»Das würde ich nicht empfehlen«, bellte hinter ihm eine scharfe Stimme mit der Andeutung eines hebräischen Akzents.
Der Offizier fuhr geschockt herum und sah zwei Männer in schwarzen Tarnanzügen, die die Kommandobrücke auf der Steuerbordseite betraten. Der größere der beiden, ein Mann mit schmalem Gesicht und eingefallenen Wangen, trat vor. Der Eindringling blieb ein paar Schritte von dem Offizier entfernt stehen und richtete eine leichte Maschinepistole auf seine Brust.
»Ihr Rudergänger soll wieder auf den alten Kurs gehen«, sagte der Elitesoldat, und der strenge Ausdruck seiner dunklen Augen unterstrich diese Forderung noch. »Ihrem Schiff droht keine Gefahr.«
Der Offizier nickte dem Rudergänger widerstrebend zu. »Gehen Sie wieder auf ursprünglichen Kurs«, sagte er. Dann stammelte er, an den Soldaten gewandt: »Was tun Sie auf unserem Schiff?«
»Wir suchen einen Mann namens Pitt. Bringen Sie ihn auf die Brücke.«
»Es ist niemand an Bord, der diesen Namen hat«, log der Offizier. Der Kommandosoldat machte einen Schritt auf ihn zu.
»Dann schicke ich meine Männer weg, und wir versenken das Schiff«, drohte er mit leiser Stimme.
Der Offizier fragte sich, ob das nur eine leere Drohung war. Aber ein Blick in die kampferprobten Augen des Soldaten ließ keinen Zweifel daran, dass es immerhin eine Möglichkeit war, mit der er rechnen musste. Mit einem widerwilligen Kopfnicken löste der Offizier den Rudergänger am Steuer ab, damit dieser Pitt holen konnte. Der zweite Soldat folgte dem Rudergänger, als er die Kommandobrücke über die hintere Treppe verließ.
Ein paar Minuten später wurde Pitt hereingebracht. Mühsam gebändigter Zorn glühte in seinen verschlafenen Augen.
»Mr. Pitt? Ich bin Lieutenant Lazio von den Special Forces der israelischen Marine.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Sie nicht ausdrücklich an Bord willkommen heiße, Lieutenant«, erwiderte Pitt lakonisch.
»Ich entschuldige mich für unser Eindringen, aber wir brauchen in einer sehr heiklen Mission Ihre Hilfe. Mir wurde versichert, dass man in den höchsten Kreisen Ihrer Regierung mit Ihrer Mitarbeit einverstanden ist.«
»Ich verstehe. Aber wenn das wirklich so ist, war dann dieses mitternächtliche Affentheater wirklich nötig?«, fragte Pitt.
»Wir operieren ohne offizielle Befugnis in türkischen Gewässern. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass unser Einsatz geheim bleibt.«
»Okay, Lieutenant, dann legen Sie Ihre Waffen beiseite und verraten Sie mir, worum es geht.«
Zögernd ließ der Kommandosoldat sein Gewehr sinken und gab seinem Partner ein Zeichen, diesem Beispiel zu folgen.
»Wir haben den Befehl, die Rettung der Mannschaft des israelischen Tankers Dayan zu organisieren. Dabei kam uns zu Ohren, dass Sie mit den Örtlichkeiten vertraut sind, an denen das Schiff festgehalten wird.«
»Ja, in der Bucht nördlich der Dardanellen. Liegt das Schiff noch immer dort?«
»Geheimdienstberichte während der letzten zehn Stunden bestätigen das.«
»Warum nutzen Sie keine diplomatischen Kanäle, um ihre Freilassung zu erreichen?«, fragte Pitt scheinheilig mit der Absicht, dem Mann weitere Informationen zu entlocken.
»Ihre Regierung hat uns Informationen zukommen lassen, dass zwischen den Entführern und dem jüngsten Bombenanschlag auf den Felsendom in Jerusalem möglicherweise eine Verbindung besteht. Die Meldung von einem Sprengstoffvorrat in dem geheimen Frachthafen weist in den Augen unserer Geheimdienstexperten auf weitere geplante Anschläge hin.«
Pitt nickte, da ihm klar war, dass es eine fatale Verzögerung zur Folge haben könnte, Celik durch offizielle Kanäle zu verfolgen. Der Türke hatte ganz offensichtlich nichts Gutes im Sinn, und Pitt war nichts lieber, als ihn so bald wie möglich aus dem Verkehr zu ziehen.
