legten eine kurze Pause ein, dann versuchten sie abermals ihr Glück mit Hilferufen. Als weitere Minuten ohne Reaktion verstrichen waren, kapitulierten sie vor der Tatsache, dass sie offenbar
wirklich nicht gehört wurden. Allerdings hatten die Schreie eine befreiende Wirkung und halfen ihnen, die Angst und die Ausweglosigkeit ihrer Gefangenschaft zu verdrängen. Vor allem Julie schien ihre Selbstbeherrschung, die sie beinahe verloren hätte, zurückzugewinnen.
»Ich finde, wir können es uns hier ruhig gemütlich machen, wenn wir noch eine Weile ausharren müssen«, sagte sie, stellte einen großen Karton auf den Boden und benutzte ihn als Stuhl. »Meinen Sie, dass er Aldrich tatsächlich anruft?«
»Ich denke schon«, erwiderte Summer. »Er hat sich nicht wie ein erfahrener Killer benommen, auch kam er mir keineswegs psychisch gestört vor.« Tief in ihrem Innern war sie sich dessen allerdings nicht so sicher.
»Ich meinerseits würde nicht auf Aldrich warten«, fügte sie hinzu. »Vielleicht befindet sich in einem der Kartons irgendetwas, das uns hilft, aus diesem Gefängnis rauszukommen.«
Im matten Lichtschein ihres Mobiltelefons brach sie einige der anderen Kartons auf. Aber es wurde schnell offenbar, dass in der ehemaligen Vorratskammer nichts als Papiere, Kleider und ein paar persönliche Besitztümer aufbewahrt wurden. Schon nach kurzer Zeit entmutigt, schob sie einen Karton neben Julie und setzte sich darauf.
»Es scheint, als hätten wir kaum mehr als eine einigermaßen ansprechende Garderobe, die uns auf einer Flucht helfen könnte.«
»Na ja, zumindest haben wir etwas für den Fall, dass uns kalt wird«, sagte Julie. »Wenn nur auch noch was zu essen hier unten wäre.«
»Ich fürchte, Lebensmittel werden wir in der Vorratskammer nicht finden«, sagte Summer. Dann überlegte sie einen Moment und ließ sich ihre Worte noch einmal durch den Kopf gehen. »Aldrich sagte doch, dies sei als zweiter Vorratsraum genutzt worden, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Julie. »Und dass hier Gott sei Dank keine Ratten eindringen können.«
»Julie, wissen Sie, wo sich die Küche in diesem Haus befindet?«
Die Historikerin runzelte die Stirn. »Ich war noch nie dort, aber sie muss neben dem Hauptspeisesaal auf der Westseite des Hauses liegen.«
Summer rief sich die Lage des Anwesens ins Gedächtnis. »Wir befinden uns doch hier auf der Westseite, nicht wahr?“
»Ja.«
»Demnach müsste die Küche genau über uns sein, oder nicht?«
»Doch, das könnte hinkommen. Worauf wollen Sie hinaus?«
Summer stand auf, ging durch den Raum und untersuchte mit Hilfe ihres leuchtenden Mobiltelefons die Wände hinter den Vorratsregalen. Dabei erreichte sie den hinteren Teil der Kammer und inspizierte eine Reihe von vier Schranktüren, die sie hinter einem Kartonstapel fand. Sie reichte Julie das Mobiltelefon und bat sie, es einen Moment lang festzuhalten.
»Wenn Sie als Köchin bei Kitchener arbeiten würden und einen Sack Mehl brauchten, würden Sie ihn dann durchs ganze Haus schleppen wollen?«, fragte sie und schob den Stapel Kartons ein Stück zur Seite. Dann versuchte sie, die beiden oberen Schranktüren zu öffnen, doch sie waren fest verschlossen.
»Das hier sind unechte Türen«, sagte Julie und hielt das Licht hoch, während Summer die Fingernägel ohne Erfolg unter die Türkanten schob. »Probieren Sie es mal bei den unteren Türen.«
Julie schob einen Karton auf dem Boden zur Seite, so dass Summer ihr Glück bei den unteren Türen versuchen konnte. Sie zog an den Kanten und erlebte eine Überraschung, als beide Türen mühelos aufschwangen. Hinter ihnen erschien ein leeres schwarzes Abteil.
