»Aber nicht ohne uns vorher aufzufordern, von hier zu verschwinden, und uns zu warnen, die Finger vom Funkgerät zu lassen«, fügte Kenfield hinzu.

»Ich verrate dir nur ungern, dass sie nicht nur all unsere Artefakte mitgenommen haben, Rudi«, sagte Pitt. »Sie haben auch den Monolithen auf dem Meeresgrund ausgegraben.«

»Das ist der geringste unserer Verluste«, sagte Gunn grimmig. »Sie haben nämlich Zeibig in ihrer Gewalt.«

Der Kapitän nickte. »Sie wollten wissen, wer die Ausgrabung des Wracks leitet. Zufälligerweise war Dr. Zeibig gerade im Labor, und so haben sie ihn gezwungen, sie zu begleiten.«

»Nach dem, was sie heute mit Iverson und Tang gemacht haben, wissen wir, dass sie nicht zögern werden, ihn ebenfalls zu töten«, sagte Giordino leise.

»Haben Sie schon versucht, irgendwen zu benachrichtigen«, fragte Pitt den Kapitän.

»Ich habe gerade per Satellitentelefon mit dem türkischen Ministerium für Kultur gesprochen. Dort hat man bestätigt, dass sie keine Motorjacht besitzen und in dieser Region keinerlei Kontrollen durchführen. Ich habe auch die türkische Küstenwache benachrichtigt. Unglücklicherweise haben sie aber kein Schiff in unmittelbarer Nähe stationiert. Sie haben uns an ihre Basis in Izmir verwiesen, um dort einen ausführlichen Bericht abzugeben.«

»Und in der Zwischenzeit können die Bösen mit Zeibig spurlos verschwinden«, sagte Pitt.

»Ich fürchte, uns bleibt nicht viel zu tun«, sagte der Kapitän. »Die Jacht ist mindestens zweimal so schnell wie die Aegean Explorer. Wenn wir sie verfolgen, haben wir nicht den Hauch einer Chance, sie einzuholen. Und wenn wir erst einmal einen Hafen angelaufen haben, können wir auch gleich unsere eigenen Regierungsbehörden alarmieren.«

Giordino räusperte sich laut, während er vortrat. »Ich kenne etwas, das könnte mit dieser Jacht Schritt halten.«

Er wandte sich zu Pitt und zwinkerte ihm zuversichtlich zu.

»Bist du sicher, dass sie bereit ist?«, fragte Pitt.

»Sie ist so bereit«, sagte Giordino, »wie ein hungriger Alligator in einem Ententeich.«

 

Schon vorher in Startbereitschaft versetzt, dauerte es nur ein paar Minuten, um die Funktionsfähigkeit aller Systeme zu überprüfen, ehe Giordinos neues Tauchboot über die Reling ins Wasser hinabgelassen wurde. Nebeneinander vor den Kontrollen sitzend nahm Giordino einen schnellen Sicherheitscheck vor, während Pitt per Funk die Kommandobrücke der Aegean Explorer rief.

»Explorer, bitte geben Sie mir die derzeitigen Positionsdaten unseres Zielobjekts«, bat er.

»Laut Radar hält es einen konstanten Kurs von null-ein-zwei Grad«, antwortete die Stimme Rudi Gunns. »Position zehn Meilen nördlich von uns.«

»Roger, Explorer. Bitte mit voller Kraft folgen, während wir versuchen, den Fuchs zu fangen. Bullet Ende.«

Eigentlich war Pitt skeptisch, was Verfolgungsjagden mit Tauchbooten betraf. Normalerweise mit Batteriestrom angetrieben, waren Forschungs-U-Boote seit jeher langsame, schwerfällige Fahrzeuge mit begrenztem Operationsradius. Aber die Bullett hatte die Regeln herkömmlicher U-Boot-Technik gebrochen.

Mit einem Namen, den sie eher ihrer Geschwindigkeit als ihrer äußeren Form verdankte, basierte die Bullet auf einem Design von Marion Hyper-Subs. Beim NUMA-Prototyp verschmolz eine stählerne Tauchzelle mit dem Rumpf eines Hochleistungs-Powerboots. Im Tauchbetrieb konnte die Bullet in Tiefen von tausend Fuß vorstoßen. Über Wasser erlaubten separate Antriebsmotoren in einem unter Druck stehenden Maschinengehäuse - zusammen mit einem 525 Gallonen fassenden Treibstofftank der Bullet — weite Strecken mit hoher Geschwindigkeit zurückzulegen. Seine Konstruktion gestattete es dem U-Boot, weit entfernte Tauchgebiete ohne ein begleitendes Hilfsschiff anzusteuern.

»Bereit, um den Überwasserantrieb zu aktivieren«, meldete Giordino. Dann streckte er die Hand aus und drückte auf den Starterknopf für ein Paar Dieselmotoren mit Turbolader.

Ein tiefes, dumpfes Dröhnen wurde hinter ihnen laut, als die beiden 500-PS-Motoren zum Leben erwachten. Giordino überprüfte mehrere Anzeigen auf dem Armaturenbrett, dann wandte er sich an Pitt.

»Wir können loslegen.«

»Dann wollen wir mal sehen, was sie leistet«, erwiderte Pitt und schob die Gashebel vor.

Sofort wurden sie in ihre Sitze gepresst, als die kraftvollen Dieselmotoren das Tauchboot vorwärtsschoben. Nach nur wenigen Sekunden erhob sich das Schiff auf seinen schlanken weißen Rumpf und jagte über die Wellen. Pitt spürte, wie das U-Boot über die bewegte See hüpfte und rollte, und während er allmählich ein Gefühl für seine Stabilität entwickelte, gab er behutsam mehr Gas. Da sich die Steuerkabine dicht hinter der Vorderkante des Schiffes befand, kam es Pitt so vor, als flögen sie über das Wasser.

»Vierunddreißig Knoten«, sagte er und las die Werte von einem Navigationsschirm ab. »Gar nicht übel.«

Giordino grinste breit und nickte. »Ich schätze, sie schafft bei ruhiger See über vierzig.«

Sie rasten nach Norden über das Agäische Meer und waren auf diese Weise fast zwanzig Minuten unterwegs, ehe sie endlich einen winzigen Punkt am Horizont entdeckten. Sie verfolgten die Jacht eine weitere Stunde lang, näherten sich ihr, während sie die Dardanellen passierten, und wichen zwei großen Öltankern aus, die aus dem Schwarzen Meer kamen. Plötzlich tauchte die große türkische Insel Gökceada vor ihnen auf, da änderte die Jacht den Kurs und wandte sich zum Osten der Insel.

Pitt folgte mit einem Zickzack-Kurs, damit es nicht so aussah, als folgte er der Jacht, dann aber, als sie sich bis auf einige Meilen genähert hatten, nahm er das Gas zurück. Die Jacht wendete sich allmählich wieder von der Insel ab und hielt auf das türkische Festland zu. Sie folgte seiner Küstenlinie, während sie die Geschwindigkeit allmählich drosselte. Pitt bog ab und folgte auf einem versetzten parallelen Kurs, blieb auf diese Weise weiter draußen auf See, hielt sich dabei aber stets in Sichtweite des Luxusboots. Mit ihrem flachen Profil erschien die Bullet aus der Ferne wie ein kleines Freizeitboot während einer nachmittäglichen Spazierfahrt.

Die Jacht fuhr mehrere Meilen an der türkischen Westküste entlang, dann wurde sie abrupt langsamer und schwenkte in eine halb versteckte Bucht ein. Während sie die Einfahrt in großem Abstand passierten, konnten Pitt und Giordino ein paar Gebäude und einen Kai mit einem daran vertäuten kleinen Frachter erkennen. Pitt behielt ihren Kurs bei, bis die Bucht eine oder zwei Meilen weit hinter ihnen lag und nicht mehr zu sehen war. Dann schob er die Gashebel auf Leerlauf.

»Es scheint, als hätten wir zwei Möglichkeiten«, sagte Giordino. »Wir können irgendwo an Land gehen und die Bucht zu Fuß erreichen. Oder wir warten bis zum Einbruch der Dunkelheit und lotsen die Bullet durch den Keller in die Bucht hinein.«

Pitt betrachtete die zerklüftete Küstenlinie in einer halben Meile Entfernung.

»Ich weiß nicht, ob es hier irgendeine geeignete Stelle gibt, um an Land zu gehen«, sagte er. »Außerdem, falls Zeibig oder jemand anders verletzt werden sollte, könnte eine Flucht zu Fuß problematisch werden.«

»Einverstanden. Also dann direkt in die Bucht.«

Pitt warf einen Blick auf das orangefarbene Zifferblatt seiner Doxa-Taucheruhr. »In einer Stunde wird es dunkel. Dann können wir uns auf den Weg machen.«

Die Stunde verstrich wie im Fluge. Pitt meldete der Aegean Explorer per Funk ihre Position und wies Rudi an, das Forschungsschiff zu einem Punkt zehn Meilen südlich der Bucht zu bringen. Giordino nutzte die Zeit, um eine digitale Karte der Küstenregion aufzurufen und eine Unterwasserroute in die Mitte der Bucht zu programmieren. Sobald es getaucht war, würde ein Autopilotsystem das U-Boot zu dem programmierten Punkt bringen.

Als die Dunkelheit hereinbrach, lenkte Pitt die Bullet bis auf eine halbe Meile an die Einfahrt der Bucht heran und schaltete dann die Dieselmotoren des Überwasserantriebs aus. Giordino verschloss die Motorgehäuse und setzte sie unter Druck, dann öffnete er ein Paar Rumpfklappen, durch die Wasser in die Ballasttanks gepumpt werden konnte. Die Bugtanks wurden zuerst gefüllt, und das U-Boot ging schnell auf Tauchstation.

Pitt fuhr einen Satz Tauchflossen aus, dann aktivierte er den elektrischen Unterwasserantrieb. Er widerstand dem Impuls, die Scheinwerfer des Vehikels einzuschalten, als die Unterwasserwelt außerhalb der Acrylglaskuppel schwarz wurde. Dann lenkte er das Boot bei mäßiger Geschwindigkeit vorwärts, bis Giordino ihm sagte, er solle die Kontrollen loslassen.

»Ab hier übernimmt der Autopilot die Navigation«, erklärte er.

»Bist du sicher, dass uns dieses Ding nicht auf einem Felsen aufspießt?«, fragte Pitt.

»Wir verfügen über ein Hochfrequenzsonar, das eine Reichweite von einhundert Metern hat. Vor kleinen Hindernissen wird der Autopilot alle nötigen Kurskorrekturen ausführen oder uns warnen, wenn etwas Größeres den Weg versperrt.«

»Das verdirbt einem die ganze Freude am Blindflug«, bemerkte Pitt.

Pitt hatte zwar nichts gegen Computer einzuwenden, doch wenn es um das Lenken eines Schiffes ging, war er ein Traditionalist. Er würde sich niemals hundertprozentig wohlfühlen, wenn er einem Computer die Kontrollen überließ. Die Steuerung vermittelte über wie unter Wasser stets ein ganz besonderes Gefühl, das selbst der beste Computer nicht wahrnehmen konnte. Jedenfalls redete er sich das ein. Die Hände frei und untätig, verfolgte er ihre Fahrt und hielt sich bereit, um jeden Augenblick die Kontrollen zu übernehmen.

Die Bullet sank bis auf dreißig Fuß, dann wurden die elektronischen Strahlruder automatisch eingeschaltet. Das Tauchboot folgte langsam seinem programmierten Kurs und glich behutsam eine leichte Seitenströmung aus, als es sich in die Einfahrt der Bucht schob. Giordino registrierte, dass der Sonarschirm leer blieb, während sie sich dem Zentrum der Bucht näherten. Ein Licht blinkte auf dem Monitor auf, und das Summen der Elektromotoren verstummte, als sie ihren vorbestimmten Zielpunkt erreicht hatten.

»Damit wäre der automatisierte Teil des Programms beendet«, verkündete Giordino.

Pitts Hände lagen bereits auf den Kontrollen.

»Mal sehen, ob wir irgendwo einen Parkplatz finden«, erwiderte er.

Indem die Ballasttanks in kleinen Schritten geleert wurden, stiegen sie langsam auf, bis nur die obersten Zentimeter der Acrylglaskuppel durch die Wasseroberfläche brachen. Über sich am Himmel waren die letzten Spuren des abendlichen Zwielichts zu erkennen, während das Wasser ringsum pechschwarz erschien. Giordino schaltete sämtliche internen Lichter und unnötigen Displayschirme aus, dann schickte er einen letzten Befehl an die Ballasttanks, um das Boot noch ein paar Zentimeter aufsteigen zu lassen.

Die Männer erhoben sich aus ihren Sesseln und blickten zum Ufer. Sie konnten erkennen, dass sich im nördlichen Teil der nahezu runden Bucht nur drei Häuser erhoben. Die Bauten standen vor einem Pier, der weit in die Bucht ragte. Die blaue italienische Jacht war deutlich zu sehen. Sie war auf der rechten Seite des Piers hinter einem Arbeitsboot vertäut. Auf der gegenüberliegenden Seite des Piers lag ein großer rostiger Frachter. Ein Fahrkran auf dem Pier lud im Licht einiger Flutlichtscheinwerfer Stückgut in den Frachter.

»Glaubst du, dass Rod noch an Bord der Jacht ist?«, fragte Giordino.

»Ich denke, davon sollten wir vorläufig ausgehen. Was hältst du davon, wenn wir in zweiter Reihe parken und einfach nachschauen? Ich glaube kaum, dass sie uns erwarten werden.«

»Überraschung ist immer gut. Packen wir es an.«

Pitt orientierte sich kurz, dann ließ er die Bullet sinken und schlich sich in Richtung Pier. Giordino aktivierte das Sonarsystem, das sie bis auf wenige Meter an die Jacht heranführte. Langsam wieder aufsteigend kamen sie an Backbord in ihrem Schatten hoch. Pitt wollte an der Jacht längsseits gehen, als er am Heck eine Bewegung wahrnahm.

Drei bewaffnete Männer kamen aus dem Innern der Jacht und wandten sich zum Pier. Einen Moment später erschien ein vierter Mann und wurde von den anderen über das Deck gestoßen.

»Das ist Zeibig«, erkannte Pitt und erhaschte einen kurzen Blick auf das Gesicht des Wissenschaftlers.

Aus ihrer tiefen Position im Wasser konnten sie Zeibig, der die Hände auf dem Rücken gefesselt hatte, kaum sehen. Zwei der bewaffneten Männer hievten ihn auf den Pier, dann trieben sie ihn zum Hafenkai. Pitt beobachtete, wie danach einer der Männer zur Jacht zurückkehrte und sich am Heck einen gemütlichen Platz suchte.

»Damit wäre die Jacht gestrichen«, sagte Pitt leise. »Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns unsichtbar machen.«

Giordino hatte bereits die Ballasttanks geöffnet, und nun versank die Bullet schnell in den schwarzen Fluten. Sie verschafften sich einen letzten Überblick über die Bucht, dann schlichen sie sich hinein und tauchten direkt unter dem überhängenden Heck des Frachters auf. Es war ein optimal getarnter Punkt, dank des Frachters vor etwaigen Blicken vom Ufer geschützt und zum Pier durch einen Stapel Ölfässer abgedeckt. Giordino kletterte leise hinaus und machte das Boot mit einer Leine am Pier fest, während Pitt die Energiesysteme ausschaltete und ihm folgte.

»Wäre sicherlich kein schöner Anblick, wenn der große Kasten seine Maschinen anwirft«, sagte Giordino angesichts der Tatsache, dass das U-Boot dicht über den Schrauben des Frachters trieb.

»Wenigstens kennen wir sein Nummernschild«, erwiderte Pitt und blickte zum Heck des Schiffes hoch. Dort war in breiten weißen Lettern auf Türkisch und Englisch der Schiffsname zu lesen: Osmanli Yildiz sowie Ottoman Star.

Die beiden Männer schlichen über den Pier, bis sie in den Schatten eines großen Generators gelangten, der in Höhe des vorderen Laderaums des Frachters stand. Dort waren eine Handvoll Hafenarbeiter damit beschäftigt, mit Hilfe eines hohen Krans große Holzkisten in den Frachter zu laden. Die blaue Jacht, auf deren Heck immer noch der bewaffnete Wächter auf und ab ging, war nur ein kurzes Stück davon entfernt vertäut. Giordino sah traurig zu den Scheinwerfern hinauf, die den Weg, der vor ihnen lag, hell erleuchteten.

»Ich bin mir gar nicht so sicher, ob wir einfach nur das LOS-Feld überqueren müssen und unsere 200 Dollar kassieren können«, sagte er.

Pitt nickte und spähte hinter dem Generator hervor auf den Kai. Er konnte zwei kleine zweistöckige Steinbauten sehen, die von zwei Lagerhäusern in Fertigbauweise flankiert wurden. Das Innere des rechten Lagerhauses war hell erleuchtet. Zu sehen waren dort zwei Gabelstapler, die Kisten durch ein offenes Tor zum Kran transportierten. Das linke Lagerhaus erschien dunkel und ausgestorben.

Pitt konzentrierte sich auf das mittlere Steingebäude. Eine helle Lampe über dem Eingang beleuchtete seine Fassade. Deutlich war der bewaffnete Wächter zu erkennen, der vor der Haustür stand.

»Der Bau in der Mitte«, sagte Pitt leise zu Giordino. »Dort halten sie Zeibig fest.«

In diesem Augenblick bemerkte er die Scheinwerfer eines Wagens, der sich zwischen den Hügeln näherte. Das Fahrzeug kam zügig eine Schotterstraße herunter, rollte über den Kai und stoppte vor dem beleuchteten mittleren Haus. Zu Pitts Verblüffung entpuppte sich der Wagen als eine moderne Jaguar-Limousine. Ein elegant gekleidetes Paar stieg aus dem Wagen und betrat das Haus.

»Ich glaube, wir sollten ziemlich schnell aktiv werden«, flüsterte Pitt.

»Irgendeine Idee, wie wir ungesehen von diesem Pier runterkommen?«, fragte Giordino. Er saß auf dem Seitenholm einer Leiter, die gegen den Generator gelehnt war.

Pitt sah sich suchend um, dann fiel sein Blick auf Giordino, und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Al«, sagte er, »ich glaube, du sitzt darauf.«

 

34

 

Niemand beachtete die beiden Männer in den verblichenen türkisfarbenen Overalls, die mit hängenden Köpfen und einer Aluminiumleiter auf der Schulter den Pier hinuntergingen. Offensichtlich gehörten sie zur Mannschaft des Frachters und brachten irgendwelche ausgeliehenen Geräte zurück an Land. Nur waren es Mannschaftsmitglieder, die bisher noch niemals jemand zu Gesicht bekommen hatte.

Die Männer, die auf dem Kai arbeiteten, befestigten soeben eine Kiste mit der Aufschrift Textilien am Kranhaken und ließen sich nicht ablenken, als Pitt und Giordino an ihnen vorbeigingen. Pitt hatte bemerkt, dass zumindest der Wächter auf der Jacht kurz zu ihnen herübergeschaut hatte, ehe er sich gleichgültig abwandte.

»Welchen Weg nehmen wir, Chef?«, fragte Giordino am vorderen Ende der Leiter, während er vom Pier auf den Hafenkai trat.

Das beleuchtete Lagerhaus befand sich fast genau vor ihnen, die offene Tür nur ein paar Meter weiter rechts.

»Ich würde empfehlen, dem Gewimmel auszuweichen und nach links zu gehen«, erwiderte Pitt. »Versuchen wir unser Glück bei dem anderen Lagerschuppen.«

Sie machten kehrt, gingen über den Hafenkai und kamen an dem schmalen Steingebäude vorbei. Pitt tippte darauf, dass es früher das Haus eines Fischers gewesen sei und jetzt als Verwaltungssitz für die Hafenanlagen diente. Im Gegensatz zu dem Wächter auf der Jacht beäugte sie der Posten vor der Haustür misstrauisch, während sie den Garten vor dem Haus passierten. Giordino versuchte, ihre Anwesenheit harmlos erscheinen zu lassen, indem er den Yankee Doodle Dandy pfiff, dessen Melodie, wie er annahm, dem türkischen Wachtposten vollkommen unbekannt sein musste.

Sie erreichten das zweite Lagerhaus, einen klobigen dunklen Bau, dessen breites Kipptor verschlossen war. Giordino versuchte sein Glück an der Klinke einer kleinen Seitentür und fand sie unverriegelt. Ohne zu zögern ging er vor Pitt hinein, wo sie die Leiter gegen eine Werkbank lehnten, die von einer flackernden Deckenlampe beleuchtet wurde. Bis auf ein paar verstaubte Holzkisten in einer Ecke und einen großen verschlossenen Container in der Nähe der Laderampe war das Innere des Gebäudes leer.

»Das war ja ein Kinderspiel«, stellte Pitt fest, »aber ich glaube nicht, dass es Sinn hat zu versuchen, durch die Vordertür in das Haus nebenan zu kommen.«

»Nein, der Wächter hatte uns gleich auf dem Kieker. Vielleicht gibt es so etwas wie eine Hintertür.«

Pitt nickte. »Sehen wir mal nach.«

Nachdem er einen Holzhammer an sich genommen hatte, der auf dem Tisch lag, durchquerte er mit Giordino das Lagerhaus. Neben der Laderampe befand sich eine kleine Tür, durch die sie hinausschlüpften. Unbemerkt gingen sie zur Rückseite des Steingebäudes und mussten zu ihrer Enttäuschung feststellen, dass es weder über eine Hintertür noch über Seitentüren verfügte. Pitt schlich sich zu einem der Parterrefenster und versuchte hineinzuschauen. Aber die Rollläden waren heruntergelassen worden. Er machte einen Schritt zurück und betrachtete die Fenster im ersten Stock, dann kam er zum Lagerhaus zurück, um sich mit Giordino zu beraten.

»Sieht wohl doch so aus, als müssten wir es mit dem Vordereingang versuchen«, sagte Giordino.

»Eigentlich dachte ich daran, oben reinzugehen«, sagte Pitt.

»Oben?«

Pitt deutete auf die Leiter. »Wenn wir das Ding schon haben, sollten wir es auch benutzen. Die Fenster oben sind dunkel, aber ich habe keine Jalousien gesehen. Wenn du irgendwie für Ablenkung sorgst, könnte ich raufklettern und durch eins der Fenster eindringen. Wir versuchen dann, sie von oben zu überrumpeln.«

»Wie gesagt, Überraschung ist immer gut. Ich hol die Leiter, und du denkst über die Ablenkung nach.«

Während Giordino durch das Lagerhaus ging, schaute Pitt durch die Hintertür hinaus und suchte nach einer Möglichkeit, eine Ablenkungsnummer abzuziehen. Eine Chance dazu bot sich in Gestalt eines Lastwagens, der hinter dem gegenüberliegenden Lagerhaus parkte. Er zog sich wieder ins Lagerhaus zurück, während Giordino mit der Leiter kam. Doch dann sah er plötzlich neugierig an ihm vorbei.

»Was ist los?«, fragte Giordino.

»Sieh dir das mal an«, sagte Pitt und ging zu dem stählernen Frachtcontainer hinüber, der in ihrer Nähe stand.

Er war in Tarnfarbe gestrichen, aber einige schwarze Schriftzüge hatten Pitts Aufmerksamkeit erregt. An mehreren Stellen fand sich in englischer Sprache die Aufschrift Danger — High Explosives und darunter der Hinweis Department of the U. S. Army.

»Was zum Teufel hat ein Container mit Armeesprengstoff ausgerechnet hier zu suchen?«, fragte Giordino.

»Woher soll ich das wissen? Aber ich möchte fast wetten, dass die Army davon keine Ahnung hat.«

Pitt ging zum vorderen Ende des Containers und schob den Riegel zurück, dann zog er die schwere Stahltür auf. In dem Container befanden sich Dutzende von kleinen Holzkisten mit ähnlichen Schriftzügen auf den Seitenflächen, die in Transportgestellen rutschsicher befestigt waren. Eine der Kisten in der Nähe der Tür war geöffnet worden. Darin lagen mehrere ziegelsteingroße Plastikbehälter.

Pitt holte einen der Behälter heraus und nahm den Plastikdeckel ab. Sein Blick fiel auf einen rechteckigen Block aus einer transparenten pulvrigen Substanz.

»Plastiksprengstoff?«, fragte Giordino.

»Sieht zwar nicht so aus wie C-4, aber es muss etwas Ähnliches sein. Auf jeden Fall ist hier genug davon, um das Lagerhaus auf den Mond und wieder zurück zu schießen.«

»Meinst du, mit diesem Zeug könnte man für ausreichend viel Ablenkung sorgen?«, fragte Giordino und hob grinsend eine Augenbraue.

»Ich denke schon«, antwortete Pitt, schloss den Behälter sorgfältig und reichte ihn seinem Partner. »Draußen vor dem anderen Lagerschuppen steht ein Lastwagen. Sieh mal nach, ob du es schaffst, ihm Flügel zu machen.«

»Und du?«

Pitt hob den Holzhammer an. »Ich werde mal oben an die Tür klopfen.«

 

35

 

Zeibig hatte bislang nicht um sein Leben gefürchtet. Er war allerdings nicht gerade erfreut darüber, mit Waffengewalt entführt, gefesselt und in die Kabine einer Luxusjacht eingesperrt zu werden. In der Bucht angekommen hatte er auch gewisse Bedenken, als er ziemlich grob an Land gescheucht und in das alte Steinhaus gebracht wurde, wo er in einem Konferenzsaal Platz nehmen musste. Seine Peiniger, ausnahmslos große, bleiche Männer mit harten dunklen Augen, erschienen ziemlich bedrohlich. Aber noch hatten sie sich nicht zu Misshandlungen hinreißen lassen. Seine Gefühle änderten sich erst zu dem Zeitpunkt, als ein Wagen vor dem Haus vorfuhr und ein asketisch wirkendes türkisches Paar ausstieg und das Gebäude betrat.

Zeibig bemerkte, dass die Wächter plötzlich eine starre, unterwürfige Haltung annahmen, als die Besucher hereinkamen. Der Archäologe konnte hören, wie sie für mehrere Minuten mit einem Vorarbeiter über den Frachter und seine Ladung diskutierten. Dabei wunderte er sich, dass offensichtlich die Frau das Wort führte. Nachdem die Frachtangelegenheiten geklärt waren, kam das Paar in den Konferenzsaal, wo der Mann Zeibig voller Verachtung musterte.

»Sie sind also für den Diebstahl der Artefakte von Süleyman dem Großen verantwortlich«, zischte Ozden Celik, wobei eine Ader an seiner Schläfe heftig pulsierte.

In seinem teuren und eleganten Anzug kam er Zeibig wie ein erfolgreicher Geschäftsmann vor. Aber der offensichtlich rasende Zorn, der in ihm kochte, verlieh ihm etwas Psychotisches.

»Wir haben lediglich unter der Schirmherrschaft des Archäologischen Museums von Istanbul eine erste oberflächliche Untersuchung der Fundstelle vorgenommen«, erwiderte Zeibig. »Wir sind verpflichtet, alle geborgenen Fundstücke dem Staat zu übergeben, was wir auch zu tun beabsichtigten, sobald wir in zwei Wochen nach Istanbul zurückgekehrt wären.«

»Und wer gab dem Archäologischen Museum das Recht, nach eigenem Gutdünken über das Wrack zu verfügen?«, fragte Celik mit zusammengekniffenen Lippen.

»Das müssen Sie den türkischen Minister für Kultur und Tourismus fragen«, erwiderte Zeibig.

Celik ignorierte die Bemerkung, während er mit Maria zum Konferenztisch ging. Auf der Mahagoniplatte waren mehrere Dutzend Fundstücke ausgebreitet, die die NUMA-Taucher vom Fundort des Wracks ans Tageslicht geholt hatten. Zeibig verfolgte, wie die beiden die Gegenstände untersuchten, dann bekam auch er große Augen - nämlich beim Anblick von Gunns Monolith, der am Ende des Tisches lag. In seiner Neugier reckte er den Hals, aber das Objekt war zu weit entfernt, um die Inschrift darauf lesen zu können.

»Auf welches Alter haben Sie das Wrack datiert?«, fragte Maria. Sie war mit einer dunklen Hose und einem taubenblauen Pullover bekleidet. Dazu trug sie völlig unelegante Wanderschuhe.

»Einige Münzen, die dem Museum übergeben wurden, deuten daraufhin, dass das Schiff etwa um 1570 gesunken ist«, sagte Zeibig.

»Ist es ein osmanisches Schiff?«

»Die Baumaterialien und die Konstruktionstechniken entsprechen denen von Küstenschiffen im östlichen Mittelmeer aus jener Zeit. Das ist aber alles, was wir zurzeit wissen.«

Celik betrachtete die Sammlung von Artefakten und interessierte sich besonders für die Bruchstücke vierhundert Jahre alter Porzellanteller und -schusseln. Mit dem erfahrenen Auge eines Sammlers erkannte er, dass das Wrack richtig datiert worden war, was durch die Münzen, die sich jetzt in seinem Besitz befanden, bestätigt wurde. Dann trat er an den Monolithen heran.

»Was ist das?«, wollte er von Zeibig wissen und deutete auf den Stein.

Zeibig schüttelte den Kopf. »Das wurde von Ihren Männern aus dem Wrack geholt.«

Celik studierte die glatten Seitenflächen des Steins und entdeckte eine lateinische Inschrift.

»Römischer Müll«, murmelte er, dann inspizierte er die restlichen Fundstücke, ehe er wieder zu Zeibig zurückkam.

»Sie werden nie mehr irgendwelche Dinge stehlen, die dem osmanischen Reich gehören«, sagte er und starrte Zeibig mit fanatisch funkelnden Augen an. Seine Hand verschwand in seiner Jackentasche und kam mit einer dünnen Lederschnur wieder zum Vorschein. Er ließ sie mehrmals vor Zeibigs Gesicht kreisen, dann zog er sie langsam mit beiden Händen straff. Celik tat so, als würde er sich von Zeibig entfernen, dann wirbelte er herum und warf dem Archäologen die Schnur über den Kopf und stellte sich hinter ihn. Die Schnur zog sich augenblicklich um Zeibigs Hals zusammen, und er wurde mit einem heftigen Ruck nach oben gezogen.

Zeibig wand sich und versuchte, Celik die Ellbogen in den Leib zu rammen, aber ein Wächter kam heran, packte seine gefesselten Hände und riss sie nach vorn, während sich die Schlinge um seinen Hals immer weiter zuzog. Zeibig spürte, wie sich die Schnur in seine Kehle grub, und er rang nach Luft, während das Blut in seinen Ohren pochte. Dann hörte er einen lauten Knall und fragte sich, ob sein Trommelfell geplatzt war.

Celik hörte den Knall ebenfalls, ignorierte ihn jedoch und kostete lieber die Blutgier aus, die in seinen Augen irrlichterte. Dann ertönte ganz in der Nähe ein zweiter Knall und schüttelte das gesamte Gebäude mit der Wucht eines Donnerschlags bis in seine Grundfesten durch. Celik verlor beinahe das Gleichgewicht, als der Fußboden vibrierte und im oberen Stockwerk Fensterscheiben zerschellten. Automatisch lockerte er den Griff an der Ledergarotte.

»Sieh nach, was da los ist«, bellte er als Befehl ins Marias Richtung.

Sie nickte und folgte dem Vorarbeiter eilig nach draußen. Celik verstärkte sofort wieder den Zug an der Lederschnur, während der Wächter weiter Zeibigs Hände umklammerte.

Während Celik kurz abgelenkt war, hatte Zeibig ein paar Atemzüge machen können und erneuerte jetzt seine Versuche, sich zu befreien. Aber Celik rammte die Schulter in seinen Rücken, drehte sich halb, während er an der Lederschnur zerrte, und zog den Archäologen fast von den Füßen.

Im Gesicht rot anlaufend und ein Dröhnen in seinem Kopf hörend schnappte Zeibig verzweifelt nach Luft und starrte in die Augen des Wächters, der ihn grausam angrinste. Doch dann glitt ein verwirrter Ausdruck über die Miene des Wächters. Zeibig hörte einen gedämpften Laut, dann spürte er, wie sich die Schlinge um seinen Hals öffnete.

Der Wächter ließ Zeibigs Hände los und griff suchend in seine Jacke. In den letzten Winkeln seines nach Sauerstoff schreienden Gehirns erkannte Zeibig, dass der Mann eine Pistole hervorholen wollte. Mit einer plötzlichen Bewegung, die sich anfühlte, als liefe sie im Zeitlupentempo ab, beugte Zeibig sich vor und packte den Jackenärmel des Wächters. Dieser wollte die Hand befreien, ehe er den Archäologen zur Seite schob. Während er die Hand um den Griff der Pistole in seinem Schulterhalfter schloss, flog ein Gegenstand singend auf ihn zu und traf ihn im Gesicht. Er taumelte kurz, bis ihn ein zweiter Treffer erwischte und er bewusstlos auf den Fußboden sackte.