»Na schön, Lieutenant, ich helfe Ihnen gern.« Er wandte sich zum zweiten Offizier um. »Rogers, bitte setzen Sie den Kapitän davon in Kenntnis, dass ich das Schiff verlassen habe. Übrigens eines noch, Lieutenant, wie sind Sie überhaupt an Bord gekommen?«
»Wir haben mit einem kleinen Schlauchboot an der Steuerbordseite festgemacht. Wir könnten einfacher ablegen, würde Ihr Schiff seine Fahrt ein wenig drosseln.«
Rogers entsprach der Bitte, dann stand er auf der Brückennock und verfolgte, wie Pitt und mehrere Schatten über die Reling kletterten und lautlos in der Nacht verschwanden. Nur kurze Zeit später rief ihn der Rudergänger zum Radarschirm.
»Es ist weg«, sagte der Mann und starrte verständnislos auf den Schirm.
Rogers betrachtete das leere bläuliche Leuchten des Radardisplays und nickte. Irgendwo auf dem offenen Meer war Pitt zusammen mit dem geheimnisvollen Schiff scheinbar spurlos verschwunden. Hoffentlich, so betete er im Stillen, nur für kurze Zeit.
59
Die Tekumah kehrte sofort wieder in sichere Tiefen zurück. Sie war ein U-Boot der Dolphin-Klasse, gebaut in der HDW-Werft in Kiel, und gehörte zu der Handvoll U-Boote, die in der israelischen Marine im Einsatz waren. Ausgestattet mit einem dieselelektrischen Antrieb und relativ klein, war sie trotzdem mit raffiniertester Elektronik und Waffentechnik vollgepackt, die sie zu einem furchtbaren Unterwassergegner machten.
Das Schlauchboot hatte kaum den Rumpf des U-Boots berührt, da hievten wartende Mannschaftsangehörige Pitt und die Kommandosoldaten bereits auf das Deck und halfen ihnen durch eine Luke ins Schiffsinnere, während das Schlauchboot in einem wasserdichten Abteil verstaut wurde. Pitt hatte gerade in der engen Offiziersmesse des U-Boots Platz genommen, als das Tauchkommando schon durch das stählerne Vehikel hallte.
Lazio deponierte seine Waffen an einem sicheren Ort, dann brachte er zwei Tassen Kaffee zum Tisch und ließ sich Pitt gegenüber auf einen Stuhl fallen. Er griff in einen Aktenordner, der auf dem Tisch lag, und holte ein Satellitenfoto von Celiks Frachthafen heraus, das dem ähnelte, welches Pitt von Yaeger erhalten hatte.
»Wir werden mit zwei kleinen Teams reingehen«, erklärte der Israeli. »Eins wird den Tanker durchsuchen und das andere die Anlagen an Land. Können Sie mir etwas über die Gebäude erzählen?«
»Nur wenn ich Sie begleiten darf«, erwiderte Pitt.
»Ich habe nicht die Befugnis, Ihnen das zu gestatten.«
»Sehen Sie, Lieutenant«, sagte Pitt und musterte den Soldaten kühl, »ich bin nicht nur wegen einer Spazierfahrt in einem Unterseeboot mitgekommen. Celiks Männer haben zwei meiner Wissenschaftler getötet und einen dritten gekidnappt. Seine Schwester hat meine Frau mit Waffengewalt entführt. Und dann hat er genug Hochleistungssprengstoff gehortet, um einen Dritten Weltkrieg zu entfesseln. Ich verstehe ja, dass Sie die Mannschaft der Dayan befreien wollen, aber bei dieser Geschichte steht noch sehr viel mehr auf dem Spiel.«
Lazio schwieg einige Sekunden lang. Er hätte niemals erwartet, jemanden wie Pitt an Bord des Forschungsschiffes anzutreffen. Dieser Mann war alles andere als ein versponnener, durchgeistigter Wissenschaftler, sondern jemand, der offensichtlich auch mit den heikleren Bereichen des Lebens vertraut war und dort erfolgreich seinen Mann stand.
»In Ordnung«, erwiderte der Soldat schließlich.