»Leuchten Sie mal mit dem Telefon hinein«, bat Summer.
Julie schob das Mobiltelefon in die Öffnung und erhellte ein großes Tablett auf dem Boden des Abteils, das an einem Rahmen hinten in der Kabine befestigt war. Auf einer Seite war ein Riemenrad mit einem Seil darum zu sehen, das nach oben verschwand. Julie drehte das Mobiltelefon und blickte in einen vertikalen Schacht.
»Das ist ein Speisenaufzug«, stellte Julie fest. »Klar, natürlich, was denn auch sonst! Woher wussten Sie das?«
Summer zuckte die Achseln. »Auf Grund einer lebenslangen Aversion dagegen, den mühsamen Weg zu gehen, wenn man es sich auch leichter machen kann, vermute ich.«
Für einen Augenblick betrachtete sie das Tablett und die Öffnung. »Es ist zwar ein wenig eng, aber ich denke, als Fahrstuhl wird es wohl ausreichen. Ich fürchte, ich muss mir das Licht noch mal ausleihen.«
»Sie dürfen dieses Ding nicht benutzen«, warnte Julie. »Sie brechen sich ja den Hals.«
»Keine Sorge, ich glaube, ich passe so gerade eben hinein.«
Summer nahm das Telefon und schob die Beine in die Öffnung, dann schlängelte sie den restlichen Körper hinein, bis sie mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Tablett saß. Zwei ausgefranste Seile hingen neben dem Riemenrad herab, aber sie wagte nicht, ihnen ihr Gewicht anzuvertrauen. Sie legte sich das Telefon in den Schoß und inspizierte stattdessen das dünne Stück Fahrradkette, das um das eigentliche Seilrad gelegt war. Dann schob sie den Kopf noch einmal aus der Aufzugkabine.
»Wünschen Sie mir Glück. Wenn alles klappt, sehen wir uns in fünf Minuten vorn an der Tür«, sagte sie zu Julie.
Summer fasste die Kette mit beiden Händen und zog sie kraftvoll nach unten. Das Tablett stieg sofort hoch, und Summer wurde in den Schacht gehoben. Julie leerte schnell einen Karton mit Kleidern und verteilte sie auf dem Boden des Abteils - nur für den Fall, dass Summer den Halt verlor und abstürzte.
Aber die athletische junge Ozeanographin stürzte nicht ab. Summer konnte sich drei Meter hochziehen, ehe ihre Hände und Armmuskeln schwach wurden. Sie stellte fest, dass sie das Tablett nach vorn kippen, die Füße gegen eine Schachtwand und den Rücken gegen die gegenüberliegende drücken konnte. Indem sie ihr Gewicht auf diese Weise fixierte, durfte sie es wagen, für einen Moment die scharfkantige Kette loszulassen und ihre Hände zu entspannen. Nachdem sie sich für ein paar Minuten ausgeruht hatte, zog sie sich weiter hoch, bevor sie die nächste Pause einlegte.
Sie entdeckte die obere Seilrolle ein kurzes Stück über ihrem Kopf und unternahm noch eine letzte Kraftanstrengung, um nach ganz oben zu gelangen. Mit schmerzenden Händen und Armen hievte sie sich auf die gleiche Höhe mit der Seilrolle und musste den Kopf unter dem oberen Schachtende einziehen. Die Innenseite der Kabinentür erschien vor ihr, also trat sie schnell mit den Füßen dagegen. Aber die Tür rührte sich nicht.
Sie konnte spüren, wie ihre Arme schwach wurden, während sie abermals mit den Füßen zustieß und diesmal eine winzige Bewegung der Tür wahrnahm. Sie befand sich zu hoch und zu nah am Seilrad, um sich zum Ausruhen in den Schacht zu stemmen. Und sie merkte, wie ihr Halt an der Kette nachließ. Als sie erkannte, dass es nur noch Sekunden dauern würde, bis ihr Griff vollkommen erlahmte, schob sie sich so weit wie möglich zurück, schoss dann vorwärts und rammte die Füße mit aller Kraft gegen die Tür.
Sie hörte ein entsetzliches Krachen, als die Kabinentür aufsprang und einen Schwall grellen Lichts in den dunklen Schacht eindringen ließ. Summer war von der plötzlichen Helligkeit geblendet, während sie durch die Tür glitt und die Kette losließ, während der Schwung sie über eine auf Hochglanz polierte Fläche trug.