Zeibig wandte sich um und sah verschwommen einen Mann neben sich stehen. Er hatte einen Holzhammer in der Hand und einen Ausdruck grimmiger Genugtuung im Gesicht. Hustend und nach Luft ringend brachte Zeibig ein Grinsen zustande, als seine Sinne zurückkehrten und ihm signalisierten, dass er niemand anderen als Pitt vor sich hatte.

»Sie, mein Freund«, sagte er und hatte Mühe, die Worte auszusprechen, »Sie sind wirklich gekommen wie ein frischer Wind.«

 

36

 

Nahezu die gesamte Kaimannschaft eilte zur Rückseite des Lagerhauses, um sich anzusehen, wie die qualmenden Überreste des Lastwagens den Nachthimmel erhellten. Giordinos Fingerfertigkeit hätte keine bessere Ablenkung schaffen können. Und es war so simpel gewesen.

Er hatte sich von der Seite an den Lastwagen angeschlichen, hatte des Führerhaus geöffnet und sich einen Überblick verschafft. Das Innere stank nach Zigarettenrauch. Dutzende Zigarettenstummel und zerdrückte Limodosen übersäten den Boden. Ein Notizbuch, Werkzeug und die in braunes Papier eingewickelten abgenagten Knochen eines Grillhähnchens lagen auf dem Beifahrersitz. Aber es war ein dünnes, zerlumptes Sweatshirt, das Giordino ins Auge fiel.

Er schnappte sich das Shirt und riss einen Ärmel ab, dann tastete er das Armaturenbrett auf der Suche nach dem Zigarettenanzünder ab. Er fand ihn und drückte den Knopf ein. Dann huschte er zum Heck des Lastwagens und schraubte den Tankverschluss auf. Er ließ den Ärmel in die Öffnung hängen, bis er sich teilweise mit Benzin vollgesogen hatte, dann zog er ihn ein Stück hoch und ließ das trockene Ende aus der Tanköffnung herausbaumeln. Das mit Benzin getränkte Ende ließ er in der Tanköffnung und legte die Verschlusskappe darauf, um die Dämpfe am Entweichen zu hindern. Als er ein leises Klicken hörte, eilte er zum Führerhaus, holte den Zigarettenanzünder heraus und setzte das trockene Ende des Ärmels in Brand, ehe der Anzünder abkühlte.

Er hatte kaum Zeit, zur Rückseite des Steinhauses zu rennen, bevor die kleine Flamme an dem Ärmel bis zu dem mit Benzin getränkten Abschnitt hinaufzuklettern begann. Die Flammen sprangen zur Tanköffnung, entzündeten die Dämpfe und erzeugten eine Explosion, die den Benzintank zerriss.

Aber es war die Ladung Plastiksprengstoff, die auf dem Tank lag und eine Sekunde später für den richtigen Schaden sorgte. Sogar Giordino war verblüfft über die mächtige Explosion, die den Lastwagen vom Untergrund hochsteigen ließ und sein gesamtes Heck in Brand setzte.

Pitt hatte sich zur gleichen Zeit alle Mühe gegeben, seinen Einbruch mit dem Explosionsknall zu koordinieren. Auf der Leiter draußen vor den dunklen Fenstern im ersten Stock kauernd zertrümmerte er mit dem Hammer das Glas, während das Gebäude vor ihm zu wanken begann. Er kletterte schnell hinein und stand offensichtlich im Gästezimmer einer komfortabel eingerichteten Wohnung. Er schlich die Treppe hinunter, als er Zeibigs keuchende Atemzüge hörte — und griff sofort mit seinem Hammer ein und schlug Celik und seinen Wächter nieder.

Zeibig kam allmählich wieder zu Kräften, erhob sich und schaute auf den bewusstlosen Celik hinab, der eine dicke Beule am Kopf hatte.

»Ist er tot?«

»Nein, er macht nur ein Schläfchen«, erwiderte Pitt und bemerkte, wie sich die liegende Gestalt zu rühren begann. »Ich schlage vor, wir verschwinden von hier, ehe unsere Freunde ganz aufwachen.«

Pitt fasste nach Zeibigs Arm und wollte schon mit ihm zur Haustür gehen, als der Archäologe abrupt stehen blieb.

»Warten Sie... die Stele«, sagte er und trat zu Gunns Steinklotz.

Pitt blickte zu dem ausgegrabenen Stein hinüber, der knapp anderthalb Meter hoch war.

»Zu groß, um als Souvenir mitgenommen zu werden, Rod«, sagte er und drängte zur Eile.

»Lassen Sie mich nur kurz einen Blick auf die Inschrift werfen«, bat Zeibig.

Während er mit dem Finger über den Stein rieb, las er den lateinischen Text mehrmals, um sich die Worte einzuprägen. Schließlich sah er Pitt mit einem traurigen Lächeln an.

»Okay, ich hab's.«

Pitt ging voraus zum Hauseingang, riss die Tür auf und sah eine attraktive dunkelhaarige Frau, die gerade ins Haus wollte. Pitt wusste, dass er ihr Gesicht schon einmal gesehen hatte, doch die Abendkleidung, die sie jetzt trug, trübte seine Erinnerung. Maria erkannte Pitt jedoch auf Anhieb.

»Wo kommen Sie denn her?«, fragte sie.

Die harte Stimme erkannte Pitt sofort als die, welche ihm in der Yerebatan Sarnici, jener berühmten Zisterne in Istanbul, gedroht hatte. Er wunderte sich über ihr plötzliches Erscheinen, aber dann begriff er schlagartig, welcher Sinn dahintersteckte. Die Topkapi-Diebe hatten Ruppes Büro ausgeräumt und auf diese Art und Weise den Fundort des Schiffswracks erfahren.

»Ich bin von der Sittenpolizei des Topkapi-Palastes«, antwortete Pitt spöttisch.

»Dann werden Sie zusammen mit Ihrem Freund sterben«, erwiderte sie drohend.

Sie schaute an den beiden Männern vorbei und erhaschte einen Blick auf ihren Bruder und den Wächter, die immer noch auf dem Fußboden des Konferenzsaals lagen. Ein Anflug von Angst und Wut geisterte über ihr Gesicht, dann wich sie in den Vorgarten zurück, wandte sich zum Lagerhaus und wollte um Hilfe rufen. Aber kein Wort drang über ihre Lippen.

Er schleppte sie zur Tür und in die Halle. Dabei nickte er Zeibig freundlich zu.

»Wohin möchtest du sie haben?«, fragte er Pitt.

»In eine stinkende türkische Gefängniszelle«, antwortete dieser. »Aber ich vermute, wir müssen uns erstmal mit einem Wandschrank zufriedengeben.«

Pitt fand einen kleinen Besenschrank in der Nähe der Treppe und öffnete die Tür, so dass Giordino Maria dort deponieren konnte. Zeibig brachte einen Schreibtischstuhl herüber, den Pitt unter die Türklinke klemmte, nachdem Giordino die Tür zugeschlagen hatte. Eine Flut gedämpfter Beschimpfungen und wütende Fußtritte gegen die Tür waren von drinnen zu hören.

»Die hat ja den Teufel im Leib«, stellte Giordino fest.

»Mehr als du ahnst«, meinte Pitt. »Was meinst du, was sie mit uns machen würde, wenn sie könnte?«

Die drei Männer eilten aus dem Haus und auf den Kai. Der brennende Lastwagen war immer noch der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, allerdings waren bereits einige Hafenarbeiter wieder damit beschäftigt, den Frachter zu beladen. Die bewaffneten Wachen sicherten nervös den Bereich um den Explosionsort herum, während das Trio den Pier erreichte. Pitt fand einen teilweise zerrissenen Leinensack, den er über Zeibigs Hände drapierte, um die Handschellen zu verdecken, die er immer noch trug.

Sie passierten den ausgefahrenen Kran und gingen so schnell wie möglich, ohne aufzufallen. Indem sie sich im Schatten des Frachters hielten, wandten sie sich, als sie daran vorbeikamen, von der Jacht und dem Arbeitsboot ab, wobei Pitt und Giordino Zeibig so gut es ging abschirmten. Sie entspannten sich ein wenig, als sie den hell erleuchteten Teil des Piers hinter sich gelassen hatten und keine Arbeiter mehr vor sich sahen. Im Hafen blieb alles still, und Pitt meinte, dass ihre Flucht geglückt war, während sie sich dem Heck des Frachters näherten.

»Nächste Haltestelle Aegean Explorer»., murmelte Giordino leise.

Aber ihre Hoffnungen wurden zerschlagen, als sie das Ende des Piers erreichten. Pitt und Giordino traten an die Kante und blickten ins Wasser, dann sahen sie sich ungläubig um.

Die Bullet war nirgendwo zu sehen.

 

37

 

Celik kam mit pulsierenden Kopfschmerzen und einem lauten Pochen in den Ohren zu sich. Während er sich schwankend aufrichtete, erst auf die Knie und dann mühsam auf die Füße kam, schüttelte er nach und nach seine Benommenheit ab und erkannte, dass sich das Pochen außerhalb seiner Ohren befand. Schließlich hörte er die gedämpfte Stimme seiner Schwester, ging zum Schrank und beförderte mit einem Fußtritt den Stuhl unter der Türklinke zur Seite. Maria flog geradezu aus ihrem Gefängnis heraus, das Gesicht rot vor Wut.

Als sie die noch ein wenig glasigen Augen ihres Bruders gewahrte, beruhigte sie sich schnell.

»Ozden, ist alles mit dir in Ordnung?«

Er massierte mit schmerzverzerrter Miene die Beule an seinem Kopf.

»Ja«, antwortete er heiser. »Erzähl mir, was geschehen ist.«

»Das war wieder dieser Amerikaner von dem Forschungsschiff. Er und ein anderer Mann haben einen der Lastwagen in die Luft gesprengt und sind dann hergekommen und haben den Archäologen befreit. Sie müssen der Jacht gefolgt sein.«

»Wo sind meine Janitscharen?«

Maria deutete auf den Wächter, der auf dem Fußboden unter dem Konferenztisch lag.

»Er wurde wohl genauso überrumpelt wie du. Die anderen suchen nach der Ursache der Explosion.«

Sie nahm Celiks Arm und führte ihn zu einem Ledersessel, dann schenkte sie ihm ein Glas Wasser ein.

»Du solltest dich lieber ausruhen. Ich sage den anderen Bescheid. Sie können nicht weit gekommen sein.«

»Bring mir ihre Köpfe«, stieß er mühsam hervor, dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen.

 

Maria trat vor die Haustür, als zwei Wächter auf sie zukamen.

»Das Feuer ist gelöscht«, meldete einer von ihnen.

»Eindringlinge haben uns angegriffen und den Gefangenen mitgenommen. Sucht sofort auf dem Kai und am Wasser«, befahl sie, »dann startet die Motorjacht und kreuzt in der Bucht. Sie müssen mit einem Boot hergekommen sein.«

Während sich die Männer im Laufschritt entfernten, starrte Maria auf die schwarze Bucht hinaus. Sie spürte, dass die Eindringlinge immer noch in der Nähe waren. Ein schmales Lächeln spielte um ihre Lippen, als ihr Zorn verrauchte. Denn sie malte sich ihre Rache aus.

 

38

 

Zu diesem Zeitpunkt stand den Männern von der NUMA weder ein herkömmliches Schiff noch ein Tauchboot zur Verfügung.

Giordino starrte ins Wasser und versuchte festzustellen, ob die Bullet gesunken war. Dann ging er zu einem schwarzen Eisenpolier hinüber, an dem er das Boot vertäut hatte. Von der Leine keine Spur.

»Ich bin ganz sicher, dass ich sie festgemacht habe, wie immer«, sagte er.

»Dann muss jemand sie versenkt oder bewegt haben«, erwiderte Pitt und blickte nachdenklich über den Kai.

»Das kleine Arbeitsboot. Lag das nicht vor der Jacht, als wir an Land gingen?«

»Ja, du hast recht. Jetzt ist es hinter der Jacht. Wir konnten es wegen des Generators auf dem Rückweg nicht richtig sehen. Vielleicht hat es die Bullet weggeschleppt.«

Plötzlich waren auf dem Hafenkai die lauten Rufe einer weiblichen Stimme zu hören, gefolgt von Antworten mehrerer männlicher Stimmen. Pitt lugte hinter dem Heck des Frachters hervor und sah mehrere Männer mit Gewehren in Richtung Pier rennen.

»Sieht so aus, als sei die Party vorbei«, sagte er und schaute zum Wasser. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir baden gehen.«

Zeibig hielt seine gefesselten Hände hoch.

»Es ist nicht so, dass ich wasserscheu bin«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. »Aber mir gefällt die Vorstellung nicht besonders, einfach abzusaufen.«

Giordino legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Kommen Sie, mein Freund, Sie kriegen ein trockenes Plätzchen.«

Giordino geleitete Zeibig zu der Wand leerer Benzinfässer, die am Rand des Piers aufgestapelt waren. Er rollte mehrere davon zur Seite und hob sie hoch, als wären es leichte Bierfässer, bis er eine kleine Nische geschaffen hatte.

»Ein Platz mit Meerblick für eine Person«, sagte er und deutete einladend auf die Nische.

»Kann ich einen Manhattan bestellen, solange ich warte?«, fragte Zeibig.

»Wird serviert, sobald die Vorstellung vorbei ist«, versprach Giordino und stellte dem Archäologen ein Benzinfass vor die Nase. »Rühren Sie sich nicht vom Fleck, bis wir zurückkommen«, fügte er hinzu, dann stapelte er mehrere Fässer aufeinander, bis Zeibig völlig eingemauert und nicht mehr zu sehen war.

»Keine Sorge«, antwortete Zeibigs gedämpfte Stimme.

Giordino schob noch ein paar weitere Fässer zurecht, dann wandte er sich zu Pitt um, der über den Pier schaute. An seinem Ende waren zwei Wächter zu sehen, die über den Kai zum Pier rannten.

»Ich denke, wir sollten uns jetzt allmählich davonmachen«, sagte Pitt, ging zum Ende des Piers, wo eine angeschweißte Stahlleiter im dunklen Wasser verschwand.

»Ich bin dicht hinter dir«, flüsterte Giordino, und nacheinander kletterten die beiden Männer die Leiter hinunter und ließen sich ins schwarze Wasser gleiten.

Sie vergeudeten keine Zeit und kehrten sofort zum Land zurück, indem sie sich, von oben nicht zu sehen, zwischen den Stützpfeilern des Piers hindurchschlängelten. Pitt legte sich bereits einen Fluchtplan zurecht, sah sich jedoch vor einem Dilemma. Ein Boot zu stehlen schien ihre beste Möglichkeit zu sein - sie hatten die Wahl zwischen dem Arbeitsboot und der Jacht. Das Arbeitsboot wäre zwar einfacher zu lenken, aber die Jacht würde sie dann mit Leichtigkeit über den Haufen fahren. Er wappnete sich für die nahezu unmögliche Aufgabe, die Jacht waffenlos zu kapern, als Giordino ihm auf die Schulter tippte. Er stoppte, drehte sich um und sah, dass sein Partner wassertretend neben ihm innehielt.

»Die Bullet«, flüsterte Giordino. Sogar in der Dunkelheit konnte Pitt die weißen Zähne seines Partners sehen, als er breit grinste.

Zwischen den Stützpfeilern des Piers hindurch konnte Pitt in nächster Nähe das Arbeitsboot und die Jacht erkennen. Aber hinter dem Arbeitsboot tief im Wasser liegend konnte er plötzlich die Umrisse des Tauchboots ausmachen. Sie waren daran vorbeigelaufen, als sie den Pier überquert hatten. Vom Generator abgeschirmt, hatten sie es nicht gesehen, als sie versucht hatten, Zeibig vor neugierigen Augen auf der Jacht zu verbergen.

Die beiden Männer arbeiteten sich näher heran und stellten fest, dass die Leine des Tauchboots am Heck des Arbeitsbootes befestigt war. Es war tatsächlich der misstrauische Wächter auf dem Heck der Jacht gewesen, der, nachdem Pitt und Giordino vorbeigegangen waren, über den Pier geschlendert war und das seltsame Vehikel am Heck des Frachters entdeckt hatte. Mit Hilfe des Kapitäns des Arbeitsbootes hatten sie ihren Fund neben die Jacht geschleppt, um sie im Licht der Lampen auf dem Kai besser inspizieren zu können.

Pitt und Giordino schwammen weiter, bis sie sich mit der Bullet auf gleicher Höhe befanden. Sie konnten den bewaffneten Wächter auf dem Achterdeck des Arbeitsbootes stehen sehen und einen zweiten Mann im Ruderhaus.

»Ich denke, am besten schnappen wir uns die Leine und schleppen sie hinaus in die Bucht, um dort zu tauchen«, flüsterte Pitt. Plötzlich ertönten laute Rufe auf dem Hafenkai, als die Janitscharen ihre Suche auf den Pier ausdehnten.

»Du schwingst dich auf die Bullet und triffst Vorbereitungen fürs Tauchen«, sagte Pitt, der keine Zeit mehr vergeuden wollte. »Ich sehe mal, was ich auf dem Arbeitsboot ausrichten kann.«

»Du wirst Hilfe brauchen, um mit diesem bewaffneten Wächter fertig zu werden«, sagte Giordino mit einiger Sorge.

»Schick ihm eine Kusshand, wenn ich an Bord komme.«

Dann holte Pitt tief Luft und verschwand unter Wasser.

 

39

 

Der Wächter konnte den Grund für die Unruhe auf dem Kai nicht erkennen, aber er sah, dass einige seiner Kollegen, Janitscharen wie er, den Pier herunterkamen. Er hatte bereits versucht, seinem Vorgesetzten den Fund des Tauchboots per Funk zu melden, und wusste nicht, dass der Mann immer noch bewusstlos in dem Steinhaus am Hafenkai lag. Der Wächter überlegte, ob er auf die Jacht zurückkehren sollte, hielt es jedoch für besser, das Tauchboot vom Heck des Arbeitsbootes im Auge zu behalten. Dort stand er und blickte zum Land, als ihn eine Stimme aus dem Wasser erschrocken herumfahren ließ.

»Entschuldige, mein Freund, ist das der Chattanooga Choo Choo?«, fragte eine barsche Stimme.

Der Wächter trat sofort an die Heckreling und blickte auf das Tauchboot hinunter. Ein triefender Giordino stand auf der Bullet, eine Hand auf die Acrylglaskuppel gestützt, während er dem erschrockenen Wächter mit der anderen fröhlich winkte. Dieser riss hastig seine Waffe hoch und wollte Giordino etwas zurufen, als er das Geräusch platschender Schritte hinter sich wahrnahm.

Er drehte sich viel zu spät um. Pitt rammte ihn, als wäre er ein Footballspieler, der ihm den Weg versperrte. Pitt hielt den Ellbogen hoch und erwischte den Mann dicht unterhalb der Schulter. Da seine Beine gegen die Reling gepresst wurden, hatte der Wächter keine Möglichkeit, den Stoß auszupendeln. Mit einem erstickten Grunzen kippte er über das Geländer und stürzte ins Wasser.

»Du kriegst Gesellschaft«, rief Giordino seinem Freund eine Warnung zu, während er die Kuppel öffnete und ins Tauchboot kletterte.

Pitt wandte sich um und sah zwei Männer über den Kai kommen. Sie hatten ihn offenbar bemerkt. Er ignorierte sie und konzentrierte sich auf das kleine Ruderhaus des Bootes. Ein Mann mittleren Alters mit rundlichem Gesicht und sonnenverbrannter Haut kam herausgestolpert und erstarrte, als er Pitt auf dem Deck stehen sah.

»Arouk?«, rief er, doch der Wächter tauchte gerade prustend neben dem Arbeitsboot auf.

Pitt ließ den Blick bereits suchend über das Achterdeck schweifen. Ein paar Schritte entfernt am Schandeck war ein zwei Meter langer Fischhaken befestigt. Blitzschnell war er dort, packte das Ende, löste ihn aus der Halterung und richtete die mit Widerhaken versehene Eisenspitze drohend auf den Kapitän des Arbeitsbootes.

»Über die Reling«, bellte Pitt und deutete mit dem Haken aufs Wasser.

Als er den entschlossenen Ausdruck in Pitts Augen sah, hatte der Kapitän keinen Grund zu zögern. Mit erhobenen Händen stieg er über das Geländer und tauchte ins Wasser. Auf der anderen Seite des Bootes war Arouk mittlerweile aufgetaucht und begann seine Kameraden auf dem Pier mit lauten Rufen zu alarmieren.

Pitt wartete nicht und versuchte auch nicht, die Unterhaltung zu verstehen. Er ließ den Fischhaken fallen, rannte zum Ruderhaus und schob die Gashebel bis zum Anschlag nach vorn. Das Boot machte einen Satz vorwärts, dann stoppte es, während sich die Leine zum Tauchboot straffte. Nach und nach nahm das Boot Schwung auf und beschleunigte, wenn auch — wie es Pitt schien — im Schneckentempo. Er blickte rechtzeitig zum Pier, um beobachten zu können, wie zwei Wächter an den Rand traten und mit ihren Gewehren auf ihn anlegten. Dank seiner schnellen Reflexe warf er sich zu Boden, kurz bevor die Waffen Blei spuckten.

Das Ruderhaus explodierte in einer Wolke aus zersplittertem Holz und geborstenen Glasscheiben, als es von zwei längeren Feuerstößen durchschlagen wurde. Während er den Regen aus Holzsplittern und Glasscherben abschüttelte, kroch Pitt zum Ruderhaus, streckte sich nach dem Ruder und drehte es weit nach Steuerbord.

Bei einem Abstand von nur noch wenigen Metern näherte sich das Arbeitsboot der Jacht, die knapp vor ihm lag. Während Pitt direkt Kurs in die Bucht hätte nehmen können, wusste er, dass in diesem Fall Giordino und die Bullet anhaltendem Gewehrfeuer ausgesetzt gewesen wären. In dem herrschenden Durcheinander hatte er noch nicht einmal eine Ahnung, ob Giordino das Tauchboot überhaupt bestiegen hatte, ehe die Schießerei begann. Er konnte nur hoffen, die Aufmerksamkeit abzulenken, bis sie irgendwo in der Bucht eine sichere Zuflucht fanden.

Er entdeckte auf dem Steuermannssitz ein Sitzpolster, das er an sich nahm, um damit zu den zerschmetterten Überresten des Backbordfensters zu kriechen. Er hielt das Kissen in die Höhe und schaffte es, die Aufmerksamkeit der Schützen zu erregen, während sie ihre Waffen nachluden. Eine weitere Salve zerfetzte das Äußere des Ruderhauses gründlich. In seinem Innern drückte sich Pitt auf den Boden, das Sitzpolster über dem Kopf, während ein neuer Holzsplitter- und Glasregen den engen Raum füllte. Die Kugeln flogen kreuz und quer, bis die Schützen ihre Magazine ein zweites Mal entleert hatten.

Als das Gewehrfeuer nachließ, hob Pitt den Kopf und sah, dass sich das Arbeitsboot neben die Jacht schob. Er kroch zum Ruder und drehte es nach Steuerbord, dann hielt er es fest. Während sich das Boot dem Bug der Jacht näherte, erhob er sich auf die Knie und drehte das Rad scharf herum.

Das alte Boot machte jetzt acht Knoten Fahrt, da schwenkte sein Bug scharf von der Jacht und vom Pier weg. Pitt konnte weitere laute Rufe hören: Sein Manöver hatte für wertvolle Sekunden Sicherheit gesorgt, in denen die Jacht das Ziel der Wächter verbarg. Sie mussten nun entweder die Jacht entern oder weiter den Pier hinunterlaufen, um freies Schussfeld zu haben. Bis zu diesem Augenblick hoffte Pitt schon halbwegs außerhalb ihrer Reichweite zu sein.

Er stand für einen kurzen Moment auf, blickte aus dem Ruderhaus nach hinten und sah die Bullet im Schlepptau des Arbeitsbootes. Ein mattes Leuchten einiger elektronischer Instrumente in seinem Innern verriet ihm, dass Giordino hineingelangt war und das Tauchboot nun einsatzfertig machte. Er warf einen Blick auf die Jacht und sah eine Wolke Dieselabgase von der Wasserlinie am Heck hochwallen. Pitt hatte darauf gehofft, mit der Bullet zu fliehen, ehe die Jacht startbereit war, doch sein Gegner machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Zu allem Übel sah er auch noch die beiden Schützen mit schussbereiten Gewehren zum Heck der Motorjacht rennen.

Pitt duckte sich, justierte das Ruder, lenkte das Arbeitsboot in die Mitte der Bucht und brachte die Bullet so aus der direkten Feuerlinie. Das Rattern der Maschinenpistolen kündigte einen Geschossregen an, der harmlos in den Heckspiegel einschlug. Pitt wünschte sich sehnlichst, dass das Boot noch an Tempo zulege, aber der altersschwache Kahn hatte mit dem Tauchboot im Schlepp seine Höchstgeschwindigkeit erreicht.

Als Pitt schätzte, dass sie einhundert Meter vom Pier entfernt waren, riss er das Ruder abrupt nach Backbord herum und nahm dann Gas weg. Er hielt das Ruder so lange in Position, bis das Boot vollständig herumgeschwenkt war und die Jacht genau vor seinem Bug auftauchte. Während das Arbeitsboot im Leerlauf in der Bucht trieb, eilte Pitt zum Heck und löste die Schleppleine der Bullet. Er warf sie zum U-Boot hinüber, lehnte sich über die Reling und winkte Giordino zu.

»Warte hier auf mich«, sagte er und unterstrich seine Bitte mit einer unmissverständlichen Geste.

Giordino nickte, dann reckte er den Daumen nach oben und hielt die Hand in die Acrylglaskuppel, wo Pitt sie sehen konnte. Pitt machte kehrt und rannte zum Ruderhaus zurück, während am Ufer erneut das Feuer eröffnet wurde und sich auf den Bug des Arbeitsbootes konzentrierte. Im Ruderhaus schob Pitt die Gashebel auf volle Kraft und drehte am Ruder, bis er auf das Ende des Piers zuhielt.

»Bleib bloß, wo du bist, altes Mädchen«, murmelte er halblaut und beobachtete die Luxusjacht.

Vom Tauchboot befreit, konnte das Arbeitsboot noch ein paar Knoten Fahrt zulegen. Pitt behielt den Kurs auf das Ende des Piers weiterhin bei, weil er seine wahre Absicht noch nicht verraten wollte. Für die Schützen auf der Motorjacht sah es so aus, als beschriebe das Boot eine weite, im Uhrzeigersinn ausgeführte Kreisfahrt. Pitt behielt diesen Eindruck bei, bis das Boot in etwa fünfzig Metern Entfernung in paralleler Fahrt die Jacht passierte. Dann erst riss er das Ruder abermals scharf herum.

Als der Bug auf einen Punkt mittschiffs der Jacht zuhielt, richtete er das Ruder aus und klemmte eine Schwimmweste zwischen die unteren Speichen des Ruderrades, um es in seiner Position zu fixieren. Ungeachtet einer weiteren Maschinenpistolensalve, die den Bug überschüttete, verließ er im Laufschritt das Ruderhaus in Richtung Achterdeck und hechtete über die Reling.

Der Kapitän der Jacht war der Erste, der begriff, dass sie gerammt werden sollten, und er verlangte lautstark Hilfe beim Lösen der Halteleinen. Ein Matrose erschien an Deck und sprang auf den Pier, um eilends die Leinen an Bug und Spring loszumachen. Einer der Schützen legte sein Gewehr beiseite und überquerte das Deck zur Heckleine. Anstatt auf den Pier zu springen, um eine nur leicht gesicherte Leine zu lösen, versuchte er, das andere Ende, das um einen Poller am Heck der Jacht geknotet war, zu entwirren.

Der Kapitän sah, dass die Leinen an Bug und Spring frei waren, dann stellte er zu seinem Schrecken fest, dass das Arbeitsboot inzwischen keine zwanzig Meter entfernt war. In heller Panik warf er sich in das Cockpit und gab in der Hoffnung Vollgas, dass die Heckleine ebenfalls klar war.

Doch das war sie nicht.

Die starken Dieselmotoren der Jacht röhrten laut, als die Propeller das Wasser aufwühlten und das Schiff vorwärtsschoben. Es kam allerdings nur ein kurzes Stück weit, ehe sich die Heckleine spannte und es am Pier festhielt. Der Wächter taumelte mit einem Schrei zurück und verlor beinahe einige Finger, als die Leine stramm gezogen wurde.

Das Wasser schäumte am Heck, während die Jacht darum kämpfte, sich loszureißen. Dann, als der Matrose auf dem Pier tapfer sein Werk vollbracht hatte und in Deckung ging, gab die Leine plötzlich nach. Wie ein Rodeopferd machte die Jacht einen Satz vorwärts und rauschte in einer Gischtwolke davon. Der Kapitän blickte aus dem Cockpitfenster, dann umklammerte er das Ruder verzweifelt, da er begriff, dass der Fluchtversuch fehlgeschlagen war.

Das unbemannte Arbeitsboot schoss in die Jacht hinein und traf die Steuerbordflanke dicht vor dem Heck. Der stumpfe, schwere Bug des Arbeitsbootes zerschmetterte den Glasfiberrumpf der Jacht und rammte sie mit der gegenüberliegenden Seite gegen die Stützpfeiler des Piers. Das Geräusch von gepeinigtem Metall erfüllte die Luft, als die Antriebswelle an Steuerbord zusammen mit Treibstoff- und Hydraulikleitungen zerfetzt wurde. Das Heck der Jacht schwang zum Pier herum, wo der rotierende Backbordpropeller von einem Stützpfeiler abgebrochen wurde. Die Jacht befreite sich mit einem mutigen Satz vorwärts vom Arbeitsboot und vom Pier, ehe ihre Motoren verstummten und sie ziellos in Richtung Hafenkai trieb.

Pitt wartete nicht auf die Kollision, sondern schwamm unter Wasser und tauchte nur kurz auf, um Luft zu holen. Er holte alle Reserven aus sich heraus, bis seine Lungen brannten. Die Anzahl seiner Schwimmzüge signalisierte ihm, dass er sich beinahe an jenem Punkt befand, wo er die Bullet sich selbst überlassen hatte. Indem er zur Wasseroberfläche aufstieg, schaute er zum Pier und versuchte gleichzeitig, seinen Atem zu beruhigen. Der Erfolg seiner Aktionen war offensichtlich. Er konnte sehen, wie die Jacht hilflos davontrieb, während das Arbeitsboot, dessen Motor nach wie vor mit hoher Drehzahl lief, immer wieder den Pier rammte und sein demolierter Bug tiefer und tiefer versank. Zahlreiche Leute rannten über den Pier, verfolgten das Geschehen und stießen verwirrte Rufe aus. Pitt konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen, als er in all dem Lärm auch eine weibliche Stimme hörte.

Vorläufig sicher und unbehelligt, machte er kehrt und paddelte in die Bucht, wobei er aufmerksam die Wasseroberfläche absuchte. Er warf einen schnellen Blick zum Ufer, um sich zu vergewissern, dass er sich an der richtigen Stelle befand, dann konzentrierte er sich auf das Wasser in seiner nächsten Umgebung. Gleichgültig wohin er schaute, er konnte nichts anderes sehen als kleine, dunkel plätschernde Wellen, und er fühlte sich plötzlich ausgesprochen einsam und verlassen.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht war die Bullet ohne ihn verschwunden.

 

40

 

Rod Zeibig verzog das Gesicht, als er den ersten Feuerstoß einer Maschinenpistole hörte. Jede Hoffnung auf eine heimliche Flucht ging in dem metallischen Klirren leerer Patronenhülsen offenbar unter, die auf den Holzpier herabregneten. Um einiges größer war die Sorge um die Sicherheit von Pitt und Giordino, die zweifellos das Ziel des massierten Feuers waren.

Zu seiner Überraschung hörte Zeibig, wie das Feuer minutenlang unvermindert andauerte. Die Neugier war schließlich stärker als seine Angst, und er beugte sich über den Rand des Piers und peilte um den Stapel Benzinfässer herum. Am Ende des Piers konnte er undeutlich die Decksaufbauten der Motorjacht und einige Männer erkennen, die aufgeregte Rufe ausstießen. Auf dem Pier gewahrte er einen Matrosen, der sich hektisch an einer der Leinen zu schaffen machte.

Zeibig zog sich in sein Versteck zurück, als weitere Schüsse fielen. Sekunden später schwächte sich das Maschinengewehrfeuer ab, während ein lautes Krachen den Pier erzittern und die Benzinfässer schwanken ließ. Weitere laute Rufe ertönten, aber die Schüsse waren nun verstummt. In einem Anflug von Trübsinn fragte sich der Archäologe, ob Pitt und Giordino während der letzten wilden Schießerei auf der Strecke geblieben waren.

Während er auf die Bucht hinausblickte und über sein eigenes Schicksal nachdachte, bemerkte er im Wasser unter sich eine plötzliche Turbulenz. Ein matter grünlicher Schimmer erschien in der Tiefe und nahm stetig an Helligkeit zu. Zeibig wollte seinen Augen nicht trauen, als die transparente Acrylglaskuppel der Bullet direkt vor ihm nahezu lautlos durch die Wasseroberfläche brach. An den Kontrollen saß die stämmige Gestalt Al Giordinos, eine kalte Zigarre zwischen den Zähnen.