Pitt nahm das Foto zur Hand und erklärte ihnen die innere Aufteilung der Lagerhäuser und des steinernen Verwaltungsgebäudes ganz genau.
»Können Sie etwas über irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen sagen?«, fragte Lazio.
»Zuerst einmal ist es eine funktionierende Hafenanlage, aber wir sind auf eine größere Anzahl bewaffneten Personals gestoßen. Ich vermute, dass sie vorwiegend zu Celiks persönlicher Leibwache gehörten, aber einige waren sicherlich zur Bewachung der Anlage abkommandiert. Ich würde mit einer kleinen, aber schwerbewaffneten Sicherheitstruppe rechnen. Lieutenant, kennen sich Ihre Leute mit Zerstörungstaktiken aus?«
Der Soldat lächelte. »Wir sind die Schajetet 13. Sabotageakte sind ein wesentlicher Teil unserer Ausbildung.«
Pitt hatte schon von der israelischen Spezialeinheit gehört, die in ihrer Funktion den U.S. Navy SEALS ähnelte. Er erinnerte sich, dass sie wegen des Fledermaus-Zeichens, das sie an ihren Uniformen trugen, auch die Bat Men genannt wurden.
»Angehörige meiner Regierung machen sich wegen eines Containers HMX-Sprengstoff, den wir in diesem Lagerhaus gefunden haben, große Sorgen«, sagte Pitt und deutete auf das Foto.
Lazio nickte. »Die Befehle für unsere Mission lauten nur auf Rettung der Gefangenen, aber die Beseitigung des Sprengstoffs ist von gemeinsamem Interesse. Wenn er sich noch dort befinden sollte, werden wir uns darum kümmern«, versprach er.
Ein gedrungener Mann in Offiziersuniform kam in die Messe und musterte die beiden Männer mit freudloser Miene.
»Lazio, wir sind in vierzig Minuten im Aufmarschgebiet.«
»Danke, Captain. Übrigens, das ist Dirk Pitt von dem amerikanischen Forschungsschiff.«
»Willkommen an Bord, Mr. Pitt«, sagte der Kapitän ohne sichtbare Gefühlsregung. Er wandte sich sofort wieder an Lazio. »Sie haben etwa zwei Stunden Dunkelheit, um Ihre Mission durchzuführen. Ich warne Sie, ich will mich bei Tagesanbruch auf keinen Fall mehr über Wasser blicken lassen.«
»Captain, ich kann Ihnen eins versprechen«, erwiderte der Elitesoldat mit einem Ausdruck kühler Arroganz. »Wenn wir nicht spätestens nach neunzig Minuten zurück sind, können Sie ohne uns abfahren.«
60
Lazio irrte sich zwar hinsichtlich der Dauer der Mission, aber nicht so, wie er es erwartet hatte.
Zwei Meilen nordwestlich der Bucht tauchte die Tekumah auf und setzte zum zweiten Mal in dieser Nacht ihren Kommandotrupp ab. Mit einem unauffälligen schwarzen Tarnanzug bekleidet, begleitete Pitt das achtköpfige Rettungsteam, das sich auf zwei Schlauchboote verteilte und das U-Boot in schneller Fahrt hinter sich ließ. Vor der Einfahrt in die Bucht schaltete jeder Pilot den Außenbordmotor seines Bootes aus und startete dafür einen geräuschlosen batteriebetriebenen Motor.
Während sie in die Bucht glitten, warf Pitt einen enttäuschten Blick auf den Pier, dann flüsterte er Lazio etwas ins Ohr.
»Er ist weg.«
Der israelische Soldat fluchte leise, als er sah, dass Pitt recht hatte. Es war nicht nur so, dass der Tanker verschwunden war, sondern der gesamte Pier war leer. Die Gebäude am Ufer erschienen ebenfalls dunkel und unbewohnt.
»Alpha Team, ändere Landung in gemeinsame Uferaufklärung um«, funkte er an das andere Boot. »Zugewiesenes Ziel ist das östliche Lagerhaus.«
Es bestand zwar immer noch die Chance, dass die Tanker-Crew an Land gefangen gehalten wurde, aber er wusste, dass er sich falsche Hoffnungen machte. Der Erfolg jeder verdeckten Operation, das wusste er aus jahrelanger Erfahrung, hing von der Qualität der Geheimdienstinformationen ab. Und diesmal hatte der Nachrichtendienst anscheinend versagt.