Ihre Sicht klärte sich, und sie stellte fest, dass sie auf einer großen Teakanrichte lag. Diese stand in einem kleinen, aber hell erleuchteten Salon, der von einem Teil der Küche des Herrensitzes abgetrennt worden war. Zu ihrem Schrecken sah Summer ein halbes Dutzend ältere Ehepaare in diesem Raum an Tischen sitzen und ihre Teestunde zelebrieren. Sie starrten sie an, als sei sie eine Außerirdische.
Sie kletterte von der Anrichte herab, kam auf die Füße und betrachtete die Ursache des lauten Krachs. Auf dem Fußboden verstreut lagen die Löffel, Teetassen und Untertassen eines Teeservices, das durch die Luft geflogen war, als sie die Tür aufgetreten hatte.
Summer klopfte sich reumütig den Staub ab und versteckte ihre von der Zugkette öligen Hände, während sie die gaffenden Herrschaften anlächelte.
»Die Teestunde ist mir sonst wirklich heilig«, sagte sie entschuldigend, und dann verließ sie eilig den Raum.
Mit Aldrich stieß sie auf dem Gang zusammen, als er nachschauen kam, was der Lärm zu bedeuten habe, und erklärte ihm, das Julie dringend Hilfe brauche. Zusammen rannten sie die Treppe hinunter und entriegelten die Tür des Vorratskellers. Julie strahlte Summer erleichtert an.
»Ich habe einen furchtbaren Lärm gehört. Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Summer amüsiert, »aber ich schulde Aldrich wohl ein neues Teeservice.«
»Unsinn«, widersprach der alte Mann entrüstet. »Und jetzt erzählen Sie mir doch mal, wer Sie hier eingeschlossen hat.«
Julie beschrieb Bannister und seine Motorradkluft.
»Das klingt nach diesem Baker«, sagte Aldrich. »Er hat heute Morgen ausgecheckt.«
»Was wissen Sie von ihm?«, fragte Summer.
»Nicht viel, fürchte ich. Er erzählte, er sei Schriftsteller und komme aus London, um hier ein Golf-Wochenende zu verbringen. Aber ich kann mich vage erinnern, dass er schon vor vier oder fünf Jahren einmal hier war. Ich habe ihn damals im Archiv herumstöbern lassen. Er weiß ganz gut über den Earl Bescheid. Und er war es auch, der sich nach Emily erkundigt hat.«
Julie und Summer wechselten einen vielsagenden Blick, dann trat Summer in den Vorratsraum.
»Wollen Sie, dass ich die Polizei benachrichtige?«, fragte Aldrich.
Julie überlegte einen Moment. »Nein, ich denke, das ist nicht nötig. Er hat bekommen, was er gesucht hatte, daher glaube ich nicht, dass er uns noch einmal belästigen wird. Außerdem hat er Ihnen sicherlich einen falschen Namen und eine falsche Adresse genannt.«
»Ich werde ihn mir gründlich vornehmen, wenn er sich hier noch einmal blicken lässt«, schnaubte Aldrich. »Sie Ärmste. Kommen Sie doch nach oben und trinken Sie eine Tasse Tee.«
»Danke, Aldrich. Wir sind gleich da.«
Während Aldrich davonstolzierte, ließ sich Julie schwer atmend auf eine Queen-Anne-Bank sinken, die neben einigen zugedeckten Möbeln stand. Summer kam einige Sekunden später aus dem Vorratskeller und bemerkte die auffällige Blässe in Julies Gesicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte Summer.
»Ja. Ich wollte es nicht zugeben, aber ich leide ein wenig unter Klaustrophobie. Ich habe wenig Lust, das Gleiche wie eben in absehbarer Zeit noch einmal erleben zu müssen.«
Summer drehte sich um und schloss die schwere Tür hinter sich.
»Es besteht wohl keine Notwendigkeit mehr, dass einer von uns dort noch einmal einen Fuß hineinsetzt«, erklärte sie mit Nachdruck. »Wo ist Aldrich?«
»Nach oben gegangen, um für uns Tee aufzubrühen.«
»Hoffentlich findet er noch ein paar heile Tassen.«
Julie schüttelte den Kopf und verzog enttäuscht das Gesicht.