Der Archäologe wartete nicht auf eine formelle Einladung, an Bord zu kommen, sondern kletterte hastig an einem mit Muscheln bewachsenen Stützpfeiler hinab und ins Wasser, ehe das U-Boot vollends aufgetaucht war. Zeibig schwamm zum Heck, kletterte auf einen der außen liegenden Ballasttanks und kroch dann zur hinteren Luke. Giordino öffnete sie sofort, zog Zeibig herein und schloss sie gleich wieder hinter ihm.

»Mann, bin ich froh, Sie zu sehen«, sagte Zeibig und zwängte sich in den Sitz des Kopiloten, während er darauf achtete, die elektronischen Instrumente vor Wassertropfen aus seiner Kleidung zu verschonen.

»Ich hatte auch nicht allzu viel Lust, aus eigener Kraft nach Hause zu schwimmen«, erwiderte Giordino und beeilte sich, die Ballasttanks zu fluten und das U-Boot so schnell wie möglich auf Tauchstation gehen zu lassen. Indem er sich fast den Hals verrenkte, suchte er den Pier in der Nähe der Benzinfässer nach möglichen Beobachtern ab.

»Niemand hat sich an dieses Ende des Piers verirrt«, berichtete Zeibig und beobachtete, wie das Wasser die Acrylglaskuppel überspülte. Seine Stimme klang besorgt, als er sich an Giordino wandte.

»Ich habe ein lautes Krachen gehört, und dann verstummten die Schüsse. Dirk?«

Giordino nickte. »Er hat das Arbeitsboot gestohlen, nachdem es die Bullet auf die andere Seite des Piers geschleppt hatte. Dann hat er mich losgemacht und sich die vertäute Jacht vorgenommen.«

»Ich glaube, damit hat er Erfolg gehabt«, meinte Zeibig düster.

Als der Tiefenmesser dreißig Fuß anzeigte, stoppte Giordino die Ballastpumpen und lenkte das Tauchboot vom Pier weg. Indem er den Schub umkehrte, glitt er in die Bucht hinein, dann lächelte er Zeibig aufmunternd an.

»Wie ich Dirk kenne, ist er sicher nicht bis zum Ende auf dem Boot geblieben. Eher würde ich einen Monatsverdienst darauf setzen, dass er in diesem Augenblick mitten in der Bucht herumschwimmt.«

Zeibigs Blick hellte sich sofort auf. »Aber wie sollen wir ihn jemals finden?«

Giordino tätschelte liebevoll das Armaturenbrett. »Wir vertrauen den scharfen Augen der Bullet«, sagte er.

Die eigenen Augen konzentriert auf den Navigationsschirm gerichtet, lenkte Giordino das Tauchboot auf den gewundenen Kurs, den er von dem Punkt an aufgezeichnet hatte, an dem Pitt es vom Arbeitsboot getrennt hatte. Die Koppelungsnavigation würde ihn zwar nicht an genau die gleiche Position zurückführen wie ein GPS, aber zumindest in eine sehr nahe.

Giordino folgte dem Weg in dreißig Fuß Tiefe und stieg bis auf zehn Fuß auf, womit er sich dem ursprünglichen Startpunkt näherte. Dann drosselte er den Antrieb, bis sie in einer stationären Position verharrten.

»Sind wir außer Schussweite der Wachen?«, fragte Zeibig.

Giordino schüttelte den Kopf. »Wir hatten großes Glück, dass wir bisher nicht direkt unter Beschuss genommen wurden. Sie hatten es nur darauf abgesehen, das Arbeitsschiff zu stoppen. Ich habe wenig Lust, ihnen eine zweite Chance zu bieten.«

Er betätigte einige Schalter neben einem Überkopfmonitor. »Hoffentlich ist der Chef nicht zu nahe ans Ufer geraten.«

Ein körniges Bild erschien auf dem Monitor, als er die Messwerte des U-Boot-eigenen Sonarsystems darstellte. Giordino steigerte die Abtastfrequenz des Systems und erhielt ein detailliertes Bild, während er seine Reichweite reduzierte. Beide Männer studierten aufmerksam den Bildschirm, sahen jedoch nur ein flaches Bild fleckiger Schatten. Giordino aktivierte dann eine Seitenstrahldüse und ließ das U-Boot im Uhrzeigersinn rotieren. Das Bild veränderte sich nur wenig, als der nach vorn gerichtete Sensor die Mitte der Bucht abtastete. Dann bemerkte Giordino einen winzigen Fleck am oberen Rand des Bildschirms.

»Da befindet sich etwas Kleines in rund einhundert Fuß Entfernung«, sagte er.

»Ist das Dirk?«, fragte Zeibig.

»Wenn es kein Delphin, kein Kajak oder irgendein im Wasser treibender Müll ist«, erwiderte er.

Er regelte den Schub der Düsen, lenkte das Tauchboot behutsam zum Ziel und beobachtete, wie es allmählich größer wurde. Als der Schatten Anstalten machte, am oberen Rand des Sonarschirms zu verschwinden, wusste Giordino, dass sie sich fast genau darunter befanden.

»Dann wollen wir uns das Ganze mal genau ansehen«, sagte er und leerte die Ballasttanks.

Pitt trieb auf dem Rücken, um nach seiner Schwimmstrecke und mehreren Minuten Wassertreten Kraft zu sparen, als er unter sich im Wasser eine leichte Bewegung spürte. Er wälzte sich auf den Bauch und sah die matte Innenbeleuchtung der Bullet, die langsam zu ihm aufstieg. Er schwamm darauf zu und hielt sich genau über der Acrylglaskuppel, als sie durch die Wasseroberfläche brach. Giordino unterbrach nun den Auftauchvorgang, so dass die Kuppel nur wenige Zentimeter aus dem Wasser ragte.

Pitt lag ausgestreckt auf der Kuppel und breitete die Arme aus, um sich abzustützen. Unter sich konnte er Giordino erkennen, der mit einem erleichterten Lächeln zu ihm hochsah und mit einer Geste fragte, ob alles okay sei. Pitt formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und hielt ihn dicht über die Kuppel, dann deutete er zur Mitte der Bucht. Giordino nickte und gab ihm durch Handzeichen zu verstehen, dass er sich festhalten solle.

Pitt klammerte sich mit Armen und Beinen an die Acrylglaskuppel, während das U-Boot Fahrt aufnahm. Giordino steigerte die Kraft der Schubdüsen behutsam, bis sie mit ein paar Knoten durch die Fluten glitten. Pitt hatte ein Gefühl, als surfe er auf dem Bauch. Die kleinen Wellen schlugen ihm ins Gesicht, und er musste alle paar Sekunden den Kopf in den Nacken nehmen, um Atem zu holen. Als die Kaibeleuchtung weit genug zurückgefallen war, klopfte Pitt so laut es ging gegen die Kuppel. Das Tauchboot stoppte sofort und stieg ein paar Sekunden später in einer Wolke kleiner Luftbläschen vollends zur Wasseroberfläche auf.

Pitt rutschte von der Glaskuppel herab auf den Rumpf der Bullet und bewegte sich dann zur Heckluke. Er zögerte einen kurzen Moment und blickte ein letztes Mal zum Land. In einiger Entfernung konnte er gerade noch das Arbeitsboot am Pier erkennen, das über den Bug in die Tiefe sank. In der Nähe versuchten ein paar Männer in einem Zodiac, eine Leine vom Pier zur Motorjacht zu spannen, ehe sie auf Grund geriet. Mit einiger Erleichterung konnte Pitt erkennen, dass die Suche nach dem Tauchboot für die Männer an Land offenbar nur geringe Priorität besaß. Dann sprang neben ihm die Luke auf, und Giordino hieß ihn willkommen.

»Danke, dass du zurückgekommen bist, um mich rauszuholen«, sagte Pitt mit dem Anflug eines Lächelns.

»König Al lässt niemanden im Stich«, schnaufte Giordino. »Kann ich davon ausgehen, dass du unsere Gastgeber anständig in Atem hältst?«, fragte er und blickte zum Pier, ehe er die Luke schloss.

»Hab ihrer Jacht eine hässliche Beule verpasst, die einen Einsatz vorerst unmöglich machen dürfte«, erwiderte er. »Aber da du unseren guten Dr. Zeibig schon abgeholt hast, sehe ich wenig Sinn darin, hier noch länger herumzulungern.«

Er folgte Giordino zu den Pilotensitzen, dann gingen sie schnell auf Tauchstation. Unbemerkt schlichen sie sich in sicherer Tiefe aus der Bucht und kamen erst wieder hoch, als sie eine halbe Meile vom Festland entfernt waren. Giordino konfigurierte das Bullet für Überwasserfahrt, und zu Zeibigs nicht geringer Verwunderung schossen sie schon bald mit mehr als dreißig Knoten Geschwindigkeit über die dunklen Fluten.

Ein kurzer Funkkontakt mit der Aegean Explorer lieferte die Bestätigung, dass sie vor der Südspitze der Insel Gökceada stand. Eine halbe Stunde später kamen die Lichter des Forschungsschiffes am Horizont in Sicht. Als sie sich näherten, sahen Pitt und Giordino, dass ein zweites, größeres Schiff auf der anderen Seite der Explorer Position bezogen hatte. Giordino nahm das Gas langsam zurück, während sie näher an das NUMA-Schiff herankamen und auf der Steuerbordseite unter dem Bordkran stoppten. Pitt erkannte in dem anderen Schiff eine Fregatte der türkischen Küstenwache, die in geringer Entfernung an Backbord neben der Explorer lag.

»Offenbar ist die Kavallerie endlich eingetroffen«, stellte Pitt fest.

»Ich zeige ihnen gerne den Weg zu den Bösen«, sagte Zeibig.

Zwei Taucher erschienen in einem Zodiac und befestigten ein Kranseil am Bullet, dann wurde das schlanke U-Boot an Bord gehievt. Rudi Gunn stand auf dem Achterdeck bereit und half mit, das U-Boot zu sichern, ehe er zur Heckluke ging. Sein betrübtes Gesicht hellte sich auf, als er Zeibig vor Pitt und Gunn aus dem U-Boot klettern sah.

»Rod, sind Sie okay?«, fragte er und half dem Archäologen hinunter aufs Deck.

»Ja, Dirk und Al sei Dank. Ich brauchte allerdings ein wenig Hilfe, um die hier loszuwerden«, fügte er hinzu und hob seine gefesselten Hände.

»Das dürfte für die Schiffswerkstatt kein Problem sein«, erwiderte Gunn.

»Al hat die Position der Jacht und ihrer Mannschaft«, sagte Pitt. »Es ist eine kleine Operationsbasis an der Küste. Wir können der türkischen Küstenwache die Koordinaten mitteilen oder sie mit der Explorer hinführen.«

»Ich fürchte, das können wir vergessen«, erwiderte Gunn und schüttelte den Kopf. »Wir haben Befehl, nach Canakkale, einer Hafenstadt auf den Dardanellen, zu laufen, sobald wir euch sicher an Bord geholt haben.«

Er deutete auf die türkische Fregatte, die noch näher herangekommen war, als das Tauchboot eintraf. Pitt blickte hinüber und sah erst jetzt, dass eine Reihe bewaffneter Seeleute an der Reling stand und die Waffen auf das Forschungsschiff der NUMA gerichtet hatte.

»Warum diese drohende Haltung?«, fragte er. »Zwei unserer Leute wurden ermordet und ein Dritter entführt. Hast du die Küstenwache nicht schon früher alarmiert?«

»Habe ich getan«, erwiderte Gunn gereizt. »Das ist aber nicht der Grund, weshalb sie hier sind. Es scheint, als habe jemand anders sie noch vor uns gerufen.«

»Warum dann die Waffen?«

»Weil«, sagte Gunn, die Augen zorngerötet, »weil wir angeblich eine nationale Kulturstätte geplündert haben sollen.«

 

41

 

Die Abenddämmerung hatte im östlichen Mittelmeer eingesetzt und verlieh dem Himmel einen rosigen Schimmer, als die Ottoman Star in den Hafen von Beirut, nördlich der libanesischen Hauptstadt, einfuhr. Die alte Fregatte hatte eine schnelle Reise aus der Ägäis hinter sich und die Hafenstadt in weniger als achtundvierzig Stunden erreicht. Der Frachter passierte einen modernen Container-Terminal, wandte sich nach Westen und durchquerte den Haupthafen, um an einem älteren Frachtkai anzulegen.

Trotz der späten Stunde hielten viele der einheimischen Hafenarbeiter inne und verfolgten, wie der Frachter vertäut wurde. Amüsiert betrachteten sie das seltsame Spektakel auf seinem Oberdeck. Neben der vorderen Ladeklappe und auf einem hastig zusammengezimmerten Holzgerüst lag die beschädigte italienische Jacht. Zwei Arbeiter in Overalls waren damit beschäftigt, das lange Loch in ihrem Rumpf, das ihr von dem mittlerweile gesunkenen Arbeitsboot beigebracht worden war, zu flicken.

Maria saß abseits auf der Kommandobrücke des Frachters und verfolgte schweigend, wie der Kapitän eine kleine Prozession von Hafen-, Zoll- und Handelsvertretern abfertigte, die sich zwecks Erledigung allen möglichen Papierkrams an Bord eingefunden hatten. Erst als sich ein einheimischer Textilgroßhändler wegen einer zu geringen Lieferung beschwerte, griff sie ein.

»Wir waren gezwungen, überstürzt abzulegen«, sagte sie freiheraus. »Sie erhalten die fehlende Menge mit der nächsten Lieferung.«

Der eingeschüchterte Großhändler nickte, dann ging er schweigend hinaus, offensichtlich darauf bedacht, nicht mit der reizbaren Frau, der das Schiff gehörte, in Streit zu geraten.

Die Hafenkräne wurden schnell in Stellung gebracht, und schon bald wurden Stahlcontainer, gefüllt mit türkischen Textilien und anderen Produkten, aus den Frachträumen des Schiffes ans Tageslicht gehievt. Maria blieb auf ihrem Platz auf der Kommandobrücke und verfolgte die Aktivitäten mit gleichgültiger Miene. Erst als sie einen ramponierten Toyota Kleinlaster vorfahren und neben der Gangway parken sah, richtete sie sich auf und straffte sich. Sie wandte sich an einen der Janitscharen, die ihr Bruder ihr als Wächter auf dieser Reise zur Verfügung gestellt hatte.

»Ein Mann, mit dem ich verabredet bin, ist soeben auf dem Kai eingetroffen. Bitte durchsuch ihn sorgfältig und bring ihn dann zu meiner Kabine«, befahl sie.

Der Janitschar nickte und verließ eilig die Kommandobrücke. Er war einigermaßen überrascht, dass sich der Fahrer des Trucks als Araber in schmuddeliger Bauernkleidung mit einer zerlumpten Kufiya um den Kopf entpuppte. Seine dunklen Augen glühten jedoch fanatisch und lenkten die Aufmerksamkeit von einer langen Narbe auf der rechten Seite seines Unterkiefers ab, die er sich in einem Messerkampf als Halbwüchsiger eingehandelt hatte. Der Wächter durchsuchte ihn pflichtgemäß, dann geleitete er ihn zu Marias geräumiger und stilvoll eingerichteter Kabine.

Die Frau taxierte ihn schnell, während sie ihm einen Sitzplatz anbot, dann entließ sie den Janitschar aus ihrer Kabine.

»Danke, dass Sie hergekommen sind, um sich mit mir zu treffen, Zakkar. Falls das wirklich Ihr Name ist«, fügte sie hinzu.

Der Araber lächelte knapp. »Sie können mich Zakkar nennen. Oder auch anders, wie Sie wollen, wenn Ihnen der Name nicht gefällt.«

»Sie sind uns auf Grund Ihrer besonderen Talente empfohlen worden.«

»Vielleicht ist das der Grund, weshalb sich nur wenige leisten können, mich zu engagieren«, erwiderte er und nahm die schmuddelige Kufiya ab und warf sie auf einen Sessel in seiner Nähe. Als sie sah, dass er einen westlichen Haarschnitt trug, erkannte Maria, dass die ärmliche Kleidung lediglich eine Verkleidung war. Rasiert und in einem Anzug konnte er durchaus als erfolgreicher Geschäftsmann durchgehen, dachte sie und ahnte nicht, dass er genau das sehr oft tat.

»Haben Sie die Anzahlung vorbereitet?«, fragte er.

Maria erhob sich und nahm eine Ledertasche aus der Schrankschublade.

»Ein Viertel des Gesamtbetrags, wie vereinbart. Bezahlt wird in Euro. Der Restbetrag wird entsprechend Ihrer Instruktionen auf das Konto einer libanesischen Bank überwiesen.«

Sie trat auf Zakkar zu, hielt die Tasche aber fest.

»Sicherheit steht bei dieser Operation an erster Stelle«, sagte sie. »Niemand darf daran beteiligt werden, der nicht absolut vertrauenswürdig ist.«

»Ich wäre sicherlich schon nicht mehr am Leben, würde ich unter anderen Bedingungen arbeiten«, erwiderte er kühl und deutete auf die Tasche. »Meine Männer sind für den richtigen Preis sogar bereit zu sterben.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte sie und reichte ihm die Tasche.

Während er einen Blick auf ihren Inhalt warf, ging Maria zu einem Schreibtischschrank und holte mehrere zusammengerollte Karten heraus.

»Kennen Sie Jerusalem gut?«, fragte sie und breitete die Karten auf einem Couchtisch aus.

»Ich operiere sehr oft in Israel. Soll ich den Sprengstoff nach Jerusalem bringen?«

»Ja. Fünfundzwanzig Kilo HMX.«

Bei der Erwähnung, dass es sich um Plastiksprengstoff handelte, hob Zakkar die Augenbrauen. »Beeindruckend.«

»Ich werde Ihre Hilfe bei der Verteilung des Sprengstoffs brauchen«, sagte sie. »Es könnte auch sein, dass gewisse Ausgrabungsarbeiten notwendig sind.«

»Natürlich. Das ist kein Problem.«

Sie rollte die erste Karte auseinander, ein altertümlicher Plan mit der Bezeichnung Unterirdische Wasserläufe im Alten Jerusalem. Sie legte sie beiseite und ersetzte sie durch eine vergrößerte Fotografie von der Altstadt Jerusalems, die von einer Mauer umgeben war. Sie wanderte mit einem Finger an der östlichen Seite der Mauer entlang bis zu einem Berghang dahinter, der ins Kidrontal abfiel. Ihr Finger blieb auf einem großen muslimischen Friedhof auf der Hügelspitze liegen, dessen einzelne weiße Grabsteine auf dem Foto zu erkennen waren.

»Dort treffen wir uns, auf diesem Friedhof, um genau elf Uhr abends, in zwei Tagen«, sagte sie.

Zakkar studierte das Foto und merkte sich die Kreuzungen in der Nähe, die auf dem Bild eingezeichnet waren. Sobald er sich alles eingeprägt hatte, sah er Maria mit fragendem Blick an.

»Sie werden dort mit uns zusammentreffen?«, fragte er.

»Ja. Das Schiff geht von hier nach Haifa.« Sie hielt inne, dann fügte sie mit Nachdruck hinzu: »Ich werde die Operation leiten.«

Beinahe hätte der Araber eine verächtliche Bemerkung gemacht. Grund war die Vorstellung, dass ihm eine Frau bei einer Unternehmung Anweisungen gab. Aber dann dachte er an die fürstliche Bezahlung, die er für diese Demütigung erhalten würde.

»Ich werde mit dem Sprengstoff dort sein«, versprach er.

Sie ging zu ihrer Koje und holte zwei schwere Holztruhen darunter hervor. Die Truhen hatten an jedem Ende stabile Stahlgriffe und waren mit den Worten Medizinisches Gerät in hebräischer Sprache beschriftet.

»Hier ist das HMX. Ich lasse es von meinen Wächtern auf den Kai hinunterbringen.«

Sie baute sich vor dem arabischen Söldner auf und sah ihm in die Augen.

»Ein letzter Punkt noch. Ich dulde keine Vorbehalte, was unser Ziel betrifft.«

Zakkar lächelte. »So lang er oder es sich in Israel befindet, ist es mir egal, wen oder was Sie zerstören.«

Er wandte sich um und öffnete die Tür. »Bis zu unserem Treffen in Jerusalem. Möge Allah mit Ihnen sein.«

»Und auch mit Ihnen«, murmelte Maria, aber der Araber hatte sich bereits durch den Korridor entfernt, gefolgt von dem Janitschar.

Nachdem der Sprengstoff im Lastwagen des Arabers verstaut worden war, setzte sich Maria an den Couchtisch und studierte erneut das Foto von Jerusalem. Von dem alten Friedhof ließ sie den Blick zu dem funkelnden Ziel auf dem Hügel wandern.

Diesmal werden wir die Welt aufrütteln, dachte sie, ehe sie das Foto und die Karten wieder in einen Schrank einschloss.

 

42

 

Wie eine gereizte Raubkatze ging Rudi Gunn auf der Kommandobrücke hin und her. Obwohl die Beule an seinem Kopf längst zurückgegangen war, zierte noch immer ein rotblauer Fleck seine Schläfe. Alle paar Schritte hielt er an und blickte auf der Suche nach Hilfe auf den Hafenkai von Canakkale. Als er dort nichts dergleichen sehen konnte, schüttelte er den Kopf und setzte seine Wanderung fort.

»Das ist doch verrückt. Jetzt werden wir schon den dritten Tag hier festgehalten. Wann lassen sie uns endlich wieder frei?«, fragte er verärgert.

Pitt sah von dem Kartentisch auf, wo er mit Kapitän Kenfield eine Landkarte von der türkischen Küste studierte.

»Unser Konsulat in Istanbul hat mir versichert, dass unsere Freilassung unmittelbar bevorsteht. Der nötige Papierkram wird zurzeit durch die örtliche Bürokratie geschleust.«

»Die ganze Situation ist ungeheuerlich«, klagte Gunn. »Wir werden hier gefangen gehalten, während die Mörder von Iverson und Tang frei herumlaufen dürfen.«

Pitt konnte ihm nicht widersprechen, aber er verstand das Dilemma. Lange bevor die Aegean Explorer die türkische Küstenwache alarmiert hatte, war sie durch zwei frühere Funksprüche in Bereitschaft versetzt worden. Der erste meldete, dass das NUMA-Schiff verbotenerweise ein historisches türkisches Schiffswrack, das vom Ministerium für Kultur und Tourismus geschützt wurde, ausschlachte. Die zweite Meldung besagte, dass zwei Taucher während der Bergungsaktion ums Leben gekommen seien. Die Türken weigerten sich, die Quelle der Meldungen zu nennen, wurden aber pflichtgemäß tätig, bevor die Aegean Explorer ihre eigene Meldung absetzen konnte.

Sobald man das NUMA-Schiff in die Hafenstadt von Canakkale eskortiert und beschlagnahmt hatte, wurde der Fall der örtlichen Polizei übergeben, um die Verwirrung komplett zu machen. Pitt rief sofort Dr. Ruppe in Istanbul an, um ihre berechtigte Anwesenheit am Fundort des Wracks zu bestätigen, dann telefonierte er mit seiner Frau Loren. Sie drängte das Außenministerium, sich umgehend für ihre sofortige Freilassung einzusetzen, nachdem die Polizei das Schiff durchsucht hatte und, da man keinerlei Artefakte gefunden hatte, allmählich begriff, dass auch kein Grund für einen weiteren Arrest vorlag.

Rod Zeibig tauchte in der Tür auf und lockerte die angespannte Atmosphäre ein wenig auf.

»Haben Sie eine Minute Zeit?«, fragte er.

»Klar«, erwiderte Gunn. »Wir tun ja im Augenblick nichts anderes, als uns die Haare einzeln auszureißen.«

Zeibig kam mit einem Schnellhefter in der Hand herein und ging zum Kartentisch.

»Vielleicht muntert Sie das ein wenig auf. Ich habe einige Informationen über Ihren Steinmonolithen.«

»Offensichtlich gehört er mir gar nicht mehr«, meinte Gunn ein wenig verbittert.

»Konnten Sie sich die lateinische Inschrift merken?«, fragte Pitt und rutschte ein Stück zur Seite, damit Gunn und Zeibig genug Platz hatten, um sich hinzusetzen.

»Ja. Ich habe sie aufgeschrieben, sobald wir aufs Schiff zurückgekehrt waren, hatte mich aber wegen der ganzen Aufregung seitdem gar nicht mehr damit beschäftigt. Erst heute Morgen habe ich sie mir wieder vorgenommen - und auch übersetzt.«

»Und jetzt sagen Sie mir bloß, dass es der Grabstein Alexanders des Großen ist«, bat Gunn hoffnungsvoll.

»Das wäre in doppelter Hinsicht falsch, fürchte ich. Zum einen ist der Stein kein Grabstein, sondern ein Gedenkstein. Und dann wird nirgendwo Alexander genannt.«

Er schlug den Schnellhefter auf und holte ein Blatt mit einem handschriftlichen lateinischen Text heraus, den er nach der Untersuchung des Monolithen notiert hatte. Auf der nächsten Seite fand sich die maschinengeschriebene Übersetzung, die er Gunn reichte. Zuerst überflog er sie stumm, dann las er laut vor:

 

»Im Andenken an Centurio Plautius, Scholae Palatinae und treuer Wächter Helenas. Gefallen im Kampf auf See an diesem Ort. Glaube. Ehre. Treue.

 

- Cornicularius Traianus«

 

»Centurio Plautius«, wiederholte Gunn. »Ein Gedenkstein für einen römischen Soldaten?«

»Ja«, erwiderte Zeibig, »was man als Bestätigung dafür ansehen kann, dass Als Krone römischer Herkunft und ein Geschenk des Kaisers Konstantin ist.«

»Ein Scholae Palatinae, der Helena treu ergeben war«, sagte Pitt. »Die Scholae Palatinae war eine Elitetruppe der späteren römischen Kaiser, vergleichbar mit der Prätorianergarde. Mit Helena müsste Helena Augustus gemeint sein.«

»Das ist richtig«, stimmte Zeibig zu. »Die Mutter von Konstantin dem Ersten, der Anfang des vierten Jahrhunderts regierte. Helena lebte von 248 bis 330, also stammen der Stein und die Krone wahrscheinlich aus dieser Zeit.«

»Irgendeine Idee, wer dieser Traianus ist?«, fragte Gunn.

»Ein Cornicularius ist ein militärischer Beamter, normalerweise in einer Stellvertreterposition. Ich habe in den römischen Datenbanken nach einem Traianus gesucht, aber nichts gefunden.«

»Damit bleibt das große Geheimnis weiter ungelöst: Woher stammen die Krone und der Monolith, und warum befand sich beides in einem osmanischen Schiffswrack?«

Er sah an Zeibig vorbei und wurde beim Anblick von zwei Männern in blauen Uniformen, die über den Kai auf das Schiff zukamen, sichtlich munter.

»Sieh mal an, die örtliche Polizei gibt sich die Ehre«, sagte er. »Hoffentlich bringen sie uns unsere Entlassungspapiere.«

Kapitän Kenfield erwartete die Beamten an der Gangway und geleitete sie an Bord, wo Pitt und Gunn in der Offiziersmesse mit ihnen zusammentrafen.

»Ich habe hier Ihre Freigabeverfügung«, sagte der ältere Beamte in fließendem Englisch. Er hatte ein rundes Gesicht, Hängeohren und einen buschigen schwarzen Schnurrbart.

»Ihre Regierung war sehr überzeugend«, fügte er mit der Andeutung eines Lächelns hinzu. »Sie können sich wieder frei bewegen.«

»Was haben die Untersuchungen im Zusammenhang mit meinen ermordeten Mannschaftsmitgliedern bisher ergeben?«, wollte Kenfield wissen.

»Wir haben den Fall als möglichen Mord wiederaufgenommen. Zurzeit gibt es jedoch keine Verdächtigen.«

»Was ist mit dieser Motorjacht, der Sultanat«, fragte Pitt.

»Ja, wir haben doch gesehen, wie dieses Boot Dirk beinahe zu Hackfleisch verarbeitet hat«, hakte Gunn nach.

»Wir konnten den Eigner des Schiffes ermitteln, und der teilte uns mit, dass Sie sich irren müssen«, erwiderte der Beamte. »Die Suitana befindet sich auf einer Charterfahrt vor der libanesischen Küste. Wir erhielten heute per E-Mail Fotos von dem Schiff im Hafen von Beirut.«

»Die Suitana wurde schwer beschädigt«, sagte Pitt. »Sie kann unmöglich aus eigener Kraft bis in den Libanon gelangt sein.«

Der Assistent des Beamten öffnete einen Aktenkoffer und holte mehrere ausgedruckte Fotografien heraus, die er Pitt reichte. Die Fotos zeigten den Bug und die Backbordseite der blauen Jacht, die an einem staubigen Kai vertäut war. Pitt entging nicht, dass auf keinem der Fotos die Steuerbordflanke zu sehen war, wo er die Jacht gerammt hatte. Das letzte Foto zeigte in Nahaufnahme eine libanesische Tageszeitung mit dem aktuellen Datum und im Hintergrund die Jacht. Gunn beugte sich über Pitts Schulter und studierte die Fotos.

»Sieht aus, als sei es das gleiche Boot«, gab er widerstrebend zu. Er konnte nur nicken, als Pitt ihm das Foto eines Rettungsrings zeigte, auf dem der Name der Jacht deutlich zu lesen war. Pitt nickte ebenfalls, da er keinen Hinweis darauf fand, dass die Fotos manipuliert worden waren.

»Das widerspricht aber nicht der Tatsache, dass einer unserer Wissenschaftler ebenfalls entführt und zum Heimathafen der Jacht irgendwo an der Küste gebracht wurde«, sagte Pitt.

»Ja, unsere Abteilung hat sich an den örtlichen Polizeichef in Kirte gewandt, der einen Mann losschickte, der sich die Kaianlagen ansehen sollte, die Sie beschrieben haben.« Er wandte sich um und nickte seinem Assistenten zu, der ein dünnes Päckchen aus dem Aktenkoffer zog und seinem Vorgesetzten reichte.

»Sie können eine Kopie des Berichts haben, der in Kirte geschrieben wurde. Ich war so frei, ihn für Sie ins Englische übersetzen zu lassen«, sagte der Beamte und reichte Pitt mit einem entschuldigenden Blick das Dokument. »Der untersuchende Beamte berichtete, dass nicht nur die Schiffe, die Sie beschrieben haben, nicht im Hafen anzutreffen waren, sondern dass es dort überhaupt keine Schiffe gab.«

»Sie haben ihre Spuren aber verdammt schnell verwischt«, stellte Gunn fest.

»An dem Ort einzusehende Dokumente weisen darauf hin, dass dort ein großer Frachter - ähnlich dem, den Sie beschrieben haben - früher an dem gleichen Tag vor Anker lag und eine Ladung Textilien aufgenommen hat. Jedoch geht aus den Hafenprotokollen hervor, dass das Schiff den Hafen acht Stunden vor Ihrer angeblichen Ankunft verlassen hat.«

Der Beamte musterte Pitt mit einem mitfühlenden Blick.

»Es tut mir leid, dass wir ohne weitere stichhaltige Beweise in dieser Angelegenheit nichts weiter tun können«, fügte er hinzu.

»Ich erkenne, dass sich das Ganze zu einem ziemlich verwirrenden Vorgang entwickelt hat«, sagte Pitt und unterdrückte mühsam seinen Zorn. »Ich frage mich jedoch, ob Sie mir zumindest mitteilen können, wer diesen Frachthafen in der Nähe von Kirte betreibt?«

»Es ist eine private Firma namens Anatolia Exports. Sämtliche Daten und Kontaktinformationen befinden sich in dem Bericht.« Er sah Pitt nachdenklich an. »Falls ich Ihnen in irgendeiner Weise weiterhin behilflich sein kann, lassen Sie es mich bitte wissen.«

»Vielen Dank für Ihre Unterstützung«, erwiderte Pitt knapp.

Während die Polizeibeamten das Schiff verließen, schüttelte Gunn den Kopf.

»Unglaublich. Zwei Morde und eine Entführung, doch niemand wird beschuldigt - außer uns.«

»Das ist eine Gemeinheit«, sagte Kapitän Kenfield.

»Aber nur weil die andere Seite mit gezinkten Karten spielt«, sagte Pitt. »Anatolia Exports haben die örtliche Polizei von Kirte ganz offensichtlich gekauft. Ich glaube, das hat unser polizeilicher Freund auch ganz klar erkannt.«

»Ich denke, die Situation war für sie ein wenig peinlich, daher versuchen sie, irgendwie das Gesicht zu wahren«, sagte Kenfield.

»Sie sollten aber eher daran interessiert sein, ihre Arbeit anständig zu machen«, schimpfte Gunn.

»Ich hätte erwartet, dass sie zumindest zu dem Zeitpunkt aufgehorcht hätten, als Sie ihnen erzählt haben, dass Sie die Frau von dem Überfall auf den Topkapi-Palst wiedergetroffen hätten«, sagte Kenfield.