Die beiden Boote ereichten ein paar Meter vom Pier entfernt das Ufer, ihre Insassen krabbelten so geräuschlos wie Geister an Land. Pitt folgte Lazios Truppe, als sie sich dem Steingebäude näherte und schließlich wild hineinstürmte. Pitt, der das Geschehen aus dem Vorgarten verfolgte, erkannte schon am Klang, dass das Gebäude genauso leer und verlassen war wie der restliche Hafen. Er ging zum westlichen Lagerhaus und hörte hinter sich die leichten Schritte Lazios, als dieser sich der Tür näherte.
»Wir haben dieses Gebäude noch nicht durchsucht«, flüsterte der Israeli warnend.
»Es ist genauso leer wie die anderen«, erwiderte Pitt, riss die Tür auf und trat ein.
Als er die Innenbeleuchtung einschaltete, sah Lazio, dass Pitts Einschätzung zutraf. Ihr Licht enthüllte, dass das höhlenartige Gebäude bis auf einen einzigen großen Stahlcontainer am Ende leer war.
»Ihr Sprengstoff?«, fragte der Soldat.
Pitt nickte. »Hoffen wir, dass er noch voll ist.«
Sie gingen durch das Lagerhaus zu dem Container, wo Pitt den Türriegel beiseiteschob. Er fasste nach dem Griff, um die Tür aufzuziehen, als plötzlich eine Gestalt herausdrang und ihn, eine von einer Kiste abgebrochene Holzlatte schwingend, angriff. Pitt schaffte es im letzten Moment noch, dem Schlag auszuweichen, dann drehte er sich um, um sich zu revanchieren. Doch ehe er seinerseits zuschlagen konnte, erschien wie aus dem Nichts Lazios Stiefelspitze und versank in der Magengrube des Angreifers. Dieser blies zischend die Luft aus, als er von den Füßen gehoben und gegen die Seitenwand des Containers geschleudert wurde. Widerstandslos ließ er seine armselige Waffe fallen, als sich die Mündung von Lazios automatischer Waffe in seine Wange bohrte.
»Wer sind Sie?«, bellte Lazio.
»Ich heiße Levi Green. Ich bin Matrose auf der Dayan. Bitte nicht schießen«, flehte er.
»Idiot«, murmelte Lazio und zog seine Waffe zurück. »Wir sind hier, um Sie zu befreien.«
»Ich... es tut mir leid«, sagte er, an Pitt gewandt. »Ich dachte, Sie seien ein Hafenarbeiter.«
»Was haben Sie in dem Container gemacht?«, fragte Pitt.
»Wir wurden gezwungen, seinen Inhalt - Kisten mit Sprengstoff - auf die Dayan umzuladen. Ich habe mich hier drin versteckt... in der Hoffnung, irgendwann fliehen zu können. Aber sie haben die Tür verriegelt, und so saß ich in der Falle.«
»Wo sind die anderen Mannschaftsmitglieder?«, wollte Lazio wissen.
»Keine Ahnung. Zurück auf dem Schiff, nehme ich an.“
»Der Tanker ist nicht mehr hier.«
»Sie haben das Schiff umgebaut«, berichtete Green, in dessen Augen noch immer nackte Angst zu lesen war. »Sie haben die vorderen Tanks aufgeschnitten und sie mit Säcken voller Heizöl gefüllt. Dann mussten wir die Sprengstoffkisten innen aufstapeln.«
»Was meinen Sie mit Säcken voller Heizöl?«, fragte Pitt.
»Da waren Kisten über Kisten von diesem Zeug in Fünfzig-Pfund-Säcken. Laut Aufschrift irgendeine Heizölmixtur. Ammonium oder so.“
»Ammoniumnitrat?«, fragte Pitt. »Ja, so hieß das Zeug.«
Pitt wandte sich an Lazio. »Ammonium Nitrate Fuel Oil, oder kurz ANFO. Ein billiger, aber hochwirksamer Sprengstoff«, sagte er und erinnerte sich an die verheerenden Folgen der Explosion einer Lastwagenladung dieses Materials für das Murrah Federal Building in Oklahoma City im Jahr 1995.
»Wie lange waren Sie in dem Container?«, fragte Lazio den Matrosen.