»Ich kann es nicht fassen. Wir hielten den entscheidenden Hinweis auf Kitcheners Tod schon in Händen, und dann wurde er uns von diesem Dieb entrissen, bevor wir dahinterkommen konnten, was das alles zu bedeuten hat.«
»Jetzt schauen Sie nicht so deprimiert. Nicht alles ist verloren«, versuchte Summer sie zu trösten.
»Aber wir haben kaum noch etwas, worauf wir uns stützen können. Vermutlich werden wir die wahre Bedeutung des Manifests nie ergründen.«
»Um Aldrich zu zitieren: Unsinn«, erwiderte Summer. »Wir haben immer noch Sally«, fügte sie hinzu und hielt die Puppe hoch. »Und was soll uns das nützen?«
»Na ja, unser Freund mag das linke Bein gestohlen haben, aber wir besitzen immer noch das rechte.«
Sie hielt Julie die zerfledderte Puppe vor die Augen und zupfte eine kleine Flocke Baumwollfüllung heraus. Als die Historikerin hineinsah, konnte sie die Spitze einer weiteren Papierrolle erkennen, diesmal im rechten Bein.
Sie sagte nichts, sondern sah nur mit funkelnden Augen zu, wie Summer das Objekt behutsam aus der Puppe zog. Als sie es auf die Sitzbank legte und vorsichtig ausrollte, erkannten beide Frauen, dass es weder ein Bogen Pergament noch ein Stück Papyrus war. Stattdessen hatten sie einen maschinengeschriebenen Brief mit der Absenderangabe »Archäologische Abteilung der Universität von Cambridge« in der Kopfzeile vor sich.
32
»Die Taucher sind immer noch unten«, meldete Rudi Gunn.
Er stand auf der Kommandobrücke der Aegean Explorer und beobachtete durch ein Fernglas ein leeres Zodiac, das an einer Ankerleine befestigt war, die zu dem osmanischen Schiffswrack hinabreichte. Alle paar Sekunden sah er nicht weit von der mit einer Boje versehenen Tauchleine Luftblasen an der Wasseroberfläche zerplatzen. Gunn ließ den Blick weiterwandern und stellte das Fernglas scharf, als die große blaue italienische Motorjacht in sein Blickfeld geriet. Ihm fiel auf, dass ihr Bug auf ihn wies, womit die Jacht quer zur herrschenden Strömung lag. Ein kurzer Blick auf das Heck zeigte ein paar Männer, die dort geschäftig herumturnten. Aber Gunn wurde der Blick schnell wieder durch den Decksaufbau des Schiffes versperrt.
»Unser neugieriger Freund schnüffelt immer noch in der Nachbarschaft herum«, sagte er.
»Die Sultanat«, fragte Pitt, der kurz vorher den Namen der Jacht entziffert hatte.
»Ja. Sieht so aus, als war sie ein wenig näher an das Wrack herangerückt.«
Pitt blickte vom Kartentisch auf, auf dem er einige Dokumente ausgebreitet hatte.
»Offenbar hat er schreckliche Langeweile.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was er beabsichtigt«, sagte Gunn und ließ das Fernglas sinken. »Er hat die seitlichen Steuerdüsen eingeschaltet und hält seinen Kahn damit quer zur Strömung.«
»Warum funken wir ihn nicht an und fragen ihn?«, schlug Pitt vor.
»Der Kapitän hat es gestern mehrmals versucht. Er konnte ihnen noch nicht einmal eine Antwort entlocken.«
Gunn kam herüber und setzte sich zu Pitt an den Tisch. Darauf standen zwei kleine Keramikbehälter, die am Fundort des Wracks geborgen worden waren. Pitt verglich die beiden Objekte mit der archäologischen Bewertung eines Handelsschiffes, das von dem berühmten Meeresarchäologen George Bass gefunden und ausgegraben worden war.
»Konntest du sie datieren?«, fragte Gunn, hob einen der Behälter hoch und betrachtete ihn eingehend.
»Sie ähneln einigen Keramiken, die auf einem Handelsschiff gefunden wurden, das im vierten Jahrhundert in der Nähe von Yassi Ada gesunken ist«, sagte Pitt und zeigte Gunn ein Foto, das zu dem Bericht gehörte.