Pitt schüttelte den Kopf. »Ich habe ihnen gar nichts von ihr erzählt.«

»Warum nicht?«, fragte Gunn ungläubig.

»Ich wollte das Schiff nicht noch mehr gefährden, solange wir uns in türkischen Gewässern bewegen. Wir haben ja gesehen, zu was sie fähig sind, wer immer sie auch sein mögen. Außerdem hatte ich den Verdacht, dass die örtliche Polizei nicht das geringste Interesse daran hat.«

»Wahrscheinlich haben Sie in diesem Punkt völlig recht«, sagte Kenfield.

»Aber wir können sie doch nicht einfach ungeschoren laufen lassen«, protestierte Gunn.

»Nein«, pflichtete Pitt ihm bei und schüttelte den Kopf. »Das werden wir auch nicht tun.«

 

Die Leinen waren gelöst, und die Aegean Explorer entfernte sich zentimeterweise vom Kai, als ein ramponiertes gelbes Taxi mit hohem Tempo heranfuhr. Das rostige Fahrzeug kam schlingernd zum Stehen, die Hintertür flog auf und eine hochgewachsene schlanke Frau sprang heraus.

Pitt stand auf der Kommandobrücke, als er seine Tochter über den Kai rennen sah.

»Es ist Summer«, rief er dem Kapitän zu. »Stoppen Sie das Schiff.«

Pitt eilte zum Hauptdeck hinunter und duckte sich, als eine große Reisetasche durch die Luft flog und vor seinen Füßen aufschlug. Eine Sekunde später legte sich ein Paar Hände um die Seitenreling, gefolgt von einer zerzausten roten Haarmähne. Dann schwang Summer sich über das Geländer und landete auf dem Vorderdeck. Pitt ging auf sie zu, hatte ihre Reisetasche bereits in der Hand und umarmte sie.

»Du weißt, dass wir dich abholen wollten«, sagte er lachend.

Als sie erkannte, dass sich das Schiff in Rückwärtsfahrt befand und zum Kai zurückkehrte, sah Summer ihren Vater mit einem verlegenen Blick an.

»Tut mir leid«, sagte sie, immer noch ein wenig außer Atem. »Als ich aus London anrief, meinte Rudi, dass ihr wahrscheinlich noch für ein oder zwei Tage hierbleiben würdet. Aber als das Taxi dann den Kai erreichte und ich sah, wie ihr gerade abgelegt habt, bin ich in Panik geraten. Ich wollte das Schiff auf keinen Fall verpassen.«

Pitt wandte sich um und winkte zur Brücke hinauf, dass einer Abfahrt nichts mehr im Weg stand. Dann geleitete er Summer zu ihrer Kabine.

»Ich hatte eigentlich nicht erwartet, dich schon so früh wiederzusehen«, sagte er.

»Ich habe eine frühere Maschine von London genommen und gedacht, es wäre einfacher, hier in Canakkale zu dir zu stoßen als von Istanbul aus.« Ihr Gesicht wurde ernst, als sie fortfuhr: »Ich habe von dem Schiffswrack gehört... und davon, was mit Tang und Iverson passiert ist.«

»Wir hatten eine Menge Ärger und Aufregung«, erwiderte er, als sie ihre Kabine betraten und er ihre Reisetasche auf die Koje stellte. »Lass uns in der Offiziersmesse einen Kaffee trinken, und ich erzähl dir alles.«

»Das gefällt mir, Dad. Dann kann ich dir auch berichten, was ich in England erlebt habe.«

»Erzähl mir bloß nicht, dass es um ein Geheimnis geht«, sagte er lachend.

Summer schaute ihren Vater ernst an und meinte dann: »Ein größeres, als du dir je hättest träumen lassen.«

 

TEIL III

 

43

 

»Sophie, ich glaube, ich habe einen ganz heißen Tipp für dich.«

Sam Levine stolperte beinahe, als er in das Büro der Direktorin der Antiquities Authority platzte. Die Blessuren in seinem Gesicht — von dem Vorfall in Caesarea - waren weitgehend verheilt, aber er hatte von seiner Begegnung mit den arabischen Dieben immer noch eine lange Narbe auf der Wange. Sophie saß an ihrem Schreibtisch und studierte einen Bericht der Polizei von Tel Aviv über Grabplünderungen, blickte jedoch interessiert auf.

»Okay, ich höre.«

»Einer unserer Informanten, ein Araberjunge namens Tyron, meldet eine mögliche Grabung heute Nacht auf dem muslimischen Friedhof im Kidrontal.«

»Im Kidrontal? Das ist doch gleich hinter der Mauer der Altstadt. Da ist aber jemand ziemlich dreist.«

»Falls es überhaupt stimmt. Tyron ist nicht der Zuverlässigste, was heiße Tipps angeht.«

»Wer soll denn die Schaufel schwingen?«, fragte Sophie.

»Ich habe nur einen Namen von ihm erfahren: ein kleiner Dieb namens Hassan Akais«, antwortete Sam und ließ sich in einen Sessel vor Sophies Schreibtisch sinken.

»Da klingelt nichts bei mir«, sagte Sophie, nachdem sie sich den Namen hatte durch den Kopf gehen lassen. »Müsste ich ihn kennen?«

»Wir haben ihn vergangenes Jahr bei einer Razzia in Jaffa aufgegriffen. Wir hatten aber nicht genug in der Hand, um ihn festzunageln, deshalb mussten wir ihn laufen lassen. Seitdem scheint er sauber geblieben zu sein. Er bezahlt unseren Informanten fürs Schafe-Hüten, und offenbar hat der Junge irgendeine Unterhaltung über eine Operation heute Nacht belauscht.«

»Das klingt in meinen Ohren wie ein kleiner Fisch.«

»Das dachte ich auch. Aber dann ist da noch dies hier«, sagte Sam und reichte Sophie einen Computerausdruck. »Ich habe seinen Namen durchs System laufen lassen, und stell dir vor, der Mossad verdächtigt ihn, Verbindungen zu den Mulis zu unterhalten.«

Sophie beugte sich vor und studierte das Papier mit erhöhtem Interesse.

»Seine Verbindungen erscheinen zwar bestenfalls ein wenig vage«, fügte Sam hinzu, »aber ich dachte, du würdest es vielleicht wissen wollen.«

Sophie nickte, während sie die Lektüre des Berichts beendete. Doch sie gab ihn Sam nicht zurück.

»Ich würde gerne mal mit Hassan reden«, sagte sie schließlich mit betont sachlicher Stimme.

»Wir sind heute ein bisschen dünn besetzt für eine Operation. Lou und die Truppe sind bis morgen unten in Haifa, und Robert liegt mit Grippe zu Hause im Bett.«

»Dann sind nur wir beide übrig, Sammy. Irgendwelche Einwände?«

Sam schüttelte den Kopf. »Wenn dieser Knabe irgendetwas mit Caesarea zu tun hat, dann will ich ihn auch haben.«

Sie machten einen Plan für ihr abendliches Rendezvous, dann erhob sich Sam und verließ das Büro. Sophie hatte sich wieder in den Polizeibericht vertieft, als sie plötzlich das Gefühl hatte, dass jemand sie anstarrte. Sie hob den Kopf und sah zu ihrer Überraschung Dirk in der Tür stehen. Er hatte einen dicken Strauß Lilien in der Hand.

»Entschuldigen Sie, ich suche den diensthabenden Sheriff dieses Ladens«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln.

Sophie sprang aus ihrem Sessel auf.

»Dirk, ich dachte, du hättest nicht vor nächster Woche frei«, sagte sie, kam zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Die Universität hatte die Ausgrabungen in Caesarea für dieses Jahr unterbrochen, daher nehme ich an, dass meine Arbeit erst mal beendet ist«, sagte er und legte die Blumen auf ihren Schreibtisch. Dann nahm er sie in den Arm und küsste sie. »Ich habe dich vermisst«, flüsterte er.

Sophie spürte, wie sich ihre Haut rötete und ihr heiß wurde, dann fiel ihr ein, dass ihre Bürotür offen stand.

»Ich könnte eine kurze Pause machen«, stammelte sie. »Sollen wir essen gehen?«

Sobald er zustimmend nickte, ergriff sie mit ihm zusammen die Flucht vor den neugierigen Augen im Büro und führte ihn in einen nahe gelegenen parkähnlichen Garten.

»Ich kenne in der Altstadt einen wunderschönen Platz zum Picknicken. Wir können uns auf dem Weg dorthin etwas zu essen kaufen«, schlug sie vor.

»Klingt verlockend«, sagte er. »Ich habe noch nicht viel von Jerusalem gesehen. Ein Spaziergang durch die Straßen ist immer der beste Weg, um den Geist und Charakter einer interessanten Stadt kennen zu lernen.«

Sophie ergriff seine Hand und verließ mit ihm den Park des Rockefeller Museums. Nicht weit entfernt befand sich das Herodestor, einer der zahlreichen Eingänge zur Altstadt Jerusalems. Ungefähr eine Quadratmeile groß, ist die Altstadt das religiöse Herz von Jerusalem und enthält die wichtigsten historischen Bauwerke der Stadt: die Grabeskirche, die Klagemauer und den Felsendom. Eine imposante Steinmauer, vor über vierhundert Jahren von den osmanischen Türken errichtet, umgibt den gesamten historischen Teil der Stadt.

Als er durch das Tor trat und ins Muslimische Viertel kam, bewunderte Dirk die zeitlose Schönheit des geschliffenen Kalksteins, der die Grundlage jedes Denkmals, jedes Geschäftshauses und jedes Wohnhauses der Stadt zu sein schien, ganz gleich wie unbedeutend oder vernachlässigt der jeweilige Bau auch sein mochte. Aber viel mehr amüsierte er sich über die bunt gemischte Bevölkerung, die sich in den engen Straßen und Gassen drängte. Als er einen armenischen Juden neben einem Äthiopier in weißem Mantel und einem Palästinenser mit einer Kufiya auf dem Kopf an einer Verkehrsampel auf grünes Licht warten sah, begriff er, dass er sich an einem Ort befand, der auf der Welt absolut einmalig war.

Sophie führte ihn durch eine dunkle und staubige Gasse zu einem betriebsamen offenen Markt, auf Arabisch souk genannt. Sie suchte sich wie selbstverständlich ihren Weg vorbei an fliegenden Händlern und kaufte an verschiedenen Ständen Falafel, Lamm-Kebap, süßes Gebäck und eine große Tüte Obst.

»Du hattest gesagt, du wolltest typische einheimische Kost haben, da hast du sie«, neckte Sophie und ließ Dirk ihre improvisierte Mittagsmahlzeit tragen.

Sie führte ihn einige Blocks weiter, dann erreichten sie das Gelände der St.-Anna-Kirche. Von den Kreuzfahrern errichtet, war der Standort des ehrwürdigen steinernen Bauwerks im Herzen des muslimischen Viertels eine der vielen seltsamen Gegensätzlichkeiten, die man in der alten Stadt finden konnte.

»Ein hübsches jüdisches Mädchen bringt mich zu einer christlichen Kirche?«, fragte Dirk und lachte verhalten.

»Eigentlich wollen wir zu den Anlagen hinter der Kirche. Es ist ein Ort, von dem ich angenommen habe, dass es einem Unterwasserforscher dort gefallen könnte. Außerdem«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu, »ist es ein idealer Ort, um ein Picknick zu veranstalten.«

Sie betraten das Grundstück und spazierten in den hinteren Teil, wo sie eine freie Fläche fanden, die von alten Ahornbäumen überschattet wurde. Ein Fußweg führte ein kurzes Stück zu einer mit einem Geländer gesicherten Schlucht, die sich wie ein offener Bergwerksschacht in der Tiefe verlor. Überreste alter Mauern, steinerner Säulen und antiker Bogengänge waren auf dem trockenen Grund der Grube zu erkennen.

»Das war der ursprüngliche Bethesda-Teich«, erklärte Sophie, als sie in den mittlerweile ausgetrockneten Schacht hinabschauten. »Ursprünglich war es eine Zisterne mit Wasser für den Ersten und den Zweiten Tempel. Später wurden dann Bäder eingebaut. Natürlich war es besser als Heilungszentrum bekannt, nachdem geschrieben wurde, dass Jesus hier einen Kranken geheilt haben soll. Viel Wasser ist allerdings nicht mehr übrig, fürchte ich.«

»Das ist wahrscheinlich auch ganz gut so«, meinte Dirk. »Andernfalls würden sich hier die Touristen drängen, um ein Bad zu nehmen.«

Sie fanden eine einsame Bank unter einem besonders mächtigen Ahorn, wo sie Platz nahmen und sich ihr Mittagessen schmecken ließen.

»Erzähl doch mal, wie es Dr. Haasis geht«, sagte sie.

»Eigentlich ganz gut. Ich habe ihn heute Morgen noch besucht, ehe ich nach Jerusalem gefahren bin. Er ruht sich zu Hause aus, ist aber ganz wild darauf, wieder an seine Arbeit zurückzukehren. Die Beinwunde war nicht allzu ernst, daher dürfte er schon in ein oder zwei Wochen auf seine Krücken verzichten können.«

»Der arme Kerl. Er tut mir wirklich leid.«

»Er hat mir erzählt, dass er wegen dir ein schlechtes Gewissen habe. Er scheint zu denken, dass es seine Schuld gewesen ist, dass deine Agenten in eine so gefährliche Lage geraten sind.«

Sophie schüttelte den Kopf. »Das ist lächerlich. Er konnte genauso wenig wissen wie wir, dass uns eine Bande von Terroristen angreifen würde.«

»Er ist ein Mensch mit einem großen Herzen«, sagte Dirk und nahm eine frische Feige aus der Obsttüte. »Übrigens hat mir der israelische Sicherheitsdienst während der vergangenen Tage ziemlich gründlich auf den Zahn gefühlt. Ich hoffe, du kannst mir sagen, dass ihr kurz davor steht, die Bösen zu erwischen.«

»Der Schin Bet, wie er mittlerweile heißt, hat die führende Rolle bei den Ermittlungen übernommen, aber ich fürchte, dass die Spur längst erkaltet ist. Der Lastwagen der Angreifer war kurz vorher gestohlen worden. Er wurde in einem See in der Nähe von Nahariyya gefunden, wo man ihn versenkt hatte. Der Schin Bet glaubt, dass die Diebe höchstwahrscheinlich kurz nach Verlassen von Caesarea in den Libanon übergewechselt sind. Sie sollen mit einer Schmugglerorganisation in Verbindung stehen, die mit der Hisbollah zusammenarbeitet. Ich fürchte, es wird schwierig sein, sie zu identifizieren — geschweige denn sie zu fassen.«

»Irgendeine Idee, für wen sie arbeiten könnten?«

»Nein, gar keine. Ich habe zwar jede Menge Recherchen angestellt und auch den ein oder anderen Verdacht, aber noch immer keinen schlagenden Beweis. Sam und ich tun wirklich, was wir können«, sagte sie, und ihre Stimme versiegte, als sie an den toten Agenten Holder dachte.

Dirk ergriff ihre Hand und drückte sie.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit so etwas zu tun haben würde«, fuhr sie fort, und eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel.

Sie sah Dirk an und erwiderte den Druck seiner Hand. »Ich bin wirklich froh, dass du hier ist«, sagte sie, dann lehnte sie sich zu ihm und küsste ihn.

Sie saßen lange aneinandergeschmiegt da, und Sophie fühlte sich in Dirks Armen wieder sicher. Vor den leeren Teichen von Bethesda sitzend fand sie sogar frischen Mut, um sich erneut in ihre Arbeit zu stürzen. Sie atmete tief durch und lächelte mit feuchten Augen.

»Riechst du den Jasmin?«, fragte sie. »Ich habe diesen Duft immer geliebt. Er erinnert mich an meine Kindheit, als jeder Tag mit Glück erfüllt war.«

»Das wird auch wieder so sein«, versprach Dirk. »Ich muss zurück«, flüsterte sie schließlich, ließ jedoch die Arme um Dirk geschlungen, als wollte sie ihn nie mehr loslassen. »Ich warte auf dich«, sagte er.

Plötzlich fiel ihr die Operation ein, die für diese Nacht mit Sam geplant war.

»Wir können zu Abend essen, aber ich fürchte, dass ich heute Nacht arbeiten muss. Eine Überwachung. Wir haben einen Hinweis auf einen Antiquitätendieb bekommen, der möglicherweise Kontakte zu libanesischen Schmugglern unterhält.“

»Darf ich mitkommen?«

Sophie wollte schon ablehnend den Kopf schütteln, doch dann gab sie nach. »Wir sind knapp an Personal. Nur Sam und ich stehen zur Verfügung, daher könnten wir schon ein wenig Hilfe gebrauchen. Aber diesmal keine Heldentaten.«

»Ich spiele nur den stummen Beobachter. Versprochen«, sagte er lächelnd.

Sie standen auf und blickten ein letztes Mal auf die trockenen Teiche. Sophie hatte plötzlich Hemmungen, diesen Ort zu verlassen, wusste aber gar nicht, warum. Schließlich ergriff sie Dirks Hand und kehrte widerstrebend in die reale Welt zurück, im Herzen ein Durcheinander widerstreitender Gefühle.

 

44

 

Der altersschwache Frachter Ottoman Star glitt langsam in den israelischen Hafen Haifa und suchte seinen zugewiesenen Liegeplatz am Ende des ruhigen westlichen Terminals auf. Mit nur noch einer geringen Menge an Textilien in den Frachträumen hätte die türkische Mannschaft das Schiff leicht in wenigen Stunden entladen können. Doch sie hatte den strikten Befehl, sich beim Löschen der Ladung so viel Zeit zu lassen, dass diese Arbeit nicht vor Mitternacht abgeschlossen wäre.

Nachdem sie sich beim Zoll mit gefälschten Reisepässen ausgewiesen hatten, mieteten Maria und einer der Janitscharen einen Wagen und verließen Haifa. Indem sie sich als Ehepaar auf einer Urlaubsreise ausgaben, konnten sie fast durch das ganze Land reisen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Doch bei ihrer Fahrt nach Jerusalem gingen sie bewusst kein Risiko ein. Maria wählte eine weite Umgehungsroute, um die West Bank zu meiden und nicht an zusätzlichen Kontrollpunkten angehalten zu werden, wo die Gefahr bestand, dass die Gürteltasche, die eine Pistole, Bargeld und eine Nachtsichtbrille enthielt, unter ihrem Sitz gefunden wurde.

Maria wusste sehr gut, dass der Versuch, HMX-Sprengstoff über die Grenze zu bringen und durchs Land zu transportieren, ein Unterfangen von ganz besonderem Kaliber war. Dieses Risiko würden Zakkar und seine Helfer bei den Mulis auf sich nehmen, und das zu einem Preis, der dem Aufwand auf jeden Fall angemessen war. Der arabische Schmuggler hatte Maria genau beschrieben, wie der Sprengstoff mit Lastwagen, dann zu Fuß und einmal sogar an die Bäuche von Tieren einer Schafherde gebunden, weitertransportiert wurde, um seinen Bestimmungsort zu erreichen, ohne von den israelischen Sicherheitsorganen entdeckt zu werden.

Aber das war nur die eine Hälfte des Unternehmens. Die Türkin hatte selbst eine ebenso wichtige Angelegenheit zu erledigen. Mit Hilfe eines Touristenstadtplans fuhren sie durch die belebten Straßen Jerusalems, mieden die Altstadt und gelangten in eins der moderneren Viertel im Westen. Sie fanden das erst kürzlich eröffnete Waldorf Astoria Hotel, parkten den Wagen auf der Straße und gingen nach Süden bis zum nächsten Block. In einer Zeile schicker Boutiquen fanden sie ein kleines Teehaus mit Perlenvorhängen vor den Fenstern und gingen hinein.

An einem Tisch in einer Ecke des nur spärlich erleuchteten Cafes entdeckte Maria einen bärtigen Mann, der sich auch sogleich erhob und in ihre Richtung lächelte, wobei er vergoldete Schneidezähne entblößte. Maria ging mit ihrem Janitschar im Schlepptau auf ihn zu.

»Al-Khatib?«, fragte sie.

»Stets zu Diensten«, erwiderte der Palästinenser und deutete eine Verbeugung an. »Möchten Sie sich nicht zu mir setzen?«

Maria nickte und nahm zusammen mit dem Janitschar am Tisch Platz. Al-Khatib setzte sich ihnen gegenüber und schenkte jedem eine Tasse Tee ein. Maria bemerkte, dass er die sonnenverbrannte Haut und die schwieligen Hände eines alten Grabräubers und Antiquitätendiebes hatte, was genau das war, womit er seinen Lebensunterhalt bestritt.

»Willkommen in Jerusalem«, sagte er als Trinkspruch.

»Danke«, erwiderte Maria und vergewisserte sich durch einen raschen Rundumblick, dass niemand in der Nähe war, der sie hätte belauschen können.

»Haben Sie alles erledigt, wofür Sie engagiert wurden?«, fragte sie mit leiser Stimme.

»Ja, es war sehr einfach«, erwiderte der Palästinenser und lächelte wieder. »Das Aquädukt befand sich genau an der Stelle, die Sie genannt hatten. Es ist ein erstaunliches historisches Fundstück. Darf ich fragen, wie Sie sich die Forschungsergebnisse beschafft haben?«

Nun war es Maria, die lächelte.

»Wie Sie wissen, wurde die derzeitige Mauer um die Altstadt Anfang des sechzehnten Jahrhunderts von Süleyman dem Prächtigen errichtet. Seine Ingenieure zeichneten eine genaue Karte mit sämtlichen vorhandenen Hindernissen. Auf den Karten, die wir in der Türkei erwerben konnten, wurden aufgegebene Aquädukte und andere Bauwerke aus der Zeit des Herodes, die seitdem verschollen sind oder versteckt wurden, genau vermerkt.«

»Ein wunderbarer Fund, den ich mir eines Tages sehr gerne selbst einmal genauer ansehen würde«, sagte Al-Khatib mit hungrigem Blick.

»Ich fürchte, ich habe die Dokumente zu dieser Reise nicht mitgebracht«, log sie. »Meine Familie besitzt eine umfangreiche Sammlung osmanischer Artefakte, und die Karten waren Teil eines größeren Konvoluts, das vor kurzem erworben wurde.« Sie versäumte zu erwähnen, dass sie allesamt aus einem Museum in Ankara gestohlen worden waren.

»Historische Dokumente von hohem Wert, nehme ich an. Darf ich nach dem Zweck der Ausgrabung fragen?«

Maria ging kommentarlos über diese Frage hinweg. »Konnten Sie die Nische um das Aquädukt vergrößern?«, fragte sie stattdessen.

»Ja, genauso wie Sie es verlangt haben. Ich habe die Öffnung vergrößert und dann ein bis zwei Meter tief in den Berghang gegraben. Der Einlass wird durch ein Gebüsch vollständig verdeckt.«

»Hervorragend«, lobte Maria, dann griff sie in ihre Gürteltasche und holte einen mit israelischen Banknoten gefüllten Briefumschlag heraus. Al-Khatibs Augen wurden riesengroß, als sie den dicken Umschlag über den Tisch schob.

»Das ist ein Bonus für Ihre pünktliche Arbeit«, sagte sie.

»Ich danke Ihnen«, sagte der Palästinenser überschwänglich und stopfte sich den Umschlag schnell in die Tasche.

Maria leerte ihre Teetasse und sagte dann: »Und jetzt zeigen Sie uns die Stelle.«

Al-Khatib sah ein wenig irritiert auf seine Uhr. »Es wird zwar gleich dunkel, aber heute scheint vielleicht der Mond.«

Dann gewahrte er den kalten, entschlossenen Ausdruck in Marias Augen und machte schnellstens einen Rückzieher.

»Natürlich, wenn Sie es wünschen«, stammelte er. »Haben Sie einen Wagen?«

Er zahlte ihre Getränke, dann machten sich die drei auf den Weg ein Stück die Straße entlang zum Mietwagen. Auf Al-Khatibs Anweisungen hin fuhr Maria zum südlichen Zipfel der Altstadt und bog dort nach Norden ins Kidrontal ab. Der Palästinenser dirigierte sie zum Rand eines alten muslimischen Friedhofs, wo Maria den Wagen hinter einem halb verfallenen steinernen Lagerhaus versteckte.

Ihre Schatten verschwammen im einsetzenden Zwielicht der Abenddämmerung, während der Janitschar eine Spitzhacke und eine Tasche mit Batterielampen aus dem Kofferraum des Wagens holte. Er und Maria folgten dem Palästinenser, als er über eine niedrige Steinmauer sprang und sich einen Weg über den staubigen Friedhof suchte. Um diese späte Uhrzeit war das Gelände verlassen, doch die drei hielten sich im abgelegenen westlichen Bereich des Friedhofs und in ausreichender Entfernung von der Moschee in der Mitte und einer Seitenstraße im Osten. Der Janitschar bemühte sich, die Hacke so gut es ging zu verbergen, und hatte sich ihr Kopfstück unter den Arm geklemmt.

Östlich von ihnen erhob sich der Ölberg, beherrscht von einem weitläufigen jüdischen Friedhof und mehreren Kirchen und Gärten. Westlich von ihnen ragte am Berghang ein Teil der hohen Steinmauer auf, die die Altstadt umgab. Jenseits der Mauer erstreckte sich der ursprüngliche Tempelberg, mittlerweile besetzt durch das Al-Haram ash-Sharif oder Edle Heiligtum. In der Mitte des geheiligten Bereichs befand sich der Felsendom, ein imposantes Gebäude, das den Stein beherbergt, auf dem Abraham seinen Sohn opfern wollte. Nach islamischer Überlieferung ist Mohammed von diesem Stein zu seiner nächtlichen Reise in den Himmel aufgestiegen, wie an seinen Fußabdrücken im Stein zu erkennen ist. Maria konnte die goldene Kuppel des muslimischen Heiligtums, die im schwindenden Licht eher braun erschien, so eben noch erkennen.

Al-Khatib kam zu dem schlichten Grabstein eines muslimischen Emirs, der im sechzehnten Jahrhundert gestorben war, und wandte sich nach links. Am Ende einer unregelmäßigen Reihe von Gräbern stieg er den felsigen Berghang hinauf, der steil zur Altstadt führte. Maria suchte in ihrer Tasche nach einer Lampe, ließ sie jedoch ausgeschaltet und stolperte über Steine und Pflanzen, bis sie ein kleines Plateau erreichte, auf dem Al-Khatib auf sie wartete.

»Wir sind gleich da«, flüsterte er.

Er knipste seine eigene Kugelschreiberlampe an und führte sie höher den Berg hinauf, um schließlich neben zwei Sträuchern stehenzubleiben. Nach Atem ringend stellte Maria fest, dass beide Pflanzen längst abgestorben und ihre Wurzeln zwischen die Steine eines kleinen Schutthaufens geklemmt worden waren. Hinter den Sträuchern erkannte sie einen ordentlichen Stapel Kalksteine.

»Dahinter ist es«, sagte Al-Khatib und richtete den Lichtstrahl seiner Lampe auf die verdorrten Pflanzen. Er wandte sich um und ließ den Blick nervös über den Berghang gleiten, um sich zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurden.

»Hier trifft man gelegentlich Polizeistreifen an«, warnte er.

Maria holte die Nachtsichtbrille heraus und betrachtete damit wachsam die Umgebung. Die Geräusche der Stadt drangen durch das Tal zu ihnen heran, und ein Lichterteppich blinkte auf den umliegenden Berghängen. Auf dem Friedhof unter ihnen war jedoch alles dunkel.

»Hier ist niemand in der Nähe«, versicherte sie.

Al-Khatib nickte, dann kniete er sich hin und begann, die Steine beiseitezuräumen. Als eine kleine Öffnung erschien, befahl Maria dem Janitschar zu helfen. Gemeinsam legten die beiden Männer einen versteckten Eingang frei, hinter dem sich ein schmaler Gang von knapp zwei Metern Höhe erstreckte. Nachdem sämtliche Hindernisse weggeräumt worden waren, stand der Palästinenser auf und machte eine Pause.

»Das Aquädukt war ursprünglich sehr klein«, sagte er zu Maria und legte die Hände zu einem kleinen Kreis zusammen. »Viel musste gegraben werden, um es zu vergrößern.«

Maria musterte den Mann mitleidlos, während sie sich die Geschichte des Bauwerks vergegenwärtigte. Die Öffnung des Aquädukts, die man in dem Berghang gefunden hatte, war, wie sie wusste, der Auslass einer weitaus aufwendigeren technischen Einrichtung. Vor fast zweitausend Jahren hatten römische Ingenieure auf Herodes' Geheiß aus dem fernen Hebrongebirge mit Hilfe eines Systems von Aquädukten frisches Wasser in die Stadt und die Burg Antonia auf dem Tempelberg geleitet. Die Aquädukte waren seinerzeit in mühevoller Handarbeit von Arbeitern angelegt worden, die um einiges besser in Form gewesen waren als der rundliche Palästinenser, der hier vor ihnen stand, dachte Maria.

Sie richtete ihre Lampe auf die Gangöffnung und knipste sie an. Im Licht erschien ein Tunnel, der sich knapp zwei Meter tief in den Berghang bohrte. Im hinteren Teil konnte sie auf dem Boden die kleine Öffnung der Wasserleitung erkennen, die tiefer in die Erde reichte. Der Tunnel war sauber aus dem Fels herausgehauen worden, und Maria konnte erkennen, dass Al-Khatib geschickt und sorgfältig gegraben hatte.

»Gute Arbeit«, lobte sie und knipste die Lampe aus. Sie ließ sich von dem Janitschar die Spitzhacke geben und reichte sie dem Palästinenser.

»Sie müssen aber noch etwa einen Meter weitergraben«, verlangte sie.

Der gut bezahlte Antiquitätenjäger nickte bereitwillig und hoffte auf einen weiteren Bonus, während er sich fragte, welchen Sinn die von ihm geforderte Arbeit haben solle. Er ließ sich von dem Janitschar eine Lampe geben, zwängte sich in den Tunnel und begann die steinige Wand zu attackieren. Der Janitschar folgte ihm und räumte mit behandschuhten Händen das lose Geröll und die Steinbrocken weg, die sich um Al-Khatibs Füße ansammelten.

Während Maria in der Nähe des Tunneleingangs Wache hielt, arbeitete Al-Khatib unermüdlich, schwang fast zwanzig Minuten lang ununterbrochen die Spitzhacke und wühlte sich ein gutes Stück tiefer ins Erdreich. Heftig atmend holte er besonders kraftvoll mit der Spitzhacke aus und spürte plötzlich, wie der Hackenstiel unerwartet leicht nachgab. Als er die Hacke zurückzog, erkannte er, dass er ein Loch in den Erdwall geschlagen hatte, hinter dem sich offenbar ein freier Raum befand. Der Palästinenser hielt verwundert inne und hob die Lampe hoch. Er konnte nur eine schwarze Leere durch die kleine Öffnung erkennen, staunte jedoch über den Strom kalter Luft, der dort herausdrang.

Mit frischer Energie attackierte er das Hindernis und schuf auf diese Weise schnell ein mannsgroßes Loch. Den Schutt beiseiteschiebend zwängte er sich mit der Lampe durch die Öffnung und stolperte in eine große, hohe Höhle.

»Gepriesen sei Allah«, stieß er hervor und ließ die Spitzhacke fallen, während er die Wände betrachtete.

Sie leuchteten im Licht der Batterielampe alabasterweiß und trugen deutliche Meißelspuren. Al-Khatibs geübtes Auge identifizierte den Fels sofort als Kalkstein und konnte deutlich erkennen, wo große Blöcke von Hand herausgeschnitten und entfernt worden waren.

»Ein Steinbruch wie die Zedekia-Höhle«, platzte er heraus, als Maria und der Janitschar mit weiteren Lampen hinzukamen.

»Ja«, sagte Maria. »Nur ist dieser hier in Vergessenheit geraten, als der Zweite Tempel zerstört wurde.«

Unter den Gebäuden der Altstadt, weniger als anderthalb Kilometer entfernt, befand sich eine weitere riesige Höhle, geschaffen von Sklaven, die Kalkstein für die zahlreichen technischen Projekte Herodes' des Großen geschlagen hatten. Ihren Namen hatte sie vom letzten König von Juda, Zedekia, der sie angeblich als Versteck benutzt hatte, in das er sich vor den Truppen Nebukadnezars geflüchtet hatte.

Dank des zusätzlichen Lichts konnten die drei erkennen, dass sich der Steinbruch in zahlreiche Gänge auffächerte, die wie die Finger einer Hand in die Dunkelheit reichten. Al-Khatib entdeckte dabei einen großen Haupttunnel, der so weit sein Auge reichte schnurgerade nach Osten verlief.

»Dieser Gang reicht sicherlich bis unter den Tempelberg«, sagte er mit deutlichem Unbehagen.

Maria nickte.

»Und auch bis unter den Felsendom?«, fragte er. Seine Stimme klang gespannt.