Green schaute auf seine Uhr. »Etwas über acht Stunden.«
»Das bedeutet, dass sie einen Vorsprung von rund hundert Meilen haben dürften«, rechnete Pitt schnell.
Lazio bückte sich, packte Green am Kragen und zog ihn auf die Füße.
»Sie kommen mit uns. Los, gehen wir.«
Zwei Meilen weit auf See bemerkte der Kapitän der Tekumah zu seiner Erleichterung, dass sich die Bat Men weniger als eine Stunde nach ihrem Aufbruch dem Rendezvouspunkt näherten. Aber seine freudige Reaktion verflog sehr schnell, als Lazio und Pitt das Verschwinden der Dayan meldeten. Die Radarprotokolle des U-Boots wurden hastig überprüft, und das Signal des Automatischen Identifikationssystems wurde abgerufen, aber weder das eine noch das andere lieferte irgendwelche Hinweise auf den Standort des Tankers. Die drei Männer setzten sich und studierten die Karte des westlichen Mittelmeers.
»Ich alarmiere das Oberkommando der Marine«, sagte der Kapitän. »Sie sind vielleicht nur noch wenige Stunden von Haifa oder Tel Aviv entfernt.«
»Ich glaube, diese Vermutung ist falsch«, sagte Pitt. »Wenn sich Geschichte wiederholt, dann wollen Sie das Schiff eher an irgendeinem muslimischen Ort sprengen, damit es wie ein von Israel verübter Anschlag aussieht.«
»Falls sie dafür ein bedeutendes Bevölkerungszentrum suchen, dürfte Athen am nächsten liegen«, sagte Lazio.
»Nein, Istanbul ist noch ein wenig näher«, meinte Pitt nach einem Blick auf die Karte. »Hinzu kommt, dass es eine muslimische Stadt ist.«
»Aber sie würden doch wohl kaum ihre eigenen Landsleute angreifen«, sagte der Kapitän verächtlich.
»Celik hat bisher nicht den geringsten Mangel an Skrupellosigkeit bewiesen«, hielt ihm Pitt entgegen. »Wenn er bereits Moscheen in seinem Heimatland und in der gesamten umliegenden Region gesprengt hat, gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er auch bereit ist, weitere Tausende seiner eigenen Landsleute zu töten.«
»Ist der Tanker so gefährlich?«, fragte der Kapitän.
»Im Jahr 1917 ist ein mit Kriegsmunition beladenes französisches Schiff im Hafen von Halifax in Brand geraten. Über zweitausend Einwohner in Hafennähe kamen ums Leben. Die Dayan hat sicherlich das Zehnfache der Sprengkraft dieses französischen Frachters an Bord. Und wenn sie mit Kurs auf Istanbul unterwegs ist, dann wartet ein großstädtischer Ballungsraum mit über zwölf Millionen Menschen auf sie.«
Pitt zeigte auf die Karte und deutete auf den Seeweg nach Istanbul. »Bei einer Geschwindigkeit von zwölf Knoten dürfte sie noch zwei oder drei Stunden von der Stadt entfernt sein.«
»Für uns oder unsere Boote ist das bereits viel zu weit entfernt, um sie noch einzuholen«, sagte der Kapitän, »nicht dass ich nicht ohnehin Kurs durch die Dardanellen nehmen würde. Ich fürchte, das Beste, was wir tun können, ist, die griechischen und die türkischen Behörden von der Lage zu unterrichten, während wir schnellstens die türkischen Gewässer verlassen. In der Zwischenzeit können wir es den Spionagesatelliten überlassen auszurechnen, wohin genau die Dayan unterwegs ist.«
»Was ist mit der Mannschaft?«, fragte Lazio.
»Lieutenant, ich fürchte, es gibt nicht mehr viel, das wir tun können«, erwiderte der Kapitän.
»Drei Stunden«, murmelte Pitt vor sich hin, während er die Route nach Istanbul studierte. »Captain, wenn ich auch nur eine geringe Chance haben will, den Tanker einzuholen, dann muss ich sofort auf mein Schiff zurückkehren.«
»Sie einholen?«, fragte Lazio. »Aber wie denn? Ich habe auf Ihrem Schiff keinen Helikopter gesehen.«
»Keinen Helikopter«, erwiderte Pitt mit entschlossener Stimme. »Aber etwas, das fast genauso schnell ist wie ein abgefeuertes Geschoss.«
61
Die Bullet raste wie ein startendes Wasserflugzeug übers Meer. Das Boot mit sicherer Hand am Steuerknüppel dirigierend, während hinter ihm die mit voller Kraft arbeitenden Zwillingsdieselmotoren laut heulten, schickte Pitt seinem Freund Giordino vom Pilotensitz aus einen kurzen Blick.