»Demnach ist Als Krone also keine Fälschung?«
»Nein, sie dürfte echt sein. Wir haben es tatsächlich mit einem Schiffswrack aus osmanischer Zeit zu tun, das aus irgendwelchen Gründen römische Artefakte an Bord hatte.«
»Ein schöner Fund, egal wie man es betrachtet«, sagte Gunn. »Ich frage mich nur, woher die Gegenstände stammen?«
»Dr. Zeibig untersucht einige Getreideproben, die in einer der Tonscherben gefunden wurden und vielleicht Aufschluss über die Herkunft des Schiffes geben können. Natürlich, wenn du uns erlaubt hättest, deinen Monolithen ganz freizulegen, hätten wir schon jetzt eine Antwort.«
»O nein, die hättet ihr nicht«, protestierte Gunn. »Das ist mein Fund, und Rod meinte, dass ich ihn während unseres nächsten Tauchgangs mit ihm zusammen bergen könne. Halt bloß Al davon fern. Wobei mir einfällt«, sagte er und schaute dabei auf seine Uhr, »Iverson und Tang müssten jeden Moment auftauchen.«
»Dann sollte ich Al wohl besser aus der Koje holen«, sagte Pitt und erhob sich. »Wir sind für den nächsten Tauchgang vorgesehen.«
»Ich glaube, ich habe ihn neben seinem neuen Spielzeug ein Schläfchen machen sehen«, sagte Gunn.
»Ja, er kann es kaum erwarten, das Bullet im praktischen Taucheinsatz zu testen.«
Während Pitt die Kommandobrücke überquerte, gab ihm Gunn eine letzte Warnung mit auf den Weg.
»Vergesst es bloß nicht, ihr beiden. Lasst die Hände von meinem Monolithen«, rief er und drohte mit dem Finger, während Pitt hinausging.
Pitt holte eine Tauchtasche aus seiner Kabine, dann ging er zum Achterdeck des Schiffes. Im Schatten eines weißen, aerodynamisch geformten Tauchboots lag Giordino auf einem ausgebreiteten Nasstauchanzug und schlief. Pitts Schritte reichten aus, um Giordino zu wecken. Träge schlug er ein Auge auf.
»Zeit für einen weiteren Ausflug zu meiner abgesoffenen Königsjacht?«, fragte er.
»Ja, König Al. Wir sollen Rasterfeld C-2 untersuchen, offenbar nur ein Schutthügel.«
»Schutt? Wie soll ich denn meinen Thronschatz aus einem Schutthügel auffüllen?«, beklagte sich Giordino mit gespielter Bitterkeit. Er richtete sich auf und schlüpfte in den Nasstauchanzug, während Pitt seine Tauchtasche aufzippte und seinem Beispiel folgte. Ein paar Minuten später erschien Gunn, offensichtlich in Eile und mit einem besorgten Gesichtsausdruck.
»Dirk, die Taucher sollten vor zehn Minuten nach oben kommen, aber sie sind immer noch nicht zu sehen.«
»Vielleicht machen sie zur Sicherheit längere Dekompressionspausen«, meinte Giordino.
Pitt blickte zu dem leeren Zodiac, das in geringer Entfernung vertäut war. Iverson und Tang, die beiden Männer im Wasser, waren beide Umweltexperten und, wie Pitt wusste, erfahrene Taucher.
»Wir nehmen das Kleinboot und schauen mal nach«, sagte Pitt. »Fass mit an, Rudi.«
Gunn half ihnen, ein kleines Schlauchboot über die Reling zu heben, das für beide Männer und ihre Tauchausrüstung groß genug war. Pitt schnallte sich seine Atemflaschen schnell auf den Rücken und streifte Maske und Flossen über, während Giordino den Außenbordmotor startete und mit Vollgas Kurs auf das Zodiac nahm. Von den beiden Tauchern war noch immer nichts zu sehen, als sie neben dem größeren Schlauchboot längsseits gingen.