»Der heilige Stein des Felsendoms befindet sich auf solidem Fels, aber der Haupttunnel verläuft darunter. Ein anderer Tunnel reicht bis zur Al-Aqsa-Moschee sowie zu anderen Punkten des Geländes. Das heißt, wenn die Karten und Pläne Süleymans genau sind, was sich bisher stets als zutreffend erwiesen hat.«

Das Gesicht des Palästinensers wurde bleich, als sich seine anfängliche Erregung in Beklommenheit verwandelte.

»Ich werde auf keinen Fall die Ruhe des heiligen Felsens stören«, sagte er ernst.

»Das wird auch nicht nötig sein«, erwiderte Maria. »Ihre Arbeit ist beendet.«

Während sie noch sprach, griff sie in ihre Tasche und zog eine kompakte Beretta heraus, die sie auf den erschrockenen Palästinenser richtete.

Im Gegensatz zu ihrem Bruder verspürte Maria keinen Rausch und keine Erregung dabei, jemandem das Leben zu nehmen. Tatsächlich empfand sie überhaupt nichts. Einen Mord zu begehen war für sie rein emotional nichts anderes als die Strümpfe zu wechseln oder einen Teller Suppe zu leeren. Als Produkte einer von Missbrauch geprägten Kindheit und einer genetischen Homogenität rangierten sie an den entgegensetzten Enden der Soziopathie-Skala, hatten sich jedoch beide zu erbarmungslosen Mördern entwickelt.

Die Pistole bellte zweimal und jagte zwei Projektile in Al-Khatibs Brust, während das Echo der Schüsse laut durch die Höhle rollte. Der Antiquitätenjäger sank auf die Knie, hatte für einen kurzen Moment noch einen verständnislosen Ausdruck in den Augen und kippte dann tot um. Maria ging zu ihm, bückte sich, fischte den Briefumschlag mit den Banknoten aus der Jacke und steckte ihn wieder in ihre Tasche. Dann sah sie auf ihre Uhr.

»Wir haben weniger als eine Stunde Zeit, ehe der Sprengstoff geliefert wird«, sagte sie zu dem Janitschar. »Wir sollten uns den Steinbruch ansehen und die geeigneten Punkte suchen.«

Sie stieg über den Toten hinweg, hob seine Lampe auf und verschwand mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.

 

45

 

Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr, als Sophie auf einen Schotterplatz außerhalb der östlichen Mauer um die Altstadt einbog und hinter einem geschlossenen Kleiderladen parkte. Auf der anderen Straßenseite und einen kleinen Hügel hinab befand sich die nördliche Spitze des muslimischen Friedhofs, der sich durch eine Schlucht schlängelte, die sich verbreiterte und einen Teil des Kidrontals bildete. Sophie unterbrach die Zündung und drehte sich zu Dirk um, der sie vom Beifahrersitz aus betrachtete.

»Bist du sicher, dass du das wirklich tun willst?«, fragte sie. »Die meisten Nachtübungen entpuppen sich am Ende als todlangweilig und völlig sinnlos.«

Dirk nickte lächelnd. »Ich werde mir doch nicht die Chance eines Mondscheinspaziergangs mit einer schönen Frau entgehen lassen.«

Sophie unterdrückte ein Lachen. »Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der an einem Überwachungsjob etwas Romantisches finden kann«, sagte sie.

Allerdings musste sie sich selbst ähnliche Empfindungen eingestehen. Sie hatten ein gemeinsames Abendessen in einem stillen armenischen Cafe in der Nähe des Jaffa-Tors eingenommen, und im Verlauf des weiteren Abends wurde ihr Wunsch immer stärker, die Überwachungsoperation abzusagen und ihn stattdessen in ihr Apartment einzuladen. Diese Idee verdrängte sie jedoch sehr schnell, weil sie wusste, dass die Aussicht, mögliche Informationen über die Mörder des Agenten Holder zu erhalten, zu wichtig war.

»Es sieht Sam gar nicht ähnlich, sich zu verspäten«, sagte sie, warf einen Blick auf ihre Uhr und sah dann wieder aus dem Fenster ihres Autos.

Wenig später vibrierte ihre Mobiltelefon. Sie nahm den Anruf an und sprach einige Zeit Hebräisch.

»Das war Sam«, sagte sie, nachdem sie die Verbindung unterbrochen hatte. »Er war in einen Verkehrsunfall verwickelt.“

»Ist er okay?«

»Ja. Offensichtlich hat ein Bus mit christlichen Pilgern eine Kurve übersehen und Sam von der Straße gedrängt. Ihm ist nichts passiert, aber der Wagen ist hin. Er glaubt, dass ein paar ältere Touristen verletzt wurden, deshalb wird es wohl eine Weile dauern, bis er die Unfallstelle verlassen kann. Er schätzt, dass es noch gut eine Stunde dauern wird, ehe er hier sein kann.«

»Dann sollten wir uns ohne ihn auf den Weg machen«, erwiderte Dirk, öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Sophie folgte ihm, klappte den Kofferraum auf und holte ein Nachtsichtfernglas heraus, das sie sich um den Hals hängte. Dann bückte sie sich und zog den Reißverschluss einer flachen Lederhülle auf, die ebenfalls im Kofferraum lag. Darin befand sich ein abgewetztes, im Regierungsdienst gebräuchliches Tavor-TAR-21-Sturmgewehr. Sophie setzte ein geladenes Magazin ein, lud durch und hängte sich die Waffe über die Schulter.

»Diesmal bist du kampfbereit, wie ich sehe«, stellte Dirk fest.

»Nach dem, was in Caesarea geschehen ist, werde ich auf jeden Fall jederzeit besser bewaffnet sein«, sagte sie mit entschlossener Stimme.

»Warum lässt du nicht den Schin Bet die Überwachung durchführen, wenn du vermutest, dass libanesische Schmuggler beteiligt sind?«

»Das habe ich durchaus in Erwägung gezogen«, erwiderte sie, »aber der Tipp war ziemlich vage. Höchstwahrscheinlich haben wir es bloß mit ein paar halbwüchsigen Scherbensuchern zu tun, die wahrscheinlich nicht einmal erscheinen werden.«

»Mir wäre das nur recht«, sagte Dirk mit einem Augenzwinkern, während er ihre Hand ergriff.

Sie überquerten die Straße und kletterten über die Böschung, die auf der anderen Seite in Richtung des Friedhofs hin abfiel. Sophie blieb stehen und suchte das Gelände mit ihrem Fernglas ab.

»Wir müssen weiter runtersteigen«, sagte sie leise.

Sie gingen gut ein Dutzend Meter den Abhang hinunter und blieben auf einer kleinen Erhebung stehen, von wo aus sie einen ungehinderten Blick auf den gesamten Friedhof hatten. Um sie herum schimmerten die muslimischen Grabsteine weiß im Mondlicht, so dass es wie eine Ansammlung verstreuter Zähne auf einer sandfarbenen Decke aussah. Sophie setzte sich auf einen Felsabsatz und kontrollierte das unter ihr liegende Gelände durch ihr Nachtsichtgerät. Sie blickte nach Osten, als sie spürte, dass Dirk sich neben sie setzte und einen Arm um ihre Taille legte. Da ließ sie das Fernglas sinken.

»Du lenkst mich von meiner Arbeit ab«, protestierte sie halbherzig, dann legte sie eine Hand in seinen Nacken und küsste ihn leidenschaftlich.

Sie umarmten sich mehrere Minuten lang, bis ein leises Scharren diesen innigen Moment störte. Sophie schaute wieder den Berghang hinunter.

»Drei Männer mit großen Rucksäcken«, flüsterte sie. »Zwei von ihnen tragen offensichtlich Schaufeln oder möglicherweise sogar Waffen. Genau kann ich es nicht erkennen.«

Sie nahm das Fernglas herunter und blickte den Berg hinauf. »Wir brauchen Sam«, sagte sie sehnsüchtig.

»Er kommt erst in einer halben Stunde«, erwiderte Dirk mit einem Blick auf seine Uhr.

Die Schrittgeräusche der drei Männer wurden lauter, als sie über den Friedhof trotteten. Sophie holte ihre Glock aus dem Schulterhalfter und reichte sie Dirk.

»Wir verhaften sie«, flüsterte sie. »Dann rufe ich die Polizei und lasse sie abholen.«

Dirk nickte zustimmend, während er die Pistole an sich nahm und nachsah, ob sie durchgeladen war. Dann verließen sie ihren Aussichtspunkt und stiegen langsam bergab. Sie folgten einer Reihe größerer Grabsteine, die sie als Deckung nutzten und von der sie allmählich nach rechts geführt wurden. Dabei näherten sie sich einem hohen Grabmal, das sie völlig verbarg, tasteten sich an seiner Seite entlang und gingen schließlich auf die Knie hinunter und warteten.

Die Minuten vergingen mit nahezu quälender Langsamkeit, während die drei Grabräuber in spe näher kamen. Sophie klemmte leise ihre Taschenlampe am Lauf des Tavor fest und hielt die Waffe vollkommen ruhig, während die Männer nur wenige Schritte entfernt vorbeitrotteten. Dann nickte sie Dirk zu und sprang plötzlich auf. Mit einem Satz gelangte sie hinter die Männer, knipste die Lampe an und rief auf Arabisch: »Stopp! Hände hoch!«

Die drei Männer wirbelten herum und erstarrten bei dem Angriff aus dem Hinterhalt. Sie blinzelten geblendet, als Sophie ihnen in die Gesichter leuchtete. Zwei der Männer waren mit jeweils einem AK-74 bewaffnet und richteten es auf den Erdboden, während sie sie wütend anfunkelten. Einer von ihnen war ziemlich klein, schäbig gekleidet, mit schwermütigen Augen. Sophie erkannte Hassan Akais, den Tippgeber. Der zweite war ebenso schmuddelig und unterschied sich von seinem Komplizen durch eine auffällig krumme Nase. Es war jedoch der dritte Mann, der Sophie frösteln ließ. Eindeutig war es der Chef des Trios, der ihren Blick mit stechenden Augen, die weit über einer tiefen Narbe an seinem rechten Unterkiefer saßen, völlig ruhig erwiderte. Es war dasselbe Gesicht, das sie schon in Caesarea angestarrt und den Überfall angeführt hatte, bei dem Detective Holder getötet worden war.

Sophies Hände zitterten aufgrund dieser Erkenntnis und bewirkten, dass der Lichtstrahl über das Gesicht des Terroristen wischte. Akais spürte ihr Zögern und hob die Waffe, um auf Sophie zu zielen. Als sich sein Finger nach dem Abzug streckte, hallte jedoch ein anderer Schuss über den Friedhof. Das Handgelenk des Mannes rötete sich, als ein Geschoss seinen Unterarm durchschlug.

Der Mann krümmte sich vor Schmerzen, vergaß seine Absicht und umklammerte mit der freien Hand seinen verletzten Arm. Er starrte Sophie mit leerem Blick an, ehe er Dirk mit einer automatischen Pistole in der ausgestreckten Hand ein paar Schritte seitlich entfernt von ihr entdeckte.

»Lass die Waffe fallen oder ich ziele beim nächsten Mal ein wenig höher«, kommandierte Dirk.

Der andere Araber, der einen langen strähnigen Bart hatte, warf hastig sein AK-74 zu Boden, doch der Verwundete rührte sich keineswegs. Er starrte Dirk mit hasserfüllten Augen an. Dann entspannte sich sein Gesicht plötzlich, und er entblößte die Zähne zu einem trotzigen Grinsen, während sein Blick an Dirks Schulter vorbeiging.

»Ich fürchte, dass Sie es sind, der seine Waffe fallen lassen sollte«, erklang eine harte weibliche Stimme aus der Dunkelheit. »Strecken Sie die Hände in die Luft, damit ich sie sehen kann.«

Dirk wandte sich zu der Stimme um und sah eine kurzhaarige Frau, die dicht hinter Sophie stand und die Mündung einer Pistole gegen ihren Hinterkopf drückte. Sie trug dunkle Freizeitkleidung, hatte jedoch eine eigene Nachtsichtbrille auf die Stirn hochgeschoben. Dirk spürte auch noch die Anwesenheit eines anderen, drehte den Kopf zur Seite und entdeckte in der Dunkelheit einen Mann, der mit einer Pistole auf seinen Kopf zielte.

Sophie sah ihn entschuldigend an, während sie das Tavor sinken ließ. Da er kaum eine andere Wahl hatte, grinste Dirk die Türkin nur unschuldig an und warf seine Pistole auf ein Grab in der Nähe.

 

46

 

Dirk und Sophie wurden mit vorgehaltener Waffe den Berghang hinauf- und in einen engen Gang getrieben. Ebenso wie auch die arabischen Terroristen, die ihnen folgten, staunten sie beim Anblick des riesigen Steinbruchs, der sie auf der anderen Seite erwartete und vom fahlen Schein mehrerer Batterielampen mittlerweile hell erleuchtet war. Sophie hatte die Zedekia-Höhle schon mehrmals besucht und war verblüfft, hier einen weiteren, genauso weitläufigen Steinbruch direkt unter dem Tempelberg zu entdecken. Ihr Staunen verwandelte sich jedoch in nackte Angst, als sie den blutbesudelten Körper Al-Khatibs neben einer der Lampen auf dem Bauch liegen sah. Ihre Angst vertiefte sich noch, als sie den arabischen Terroristenführer erkannte.

»Der Große... er hat den Überfall in Caesarea geleitet«, flüsterte sie Dirk zu.

Dirk nickte und hatte längst erkannt, dass die schwerbewaffnete Truppe hinter etwas ganz anderem her war als ein oder zwei alten Gräbern. Der Janitschar trieb sie zu einer niedrigen Felsrippe, wo sie sich in nächster Nähe des toten Palästinensers hinsetzen mussten. Maria beachtete sie nicht, während sie die schweren Rucksäcke der drei Araber einsammelte.

»Ist das die gesamte Ladung?«, wollte sie von Zakkar wissen.

»Ja, fünfundzwanzig Kilo inklusive Zünder und Sprengkapseln«, erwiderte der Araber. Er blickte zur hohen Decke empor. »Haben Sie die Absicht, den Felsendom zu sprengen?«, fragte er ganz offen.

Maria musterte ihn kühl. »Ja, und die Al-Aqsa-Moschee auch. Haben Sie ein Problem damit?«

Der Araber schüttelte den Kopf. »Sie werden großen Zorn in unseren Ländern entfesseln. Aber vielleicht wird es zum größeren Wohl Allahs sein.«

»Es gibt immer ein größeres Wohl«, entgegnete Maria mit scharfer Stimme.

Sie kniete sich auf den Boden und untersuchte schnell den Sprengstoff, dann stand sie wieder auf. Als sie bemerkte, dass Dirk und Sophie sie aufmerksam beobachteten, verzog sich ihre Miene.

»Sie haben unsere Mission fast vereitelt«, bemerkte sie mit mühsam unterdrücktem Zorn zu Zakkar.

Der Araber schüttelte den Kopf. »Das sind Angehörige der archäologischen Polizei, die hinter Grabräubern her sind«, sagte er, ohne zu erwähnen, dass er Sophie und Dirk wiedererkannt hatte. »Es war eine zufällige Überwachung. Warum töten wir sie nicht einfach?«, fragte er und deutete mit einem Kopfnicken in ihre Richtung.

»Israelische Archäologen, sagten Sie?« Maria überlegte. »Nein, wir töten sie nicht. Sie werden bei der Explosion unglücklicherweise ums Leben kommen«, sagte sie mit einem gemeinen Grinsen. »Sie werden die perfekten Sündenböcke sein.«

Sie winkte den Janitscharen zu sich und wandte sich dann wieder an Zakkar.

»Ihre beiden Männer sollen Wache stehen«, sagte sie nach einem Blick auf ihre Uhr. »Es wird Zeit, dass wir die Sprengladungen verteilen. Ich will, dass sie um ein Uhr explodieren.«

Sie nahm eine Lampe, während sich der Janitschar zwei Rucksäcke auflud. Zakkar sagte seinen beiden Männern Bescheid, dann nahm er den dritten Rucksack und eine Lampe und folgte Maria, die in einem der Felsengänge verschwand.

»Die Zerstörung des Felsendoms wird ein schreckliches Blutvergießen auslösen«, sagte Sophie leise zu Dirk.

»Ruhe!«, bellte der bärtige Araber und fuchtelte kurz mit seiner Pistole in Sophies Richtung.

Sein Partner, der verwundete Mann namens Akais, saß auf einem Stein in der Nähe und hielt seinen Arm. Die Pistolenkugel hatte wichtige Arterien verfehlt, und so hatte er die Blutung mit seiner Kufiya, die jetzt fest um seinen Arm gewickelt war, gut stoppen können. Obwohl er aus eigener Kraft den Berghang hinaufgestiegen und in den Steinbruch gegangen war, litt er jetzt doch unter einem leichten Schock, der von dem Blutverlust herrührte. Mal starrte er Dirk mit wütenden Blicken an, dann trat wieder ein glasiger Ausdruck in seine Augen.

Dirk sah sich in dem Steinbruch aufmerksam um und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit, bei der er sich keine Kugel in den Rücken einhandeln würde. Aber es gab nur geringe Chancen. Während er für einige Sekunden den toten Palästinenser betrachtete, bemerkte er auch die beiden restlichen Lampen. Eine lag in der Nähe des Toten auf dem Boden, die andere war etwa drei bis vier Meter von ihm selbst entfernt. Der bärtige Wächter ging um die Lampe herum, die auf einem Stein auf der anderen Seite der Höhle stand.

Dirk machte Sophie auf sich aufmerksam und nickte in Richtung des bärtigen Wächters. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und flüsterte etwas.

»Die Laterne... kannst du sie irgendwie ausknipsen?«

Sophie blickte zu der Lampe hinüber. Dann zu dem Wächter hin - und nickte schließlich entschlossen. Danach untersuchte sie die Wände der Höhle, betrachtete eingehend jede Scharte und jede Meißelspur, die sie in dem schwachen Licht erkennen konnte. An einer Wand hinter dem Wächter fand sie, was sie suchte, nämlich eine Unregelmäßigkeit, aus der sie eine Geschichte zusammenbasteln konnte.

Fasziniert starrte sie den Punkt an, bis der Wächter ihren Blick bemerkte und sich umwandte, um zu sehen, was sie so sehr fesselte. Den Blick weiterhin starr auf die Wand gerichtet, erhob sie sich und machte einen Schritt vorwärts.

»Nicht rühren«, zischte der Araber und fuhr zu ihr herum.

Sophie versuchte ihn zu ignorieren und gleichzeitig zu vermeiden, dass er auf sie schoss.

»Dieser Steinbruch ist zweitausend Jahre alt und liegt genau unter dem Felsendom«, murmelte sie. »Ich glaube, ich sehe da drüben ein Zeichen des Propheten.«

Der Wächter sah sie misstrauisch an, dann blickte er zu Dirk. Der NUMA-Ingenieur zeigte ihm die ausdrucksloseste, desinteressierteste Miene, die er zustande bringen konnte. Sich die Laterne schnappend wich der Araber langsam zur Wand zurück, wobei er sein Gewehr ständig auf das Gefangenenpaar gerichtet hielt. Er erreichte die Wand und warf ein paar hastige Blicke auf den Kalkstein. Zwei parallel verlaufende Riefen waren auf der glatten Fläche zu sehen. Zwischen den länglichen Vertiefungen war außerdem eine Holzkohlemarkierung zu erkennen. Der Wächter betrachtete das Zeichen verständnislos, dann sah er Sophie an.

»Ja, das ist es«, sagte sie und machte einen weiteren vorsichtigen Schritt. Als der Wächter nicht reagierte, ging sie langsam auf ihn zu.

»Irgendwelche Tricks, und Ihr Freund stirbt zuerst«, zischte der Araber und zielte mit der Pistole weiter auf Dirk. Dann wandte er sich um und rief seinen Kumpan. »Hassan, pass auf.«

Der verletzte Wächter reagierte, indem er träge nickte.

»Und jetzt zeigen Sie es mir«, sagte der bärtige Araber zu Sophie, während er von der Wand zurücktrat.

Sophie kam zur Wand und strich in der Nähe der Rillen und der Markierung mit einer Hand darüber. Sie hatte ähnliche Spuren in der Zedekia-Höhle gesehen und wusste, dass sie nichts anderes waren als Markierungen für einen neuen Kalksteinblock, der von den Arbeitern im Steinbruch aus irgendeinem Grund nicht herausgesägt worden war. Das verblichene Holzkohlezeichen war entweder eine Nummerierung oder eine Größenangabe für den nächsten Stein, der herausgebrochen werden sollte. Aber Sophie machte sehr viel mehr daraus.

»Genauso wie sein Fußabdruck im heiligen Felsen — also im Dom über uns - könnte dies ein Hinweis auf Mohammeds Beginn seiner nächtlichen Reise sein«, sagte sie und meinte seinen Besuch im Himmel, den er auf dem Rücken eines geflügelten Pferdes gemacht hatte. »Ich kann es bei dem schlechten Licht aber nicht genau erkennen. Darf ich mal die Lampe haben?«

Sie sah den Wächter nicht an, sondern tat so, als sei sie von den Zeichen auf der Wand vollkommen gebannt, und streckte nur fordernd eine Hand aus. Er reagierte instinktiv und gab die Lampe an sie weiter, während er auch die Zielrichtung des Gewehrs änderte. Sophie ergriff die Lampe und hielt sie dicht vor die Wand, wobei ihr Blick nach wie vor an dem Holzkohlezeichen klebte.

»Sehen Sie hier«, sagte sie und deutete mit der freien Hand auf den Felsen. Dann ließ sie die Hand wie zufällig an der Lampe herabrutschen und suchte dort mit den Fingern den Schalter. Nachdem sie ihn mit dem Zeigefinger ertastet hatte, knipste sie die Lampe aus und erstarrte.

Im gelblichen Lichtschein der weiter entfernten Lampe war sie für den Araber immer noch zu sehen. Er wollte ihr einen barschen Befehl gaben, als er aus dem Augenwinkel eine plötzliche Bewegung wahrnahm.

Dirk hatte in aller Ruhe auf diesen Moment gewartet. Sobald Sophies Lampe erlosch, sprang er von seinem steinernen Sitz. Er wusste, dass sofort auf ihn geschossen werden würde, daher machte er zwei schnelle Schritte und hechtete nach der Lampe.

Er sollte nicht enttäuscht werden. Der bärtige Wächter schwenkte seine Waffe herum und feuerte augenblicklich. Aber Dirk war bereits auf dem Boden gelandet, und die Kugeln sirrten hoch über seinen Kopf hinweg. Noch während der Landung streckte er eine Hand aus und ergriff die Lampe. Anstatt lange nach dem Schalter zu suchen, schmetterte er sie auf den Felsboden und zertrümmerte so Glasscheiben und Glühbirne.

Die Höhle versank in einer vollkommenen Dunkelheit, die von den Lichtblitzen aus der Gewehrmündung des Arabers schnell durchlöchert wurde. Der vor Wut rasende Wächter schickte mehrere Feuerstöße in Dirks Richtung, die wie Donner durch die Höhle hallten, während die Projektile als Querschläger zwischen den Kalksteinwänden hin und her flogen.

Er hatte auf Dirks letzte Position gezielt, doch dieser hatte sich sofort von der Laterne weggerollt und bewegte sich nun auf allen vieren zum Höhleneingang. Nachdem er fünf Meter zurückgelegt hatte, stoppte er, drehte sich um und tastete mit den Händen den Boden ab. Die Schüsse verstummten, während er fand, was er suchte - die Leiche des Palästinensers. Oder, genauer gesagt, die Spitzhacke, die in der Nähe der Füße des Mannes lag.

Eine unbehagliche Stille senkte sich auf die Höhle herab, während sich beißender Pulvergestank ausbreitete. Darauf vertrauend, dass er Dirk getroffen und getötet hatte, wirbelte der bärtige Araber herum und schoss dorthin, wo Sophie kurz zuvor noch gestanden hatte. Aber im Schein des Mündungsfeuers erkannte er, dass dieser Platz nun leer war.

Mit der Hand über die Wand gleitend, um sich zu orientieren, war Sophie klugerweise losgerannt und hatte den Wächter passiert, während er auf Dirk feuerte. Als die Schüsse stoppten, war sie starr stehensgeblieben, die Lampe immer noch in der Hand, und hatte im Stillen gebetet, dass ihr Herz nicht so laut schlug.

»Hassan, hast du Licht?«, rief der Araber.

Der verletzte Wächter kam langsam wieder zu sich und stand schwankend auf.

»Ich bin hier, am Eingang. Schieß nicht in diese Richtung«, bat er mit matter Stimme.

»Das Licht?«, fragte sein Partner ungehalten.

»In meinem Rucksack. Aber den kann ich nicht finden«, antwortete Akais und tastete den Boden um seine Füße ab.

»Sie haben die Rucksäcke mitgenommen«, rief der andere Mann wütend.

Dirk nutzte diese kurze Diskussion, um sich an sein Ziel heranzuarbeiten. Die Spitzhacke auf der Schulter, schlich er zum Höhleneingang und in Richtung der Stimme des verwundeten Arabers. In seinem angeschlagenen Zustand wäre er am einfachsten auszuschalten. Mit ein wenig Glück könnte Dirk die Spitzhacke gegen sein Gewehr eintauschen und den anderen Mann erschießen, ehe er überhaupt wusste, wie ihm geschah.

Als die Unterhaltung verstummte, war Dirk noch mehrere Schritte von dem verletzten Mann entfernt. Er würde es mit einem Schlag ins Ungewisse versuchen müssen, da er es sich nicht leisten konnte, seinen Standort zu verraten. Er hielt für einen Moment inne, schob dann einen Fuß vorsichtig nach vorne, und danach den anderen. Aber selbst in seiner angegriffenen Verfassung bemerkte Akais, dass sich ihm jemand näherte.

»Salaam?«, fragte er plötzlich.

Die Stimme war nahe, erkannte Dirk, nahe genug für ihn, um zuzuschlagen. Er hatte gerade einen weiteren leisen Schritt vorwärts gemacht und mit der Spitzhacke ausgeholt, als auf der anderen Seite der Höhle eine Lampe aufflammte. Er wirbelte herum und sah Maria, in einer Hand eine Laterne, eine Pistole in der anderen. Sie sah Dirk an, ließ den Pistolenlauf nach links wandern, bis er auf Sophie zielte, die nur wenige Schritte entfernt halb geduckt vor der Felswand stand.

»Lassen Sie die Hacke fallen, sonst stirbt sie«, sagte die Türkin.

Sophie sah ihn verzweifelt an, während er die Spitzhacke widerstrebend aus der Hand gleiten ließ. Ihre vor Angst weit aufgerissenen Augen waren das Letzte, woran er sich erinnerte. Dann schmetterte Hassan den Kolben seines Gewehrs gegen Dirks Hinterkopf, worauf er zu Boden sackte und in einem Meer tiefster Finsternis versank.

 

47

 

Ein weißes Taxi, dem man jeden Kilometer ansehen konnte, den es in seiner langen Zeit schon zurückgelegt hatte, bog auf den Schotterplatz ein und stoppte neben Sophies Wagen. Sam Levine bezahlte eilig den Fahrer, dann stieg er aus. Während sich das Taxi in die Nacht entfernte, versuchte Sam per Mobiltelefon Sophie zu erreichen. Keineswegs überrascht, dass sie sich nicht meldete, teilte er ihr in einer kurzen Textnachricht mit, wo er sich gerade befand. Als er auch darauf keine Antwort erhielt, machte er sich auf den Weg zum Friedhof, da er ja wusste, dass sie während einer Beobachtung ihr Mobiltelefon meist ausschaltete.

Er überquerte die Straße mit einem leichten Humpeln, da sein Brustkorb und eine Hüfte von dem Verkehrsunfall schmerzten. In dem Durcheinander hatte er seine Nachtsichtausrüstung im Kofferraum des demolierten Wagens zurückgelassen, doch er trug wenigstens eine Automatik in seinem Gürtelhalfter. Indem er sich langsam und leise bewegte, verließ er sich darauf, dass Sophie ihn entdecken werde, ehe er die Überwachung störte.

Als er die Böschung hinabkletterte, stellte er fest, dass er keine Probleme damit haben würde, sich langsam zu bewegen. Er zuckte zusammen, als ein zu langer Schritt dafür sorgte, dass ein stechender Schmerz durch sein Bein schoss. Und er begnügte sich mit kleinen, gemütlichen Schritten, während er sich über den Berghang einen Weg zum Friedhof suchte.

Der Friedhof erschien still und verlassen, als er an den alten Gräbern vorbeischlich. Alle paar Meter blieb er stehen, um sich umzuschauen und zu lauschen, immer in der Erwartung, dass Sophie gleich aus der Dunkelheit auftauchte und ihm auf die Schulter klopfte. Doch sie ließ sich nicht blicken.

Er machte wieder ein paar Schritte und blieb abermals stehen, diesmal weil er in einiger Entfernung Geräusche hörte. Es war das Klappern von Steinen, die aufeinandergestapelt wurden, das in der Mitte des Friedhofs erklang. Sam schlich sich auf Zehenspitzen näher heran und ging dann hinter einer niedrigen Trennmauer in Deckung. Das Klappern am Ende des Hügels dauerte an. Er blickte vorsichtig über die Mauer und konnte im Licht eines Halbmonds mehrere schattenhafte Gestalten erkennen, die sich an einem flachen Grab unweit eines kleinen steinernen Lampenturms, der schon seit Jahrzehnten nicht mehr illuminiert wurde, zu schaffen machten. Der Agent der Antiquities Authority holte seine Pistole aus dem Halfter, setzte sich und wartete. Mehrere Minuten verstrichen, in denen er sich fragte, wo sich Sophie befand und weshalb sie keine Verhaftung vornahm. Vielleicht hatte sie die Überwachungsaktion abgebrochen, aber das konnte ihn nicht davon abhalten, seine Pflicht zu tun.

Er kletterte mit schmerzverzerrter Miene über die Mauer und humpelte bergab zu den Grabräubern. Das Geräusch klappernder Steine erstarb, und er konnte mehrere Gestalten erkennen, die sich zum südlichen Ende des Friedhofs entfernten. Er versuchte zu rennen, doch die stechenden Schmerzen in seinen Gelenken erlaubten ihm nicht mehr als nur einen schwerfälligen Trott. Mit einem Gefühl hilfloser Verzweiflung blieb er stehen und rief: »Halt! Stopp!«

Der Befehl hatte jedoch den gegenteiligen Effekt. Anstatt anzuhalten beschleunigten sie ihre Flucht. Er konnte hören, wie sich ihre schneller werdenden Schritte über den Friedhof bewegten und hinter der südlichen Begrenzung verloren. Sekunden später durchbrach der Motorenlärm von nicht nur einem, sondern gleich zwei Automobilen die Stille der Nacht, gefolgt von einem Reifenquietschen, als beide Wagen durchstarteten und davonrasten.

Missmutig schüttelte Sam den Kopf, als er in der Ferne ein letztes Aufblinken der Rücklichter erkennen konnte. Dann dachte er wieder an seine Vorgesetzte.

»Sophie, bist du hier irgendwo?«, rief er.

Aber da war nur die sprichwörtliche Grabesstille des verlassenen Friedhofs.

Er ging langsam zu dem Lampenturm hinüber und schaute nach dem Grab, wo er eine hastig ausgehobene Grube vorzufinden erwartete. Stattdessen bedeckte zu seiner Überraschung ein kleiner Hügel sorgfältig aufeinandergestapelter Steine die Grabstätte. Es war ganz und gar ungewöhnlich, dass Grabräuber die Spuren ihrer nächtlichen Tätigkeit tarnten. Neugierig nahm er einige Steine von dem Stapel herunter — und hätte sich vor Schreck beinahe niedergesetzt, als im Mondlicht eine menschliche Hand auftauchte.

Er arbeitete langsam weiter und entfernte behutsam einen Stein nach dem anderen, bis er den blutbesudelten Oberkörper und Kopf des ermordeten Palästinensers freigelegt hatte. Während er die Leiche mit Abscheu anstarrte, fragte sich Sam, was das für Diebe sein mochten, die auf den Friedhof gekommen waren, um dort etwas zu hinterlegen.

 

48

 

Ein trübes Licht schien in Dirks Augen zu dringen, obgleich die Lider fest geschlossen waren. An dem pochenden Schmerz, der durch seinen Kopf raste, war jedoch gar nichts Trübes.

Mit unendlicher Mühe öffnete er ein Auge und zuckte reflexartig zurück, als er nach und nach die brennende Lampe registrierte, die sich nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt befand. Während er in winzigen Schritten wieder zu sich kam, bemerkte er die ungemütliche Härte und Kälte des Kalksteinbodens unter seinem Körper. Seine Arme bewegten sich leicht, während seine Finger den Boden abtasteten.

Er holte tief Luft, stützte sich mit den Armen auf, zog die Beine an und schaffte es, sich in eine sitzende Position hochzustemmen. Ein Sternenregen wirbelte vor seinen Augen, und er tauchte schon fast wieder weg, während er einige tiefe Atemzüge machte, um die Trägheit aus seinem Körper zu vertreiben. Er ruhte sich ein paar Minuten lang aus, bis Benommenheit und Übelkeit verflogen waren, und hatte ein Gefühl von Feuchtigkeit in seinem Nacken. Er wischte mit der Hand über seinen Hinterkopf und ertastete dort eine schmerzende Stelle, die mit getrocknetem Blut verklebt war.