Das Kleinboot hatte noch ein wenig Fahrt, als Pitt sich bereits übet den Randwulst ins Wasser rollte. Er schwamm schnell zur Tauchleine, dann glitt er an der Leine entlang abwärts. Er erwartete, die beiden Männer fünf oder zehn Meter unter der Wasseroberfläche bei einer Dekompressionspause an der Leine hängend anzutreffen, aber sie waren nirgendwo zu sehen. Pitt blies seine Ohren frei, als er die Zwanzig-Meter-Marke erreichte, dann verstärkte er den Beinschlag, um schneller auf den Grund zu gelangen. In der Tiefe unter sich konnte er undeutlich das gelbe Ausgrabungsgitter aus Aluminium erkennen, das im sandigen Boden verankert worden war. Als er sich dem Ende der Tauchleine näherte, wo die Sicht rapide abnahm, knipste er eine Unterwasserlampe an.
Er suchte schnell die Umgebung um die verankerte Leine ab, dann schwamm er zum Gitter hinüber und glitt über das Schiffswrack. Er zögerte, als er das vierte Quadrat erreichte, und bemerkte eine Vertiefung im Sand, wo Gunns geliebter Monolith vorher vergraben gewesen war. Er schaute sich um und gewahrte vor sich ein blaues Objekt, nicht weit von dem Schutthaufen. Mit schnellen Flossenschlägen bewegte er sich zu der ausgestreckten Gestalt eines der Taucher hinüber.
Der Körper war unter dem Aluminiumgitter eingeklemmt, offenbar hatte man ein paar schwere Steine auf seine Brust gerollt. Ein Blick in die weit geöffneten starren Augen hinter der Tauchmaske verrieten Pitt, dass der NUMA-Wissenschaftler namens Iverson tot war. Pitt untersuchte die Ausrüstung des Mannes und bemerkte, dass sein Atemventil offenbar fehlte. In ein paar Metern Entfernung entdeckte Pitt es auf dem Meeresgrund. Ein sauberer Schnitt durch den Schlauch bestätigte seinen Verdacht, dass es mit Absicht abgetrennt worden war.
Über sich bemerkte Pitt ein Licht und konnte zu seiner Beruhigung die stämmige Gestalt Giordinos erkennen, der zu ihm herabsank. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, deutete Giordino auf Iversons Körper. Pitt beantwortete die stumme Frage mit einem Kopfschütteln, dann hielt er den Atemautomaten hoch und zeigte seinem Freund, wo er abgeschnitten worden war. Giordino nickte und deutete zum Heck des Wracks. Pitt folgte ihm dorthin.
Tangs Körper schwebte über dem Meeresgrund. Eine seiner Schwimmflossen hatte sich im Gitter verhakt. Er war ebenso ertrunken wie Iverson, schien jedoch in den letzten Sekunden vor seinem Tod um einiges heftiger um sein Leben gekämpft zu haben. Seine Tauchmaske, sein Bleigürtel und eine Flosse fehlten, und sein abgetrennter Regulator blinkte in der Nähe im Sand. Pitt richtete seine Lampe auf das Gesicht des Toten und fand eine rötliche Schwellung auf seiner rechten Wange. Der Wissenschaftler hatte offenbar gesehen, was mit Iverson geschah, und versucht sich zu verteidigen, dachte Pitt. Nur waren die Angreifer zu stark oder zu zahlreich gewesen. Pitt leuchtete mit der Lampe um sich, aber im Wasser war nichts Verdächtiges zu sehen. Die Angreifer mussten längst auf die italienische Jacht zurückgekehrt sein.
Er ergriff Tangs Auftriebskompensator und verlieh der Leiche einen Impuls nach oben, während Giordino ihm mit einem Zeichen zu verstehen gab, dass er sich um Iversons sterbliche Hülle kümmern wolle. Langsam stieg Pitt mit seinem toten Gefährten auf und schwamm dabei zur Tauchleine. Als er sich der Wasseroberfläche näherte, hörte er das dumpfe Dröhnen von Motoren, die angelassen wurden. Als das Dröhnen lauter wurde, vermutete er zu Recht, dass es die Jacht war, die in diesem Augenblick Anstalten machte, den Ort des Geschehens fluchtartig zu verlassen.
Während Pitts Vermutung zutraf, irrte er sich gründlich, was den Fluchtweg der Jacht betraf. Zur Wasseroberfläche aufsteigend erkannte er zu spät, dass der Lärm der Motoren deutlich zugenommen hatte und sich ihnen mit hohem Tempo ein Schatten näherte. Er tauchte neben dem Zodiac und dem Kleinboot auf und gewahrte beim Hochschauen, wie der imposante Rumpf der Jacht in knapp zehn Metern Entfernung in rasender Fahrt auf ihn zusteuerte. Der blaue Rumpf schlug wuchtig auf das Wasser, während seine Schrauben am Heck eine weiße Wasserfontäne in die Luft schleuderten.