Als sein Geist allmählich wieder auf Touren kam, erkannte er seine Umgebung. Er saß allein in der Höhle und rief sofort mit krächzender Stimme Sophies Namen. Doch nichts als Stille antwortete ihm. Er griff nach der Lampe und kämpfte sich mühsam auf die Füße, wobei sich das Pochen in seinem Schädel um ein Mehrfaches steigerte und er wie ein Betrunkener umherschwankte.

Nach und nach kehrten seine Kräfte zurück und seine Bewegungen wurden sicherer, während er die Höhle durchsuchte und sie durch den schmalen Zugang verließ. Der Friedhof lag dunkel und leer vor ihm, daher kehrte er schnell in den unterirdischen Steinbruch zurück.

Er rief noch einmal Sophies Namen, diesmal mit kräftigerer Stimme. Er glaubte aus einem der abzweigenden Tunnel ein Geräusch zu hören. Obgleich sein Gehör noch längst nicht normal funktionierte, kam es ihm vor, als dränge das Geräusch, falls es überhaupt real war, aus dem Tunnel zu seiner Rechten. Es war der Tunnel, in dem Maria und ihre Begleiter mit dem Sprengstoff verschwunden waren.

Leicht gebückt drang Dirk in den knapp zwei Meter hohen Tunnel ein und ging dabei so schnell, wie es das schmerzhafte Pulsieren in seinem Kopf erlaubte. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass der Tunnel mehr als zweihundert Meter tief in den Berghang hineinragte und das Gelände des Haram ash-Sharif einige Meter über seinem Kopf durchschnitt. Viel wichtiger war für die Bombenleger jedoch die Nähe zum Felsendom, dessen heiligem Felsen sich der Tunnel auf wenige Schritte von unten näherte.

Der Tunnel wand sich durch den Berg und bildete stellenweise Kammern, in denen Kalksteinblöcke aus dem Fels gebrochen worden waren. Als Dirk einer engen Kurve des Tunnels folgte, entdeckte er weit vor sich einen schwachen Lichtschein. Er zwang sich trotz der Schmerzen, die seinen Kopf bei jedem mühsamen Schritt zu sprengen drohten, zu einer schnelleren Gangart.

Das ferne Licht wurde heller, als er eine kleine rechteckige Kammer durchquerte und einen schnurgerade verlaufenden Tunnelabschnitt vor sich hatte. Dem Licht nachjagend gelangte er ans Ende des Tunnels und stolperte in einen weiten Raum, der die Form einer riesigen Bowlenschüssel hatte. In der Mitte stand eine der Batterielampen. Rechts von sich entdeckte Dirk an der Felswand eine Masse transparenten knetgummiähnlichen Materials, aus dem die Drähte mehrerer Zündkapseln heraushingen. Links von ihm wand sich Sophie auf dem Boden, einen Knebel im Mund und Hände und Füße mit den Gurten eines Rucksacks gefesselt. Ein großer Felsbrocken war zwischen ihren Knien eingeklemmt und hielt sie auf dem Boden fest. Als sie Dirk erkannte, verflog das Grauen in ihren feucht glänzenden Augen schnell.

»Wie ich sehe, wolltest du das Feuerwerk ohne mich veranstalten«, sagte er mit einem mühsamen Grinsen.

Aber er ließ ihr keine Gelegenheit, darauf zu antworten. Er räumte den Felsen zwischen ihren Beinen weg, lud sie sich auf die Schulter und sammelte mit der freien Hand beide Lampen ein. Mit frischer Kraft kehrte er in den Tunnel zurück und achtete darauf, dass ihr Kopf nicht gegen die niedrige Tunneldecke stieß.

Fast die Hälfte der Strecke bis zur Haupthöhle trug er sie, bevor sich seine Benommenheit mit voller Intensität zurückmeldete. In einer kleinen Felsenkammer ließ er Sophie dann behutsam auf den Boden hinunter und befreite sie von ihrem Knebel, während er nach Atem rang.

»Du siehst schrecklich aus«, war das Erste, was sie sagte. »Bist du verletzt?«

»Ich bin soweit okay«, knurrte er. »Du warst es doch, der es an den Kragen ging.«

»Wie spät ist es?«, fragte sie gehetzt.

»Fünf vor eins«, antwortete Dirk nach einem Blick auf seine Uhr. »Der Sprengstoff. Die Frau sagte, er solle um eins explodieren.“

»Soll er doch. Lass uns nur von hier verschwinden.“

»Nein.«

Dirk war verblüfft über ihren Tonfall. Es klang eher wie ein Befehl als wie eine Bitte.

»Wenn der Felsendom und die Moschee zerstört werden, ist das für mein Land eine Katastrophe. Dann droht ein Krieg, wie wir ihn noch nie erlebt haben.«

Dirk schaute in Sophies dunkle Augen und sah dort Entschlossenheit, Hoffnung, Liebe und Verzweiflung. Während die Sekunden vergingen, erkannte er, dass er aus einer Diskussion über dieses Thema niemals als Sieger hervorgehen würde.

»Ich glaube, dass ich die Zündkapseln unschädlich machen kann«, sagte er und befreite ihre Hände von den Fesseln. »Aber du musst von hier verschwinden. Ich lasse dir eine Lampe zurück. Binde deine Füße los und renn zum Ausgang.«

Er machte kehrt, um in den Tunnel zurückzukehren, doch sie hielt ihn am Hemd fest und zog ihn für einen schnellen, aber leidenschaftlichen Kuss an sich.

»Sei vorsichtig«, bat sie. »Ich liebe dich.«

Dirk startete, während seine Gedanken in einem wilden Aufruhr waren. Ihre Worte schienen sämtliche Schmerzen ausgelöscht zu haben, er sprintete durch den Tunnel. Schon nach wenigen Sekunden stürmte er in die letzte Felsenkammer und näherte sich der Sprengladung.

Als Schiffsingenieur kannte er sich ein wenig mit Sprengstoffen aus, da er an Unterwasserbergungsprojekten beteiligt gewesen war, bei denen auch Sprengungen durchgeführt werden mussten. Obgleich er keinerlei Erfahrung im Umgang mit HMX hatte, kam ihm die Zündtechnologie bekannt vor. Ein einziger elektronischer Zeitzünder war per Draht mit mehreren Zündkapseln verbunden, die in den Sprengstoff hineingedrückt worden waren.

Er sah auf die Uhr und erkannte, dass er bis ein Uhr noch drei Minuten Zeit hatte.

»Geht bloß nicht zu früh los«, murmelte er halblaut, während er die Lampe dichter an die Felswand hielt.

Er suchte den Plastiksprengstoff nach weiteren Zeitzündern ab, ohne dass ihm bewusst war, dass die Menge HMX vor ihm ausreichte, um einen Wolkenkratzei in Schutt und Asche zu legen. Er fand nur einen Zeitzünder und riss ihn von der Wand los. Die an dem Zünder hängenden Zündkapseln rutschten aus der HMX-Masse heraus. Mit den Kabeln der Zündvorrichtung in der Hand machte sich Dirk auf den Rückweg durch den Tunnel.

Schnell erreichte er die nunmehr dunkle und leere rechteckige Felsenkammer, in der er dankbar zur Kenntnis nahm, dass Sophie seine Anweisung offenbar befolgt und sich in Sicherheit gebracht hatte. Er blieb kurz stehen, schleuderte das Bündel Zündkapseln mitsamt dem Zeitzünder gegen die hintere Wand der Kammer, dann tauchte er wieder in den Tunnel ein. Erleichtert und spürbar ruhiger werdend erreichte er die Hauptkammer, wo der Schmerz in seinem Kopf sich auch gleich wieder zurückmeldete. Dirk durchquerte die geräumige Höhle und bemerkte nun zum ersten Mal, dass die Leiche des Palästinensers nicht mehr dort lag.

Er zwängte sich durch den schmalen Zugang und pumpte genussvoll die frische Luft mit mehreren tiefen Atemzügen in seine Lunge, dann hielt er nach Sophie Ausschau. Als er sie oder ihr Licht nirgendwo entdecken konnte, knipste er für einen Moment seine eigene Lampe aus und rief ihren Namen. Weder ihre Laterne noch ihre Stimme machten sich bemerkbar.

Dann traf Dirk eine plötzliche Erkenntnis wie ein brutaler Schlag in die Magengrube. Sophie hatte erzählt, dass der Felsendom und die Moschee zerstört werden sollten. Es musste demnach noch eine zweite Sprengladung existieren, mit der man die Moschee präpariert hatte, und Sophie war sicherlich dort, um sie zu deaktivieren.

Dirk jagte durch den Zugang zurück. In der Haupthöhle bohrten sich links von dem Tunnel, der zum Felsendom führte, drei kleinere Tunnel in den Berg. Dirk rannte von einem zum anderen und rief Sophies Namen in die Dunkelheit. Erst im Eingang zum letzten Tunnel hörte er eine verzerrte Antwort und erkannte auf Anhieb ihre Stimme. Augenblicklich stürzte er sich in den aus dem Fels gemeißelten Korridor.

Er hatte nur ein paar wenige Schritte zurückgelegt, als er in der Ferne ein Knattern hörte, das an explodierende Knallfrösche erinnerte. Es waren die Zündkapseln, die er unter dem Felsendom aus dem Sprengstoff gezogen hatte und die jetzt harmlos in der Kammer explodierten.

Dirks Herz schlug wie ein Dampfhammer, als ihm klar wurde, dass die zweite Ladung jeden Moment hochgehen würde.

»Sophie... verschwinde von dort... sofort!«, brüllte er verzweifelt.

Vor sich im Tunnel konnte er einen schwachen Lichtschimmer erkennen, und er wusste, dass er gleich am Ziel wäre. Dann hörte er eine weitere Folge trockener Knallgeräusche und warf sich zu Boden.

Die Explosion erschütterte den Untergrund wie ein Erdbeben, begleitet von einem ohrenbetäubenden Donnern. Sekunden später rasten die Explosionsgase mit ungeheurem Druck durch den Tunnel und schoben eine Lawine aus Staub und Geröll vor sich her. Dirk spürte, wie sein Körper vom Boden hochgerissen und gegen die Wand hinter ihm geschmettert wurde, wo er sekundenlang keine Luft mehr bekam. Überschüttet von Gesteinstrümmern und einer dichten Staubwolke musste er hilflos miterleben, wie die Welt um ihn herum abermals in grundloser Schwärze versank.

 

49

 

Sam hatte mit dem Rücken zum Berghang gestanden und den toten Palästinenser untersucht, als Dirk auf der Suche nach Sophie kurz aus dem Höhlengang herauskam. Als er hörte, wie jemand anders nach Sophie rief, wirbelte der Polizeiagent herum und konnte gerade noch sehen, wie Dirks Laterne wieder in dem schmalen Gang verschwand. Sam holte abermals sein Mobiltelefon heraus und wählte Sophies Nummer, dann schlich er langsam hügelaufwärts.

Er war nur noch wenige Schritte vom Eingang zum Steinbruch entfernt, als die Sprengladung explodierte. An seinem Standort war es nur wenig mehr als ein gedämpfter Knall, gefolgt von einem leichten Zittern unter seinen Füßen. Sekunden später quoll eine Wolke aus Qualm und Staub aus der engen Öffnung im Berghang.

Er stieg zu dem Eingang hinauf, fand eine einzelne Lampe im Gebüsch und wartete darauf, dass sich die Luft klärte. Er schaltete die Lampe ein und trat vorsichtig in den Höhleneingang. Als er in die Haupthöhle gelangte, war es für ihn kein gelinder Schock festzustellen, dass unter dem Tempelberg ein bisher nicht verzeichneter Steinbruch existierte.

Die Luft war noch immer mit Rauch und Staub gesättigt. Sam presste sich einen Ärmel vor die Nase, während er die Höhle untersuchte. Er blickte in jeden der vier Tunnel, zögerte beim letzten, aus dem dichte Rauchschwaden wallten, und dann hörte er plötzlich das Klappern von Steinen, das aus der Finsternis zu ihm drang.

Als er weiter in den Tunnel hineinging, nahm er an seinem Ende einen anderen Lichtschein wahr. Er beschleunigte seine Schritte und gelangte zu einem Haufen Schutt, den die Explosion von den Wänden gesprengt hatte. Er tastete sich vorsichtig über die Trümmer hinweg und drang tiefer in den Berg ein. Der dunkle Felsengang verlief mehrere Meter geradeaus, und in einiger Entfernung konnte Sam plötzlich die Lampe sehen.

Schweiß floss über sein Gesicht, und von dem Staub, der ihm in Mund und Nase drang, musste er heftig husten. Nachdem er sich an einem zerklüfteten Felsbrocken vorbeigezwängt hatte, gelangte er in eine geräumige Kammer, die durch die Lampe, die auf einem Stein stand, der von der Decke gefallen war, erhellt wurde. Die Kammer mit ihren zahlreichen Geröllhaufen, die den Boden bedeckten, stellte wohl die Schottergrube des unterirdischen Steinbruchs dar. Eine große, unregelmäßig geformte Öffnung war über dem größten Geröllhaufen in die Decke gesprengt worden. In der Luft lag noch immer ein dichter weißer Dunst, der die Sicht trotz der Beleuchtung auf ein Minimum begrenzte.

Auf der anderen Seite der Höhle nahm Sam eine Bewegung wahr.

»Sophie?«, rief er und griff vorsichtshalber nach seiner Pistole.

Wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt tauchte eine Gestalt aus den weißen Staubschwaden auf. Sam atmete erleichtert auf, als er Dirk erkannte. Doch seine Erleichterung erhielt einen Dämpfer, als er feststellen musste, dass Dirk den schlaffen Körper Sophies in den Armen hielt.

»Ist sie okay?«, fragte er leise.

Sam machte einen zögernden Schritt vorwärts, sah, dass Dirk ihren Kopf und Oberkörper mit einer leichten Jacke bedeckt hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass Sophies herabhängende Gliedmaßen seltsam verkrümmt und mit einer dicken Schicht aus Staub und Blut bedeckt waren.

Er sah Dirk fragend an, und ein eisiges Frösteln schüttelte ihn. Jede Hoffnung, dass Sophie sich wieder erholte, wurde durch Dirks zerfetzte äußere Erscheinung zunichtegemacht. Er starrte ihn mit zerschlagenem, blutigem Gesicht an, die Augen stumpf und ausdruckslos. Jegliches Leben schien aus ihm gewichen zu sein. Sam wusste sofort, dass Sophie tot war.

 

50

 

Die Bemühungen, die Explosion unter dem Haram ash-Sharif weitgehend zu vertuschen, begannen bereits, kaum dass sich der Qualm verzogen hatte. Der Felsendom war Marias vordringliches Ziel gewesen, und dort war es, wo sie den größten Teil des Sprengstoffs platziert hatte. Doch er explodierte nicht und richtete keinerlei Schaden an, nachdem Dirk die Sprengkapseln herausgezogen hatte. Es war eine zweite, kleinere Ladung, direkt unter der Al-Aqsa-Moschee deponiert, die schließlich explodierte, wenn auch mit nur geringer Wirkung.

Der Grund unter der Moschee aus dem achten Jahrhundert erbebte, und ihre Fensterscheiben klirrten auch, aber keine Flammen schlugen aus der Erde, um sie zu verschlingen. Sekunden vor der Explosion hatte Sophie einen großen Block Sprengstoff entfernt und in den Tunnel geschleudert, ehe sie versuchte, den Zünder und die Sprengkapseln aus dem restlichen Material zu entfernen. Die um einiges schwächere Explosion rief lediglich einen kleinen Riss im Fundament eines Brunnens hinter der Moschee hervor. Die Aufseher des Harams bemerkten anfangs gar nichts davon, weil sie annahmen, die Bombe sei in einem anderen Teil Jerusalems hochgegangen.

Im Steinbruch hatte Sam Levine sofort das Kommando übernommen und schnellstens alles Notwendige in die Wege geleitet. Polizei und Sanitäter erschienen umgehend, leisteten Dirk erste Hilfe und brachten Sophies sterbliche Hülle ins Leichenschauhaus. Die Agenten des Schin Bet handelten ähnlich schnell. Der Steinbruch wurde gründlich durchsucht, der restliche Sprengstoff sorgfältig eingesammelt und abtransportiert. Danach wurde der gesamte Komplex abgesperrt, ehe die Aufseher des Haram ash-Sharif überhaupt begriffen, was geschehen war.

Die Meldung von dem Bombenanschlag verbreitete sich in Windeseile in Jerusalem und erzeugte einen allgemeinen Aufschrei der Entrüstung. Einheimische Muslime verdammten den Anschlag, während die in der Stadt ansässigen Juden ihrem Entsetzen über die mögliche Schändung des Tempelbergs lautstark Luft machten. Jede Partei beschuldigte die andere, und die Wogen des Zorns schlugen auf allen Seiten hoch. Sich gegenüber der Öffentlichkeit in Zurückhaltung übend und die Sicherheitsmaßnahmen in der Stadt verstärkend rief die israelische Regierung die muslimischen Führer Jerusalems im Steinbruch zusammen, wo man sich darauf einigte, diesen Ort auf Dauer für die Öffentlichkeit unzugänglich zu machen.

Die Stimmung auf den Straßen blieb angespannt, doch es kam nur zu wenigen Zusammenstößen zwischen den rivalisierenden Lagern, und Ausbrüche von Gewalt konnten weitgehend verhindert werden. Nach einigen Tagen kehrte wieder Ruhe ein, da sich niemand zu Wort meldete und die Verantwortung für die Anschläge übernahm, während die wahren Täter spurlos von der Bildfläche verschwunden blieben.

 

51

 

Wortlos las General Braxton, der Director of National Intelligence, den CIA-Bericht. Nur das gelegentliche Zucken seines Schnurrbarts verriet einen Anflug von Gefühlsregung. Ihm gegenüber auf der anderen Seite seines Schreibtisches saßen Geheimdienstoffizier O'Quinn und ein Israel-Experte der CIA und starrten stumm auf ihre Schuhspitzen. Sie richteten sich schnell auf und nahmen Haltung an, als sie sahen, wie Braxton seine altmodische Lesebrille absetzte.

»Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, sagte der General mit seiner rauen Stimme. »Irgendwelche Verrückten sprengen beinahe halb Jerusalem in die Luft, und weder der Mossad noch der Schin Bet haben die geringste Ahnung, wer dahinterstecken könnte? Stimmt das so oder ist es nur das, was uns die Israelis weismachen wollen?«, fragte er.

»Die Israelis trauen offenbar ihren eigenen Ermittlungen nicht«, erwiderte der CIA-Mann. »Sie glauben, dass eine libanesische Waffen- und Drogenschmuggelorganisation, bekannt als die Mulis, zumindest teilweise verantwortlich ist. Die Mulis haben bekanntermaßen Verbindungen zur Hisbollah, daher ist es ganz gut möglich, dass sie Jerusalem - aus Rache wegen der Probleme Israels im Gaza-Streifen - ins Visier genommen haben. Der Amerikaner, der bei dem Anschlag verletzt wurde, erkannte in einem Bombenattentäter einen der Terroristen, die erst vor kurzem eine archäologische Ausgrabungsstätte in Caesarea überfallen haben.«

»Ist dieser Amerikaner einer unserer Agenten?«, fragte Braxton.

»Nein, er ist Schiffsingenieur bei der NUMA. Er erholt sich zurzeit von seinen Verletzungen in einem israelischen Militärkrankenhaus in Haifa.«

»Ein Schiffsingenieur? Was zum Teufel hatte der in Jerusalem zu suchen?«

»Offensichtlich gab es da eine romantische Verbindung zu der Angehörigen der archäologischen Polizei, die bei dem Anschlag ums Leben kam. Er hat sie bei einer routinemäßigen Beobachtung begleitet und geriet durch Zufall in den Bombenanschlag. Zum Glück, wie sich herausstellte, denn er war es, der verhinderte, dass die Hauptladung unter dem Felsendom explodierte.«

»Sir, in dem Fall sind wir gerade noch davongekommen«, sagte O'Quinn. »Die Menge Sprengstoff hätte ausgereicht, um den gesamten Dom dem Erdboden gleichzumachen und einen Teil der Altstadt von Jerusalem ebenfalls. Das Ganze hätte Feindseligkeiten geweckt, wie wir sie bisher noch nicht erlebt haben. Wäre das Heiligtum zerstört worden, befände sich der Himmel über Israel heute voller Raketen.«

Braxton gab einen Knurrlaut von sich und durchbohrte O'Quinn mit einem forschenden Blick. »Da wir gerade über das Thema Sprengstoff reden - ich denke, dass Sie dieser Geschichte einige unschöne Details hinzuzufügen haben.«

»Wir haben von den Israelis eine Probe von dem Teil des nicht verwendeten Materials erhalten und konnten bei einem Labortest bestätigen, dass es sich um HMX handelt. Es wurde unter Lizenz der U. S. Army von einem dortigen Hersteller produziert«, berichtete O'Quinn in sachlichem Ton.

»Ist es demnach unser eigener verdammter Sprengstoff?«, donnerte der General los.

»Ich befürchte es. Wir haben ein wenig gegraben und herausgefunden, dass die Probe aus Jerusalem mit einer Lieferung von hochqualitativem HMX übereinstimmt, die Anfang der 1990er Jahre den Pakistanis zur Verwendung in ihrem Atomprogramm verkauft wurde. Seitdem haben die Pakistanis gemeldet, dass ihnen kurz danach ein Container HMX abhandengekommen sei. Man glaubt, Leute beim Militär - mit Verbindung zum Schwarzmarkt - hätten den Sprengstoff an Interessenten außerhalb des Landes verhökert. Aber erst in diesem Jahr sind Spuren davon aufgetaucht.«

»Ein ganzer Container HMX? Unglaublich«, sagte Braxton.

»Der Container dürfte etwa achttausend Pfund des Hochleistungssprengstoffs enthalten haben. Die haben einiges an Zerstörungskraft.«

Der General schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, dieses Attentat steht im Zusammenhang mit den anderen kürzlich erfolgten Bombenanschlägen auf Moscheen, oder?«, fragte er, ohne die Augen zu öffnen.

»Wir wissen, dass bei der Al-Azhar-Moschee in Kairo und der Yesil-Moschee in Bursa ebenfalls HMX verwendet wurde. In beiden Fällen hat niemand die Verantwortung für die Anschläge übernommen. Und es wurden keine Beweise gefunden, um die Anschläge mit örtlichen Gruppierungen in Verbindung zu bringen. Ähnlich verhält es sich anscheinend auch in Jerusalem.«

»Was ist mit diesem toten Palästinenser, der auf dem Friedhof gefunden wurde?«

»Ein unbedeutender Antiquitätenjäger ohne irgendwelche terroristischen Verbindungen«, beantwortete der CIA-Mann die Frage. »Möglich, dass er bei der Entdeckung des Steinbruchs eine Rolle gespielt hat, aber mit dem eigentlichen Anschlag dürfte er nichts zu tun haben.«

»Womit wir wieder bei der immer noch unbeantworteten Frage nach dem Wer und Warum sind.«

O'Quinn sah den General gequält an. »Bisher hat niemand die Verantwortung für einen der Anschläge übernommen, und ich fürchte, dass wir keine heiße Spur haben«, sagte er. »Wie Joe bestätigen kann, halten die Geheimdienste nach allen Seiten Ausschau nach Verdächtigen, sei es bei irgendwelchen christlichen oder jüdischen Sekten oder bei Al Kaida und anderen muslimischen Fanatikern. Wir stehen mit ausländischen Geheimdiensten in Kontakt, aber auch dort weiß man nichts von möglichen Verbindungen.«

Der CIA-Mann nickte. »General, die Ziele haben alle eine besondere Bedeutung in der sunnitischen Welt. Wir nehmen sehr stark an, dass die Anschläge von schiitischer Seite inszeniert wurden. Die mögliche Hisbollah-Verbindung bei dem Anschlag in Jerusalem untermauert diese Theorie. Und ich muss Sie außerdem darauf hinweisen, dass sich in der Agentur die Stimmen häufen, die glauben, dass die Iraner dahinterstecken, um die Aufmerksamkeit von ihrem Atomwaffenprogramm abzulenken.«

»Das wäre eine denkbare Motivation«, pflichtete Braxton ihm bei, »aber sie würden mit dem Feuer spielen, wenn sie erwischt werden.«

O'Quinn schüttelte den Kopf.

»Ich muss widersprechen, Sir«, sagte er. »Diese Bombenanschläge tragen nicht die Handschrift der Iraner. Es wäre eine ganze neue Form von Extremismus, wie wir sie bisher noch nicht erlebt haben.«

»Sie geben mir nicht gerade viel, worauf ich mich stützen kann, O'Quinn«, brummte der General ungehalten. »Was ist mit diesem Türken, Mufti Battal, über den Sie sich so sehr aufgeregt haben?«

»Er bewirbt sich um die Präsidentschaft, wie wir schon befürchtet hatten. Er und seine Partei würden von der Entrüstung im fundamentalistischen Lager, die durch diese Bombenanschläge ausgelöst wird, sicherlich profitieren. Daraus ergibt sich die Frage, ob diese Anschläge vielleicht einem bestimmten politischen Ziel dienen sollen und nicht als die üblichen terroristischen Aktionen anzusehen sind. Was Battal betrifft, so beobachten wir ihn genau, haben aber bisher nichts finden können, was auf Gewaltbereitschaft schließen ließe. Zurzeit haben wir jedenfalls keinerlei Beweis für irgendeine Verbindung.«

»Demnach haben Sie auch in dieser Richtung nichts. Vielleicht sollten Sie beide einmal darüber nachdenken, wo diese Leute als Nächstes zuschlagen könnten.«

»Die Ziele haben jedenfalls an Bedeutung zugenommen«, stellte O'Quinn fest.

»Und ihre Pläne sind beim letzten Anschlag durchkreuzt worden, was uns hinsichtlich des nächsten Ziels, das sie sich aussuchen werden, mit größter Sorge erfüllen sollte.«

»Die Kaaba in Mekka könnte in Frage kommen. Ich sorge dafür, dass die Saudis einen Hinweis erhalten, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken«, sagte O'Quinn.

»Unsere Analysten arbeiten Tag und Nacht an dieser Geschichte«, fügte der CIA-Mann hinzu, und meinte dann noch im typischen Washingtoner Hilflosigkeitsjargon: »Wir tun, was wir können.«

Braxton wischte den Kommentar mit einem wütenden Blick zur Seite. »Ich will Ihnen sagen, was zu tun ist«, meinte er, beugte sich über seinen Schreibtisch und musterte die beiden Männer eindringlich. »Es ist im Grunde ganz einfach, dieser Angelegenheit ein Ende zu machen. Sie brauchen nichts anderes zu tun«, sagte er, während seine ansonsten raue Stimme einen schneidenden Klang bekam, »als den restlichen Sprengstoff zu finden.«

 

52

 

Am Spätnachmittag glitt die Ottoman Star in die Bucht nördlich der Dardanellen und machte an dem langen Pier fest, der zurzeit völlig frei war. Im leicht bewegten Wasser daneben lag das gesunkene Arbeitsboot noch immer auf dem sandigen Meeresgrund und wartete darauf, von einem Hafenkran und einer Tauchertruppe gehoben zu werden.

Maria, die auf der Kommandobrücke des Schiffes stand, sah zu ihrer Überraschung den Jaguar ihres Bruders auf dem Kai stehen. Celik verfolgte, wie sich das Schiff an den Pier heranschob, dann stieg er aus dem Jaguar, während die Leinen an Land geworfen und vertäut wurden. Mit einem Aktenkoffer unterm Arm ging er eilig den Kai hinunter und kam an Bord.

»Ich hab dich hier nicht erwartet, Ozden«, begrüßte Maria ihren Bruder.

»Die Zeit wird knapp«, erwiderte er und blickte sich demonstrativ auf der Kommandobrücke um. Der Kapitän und der Rudergänger begriffen sofort, was von ihnen erwartet wurde. Sie gingen hinaus und ließen Celik mit seiner Schwester allein.

»Ich habe gehört, dass die Polizei die Anlage nach unserer Abfahrt durchsucht hat«, sagte Maria. »Ist es nicht gefährlich für dich, hier gesehen zu werden?«

Spöttisch verzog Celik das Gesicht. »Die örtliche Polizei wurde gut genug bezahlt, um uns in Ruhe zu lassen. Sie haben eine kurze Stippvisite gemacht und wurden vom Lagerhaus ferngehalten.« Die Erwähnung der Polizei erinnerte ihn an die Attacke durch die NUMA-Männer, und er rieb unbewusst die Stelle an seinem Kopf, wo ihn Pitts Hammerschlag getroffen hatte.

»Die amerikanischen Hunde werden für ihr Eindringen bezahlen«, schwor er mit kehliger Stimme. »Aber vorher haben wir noch wichtige Dinge zu bereden.«

Maria wappnete sich für eine Flut von Vorwürfen wegen des Fehlschlags in Jerusalem, aber der erwartete Wutanfall blieb aus. Celik blickte aus dem Fenster über den Bug des Schiffes hinweg auf den leeren Kai.

»Wo ist die Suitana?.«

»Die habe ich in Beirut gelassen, damit sie vollständig repariert wird. Die Mannschaft wird sie in ein paar Tagen nach Istanbul bringen.«

Celik nickte, dann trat er dicht an seine Schwester heran. »Und jetzt, Maria, erzähl mir, warum die Mission fehlgeschlagen ist.«

»Das weiß ich selbst nicht so genau«, erwiderte sie ruhig. »Die erste Sprengladung ist nicht explodiert. Sie war mit mehreren Zündkapseln präpariert, und ich bin ganz sicher, dass sie an der richtigen Stelle angebracht wurde. Es muss zu irgendeiner Störung von außen gekommen sein. Sogar die zweite Ladung hätte eigentlich noch größeren Schaden anrichten müssen. Ich habe den Verdacht, dass die israelische Archäologin, die ums Leben kam, möglicherweise einen Teil der Ladungen entschärft hat.«

»Die Ergebnisse waren auf jeden Fall enttäuschend«, erklärte Celik und vermied seine üblichen giftigen Kommentare, »aber ich bin froh, dass du heil zurückgekehrt bist.«

»Wir haben die libanesischen Schmuggler während unserer Rückreise in Tripolis abgesetzt, daher wissen die Israelis nicht, wo sie suchen sollen. Und sie haben auch keinen Hinweis, dem sie folgen könnten.«

»Du hast deine Spuren immer bestens verwischt, Maria.« Trotz seines ungewohnt ruhigen Auftretens konnte sie die große Sorge in seinem Gesicht erkennen.

»Wie läuft es mit dem Mufti?«, fragte sie.

»Er macht Wahlkampf wie ein Berufspolitiker und hat sich die öffentliche Unterstützung einiger wichtiger Mitglieder der Nationalversammlung gesichert. Aber er hinkt in den Umfragen immer noch mit mindestens fünf Prozentpunkten hinterher, und bis zur Wahl sind es nur wenige Tage.« Er musterte sie mit einem ermahnenden Blick. »Der Anschlag in Jerusalem hat uns nicht den Schub gegeben, den wir brauchen, um zu gewinnen.«

»Vielleicht liegt das außerhalb unserer Kontrolle«, sagte sie.

Marias Worte entfesselten plötzlich den Zorn, den Celik die ganze Zeit unterdrückt hatte.

»Nein!«, rief er. »Wir sind so dicht davor und dürfen diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Die Wiederherstellung unserer Hausmacht steht auf dem Spiel«, sagte er und sah den eigenen geplanten Aufstieg schon in allen Einzelheiten vor sich. In seinen wahnsinnigen Augen lag plötzlich ein irrer Glanz, und sein Gesicht leuchtete rot vor Wut. »Wir dürfen uns diese Chance nicht entgehen lassen!«

»Das Goldene Horn?«, fragte sie leise.

»Ja«, erwiderte er, klappte den Aktenkoffer auf und holte eine Landkarte heraus. »Die Abfangaktion muss morgen Nacht stattfinden«, sagte er und reichte ihr eine Aktenmappe. »Darin findest du den Fahrplan und die Route des Zielschiffs. Wirst du dazu in der Lage sein?«

Maria sah ihren Bruder beklommen an.

»Ja, ich glaube schon«, sagte sie leise.

»Gut. Eine Gruppe von Janitscharen hält sich bereit, um das Schiff zu entern. Sie werden die Operation unterstützen. Ich verlasse mich auf dich.«

»Ozden, bist du ganz sicher, dass du das tun willst?«, fragte sie. »Das Risiko ist hoch. Das Leben vieler unserer Landsleute steht auf dem Spiel. Ich fürchte mich vor den Auswirkungen, wenn wir keinen Erfolg haben.«

Celik musterte seine Schwester mit einem Blick, in dem der Wahnsinn aufblitzte.