Nach einem winzigen Moment krachte die Jacht gegen die beiden kleinen Boote, zerschmetterte das Zodiac mit seinem erdrückenden Rumpf und seinen rasenden Propellern, während sie das winzige Kleinboot wie ein lästiges Insekt lediglich beiseitefegte. Das zerstörte Zodiac sank wie ein Stein, während sich die Jacht rasant entfernte, immer kleiner wurde und schließlich mit dem Horizont verschmolz.
Im Kielwasser der Jacht kehrte die Boje der Tauchleine langsam wieder zur Wasseroberfläche zurück, nachdem sie zunächst in die Tiefe gedrückt worden war. Von ihrer Leine abgeschnitten tanzte sie im schäumenden Meerwasser, das sich rot färbte — von Menschenblut.
33
Giordino sah den Schatten der Motorjacht über sich hinwegrauschen und kam ein paar Meter neben der Boje an die Wasseroberfläche, den Körper Iversons immer noch im Schlepptau. Manuell füllte er den Auftriebskompensator des Toten, während er verfolgte, wie die zermalmten Überreste des Zodiac in seiner Nähe versanken. In der Ferne entdeckte er das teilweise schlaffe Kleinboot, das von einer leichten Brise davongetrieben wurde. Er sah sich eilig um, konnte Pitt jedoch nirgendwo entdecken. Erst dann gewahrte er den dunklen Fleck im Wasser neben der treibenden Boje.
Das Schlimmste befürchtend ließ er Iverson los und schwamm zu der Boje, um dort zu tauchen und unter Wasser nach Pitt zu suchen. Als er die Boje erreichte, zog sich sein Magen zu einem harten Knoten zusammen, da er erkannte, dass der dunkle Fleck im Wasser von menschlichem Blut stammte, das sich zu einer großen Wolke ausbreitete. In der Mitte der Wolke brach plötzlich ein Körper in einem Nasstauchanzug durch die Wasseroberfläche. Der Körper trieb auf dem Bauch, sein Kopf und seine Extremitäten befanden sich unter Wasser, so dass nicht zu erkennen war, wer es sein mochte. Eindeutig aber war der Oberkörper die Quelle für das Blut im Wasser. Zerschnitten und zerhackt, als wäre er unter einen Rasenmäher geraten, bot die Rückseite des Körpers eine grässliche Mischung aus zerfetztem Fleisch und Neopren, verstümmelt von den rasenden Propellern der Jacht.
Giordino unterdrückte seine aufkommende Übelkeit und schwamm schnell zu der Leiche hinüber. Voller Furcht vor dem, was er vorfinden würde, fasste er behutsam nach dem Oberkörper und hob den Kopf aus dem Wasser.
Es war nicht Pitt.
Er sprang fast aus seinem Nasstauchanzug, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er wirbelte herum und befand sich sofort Auge und Auge mit Pitt, der dicht hinter ihm aufgetaucht war. Giordino bemerkte einen dünnen Streifen weißer Farbe auf Pitts Kapuze und Schulter.
Giordino spuckte seinen Lungenautomaten aus und fragte sofort: »Bist du okay?«
»Ja, mir geht es gut«, erwiderte Pitt, obwohl Giordino einen Anflug von Zorn in den Augen seines Freundes wahrnehmen konnte.
»Seid ihr, du und Tang, diesem Güterzug in die Quere geraten?«, wollte Giordino wissen.
Pit nickte. »Tang hat mir das Leben gerettet.«
Als er mitten auf dem Kurs der rasenden Jacht aufgetaucht war, hatte Pitt nur wenige Sekunden Zeit gehabt, um zu reagieren. Schnell hatte er einen Arm durch Tangs Auftriebskompensator gestreckt und den Toten dicht an seine Brust gezogen, sich dann nach hinten gelehnt und unterzutauchen versucht. Mittlerweile hatte die Jacht sie fast erreicht und Tang - mit Pitt unter ihm — gerammt. Zusammen wurden sie unter den Rumpf gedrückt, bis die rotierenden Propeller über sie hinwegjagten. Pitt hatte es geschafft, Tang über sich festzuhalten, so dass der Körper des Toten von den messerscharfen Schraubenblättern das Meiste abbekam.