»Es ist der einzige Weg.«

 

53

 

Für Abel Hammet waren die letzten Strahlen der abendlichen Sonne wie kleine funkelnde Feuerkugeln, die auf den trägen Wellen des Mittelmeers tanzten. Der israelische Schiffskapitän stand auf der Brückennock und verfolgte, wie die Sonne unter den Horizont sank, und spürte dankbar die abendliche Brise. Die kühle Luft genussvoll einatmend hätte er schwören können, dass er den Duft der türkischen Pinien an der Küste, die vor ihm lag, riechen konnte. Über den Bug seines Schiffes hinwegschauend konnte er ein paar blinkende Lichter an der Südküste der Türkei erkennen. Ein wenig erfrischt kehrte er auf die Kommandobrücke der Dayan zurück, um seine Wache zu beenden.

Mit knapp unter einhundert Metern Länge war die Dayan ein relativ kleiner Tanker und im Vergleich zu den Supertankern, die Öl aus dem Persischen Golf holten, geradezu winzig. Obwohl sie mit allen typischen Einrichtungen und Merkmalen der Erdöltransporter aufwarten konnte, war sie für eine völlig andere Fracht konstruiert worden: Trinkwasser. Im Hinblick auf ein kürzlich geschlossenes Handelsabkommen hatte die israelische Regierung drei identische Schiffe bauen lassen, um Wasser zu den trockenen und staubigen Gestaden des Landes bringen zu lassen.

Zweihundertfünfzig Meilen von Israel entfernt, auf der anderen Seite des Mittelmeers, war die Türkei eines der wenigen Länder in der wüstenhaften Region, das über einen Überfluss an Trinkwasser verfügte. Dank der Kontrolle über die Oberläufe von Tigris und Euphrat und andere größere Gebirgsflüsse, besaß die Türkei eine strategische Ressource, die in den nächsten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewinnen würde. Indem es sein Trinkwasser zu einem ganz neuen Exportgut aufwertete, hatte sich das Land bereit erklärt, Israel einen winzigen Teil davon im Rahmen eines auf Probe abgeschlossenen Handelsvertrags zukommen zu lassen.

Die Dayan fasste fast vier Millionen Liter, und Hammet wusste, dass dieser Beitrag zur israelischen Trinkwasserversorgung nur ein winziger Tropfen auf den heißen Stein war. Aber der Pendelverkehr über das Mittelmeer zweimal pro Woche summierte sich. Für ihn war es ein leichter Dienst, und ihm und seiner aus neun Mann bestehenden Mannschaft machte die Arbeit Spaß.

In diesem Moment stand er im Ruderhaus und verfolgte die Fahrt des Schiffes auf einem Navigationsmonitor.

»Maschine zwei Drittel zurück«, befahl er dem Rudergänger. »Wir sind vierzig Meilen vor Manavgat. Es hat keinen Sinn, vor Tagesanbruch anzukommen, weil die Pumpanlagen so früh noch nicht in Betrieb sind.«

Der Rudergänger wiederholte den Befehl, während die Geschwindigkeit der einzelnen Maschine des Schiffes gedrosselt wurde. Mit leeren Tanks hoch im Wasser liegend verlangsamte der Tanker nach und nach sein Tempo von zwölf auf acht Knoten. Ein paar Stunden später, um Mitternacht, erschien der Erste Offizier an Deck, um den Kapitän abzulösen. Hammat warf einen letzten Blick auf den Radarschirm, ehe er sich zurückzog.

»Von hinten holt ein Schiff an Backbord zu uns auf, sonst aber ist das Meer völlig frei«, informierte er den Offizier. »Halten Sie uns nur vom Strand fern, Zev.«

»Jawohl, Käpt'n«, erwiderte der Mann. »Also, dann gibt's heute kein nächtliches Bad im Meer.«

Hammat begab sich in seine Kabine, die ein Deck tiefer lag, und schlief schnell ein. Doch er erwachte schon bald wieder, weil ihm irgendetwas fehlte. Während er sich den Schlaf aus den Augen rieb, erkannte er, dass die Maschine des Schiffes nicht dröhnte und das ganze Schiff vibrieren ließ, was gewöhnlich der Fall war, wenn das Schiff Fahrt machte. Er fand es seltsam, dass ihn niemand geweckt hatte, falls es irgendein Navigationsproblem gab oder das Schiff einen mechanischen Schaden hatte.

Der Kapitän schlüpfte in einen Bademantel, verließ seine Kabine und stieg zur Kommandobrücke hinauf. Als er das dunkle Ruderhaus betrat, erlitt er einen Schock. Ein paar Schritte von ihm entfernt auf dem Fußboden lag der Erste Offizier auf dem Bauch in einer Blutlache.

»Was ist hier los?«, herrschte er den Rudergänger an.

Dieser starrte ihn nur stumm und mit großen Augen an. Im gedämpften Licht der Kommandobrücke konnte Hammat erkennen, dass der junge Mann einen tiefen Schnitt seitlich im Gesicht hatte. Der Kapitän wurde plötzlich abgelenkt, sein Blick fiel durchs Vorderfenster, wo er die Positionsleuchten eines anderen Schiffes in gefährlicher Nähe ihrer Backbordseite erkennen konnte.

»Ruder hart steuerbord!«, rief er dem Rudergänger zu und achtete dabei nicht auf ein Rascheln in seinem Rücken.

Eine hochgewachsene männliche Gestalt löste sich von der hinteren Wand der Kommandobrücke. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine ebenfalls schwarze Schimütze, die den Kopf und das Gesicht bedeckte. In der Hand hielt der Mann eine Maschinenpistole, die er jetzt bis in Schulterhöhe anhob. Der Rudergänger ignorierte Hammats Befehl und beobachtete stattdessen wortlos, wie der Mann mit der Waffe näher kam. Hammet fuhr herum und sah gerade noch, wie das Gewehr mit seinem Gesicht kollidierte. Er hörte das Krachen des Gewehrkolbens, als dieser ihn am Kinn traf, kurz bevor eine Schmerzwoge blitzartig durch seinen Körper zuckte. Er spürte, wie seine Knie nachgaben, und dann verflog der Schmerz, als alles um ihn herum schwarz wurde und er seinem Offizier auf den Deckplatten Gesellschaft leistete.

 

54

 

»Ridley, mein Freund, kommen Sie, herein mit Ihnen.«

Die Stimme des Fetten Mannes klang wie Sand in einem Küchenmixer, als er Bannister zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen in seinem Apartment in Tel Aviv willkommen hieß.

»Danke, Oscar«, erwiderte der Archäologe und stolzierte mit einer demonstrativ zur Schau gestellten Selbstsicherheit herein, die ihm beim letzten Mal sichtlich gefehlt hatte.

Gutzman führte ihn zu einer Sitzgruppe, wo ein schlanker, elegant gekleideter Araber an einem Schreibtisch saß und in einigen Dokumenten blätterte. Er schaute auf und musterte Bannister argwöhnisch.

»Das ist Alfar, einer meiner Kuratoren«, erklärte Gutzman mit einer wegwerfenden Handbewegung. Auf Bannisters warnenden Blick hin fügte er hinzu: »Keine Sorge. Er kann ruhig mithören.«

Gutzman erreichte seinen Lieblingssessel und ließ sich schwerfällig hineinfallen.

»Und, was ist denn von so großer Wichtigkeit, dass Sie mich so bald schon wieder besuchen?«, fragte er.

Bannister antwortete ruhig und gelassen und brachte sein Opfer für den Fangschuss in Position.

»Oscar, Sie wissen, dass die Suche nach der Vergangenheit ein spekulatives Geschäft ist. Wir können manchmal tage-, wochen- oder sogar jahrelang nach jener monumentalen Entdeckung suchen und müssen am Ende trotzdem mit leeren Händen dastehen. Sicher, manchmal finden wir auch etwas Bedeutendes und gelegentlich sogar ein besonders schönes Stück, das unsere Phantasie Kapriolen schlagen lässt. Die meisten unserer Bemühungen sind gewöhnlich vergebens. Aber es besteht immer die Chance, dass jener seltene Fall eintritt, die Sterne günstig stehen und man das unsägliche Glück hat, auf das sprichwörtliche Geschenk des Himmels zu stoßen.«

Er beugte sich vor, um die Wirkung seiner Worte zu erhöhen, und blickte dem Fetten Mann beschwörend in die Augen.

»Oscar, ich glaube, ich bin im Begriff, eine solche Entdeckung zu machen.«

»Nun, was ist es denn, mein lieber Junge?«, fragte Gutzman mit pfeifendem Atem. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«

»Ich war gerade in London und habe mit einem Antiquitätenhändler gesprochen, den ich schon seit einigen Jahren kenne. Er hat vor kurzem eine Kollektion von Objekten angekauft, die vor Jahren aus den Archiven der Kirche von England gestohlen wurden«, log er und hielt dann effektvoll inne.

»Fahren Sie fort.«

»Dazu gehörten Kunstwerke, Schmuck und Artefakte, die während der Kreuzzüge aus dem Heiligen Land mitgebracht wurden.« Bannister schaute sich vorsichtig im Raum um und fügte dann mit gesenkter Stimme hinzu: »Darunter befand sich auch eine authentische Ausgabe des Manifests.«

Gutzmans Augen wurden so groß wie Luftballons.

»Ist das ... ist das Ihr Ernst?«, krächzte er und bemühte sich, seine Erregung im Zaum zu halten. Doch sein Gesicht rötete sich vor gespannter Erwartung.

»Ja«, erwiderte Bannister und holte eine bewusst schlampig ausgeführte Fotokopie des Papyrusdokuments hervor. »Ich habe das Original noch nicht mit eigenen Augen sehen können, aber mir wurde versichert, dass es echt ist.«

Gutzman studierte das Blatt mehrere Minuten lang wortlos. Nur das Rascheln des Papiers zwischen seinen zitternden Fingern durchbrach die Stille im Zimmer.

»Es existiert also«, sagte er schließlich mit andächtiger Stimme. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich das tatsächlich noch erlebe.« Der alte Mann sah Bannister ernst an. »Dieser Händler, wird er es mir verkaufen?«

Bannister nickte. »Angesichts der besonderen Umstände, wie er es erworben hat, ist er gezwungen, es in aller Stille zu veräußern. Deshalb hat er den Preis auf nur fünf Millionen Pfund Sterling festgesetzt.«

»Fünf Millionen Pfund!«, platzte Gutzman wütend heraus und bekam einen Hustenanfall. Als er wieder ruhiger atmen konnte, starrte er Bannister ungehalten an.

»Das werde ich niemals bezahlen«, sagte er, als er seine Stimme wiederfand.

Bannister wurde ein wenig blass, da er nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet hatte. »Ich nehme an, über den Preis lässt sich noch verhandeln, Oscar«, stotterte er. »Und der Händler hat außerdem seine Bereitschaft signalisiert, eine Radiokohlenstoffdatierung des Dokuments auf seine Kosten durchführen zu lassen.«

Da er Artefakte von Grabräubern bis hin zu Politikern erworben hatte, wusste Gutzman, wie man Preise aushandelt. Mehr noch, er wusste ganz genau, wann er ausgetrickst werden sollte. Und das verräterische Zögern in Bannisters Stimme war ihm nicht entgangen.

»Warten Sie hier«, sagte der Fette Mann, erhob sich mühsam aus seinem Sessel und verließ den Raum.

Kurz darauf kehrte er mit einem dicken Aktenordner zurück. Gutzman setzte sich, schlug den Ordner auf und blätterte bis zu einer Sammlung von Fotos in Plastikhüllen. Antike Artefakte, sortiert nach Alter und Stil, groß und klein, waren darauf zu sehen. Bannister erkannte Statuen, Schrifttafeln und Tongeschirre, die, wie er wusste, einige hunderttausend Dollar wert waren. Gutzman blätterte in dem Ordner nach hinten, dann nahm er einige Fotos heraus und reichte sie Bannister.

»Sehen Sie sich die einmal an«, sagte der Fette Mann schwer atmend.

»Ist das ein Teil Ihrer Sammlung?«, fragte Bannister. »Ja, aus meinem Lagerhaus in Portugal.«

Bannister studierte die Fotos. Auf dem ersten war eine kleine Kollektion rostiger Schwerter und Speerspitzen zu sehen. Das zweite Foto zeigte einen eisernen Soldatenhelm, den Bannister als römischen Heddernheim-Typ identifizierte. Eine kleine Bronzeplatte mit dem Bild eines Adlers, eines Skorpions und mehrerer Kronen erschien auf dem nächsten Foto. Das letzte Foto zeigte ein für Bannister nicht erkennbares Objekt. Es erschien wie ein großer, kantiger Metallklumpen, der auf einer Seite verbogen und verformt war.

»Eine kostbare Sammlung römischer Waffen«, stellte Bannister fest. »Liege ich richtig mit der Vermutung, dass das Adler- und Skorpionrelief Teil einer Kriegsstandarte ist?«

»Sehr gut, Ridley. Es ist nicht nur irgendeine Standarte, sondern das Emblem der Scholae Palatinae, der römischen Elitewachen Konstantins des Großen. Was sagen Sie zu dem letzten Objekt, mein Freund?«

Bannister studierte das Foto abermals, schüttelte nun jedoch den Kopf.

»Ich fürchte, da muss ich passen. Ich erkenne es nicht.« Gutzman gönnte sich den Ansatz eines triumphierenden Lächelns.

»Es ist der bronzene Rammsporn einer kaiserlichen Galeere. Seiner Größe nach stammt er von einer liburnischen Diere.«

»Ja, jetzt erkenne ich es. Die Spitze ist durch eine Kollision abgeflacht. Wo um alles in der Welt haben Sie das gefunden?«

»Der Sporn steckte im Rumpf eines anderen Schiffes, und zwar eines zypriotischen Piratenschiffs, falls man der Geschichte Glauben schenken darf. Das beschädigte Schiff lief auf Grund und versank in einem geschützten Gebiet — und zwar in weichem Schlick. Eine Anzahl Artefakte war bemerkenswert gut erhalten. Es dauerte nicht lange, da wurde das Wrack von Tauchern in der Gegend geplündert, und zwar lange bevor die staatlichen Archäologen dort tätig wurden. Ein reicher Sammler hat sich die meisten Objekte gesichert, bevor die Behörden überhaupt einen Überblick hatten, was alles entfernt worden war.«

»Lassen Sie mich mal raten, wer dieser reiche Sammler war«, sagte Bannister mit einem Grinsen.

Gutzman lachte kehlig. »In diesem besonderen Fall war es ein glücklicher Tipp, der mich erreicht hat.«

»Das sind außerordentlich schöne Stücke, Oscar. Aber weshalb zeigen Sie sie mir?«

»Ich habe diese Artefakte vor vielen Jahren erworben. Und seit Jahren schon beschäftige ich mich mit den Gerüchten über das Manifest. Treffen sie zu? Existiert es? Dann, eines Nachts, hatte ich einen Traum. Ich träumte, dass ich das Manifest in der Hand hielt, so wie heute Ihre Kopie. Und im Geist sah ich römische Waffen und Artefakte um mich herum. Aber nicht nur irgendwelche Artefakte, sondern - ich sehe diese hier«, sagte er und deutete auf die Fotos.

»Wir träumen sehr oft von der Realität, die wir suchen«, sagte Bannister. »Glauben Sie wirklich, dass es eine Verbindung zwischen dem Manifest und diesen römischen Altertümern gibt? Könnten sie nicht aus irgendeiner kriegerischen Auseinandersetzung auf See stammen?«

»An so etwas wäre die Scholae Palatinae niemals beteiligt gewesen. Sehen Sie, sie waren die Nachfolger der Prätorianergarde, die von Konstantin in der Schlacht an der Milvischen Brücke vernichtet wurde, bei der er Maxentius besiegt und das Kaiserreich vereint hat. Nein, ich gehe davon aus, dass das zypriotische Schiff einen Zusammenstoß mit einer kaiserlichen Galeere hatte.«

»Stammt das Schiff denn überhaupt aus dieser Zeit?«

Gutzman lächelte wieder. »Sowohl das Schiff als auch die Waffen und die anderen Objekte lassen sich ausnahmslos etwa auf das Jahr 330 datieren. Und dann ist da noch dies«, sagte er weiter und deutete auf einen verwitterten römischen Schild auf einem der Fotos.

Bannister hatte ihn bei seiner ersten Betrachtung übersehen, entdeckte ihn jetzt jedoch neben den Speerspitzen. In seiner Mitte war ein verblichenes Chi-Rho-Kreuz zu erkennen.

»Das Konstantinische Kreuz«, murmelte Bannister.

»Nicht nur das, sondern der Papyrus aus Caesarea untermauert die Theorie«, sagte Gutzman. »Der Traum ist real, Ridley. Wenn Ihr Manifest echt ist, dann habe ich die Stimme Helenas bereits durch meine eigenen Artefakte gehört.«

Bannisters Augen leuchteten auf, während er daran dachte, welche Möglichkeiten sich daraus ergeben mochten.

»Sagen Sie mal, Oscar«, fragte er, »wo genau wurde das Schiffswrack gefunden?«

»Das Schiff wurde in der Nähe von Pissouri, einem Dorf an der Südküste Zyperns, entdeckt. Es ist doch durchaus möglich, dass die in dem Manifest genannte Fracht ganz in der Nähe vergraben liegt, oder?«, spekulierte er stirnrunzelnd. »Das wäre doch wirklich ein Geschenk des Himmels, nicht wahr, Ridley?«

»In der Tat«, sagte der Archäologe, und seine Gedanken schlugen Purzelbäume. »Das wäre die Entdeckung des Jahrhunderts.«

»Aber wir sollten nichts überstürzen. Zuerst muss ich das Manifest daraufhin untersuchen, ob es echt ist. Bestellen Sie Ihrem Londoner Freund, dass ich bereit bin, einhunderttausend Pfund dafür zu bezahlen. Aber vorher bestehe ich noch auf einer Radiokarbondatierung und einer persönlichen Untersuchung«, sagte er, während er aus seinem Sessel aufstand.

»Einhunderttausend Pfund?«, fragte Bannister, und jetzt krächzte seine Stimme.

»Ja, und keinen Penny mehr.«

Der alte Sammler klopfte Ridley auf die Schulter. »Vielen Dank, dass Sie zuerst zu mir gekommen sind, Ridley. Ich denke, dass uns noch einige wunderbare Dinge erwarten.«

Bannister konnte nur enttäuscht nicken, während er zur Tür ging. Als er mit dem Lift nach unten fuhr, kehrte Gutzman zur Sitzgruppe und zu Alfar zurück.

»Hast du unsere Unterhaltung mitgehört?«, fragte der Fette Mann.

»Ja, Mr. Oscar. Jedes Wort«, erwiderte der Araber mit starkem Akzent. »Aber ich verstehe nicht, weshalb Sie das Manifest nicht kaufen.«

»Aus einem ganz einfachen Grund, Alfar. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Manifest in Bannisters Besitz ist und nicht bei irgendeinem Londoner Makler oder Händler liegt. Er versucht, mich zu beschwindeln, und vielleicht gelingt ihm das sogar.«

»Warum haben Sie ihm dann von den römischen Fundstücken erzählt?«

»Um die Saat zu säen. Sieh mal, er hat eine besondere Nase für interessante Entdeckungen. Jetzt ist er enttäuscht, was den Verkauf des Manifests betrifft, aber auch verwirrt, was übrigens auch auf mich zutrifft, nämlich in Hinsicht auf die Möglichkeit, dass die im Manifest genannten Artefakte tatsächlich existieren. Ich bin sicher, dass ihn sein Ego dorthin führen wird. Vielleicht ist alles umsonst, aber warum soll man es nicht versuchen? Bannister ist kompetent und außerdem ein Glückspilz. Wenn die Objekte tatsächlich irgendwo existieren sollten, dann ist er derjenige, der sie finden kann. Also, warum wollen wir uns die Arbeit nicht von ihm abnehmen lassen?«

»Sie sind ein kluger Mann, Mr. Oscar. Aber wie wollen Sie Bannister unter Kontrolle halten?«

»Ich will, dass du dich mit Zakkar in Verbindung setzt. Sag ihm, ich hätte einen simplen Überwachungsauftrag für ihn, für den ich ihn sehr gut bezahlen werde.«

»Er hat angedeutet, dass er sich nach Möglichkeit für mehrere Monate nicht mehr in Israel blicken lassen will.«

»Dort ist ihm das Pflaster wohl zu heiß geworden, hm?«, sagte Gutzman und kicherte leise. »Nicht schlimm. Sag ihm, er brauche sich keine Sorgen zu machen, der Job finde gar nicht in Israel statt. Er muss sich sein Honorar auf Zypern verdienen.«

 

55

 

Hammet zuckte zusammen. Grund war der grelle Schein der Neonbeleuchtung, der seine ersten Versuche, die Augen zu öffnen, begleitete. Das Unbehagen war jedoch nichts im Vergleich mit dem brennenden Schmerz in seinem Hinterkopf. Er zwang sich noch einmal, die Lider zu öffnen, und hatte Mühe zu erkennen, wo er war. Die erste Erkenntnis lautete: Er lag flach auf dem Rücken und starrte auf eine Reihe von Deckenlampen.

»Käpt'n, wie fühlen Sie sich?«, erklang die vertraute Stimme des Ersten Offiziers der Dayan.

»Als wäre ich von einer Lokomotive überfahren worden«, antwortete Hammet und hob den Kopf, um sich zu orientieren.

Als sich sein Blick dann klärte, konnte er erkennen, dass er auf einem Esstisch in der Schiffsmesse lag, einen Stapel Leinenservietten als behelfsmäßige Kissen unter dem Kopf. Angehörige seiner Mannschaft umstanden ihn mit teils sorgenvollen, teils furchtsamen Mienen. Da er sich in seiner augenblicklichen Lage plötzlich unbehaglich fühlte, richtete er sich auf den Ellbogen auf und rutschte von der Tischplatte. Der Erste Offizier half ihm, sich in einen Sessel zu setzen. Er brauchte einige Sekunden, um einen Anfall von Übelkeit zu überstehen, ohne sich übergeben zu müssen, dann bedankte er sich bei seinem Offizier mit einem Kopfnicken.

Zum ersten Mal bemerkte er, dass der Mann einen blutigen Verband um den Kopf trug und um mindestens zwei Stufen blasser war als normal.

»Ich hatte schon befürchtet, Sie wären tot«, sagte Hammet.

»Ich habe zwar eine Menge Blut verloren, aber ich halte mich ganz gut. Sie haben uns größere Sorgen gemacht, weil Sie die ganze Nacht geschlafen haben.«

Der Tankerkapitän blickte zu einem Bullauge in der Nähe und sah die Strahlen der frühen Morgensonne hereindringen. Plötzlich bemerkte er, dass der Motor des Schiffes schwieg und es offenbar vertäut war und festlag. Ein Stück entfernt sah er zu seinem Erschrecken zwei schwarz gekleidete Männer rechts und links neben der Kantinentüt sitzen. Sie balancierten Maschinenpistolen auf den Oberschenkeln und musterten ihn mit drohenden Blicken.

»Wie sind die an Bord gekommen?«, fragte Hammet leise.

»Kann ich nicht mit Sicherheit sagen«, meinte der Offizier. »Sie müssen mit einem kleinen Boot von dem Frachter herübergekommen sein. Eine Gruppe bewaffneter Männer erschien auf der Kommandobrücke, bevor wir überhaupt wussten, was los war.«

»Konnten Sie einen Notruf absetzen?«

Der Offizier schüttelte mit grimmiger Miene den Kopf. »Keine Zeit.«

Hammet zählte die Leute durch, die ihn umringten, und stellte fest, dass sein dritter Offizier fehlte. »Wo ist Cook?«

»Er wurde schon früh auf die Brücke geholt. Ich vermute, sie haben ihn gezwungen, das Schiff zu steuern.«

Kurz darauf wurde die Tür der Messe aufgerissen und der dritte Offizier von einem weiteren Bewaffneten brutal hereingestoßen.

Einen Bluterguss auf seiner Wange abtastend kam der junge Offizier an den Tisch und ging zu Hammet hinüber.

»Freut mich, dass Sie okay sind, Käpt'n«, sagte er.

»Was können Sie berichten?«, fragte Hammet.

»Sir, sie haben mich mit vorgehaltener Waffe gezwungen, das Schiff zu steuern. Wir sind die ganze Nacht mit voller Kraft nach Norden gefahren und einem schwarzen Frachter namens Ottoman Star gefolgt. Gegen Morgen sind wir dann neben ihm in einer kleinen geschützten Bucht vor Anker gegangen. Wir befinden uns noch immer in türkischen Gewässern, zehn Meilen nördlich der Dardanellen.«

»Irgendeine Ahnung, wer diese Leute sind?«

»Nein, Sir. Sie sprachen Türkisch, haben aber keinerlei Forderungen gestellt. Ich kann mir keinen einzigen Grund vorstellen, weshalb jemand einen leeren Wassertanker entern und entführen sollte.«

Hammet nickte stumm und stellte sich in Gedanken die gleiche Frage.

 

Die israelische Tankermannschaft wurde für weitere vierundzwanzig Stunden an Bord festgehalten und durfte nur die Küche benutzen, sonst nichts. Mehrmals wandte sich Hammet mit Fragen oder Bitten an die Wachen, wurde jedoch jedes Mal mit der unmissverständlichen Bewegung eines Gewehrlaufs stumm abgewiesen. Während des ganzen Tages und der gesamten Nacht hörten sie vom Vorderdeck Arbeitslärm von Männern und Maschinen. Als er einmal einen Blick durch das Bullauge werfen konnte, sah Hammet einen Kran, der Kisten vom Frachter auf den Tanker hievte.

Später am Tag wurden sie schließlich vom Schiff geführt, als weitere Wächter erschienen und ihnen befohlen wurde, beim Beladen des Schiffes zu helfen. Als sie dann über den Pier getrieben wurden, erlebte Hammet einen Schock, als er sehen musste, was sie mit seinem Schiff gemacht hatten. Die Entführer hatten zwei riesige Löcher in das Vorderdeck geschnitten. Die vorderen Lagertanks, von denen jeder knapp 600.000 Liter Wasser fasste, standen nun so offen wie zur Hälfte geöffnete Sardinenbüchsen. Außerdem konnte der Kapitän erkennen, dass die Kisten, die vom Frachter umgeladen worden waren, jetzt an den Außenwänden der geöffneten Tanks aufgereiht waren.

»Die Idioten haben unseren Tanker in ein Frachtschiff umgewandelt«, schimpfte er, während sie an Land geführt wurden.

Sein Schrecken wurde noch größer, als die Mannschaft in das südliche Lagerhaus gebracht und angewiesen wurde, die kleinen Kisten Plastiksprengstoff aus dem Armee-Container herauszuholen. Dann wurden sie zum Tanker geführt, wo sie den Sprengstoff in der Mitte der beiden offenen Tanks deponieren mussten. Hammet warf einen Blick auf die Kisten, die bereits an Bord geschafft worden waren, und sah, dass sie mit Fünfzig-Pfund-Säcken gefüllt waren, die die Aufschrift Ammonium Nitrate Fuel Oil trugen.

»Sie wollen das Schiff in die Luft sprengen«, flüsterte er seinem ersten Offizier zu, während sie zurückgetrieben wurden, um die zweite Ladung HMX zu holen.

»Bestimmt mit uns an Bord, nehme ich an«, erwiderte der Erste Offizier.

»Einer von uns sollte sich wegschleichen. Wir müssen Hilfe suchen, um diesen Wahnsinn zu stoppen.«

»Als Kapitän würde man Sie als Ersten vermissen.«

»Und mit diesem blutigen Kopfschmuck wären Sie gleich der Zweite«, sagte Hammet.

»Ich Versuchs«, erklang eine Stimme hinter ihnen. Es war der Rudergänger des Tankers, ein ziemlich kleiner, unscheinbarer Mann namens Green.

»Im Lagerhaus ist es dunkel, Green«, sagte Hammet. »Sehen Sie zu, ob Sie sich irgendwie in den Schatten verbergen können.«

Aber die Wachen behielten die Gefangenen ständig im Auge, um eine Flucht zu verhindern, und schickten Green sofort hinter den anderen her, wenn er sich zurückhängen ließ oder versuchte, sich von seinen Gefährten zu entfernen. Widerstrebend kehrte er jedes Mal zu den Sprengstoffträgern zurück.

Die Mannschaft fuhr mit ihrer Zwangsarbeit fort, bis die Sprengstoffkisten im Container merklich weniger wurden. Verwundert bemerkte Hammet eine Frau in einem Overall, die die Fortschritte ihrer Tätigkeit vom Tankerdeck aus inspizierte, ehe sie einen Platz auf der Kommandobrücke einnahm. Während sie zum Lagerhaus gingen, um, wie Hammet wusste, die letzte Ladung zu holen, wandte er sich an seinen Rudergänger.

»Versuchen Sie irgendwie, sich im Container zu verstecken«, flüsterte er.

Der Kapitän gab seinen Männern ein Zeichen, sich möglichst schnell und zahlreich in den Container zu drängen, ehe der Wächter ihnen zurufen konnte, sie sollten den Container einzeln betreten. Aber dadurch ergab sich für Green die Chance, bis zum Ende des Containers zu gelangen. Er kletterte schnell auf das oberste Regalbrett und drückte sich gegen die Containerwand, so dass sein Körper von unten nicht zu sehen war. Hammet ließ die anderen Männer die letzten Sprengstoffkisten hinausschleppen, dann verließ er mit hoch erhobenen Händen den Container.

»Das war alles«, sagte er zu dem Wächter, der an der Containertür wartete, dann folgte er seinen Männern durch das Lagerhaus.

Obwohl er schneller ging, um seine Leute einzuholen, konnte er es sich nicht verkneifen, einmal zurückzuschauen, während der Wächter herüberkam und einen Blick in den Container warf. Zufrieden, dass er leer war, machte der Wächter kehrt und schlug die Tür zu. Hammet wandte sich ab, hielt die Luft an und betete um Stille. Aber seine Hoffnungen zerschlugen sich mit dem Geräusch des Riegels, der mit einem dumpfen, unheilvollen Laut vorgeschoben wurde, den Hammet bis hinunter in seine Zehen spürte.

 

56

 

Die Reifen des Zubringerflugzeugs wirbelten eine Staubwolke auf, als sie auf der trockenen Landebahn des Flughafens von Canakkale südöstlich der Dardanellen aufsetzten. Die Maschine rollte zu dem ihr zugewiesenen Terminal und kam langsam zum Stehen, während ihre beiden Propellermotoren verstummten. Summer stand hinter der Sperre und beobachtete, wie ihr Bruder zusammen mit den letzten Passagieren das Flugzeug verließ. Er humpelte zwar ein wenig und hatte auch ein paar kleiner Verbände und Heftpflaster im Gesicht, erschien aber sonst gesund und munter. Doch als er näher kam, konnte sie erkennen, dass er die schlimmste Wunde in seinem Inneren mit sich herumtrug.

»Immer noch alles an dir dran, wie ich sehe«, sagte sie und umarmte ihn. »Willkommen in der Türkei.“

»Danke«, erwiderte er mit düsterer Stimme.

Verschwunden waren seine übliche zuversichtliche Ausstrahlung und seine optimistische Grundhaltung. Sogar seine Augen erschienen dunkler, dachte Summer. Nicht leidend und traurig, wie sie vielleicht erwartet hätte, sondern kalt und fast zornig. Es war ein Ausdruck, den sie noch nie zuvor an ihrem Bruder gesehen hatte. Behutsam ergriff sie seinen Arm und steuerte ihn zur Gepäckausgabe.

»Wir haben die Nachrichten über den Anschlag auf den Felsendom gelesen und hätten nie im Traum daran gedacht, dass du darin verwickelt sein könntest«, sagte sie leise. »Dann erfuhr Dad auf Umwegen, dass du dort warst und die Explosion verhindert hast.«

»Ich habe nur dafür gesorgt, dass eine Ladung nicht hochging«, sagte er voller Bitterkeit. »Die israelischen Sicherheitskräfte haben mich aus den Nachrichten herausgehalten, während sie mich im Militärhospital zusammenflickten. Ich vermute, sie wollten nicht, dass die Anwesenheit eines Amerikaners irgendwelche innenpolitischen Reaktionen auslöst.«

»Gott sei Dank wurdest du nicht ernstlich verletzt.« Sie hielt inne und musterte ihn besorgt. »Das mit deiner israelischen Freundin tut mir leid.«

Dirk nickte, sagte jedoch nichts. Sie erreichten die Gepäckausgabe und fanden seine Reisetasche. Auf dem Weg zu einem kleinen gemieteten Kombiwagen sagte Summer: »Wir müssen noch einen Zwischenstopp einlegen und etwas mitnehmen.«

Auf der anderen Seite des Flughafens gelangten sie zu einem heruntergekommenen Lagerhaus mit der Aufschrift Air Cargo. Sie fragte nach der Lieferung für die NUMA und erhielt zwei Expresspakete. Dann rollten zwei Männer auf einem Karren eine kleine Kiste nach draußen und luden sie in den Kombiwagen.

»Was ist denn in der Kiste?«, fragte Dirk, als sie losfuhren.