Pitt empfand Abscheu und Wut darüber, den Körper des Wissenschaftlers als menschlichen Schutzschild benutzt zu haben, aber er wusste, dass er sonst selbst vollkommen zerfleischt worden wäre.
»Sie haben ihn heute zweimal getötet«, sagte Giordino ernst.
»Sie...«, murmelte Pitt und blickte den kleiner werdenden Umrissen der Jacht nach, die dem Horizont entgegenraste. Seine Gedanken beschäftigten sich bereits auf Hochtouren mit der Frage, wer wohl bereit wäre, wegen eines alten Schiffswracks einen Mord zu begehen. Und warum?
»Wir sollten ihn hier schnellstens rausholen, ehe sich jeder Haifisch im Mittelmeer zum Mittagessen einfindet«, sagte Giordino und ergriff Tangs Arm.
Die Aegean Explorer hatte bereits den Anker gelichtet und kroch langsam auf die Männer im Wasser zu. Eine Gruppe von Matrosen ließ einen Kranhaken herab und hievte die Toten schnell an Bord, dann zogen sie Giordino und Pitt nach. Der Kapitän des Schiffes und der Arzt kamen schnell zum Schauplatz des Geschehens, dicht gefolgt von Gunn. Der stellvertretende NUMA-Direktor hatte einen benommenen Ausdruck in den Augen und drückte sich einen Eisbeutel gegen den Kopf.
»Beide sind im Wasser gestorben«, sagte Pitt, während sich der Arzt hinkniete und jeden der beiden schnell untersuchte. »Ertrunken.“
»Ein Unfall?«, fragte der Kapitän.
»Nein«, antwortete Pitt, während er seinen Nasstauchanzug abstreifte. Er deutete auf einen durchtrennten Atemschlauch, der von Iversons Tauchnasche herabhing.
»Jemand hat ihre Luftleitungen durchgeschnitten.«
»Dieselben Leute, die versucht haben, uns mit dem Rumpf ihres italienischen Luxusboots niederzubügeln«, fügte Giordino hinzu.
»Ich wusste ja, dass sie gelogen haben, als sie an Bord kamen«, sagte Kapitän Kenfield und schüttelte den Kopf. »Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie einen Mord begehen würden.«
Pitt bemerkte die Beule an Gunns Kopf, die dieser mit dem Eisbeutel betupfte.
»Was ist denn mit dir passiert?«
Gunn verzog das Gesicht, während er den Eisbeutel sinken ließ.
»Während ihr unten wart, hat die Jacht eine kleine Barkasse mit Bewaffneten herübergeschickt. Sie behaupteten, sie kämen vom türkischen Ministerium für Kultur und Tourismus.«
»Auf Patrouillenfahrt mit einer Luxusjacht?«, fragte Giordino skeptisch.
»Ich verlangte irgendeine Identifikation und schaute stattdessen in eine Gewehrmündung«, sagte Gunn und drückte den Eisbeutel wieder auf die Schwellung an seinem Kopf.
»Sie haben uns unmissverständlich klargemacht, dass wir kein Recht hätten, an einem Schififswrack aus der Zeit des osmanischen Reiches zu arbeiten«, sagte der Kapitän.
»Interessant, dass sie so genau wussten, was für ein Wrack es war«, stellte Giordino fest.
»Was wollten sie sonst noch?«, fragte Pitt.
»Sie verlangten die Herausgabe aller Artefakte, die wir aus dem Wrack herausgeholt haben«, sagte Kenfield. »Ich habe sie dann aufgefordert, von meinem Schiff zu verschwinden, aber das kam bei ihnen nicht so gut an. Sie haben Rudi und mich auf die Brückennock geführt und damit gedroht, uns zu töten. Die Mannschaft hatte keine andere Wahl als zu gehorchen.«
»Haben sie alles mitgenommen?«, wollte Giordino wissen.
Gunn nickte. »Sie haben das gesamte Labor ausgeräumt und sind dann auf ihre Jacht zurückgekehrt, kurz bevor ihr nach oben kamt.«