»Ein Ersatzschlauchboot. Die Aegean Explorer hat zwei ihrer Dingis während einer Auseinandersetzung wegen eines Schiffswracks verloren.«

Summer berichtete Dirk, was sie über die Entdeckung des osmanischen Schiffswracks, den Tod der beiden NUMA-Wissenschaftler und die Entführung Rodney Zeibigs wusste.

»Die Türken haben die Typen in der Jacht nicht verhaftet?«, fragte Dirk.

Summer schüttelte den Kopf. »Dad ist wegen der Reaktion der örtlichen Behörden ziemlich wütend. Die Explorer wurde für ein paar Tage festgehalten und für den Tod von Tang und Iverson verantwortlich gemacht.«

»Das Recht ist immer auf der Seite der Mächtigen. Das mit Tang und Iverson ist eine traurige Neuigkeit. Ich habe bei anderen Projekten mit ihnen zusammengearbeitet. Beide waren gute Männer«, sagte er, und seine Stimme versiegte, als ihn diese neue Konfrontation mit dem Tod eines Menschen erneut an Sophie erinnerte.

»Zu guter Letzt ist diese Algenpest-Untersuchung auch noch zum Stillstand gekommen. Unser Experte aus dem türkischen Umweltministerium musste wegen irgendeiner dringenden Familienangelegenheit schnellstens an Land gebracht werden. Und Rudi und Al haben Probleme mit dem AUV gehabt.« Sie wollte hinzufügen, dass Dirks Ankunft sicherlich allgemein die Laune heben würde, aber sie wusste, dass genau dies bei seiner gegenwärtigen Verfassung bestimmt nicht geschehen würde.

Summer fuhr zum Handelshafen von Canakkale und fand die Aegean Explorer vertäut neben einigen großen Fischerbooten. Sie brachte ihren Bruder an Bord und in die Offiziersmesse, wo Pitt, Gunn und Giordino ihren weiteren Fahrplan mit Kapitän Kenfield besprachen. Sie begrüßten den jungen Pitt herzlich, nachdem er mit seiner Schwester hereingekommen war.

»Hat dir dein Vater nicht beigebracht, niemals mit Sprengstoff herumzuspielen?«, scherzte Giordino und zerquetschte mit seinem Händedruck beinahe Dirks Hand.

Dirk rang sich ein Lächeln ab, dann umarmte er seinen Vater, ehe er am Tisch Platz nahm. »Summer hat mir erzählt, ihr hättet ein osmanisches Schiffswrack gefunden«, sagte er. Sein Tonfall machte allerdings deutlich, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war.

»Ein Wrack, das uns schon eine Menge Verdruss bereitet hat«, erwiderte Pitt. »Das Schiff stammt aus der Zeit um 1570 und hatte außerdem einige ungewöhnliche römische Artefakte an Bord.«

»Unglücklicherweise sind von all diesen Artefakten nur noch einige Fotos übrig«, fügte Gunn traurig hinzu.

»Natürlich verblasst das alles neben Summers Entdeckung«, sagte Pitt.

Dirk wandte sich zu seiner Schwester um. »Welcher Entdeckung?«, fragte er.

»Du meinst, sie hat es dir noch gar nicht erzählt?«, fragte Giordino.

Summer sah Dirk ein wenig verlegen an. »Dazu war keine Zeit mehr, glaube ich.«

»Wie bescheiden«, sagte Gunn und blätterte einen Stapel Papiere durch, die auf dem Tisch lagen. »Da, ich habe eine Kopie von Summers Original gemacht«, sagte er und reichte Dirk einen Bogen Papier.

Er hielt das Blatt hoch und betrachtete es eingehend.

 

Universität von Cambridge Archäologische Abteilung

 

Übersetzung (aus dem Koptischen) Kaiserliches Schiff Argon

Besonderes Manifest über Lieferung an Kaiser Konstantin Byzanz

 

Manifest:

Persönliche Gegenstände Christi, darunter kleiner Schrank mit

Mantel

Haarsträhne

Brief an Petrus

Persönliche Gegenstände

Großer Grabstein

Altar - aus nazarenischer Kirche

Zeitgenössisches Bild von Jesus

Ossuarium von J.

 

Bestimmt für 14. Legionäre, in Caesarea Septarius, Gouverneur von Judäa

 

»Ist das echt?«, fragte Dirk.

»Das Original wurde auf Papyrus geschrieben. Ich habe es kurz gesehen«, sagte Summer und schüttelte den Kopf, »daher weiß ich, dass es existiert. Dies war die Übersetzung eines bekannten Archäologen und Etymologen in Cambridge, aus dem Jahr 1915.«

»Das ist unglaublich«, sagte Dirk, der von dem Dokument sichtlich gefesselt war. »All diese Gegenstände, die Jesus persönlich zugeschrieben werden. Sicherlich wurden sie von den Römern nach seinem Tod eingesammelt und vernichtet.«

»Nein, im Gegenteil«, widersprach Summer. »Sie wurden von Helena, der Mutter Konstantins des Großen, im Jahr 327 erworben. Die Gegenstände auf dem Manifest waren heilig und wurden wahrscheinlich an Konstantin geschickt, um den Übergang des Römischen Reichs zum Christentum zu feiern.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du all das ausgerechnet in England gefunden hast«, sagte Gunn schließlich.

»Und alles nur auf Grund unserer Tauchfahrt zur HMS Hampshire«, erklärte Summer. »Feldmarschall Kitchener hat das Papyrusdokument offensichtlich während einer Erkundungsreise durch Palästina in den 1870ern erworben. Seine Bedeutung blieb weitgehend verborgen, bis Jahrzehnte später eine Übersetzung angefertigt wurde. Julie Goodyear, die Kapazität in Sachen Kitchener, hat bei der Suche nach dem Manifest maßgeblich mitgeholfen und hält für möglich, dass die Kirche von England Kitchener deswegen hat ermorden lassen.«

»Ich finde, man kann ihre Ängste verstehen«, sagte Giordino. »Ein Ossuarium mit Jesus' Gebeinen zu finden, würde sicherlich eine kleine Revolution auslösen.«

»Es gibt da offenbar eine interessante Verbindung zu den römischen Artefakten, die wir in dem osmanischen Wrack gefunden haben, die ebenfalls aus der Zeit Konstantins und Helenas datieren.«

»Wurden demnach diese Jesus-Reliquien auf ein römisches Schiff gebracht, das Caesarea verließ?«, fragte Dirk.

Summer nickte. »Helena soll eine Pilgerfahrt nach Jerusalem unternommen haben, wo sie, wie sie behauptet, das Heilige Kreuz gefunden haben will. Fragmente dieses Kreuzes findet man heutzutage in verschiedenen Kirchen überall in Europa. Eine beliebte Legende besagt, dass die Nägel des Kreuzes eingeschmolzen und in einem Helm und Zaumzeug für Konstantin verarbeitet wurden. Also sind Helena und das Kreuz sicher nach Byzanz gelangt. Von diesen Gegenständen ist jedoch nicht mehr die Rede«, fügte sie hinzu und deutete auf die Frachtliste. »Sie müssen separat auf die Reise geschickt worden sein, gingen wohl verloren und wurden schließlich vergessen. Könnt ihr euch vorstellen, welche Wirkung es gehabt hätte, wenn wir ein zeitgenössisches Bild von Jesus gefunden hätten?«

Im Raum wurde es still, als die Phantasie eines jeden Anwesenden eine visuelle Darstellung des Namensgebers einer Weltreligion hervorbrachte. Eines jeden - mit Ausnahme von Dirk. Sein Blick ruhte weiterhin auf dem unteren Teil des Manifests.

»Caesarea«, sagte er. »Das deutet darauf hin, dass die Ladung Caesarea unter dem Schutz römischer Legionäre verlassen hat.«

»Das ist doch dort, wo du gearbeitet hast, nicht wahr?«, fragte sein Vater.

Dirk nickte.

»Sie haben nicht zufälligerweise einen in Stein gehauenen Reiseplan hinterlassen?«, fragte Giordino.

»Nein, aber wir konnten eine Anzahl Papyrusdokumente aus dieser Zeit entschlüsseln. Das interessanteste beschreibt die Gefangennahme und Hinrichtung einiger zypriotischer Piraten. Offenbar hatten die Piraten längere Zeit, bevor sie geschnappt wurden, auf See eine Begegnung mit römischen Legionären. Dr. Haasis, mit dem ich in Caesarea zusammengearbeitet habe, hat gesagt, die römischen Legionäre hätten zu einer Gruppe namens Scholae Palatinae gehört, angeführt von einem Centurio namens Platus, wenn ich mich richtig erinnere.«

Gunn fiel beinahe vom Stuhl.

»Was ... wie, sagtest du, war sein Name?«, stammelte er. »Platus, oder vielleicht war es auch Platius.“

»Plautius?«, fragte Gunn. »Ja, das war es. Woher wusstest du das?«

»Das war der Name auf meinem Grabstein, äh, also auf dem Stein, der in der Nähe des Wracks gefunden wurde. Es war ein Andenken an Plautius, der offenbar bei einem Kampf auf See umgekommen ist.«

»Aber du hast keine Ahnung, woher die Grabplatte stammte?«, fragte Dirk.

Gunn schüttelte den Kopf, während sich Zeibigs Gesicht plötzlich aufhellte.

»Dirk, sagten Sie, die Piraten kamen aus Zypern?«, fragte er.

»Das ging zumindest aus dem Papyrusbericht hervor.«

Zeibig blätterte einige Papiere durch und zog ein Blatt mit wissenschaftlichen Notizen heraus.

»Der römische Senator, der namentlich auf der goldenen Krone verewigt ist, hieß Artrius? Dr. Ruppe schickte einige Daten, aus denen hervorgeht, dass er für kurze Zeit den Posten des Gouverneurs von Zypern bekleidet hat.«

Der Anflug eines Lächelns huschte über Pitts Gesicht. »Zypern, das war der Hinweis, der uns gefehlt hat. Wenn die zypriotischen historischen Archive vollständig sind, dann wette ich, dass ihr feststellen weidet, dass dieser Traianus, also der Name auf dem Monolithen, ebenfalls auf Zypern war. Vielleicht sogar dem Gouverneur Artrius unterstellt war.«

»Sicher«, stimmte Giordino ihm zu. »Traianus erhielt wahrscheinlich vom Gouverneur die Anweisung, eine Gedenkstätte zu errichten, nachdem die goldene Krone mit der Post gekommen war.«

»Aber was hatten die römische Krone und der Grabstein in einem osmanischen Wrack zu suchen?«, fragte Dirk.

»Ich glaube, dazu habe ich eine Theorie«, sagte Zeibig. »Soweit ich mich erinnere, verblieb Zypern noch lange nach dem Untergang des Römischen Reichs unter venezianischer Herrschaft. Aber die Osmanen erschienen und besetzten die Insel um 1570, zufälligerweise war dies genau das Datum, an dem unser Schiff untergegangen ist. Ich würde vermuten, dass die goldene Krone und die Steintafel eine alte Kriegsbeute waren, die zum amtierenden Sultan in Konstantinopel zurückgebracht werden sollte.«

»Wir können auf Grund des Manifests annehmen, dass Plautius den Auftrag hatte, den Transport der religiösen Reliquien für Helena zu organisieren«, sagte Gunn. »Die Stele aus dem Wrack bestätigt doch zusammen mit Dirks Papyrusfund, dass er sein Leben im Kampf gegen Piraten vor Zypern verlor. Ist es möglich, dass sämtliche Ereignisse während derselben Reise stattfanden?«

»Ich würde fast wetten, dass sich Angehörige der Scholae Palatinae, wie auch die Prätorianergarde, nie allzu weit von der Residenz des Kaisers entfernt haben, es sei denn, ungewöhnliche Umstände hätten es erfordert«, sagte Pitt.

»Wie zum Beispiel, um seine Mutter auf ihrer Reise nach Jerusalem zu beschützen«, sagte Summer.

»Was die goldene Krone erklären würde«, fügte Giordino hinzu. »Sie könnte ein Geschenk für Artrius während seiner Zeit als Gouverneur von Zypern gewesen sein, von Konstantin als Belohnung an ihn gesandt, für die Gefangennahme der Piraten, die Plautius getötet haben.«

»Derselben Piraten, die die Reliquien geraubt haben?«, fragte Gunn. »Das ist doch die eigentliche Frage. Wer hatte am Ende die Reliquien?«

»Ich habe mir einen flüchtigen historischen Überblick über die Objekte auf dem Manifest verschafft«, sagte Summer. »Während als echt eingestufte Fragmente des Heiligen Kreuzes in Dutzenden Kirchen überall in Europa ausgestellt und verehrt werden, konnte ich keinen Hinweis darauf finden, dass auch eines der im Manifest aufgeführten Objekte heute oder in der Vergangenheit öffentlich gezeigt wurde.«

»Demnach sind die Stücke zusammen mit Plautius verschwunden«, sagte Gunn.

»In dem in Caesarea gefundenen Bericht wurde vermerkt, dass die Piraten gefangen und auf ihrem eigenen Schiff in den Hafen gebracht wurden«, erzählte Dirk. »Die Decks des Schiffes waren blutbesudelt, und an Bord wurden römische Waffen gefunden. Sie waren wohl in einen Kampf mit Plautius verwickelt, aber was mit seinem Schiff geschah oder mit den Reliquien, wurde nirgendwo erwähnt.«

»Woraus man wahrscheinlich schließen kann, dass Plautius' römische Galeere versenkt wurde«, sagte Pitt.

Die Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden im Raum steigerte sich bei dieser Vorstellung schlagartig, wussten sie doch, dass wenn ein Mensch ein wichtiges Schiffswrack finden konnte, es dann dieser schlanke Bursche mit den grünen Augen war, der da vor ihnen saß.

»Dad, können wir vielleicht nach Abschluss des türkischen Projekts danach suchen?«, fragte Summer.

»Das könnte schon früher passieren, als du denkst«, sagte Gunn.

Summer wandte sich mit einem verwirrten Blick zu ihm um.

»Das türkische Umweltministerium hat uns informiert, dass sie eine umfangreiche Schadstoffverklappung durch eine große chemische Fabrik in Ciftlik, einer Stadt in der Nähe von Chios, beobachtet haben«, erklärte Pitt. »Rudi hat sich die Strömungsverhältnisse angesehen, und offenbar gibt es einen engen Zusammenhang mit der Todeszone, die wir in der Nähe des osmanischen Schiffswracks ausfindig gemacht und vermessen haben.«

»Die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Zusammenhang ist höher als fünfundneunzig Prozent«, bestätigte Gunn. »Die Türken haben uns höflich gebeten, im nächsten Jahr zurückzukommen, einige Wasserproben zu nehmen und zu testen. Aber zurzeit brauchen wir unsere Messungen nicht weiter durchzuführen.«

»Heißt das, wir kehren zu dem osmanischen Wrack zurück?«, fragte Summer.

»Dr. Ruppe organisiert ein formelles Ausgrabungsprojekt unter der Schirmherrschaft des Archäologischen Museums Istanbul«, sagte Pitt. »Bis er die notwendigen Genehmigungen aus dem Ministerium für Kultur und Tourismus vorliegen hat, empfiehlt er uns, sämtliche Tätigkeiten am Fundort des Wracks einzustellen.«

»Können wir dann unser Glück mit der römischen Galeere versuchen?«, fragte Summer aufgeregt.

»Wir haben uns verpflichtet, ein kleines Gebiet südlich von hier zu überprüfen«, sagte Pitt. »Das müssten wir in zwei oder drei Tagen erledigt haben. Vorausgesetzt natürlich, dass unser AUV wieder eingesetzt werden kann«, sagte er und schickte Gunn einen hoffnungsvollen Seitenblick.

»Dabei fällt mir etwas ein«, sagte Summer. »Ich habe deine Ersatzteile mitgebracht.«

Sie schob die beiden Pakete zu Gunn hinüber, der das erste sofort öffnete und hineinsah.

»Unsere Ersatz-Leiterplatte«, jubelte er. »Damit sind wir wieder im Geschäft und zurück im Wasser.«

Dann warf er einen Blick auf das andere Paket und schob es weiter zu Pitt hinüber.

»Das ist an dich adressiert, Chef.«

Pitt nickte, dann schaute er in die Runde. »Wenn unser AUV wieder funktioniert, sollten wir unser türkisches Wassertest-Projekt schnellstens abschließen«, sagte er mit einem verschmitzten Grinsen, »denn es ist ein weiter Weg nach Zypern.«

 

Eine Stunde später löste sich die Aegean Explorer langsam vom Kai in Canakkale. Pitt und Giordino verfolgten auf der Kommandobrücke, wie Kapitän Kenfield das Schiff aus den Dardanellen hinaus und dann nach Süden an der türkischen Küste entlangsteuerte. Sobald die Explorer die viel befahrene Meerenge hinter sich hatte, setzte sich Pitt wieder hin und öffnete das Expresspaket.

»Kekse von zu Hause?«, fragte Giordino und ließ sich Pitt gegenüber auf einen Stuhl sinken.

»Nicht ganz. Ich habe Hiram einiges über die Ottoman Star und die Suitana ausgraben lassen.«

Mit Hiram war Hiram Yaeger, der Chef des Computerwesens der NUMA, gemeint. In der NUMA-Zentrale in Washington betrieb Yaeger ein leistungsfähiges und ausgeklügeltes Computernetzwerk, das ozeanographische und Wetterdaten rund um den Globus aufzeichnete. Als geschickter Hacker hatte Yaeger außerdem eine besondere Fähigkeit zum Aufdecken von Geheimnissen — und hatte keinerlei Bedenken, sowohl legal zugängliche als auch nicht zugängliche Datenquellen zu nutzen, falls es notwendig sein sollte.

»Zwei Schiffe, die ich am liebsten auf dem Grund des Meeres sähe«, sagte Giordino. »Konnte Yaeger irgendetwas über sie in Erfahrung bringen?«

»Es scheint so«, erwiderte Pitt und überflog mehrere Dokumente. »Beide Schiffe sind offenbar in Liberia registriert, und zwar bei einer Briefkastenfirma. Yaeger konnte die Eigentümerschaft zu einem privaten türkischen Unternehmen namens Anatolia Export zurückverfolgen, der gleichen Firma, die die Polizei auch erwähnt hat. Diese Firma beliefert seit langem alle möglichen Handelspartner im Mittelmeerraum mit Textilien und anderen Waren. Sie besitzt ein Lagerhaus und ein Bürogebäude in Istanbul sowie einen Frachthafen an der Küste, in nächster Nähe der Stadt Kirte.«

»Ach ja, den Hafen kenne ich ganz gut«, sagte Giordino mit einem Grinsen. »Und wer betreibt den Laden?«

»Als Eigentümer wird ein Paar namens Ozden Celik und Maria Celik genannt.«

»Lass mich raten ... sie fahren einen Jaguar und rasieren am liebsten anderen Leuten mit einem Boot die Köpfe.«

Pitt holte ein Foto von Celik heraus, das Yaeger dem Bericht über die Konferenz eines türkischen Handelsverbandes entnommen hatte. Dann folgten einige Satellitenfotos von Celiks Grundbesitz.

»Das ist unser Mann«, sagte Giordino, als er das erste Foto betrachtete. »Was wissen wir sonst noch über ihn und seine Frau?«

»Maria ist seine Schwester. Und die Daten sind ein wenig mager. Yaeger meint, dass die Celiks große Geheimniskrämer sind und darauf achten, möglichst wenig aufzufallen. Er sagte, er habe sich ganz schön anstrengen müssen, um fündig zu werden.«

»Und wurde er?«

»Hör dir das mal an. Laut Ahnenforschung sollen die beiden Celiks Urenkel von Mehmed VI. sein.«

Giordino schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, den kenne ich nicht.«

»Mehmed VI. war der letzte herrschende Sultan des Osmanischen Reichs. Er und sein Clan wurden vom Thron gestoßen und aus dem Land vertrieben, als Atatürk 1923 an die Macht kam.«

»Und jetzt hat der arme Junge nichts anderes vorzuweisen als einen armseligen alten Frachter. Kein Wunder, dass er einen Komplex hat.«

»Er hat offensichtlich sehr viel mehr als das«, sagte Pitt. »Yaeger glaubt, dass das Paar zu den reichsten Personen des Landes gehört.«

»Ich vermute, einiges davon erklärt das fanatische Interesse an dem osmanischen Schiffswrack.«

»Und die Dreistigkeit des Überfalls auf den Topkapi-Palast. Obgleich es für all das vielleicht auch noch eine andere Motivation geben könnte.«

»Und welche?«

»Yaeger hat eine mögliche finanzielle Verbindung mit einer Marketing-Agentur in Istanbul gefunden. Diese Agentur wirbt für die Kandidatur von Mufti Battal bei der bevorstehenden Präsidentenwahl.«

Pitt ließ das Dokument sinken, das er soeben las. »Rey Ruppe in Istanbul hat uns von dem Mufti erzählt. Er hat eine umfangreiche fundamentalistische Gefolgschaft und wird in einigen Kreisen als gefährlich eingestuft.«

»Es schadet nie, wenn man Freunde mit tiefen Taschen hat. Ich frage mich, was wohl für Celik dabei herausspringt.«

»Eine Frage, auf die es vielleicht eine alles erhellende Antwort gibt«, sagte Pitt.

Er legte die letzte Seite des Berichts auf den Tisch und dachte über den reichen Türken und seine wilde Schwester nach, während Giordino einen Blick auf die Satellitenfotos warf.

»Wie ich sehe, ist die Ottoman Star in ihren Heimathafen zurückgekehrt«, stellte Giordino fest. »Ich frage mich nur, was der griechische Tanker zu bedeuten hat, der neben ihr liegt.«

Er schob das Foto über den Tisch, damit Pitt es betrachten konnte. Pitt warf einen Blick auf die Luftaufnahme von der nunmehr vertrauten Bucht und entdeckte den Frachter am Kai. Auf der anderen Seite lag ein kleines Tankschiff, dessen weiß-blaue Flagge am Mast deutlich sichtbar war. Die Flagge erregte seine Aufmerksamkeit, und Pitt studierte sie einen Augenblick lang, ehe er ein Vergrößerungsglas aus einem Regal hinter dem Kartentisch nahm.

»Das ist keine griechische Flagge«, sagte er. »Der Tanker kommt aus Israel.«

»Es ist mir völlig neu, dass Israel eine eigene Tankerflotte hat«, sagte Giordino.

»Haben Sie etwas von einem israelischen Tanker gesagt?«, fragte Kapitän Kenfield, der die Unterhaltung auf der anderen Seite der Kommandobrücke mitgehört hatte.

»Al hat einen in der Bucht unserer türkischen Freunde gefunden«, sagte Pitt.

Kenfields Gesicht wurde bleich. »Während wir im Hafen lagen, machte ein Alarmruf über einen israelischen Tanker die Runde, der vor der Küste in der Nähe von Manavgat verschwunden sein soll. Eigentlich ist das Schiff ein Wassertanker.«

»Ich kann mich erinnern, so einen vor ein paar Wochen mal gesehen zu haben«, meinte Pitt. »Wie groß ist das vermisste Schiff?«

»Der Name des Schiffes war Dayan, glaube ich«, sagte Kenfield, ging zum Computer und führte eine kurze Suche durch. »Sie hat achthundert Bruttoregistertonnen und ist rund einhundert Meter lang.«

Er drehte den Computermonitor, so dass Pitt und Giordino die Fotografie des Schiffes sehen konnten. Die Übereinstimmung war eindeutig.

»Die Fotos sind weniger als vierundzwanzig Stunden alt«, sagte Giordino, als er die Angabe des Datums auf dem Bild entdeckte.

»Kapitän, wie funktioniert Ihr abhörsicheres Satellitentelefon?«, wollte Pitt wissen.

»Einwandfrei. Wollen Sie jemanden anrufen?«

»Ja«, erwiderte Pitt. »Ich denke, es wird Zeit, dass wir mit Washington sprechen.«

 

57

 

»O'Quinn, wunderbar, dass Sie vorbeischauen. Kommen Sie rein und setzen Sie sich.«

Der Geheimdienstoffizier war überrascht, dass ihn der Vizepräsident der Vereinigten Staaten im Foyer des ersten Stocks im Eisenhower Executive Office Building begrüßte und ihn persönlich in sein Büro führte. Das Protokoll in Washington verlangte natürlich, dass ein Sekretär oder Adjutant einen rangniederen Besucher ins Allerheiligste der Nummer Zwei des Staates geleitete. Aber James Sandecker gehörte zu jener seltenen Spezies, die mit solchen Ritualen wenig anfangen konnte.

Sandecker war ein pensionierter Navy-Admiral und hatte Jahrzehnte zuvor die National Underwater and Marine Agency gegründet und zu einer mächtigen ozeanographischen Institution aufgebaut. Er hatte seine gesamte Umgebung überrascht, als er Pitt die Leitung der Agentur übertrug und selbst die Berufung ins Amt des Vizepräsidenten annahm, wo er hoffte, noch mehr für den Schutz der Weltmeere bewirken zu können. Eher klein gewachsen, aber von hitzigem Temperament und mit feuerrotem Haar und Spitzbart war Sandecker in der Hauptstadt zwar als ein wenig krachledern verrufen, aber dennoch hoch angesehen. O'Quinn hatte sich bei Geheimdienstbesprechungen oft darüber amüsiert, wie schnell und präzise der Vizepräsident ein Thema - oder einen Gesprächspartner - zerpflücken konnte, um zum Kern der jeweiligen Angelegenheit zu kommen.

Als er das Büro betrat, bewunderte O'Quinn zunächst die Kollektion der alten Ölgemälde von historischen Schiffen und Rennjachten, die die holzgetäfelten Wände bedeckte. Er folgte Sandecker zu seinem Schreibtisch und nahm ihm gegenüber Platz.

»Vermissen Sie die See sehr, Mr. Vice President?«

»Es gibt weiß Gott nicht wenige Tage, an denen ich es vorziehen würde, in einem Segelboot zu sitzen als an einem Schreibtisch«, erwiderte Sandecker, griff in eine Schublade und rammte sich eine Zigarre zwischen die Zähne. »Beobachten Sie wachsam die Vorgänge in der Türkei?«, fragte er auffallend direkt.

»Ja, Sir. Das gehört zu meinen Aufgaben, die diese Region betreffen.«

»Was wissen Sie über einen Spinner namens Ozden Celik?«

O'Quinn musste einen Moment lang überlegen. »Er ist ein türkischer Geschäftsmann, der mit Angehörigen der saudischen Königsfamilie befreundet ist. Wir nehmen an, dass er daran beteiligt ist, die fundamentalistische Glückseligkeitspartei von Mufti Battal zu finanzieren. Warum fragen Sie?«

»Er beabsichtigt offenbar auch noch einige andere Dinge. Wissen Sie von dem israelischen Tanker, der vor zwei Tagen verschwunden ist?«

O'Quinn nickte und erinnerte sich daran, dass der Vorfall in einem der täglichen Lageberichte erwähnt worden war.

»Das Schiff wurde in einem kleinen Frachthafen ein paar Meilen nördlich der Dardanellen gesichtet, der von Celik betrieben wird. Ich habe zuverlässige Hinweise, die daraufhinauslaufen, dass dieser Celik hinter dem kürzlich stattgefundenen Diebstahl muslimischer Artefakte aus dem Topkapi-Palast stecken soll.« Sandecker schnippte ein Satellitenfoto von dem Tanker quer über den Schreibtisch.

»Topkapi-Palast?«, wiederholte O'Quinn, und seine Augenbrauen stiegen in die Höhe wie ein Paar Zugbrücken. »Wir glauben, dass zwischen dem Topkapi-Raubzug und den jüngsten Bombenattentaten auf die Al-Azhar-Moschee und den Felsendom in Jerusalem eine Verbindung besteht.«

»Der Präsident ist sich dieser Möglichkeit ebenfalls bewusst.«

O'Quinn studierte das Satellitenfoto.

»Darf ich fragen, Sir, wie diese Information auf Ihren Tisch gelangt ist?«

»Über Dirk Pitt bei der NUMA. Zwei seiner Wissenschaftler wurden von Celiks Männern getötet, ein dritter wurde entführt und zu diesem Frachthafen gebracht«, antwortete Sandecker und deutete auf das Foto. »Pitt hat den Mann herausgeholt und dabei einen Container voll Plastiksprengstoff in dem Hafen entdeckt. Eine Army-Lieferung HMX, um genau zu sein.«

»HMX ist der Sprengstoff, der bei den Attentaten auf die Moscheen zum Einsatz kam«, ergänzte O'Quinn aufgeregt.

»Ja, das sagten Sie schon während der Besprechung beim Präsidenten.«

»Anscheinend vertritt Celik die Interessen von Mufti Battal. Mir ist völlig klar, dass die anonymen Moschee-Attacken unter Verwendung unseres Sprengstoffs einen Versuch darstellen, die Fundamentalisten im Nahen Osten und speziell in der Türkei aufzustacheln. Sie wollen offensichtlich die öffentliche Meinung beeinflussen, um Battal zum Präsidentenamt zu verhelfen.«

»Das ist ein logisches Motiv. Deshalb bereitet uns dieser entführte israelische Tanker auch so große Sorgen.«

»Haben wir uns schon mit der türkischen Regierung in Verbindung gesetzt?«

»Nein«, entgegnete Sandecker und schüttelte den Kopf. »Der Präsident befürchtet, dass jede Aktion unsererseits als amerikanischer Versuch gewertet werden könnte, den Ausgang der Wahl zu beeinflussen. Offen gesagt wissen wir gar nicht, wie weit Battals Verbindungen bei der gegenwärtigen Regierung reichen. Das Risiko ist einfach zu hoch und das Rennen zu eng, um eine mögliche Gegenreaktion auszulösen, die seine Partei an die Macht bringt.«

»Aber unsere Analysten sind der Meinung, dass der Mufti eine reelle Chance hat, die Wahl auch so zu gewinnen.«

»Der Präsident weiß das, aber er hat trotzdem angeordnet, dass sich die USA bis nach der Wahl jeglicher Reaktion enthalten.«

»Es gibt gewisse geheime Kanäle, die wir benutzen können«, protestierte O'Quinn.

»Auch das wurde als zu riskant verworfen.«

Sandecker nahm die Zigarre aus dem Mund und inspizierte das zerkaute Ende. »Das ist die Entscheidung des Präsidenten, O'Quinn, nicht meine.«

»Aber wir können doch nicht einfach wegsehen.«

»Deshalb habe ich Sie ja auch hierher gerufen. Ich nehme an, Sie unterhalten gewisse Kontakte zum Mossad?«, fragte er.

»Ja, natürlich.« O'Quinn nickte.

Sandecker lehnte sich über den Schreibtisch, und seine hellblauen Augen fixierten den Geheimdienstoffizier beschwörend.

»Dann würde ich vorschlagen, dass Sie einmal ernsthaft in Erwägung ziehen sollten, diese Kontakte anzurufen und sie davon in Kenntnis zu setzen, wo sich der verschollene Tanker befindet.«

 

58

 

Rudi Gunn hatte die Reparatur der schadhaften Sensoren des AUV bis zum Einbruch der Nacht - und kurz bevor die Aegean Explorer ihr Suchgebiet zwanzig Meilen südöstlich von Canakkale erreicht hatte - abgeschlossen. Das AUV wurde zu Wasser gelassen, und die Schiffsmannschaft nahm ihre Vierundzwanzig-Stunden-Suchroutine auf. Als die Mitternachtsschicht ihren Dienst antrat, hatte sich die Kommandobrücke bis auf den zweiten Offizier des Schiffes sowie einen Rudergänger geleert.

Das Schiff zog mit mäßigem Tempo nach Norden, als der Rudergänger plötzlich mit offenem Mund auf den Radarschirm starrte.

»Sir, ein Schiff ist soeben an Backbord aufgetaucht, weniger als eine Viertelmeile entfernt«, sprudelte er aufgeregt hervor. »Ich schwöre, vor einer Minute war es noch nicht dort.«

Der Brückenoffizier schaute auf den Radarschirm, sah eine kleine Amöbe aus gelbem Licht, die fast mit dem Punkt in der Mitte des Schirms, der die Aegean Explorer darstellte, verschmolz.

»Wo um alles in der Welt ist der Kahn denn hergekommen?«, platzte er heraus. »Ruder zwanzig Grad steuerbord«, befahl er eilig, denn er hatte Angst, dass das andere Schiff genau auf sie zusteuerte.

Während der Rudergänger am Ruderrad des Schiffes kurbelte, trat der Offizier an das an Backbord gelegene Fenster der Kommandobrücke und blickte hinaus. Der Mond und die Sterne wurden von niedrigen Wolken verhüllt, die das Meer mit Dunkelheit zudeckten. In Erwartung, die Lichter des Schiffes in ihrer Nähe deutlich erkennen zu können, sah der Offizier jedoch nichts als schwarze Nacht.

»Der Idiot hat keine Fahrlichter eingeschaltet«, stellte er fest und suchte das Meer vergeblich nach einem Schatten ab. »Ich versuche mal, sie über Funk zu rufen.«