»Du hast dich in der Höchstgeschwindigkeit ein wenig geirrt«, sagte er und musste fast schreien, um verstanden zu werden.
Giordino reckte den Hals zum Navigationsschirm, wo eine kleine Anzeige verkündete, dass sie mit dreiundvierzig Knoten unterwegs waren.
»Es ist immer besser, zu untertreiben und dann mehr zu liefern als angekündigt«, erwiderte er mit einem schmalen Grinsen.
Dagegen hatte Lieutenant Lazio auf dem Passagiersitz hinter ihnen wenig Grund zu Heiterkeit. Der bullige Elitesoldat kam sich wie in der Rührschüssel einer Küchenmaschine vor, während die Bullet über die Wellen tanzte und rollte. Ständig darum kämpfend, sich in seinem Sitz zu halten, entdeckte er endlich die Sicherheitsgurte und schnallte sich an - in der Hoffnung, auf diese Weise einen Anfall von Seekrankheit vermeiden zu können.
Pitt hatte kurz durchatmen können, als ihn die Tekumah zur Aegean Explorer zurückbrachte. Die Bullet war bereits aufgetankt und startbereit. Nachdem er Giordino geweckt hatte, brachten sie das Boot schnellstens zu Wasser. Als Lazio schließlich begriff, dass Pitt die reelle Chance hatte, den Tanker rechtzeitig einzuholen, hatte er schnell darauf bestanden, sie zu begleiten.
Es dauerte nicht lange, und sie jagten mitten in der Nacht durch die belebte Meerenge der Dardanellen. Bei ihrem verzweifelten Wettrennen nach Istanbul waren sie immer wieder gezwungen, irgendwelchen Schiffen auf ihrem Kurs auszuweichen. Es kostete Pitt seine gesamte Konzentration und Energie, die Bullet in voller Fahrt und auf Kurs zu halten, während er sich zwischen Tankern und Handelsschiffen, die in beiden Richtungen fuhren, hindurchschlängelte. Helle Xenonscheinwerfer verbesserten die Sicht, und Giordino lieferte ein zweites Augenpaar, um kleinere Schiffe oder etwaiges Treibgut im Wasser aufzuspüren.
Selbstverständlich war es nicht unbedingt die Art und Weise, wie Pitt diese historische Wasserstraße gerne kennen gelernt hätte. Dank seiner Begeisterung für Geschichte wusste er, dass sowohl Xerxes als auch Alexander der Große ihre Heere in entgegengesetzten Richtungen über diese Meerenge, seinerzeit bekannt als Hellespont, geführt hatten. Nicht weit von Canakkale entfernt, auf dem südwestlichen Ufer, hatte Troja gestanden, Schauplatz des Trojanischen Krieges. Und weiter im Norden, auf dem gegenüberliegenden Ufer, befanden sich die Strände, auf denen die Invasion Gallipolis durch die Alliierten während des Ersten Weltkriegs fehlgeschlagen war. Die Strände und die kahlen Berghänge verschwammen vor Pitts Augen, dessen Blicke zwischen dem Navigationsschirm und den schwarzen Wellen, die in rasender Folge unter dem dahinjagenden Bootsrumpf verschwanden, hin und her sprangen.
Die Meerenge der Dardanellen öffnete sich bald zum Marmarameer. Pitt entspannte sich ein wenig, da er nun mehr Platz hatte, um zwischen den weit verstreuten Schiffen zu manövrieren, und war dankbar, dass die See weitgehend ruhig blieb. Als sie die nördliche Spitze der Insel Marmara passierten, wurde er für einen Augenblick von Rudi Gunns ruhiger Stimme abgelenkt, die aus dem Lautsprecher des Funkgeräts drang.
»Aegean Explorer ruft Bullet«, sagte Gunn.
»Hier ist Bullet. Was hast du für mich, Rudi?«, meldete sich Pitt über sein Headset.
»Ich kann dir eine vorsichtige Bestätigung geben. Hiram hat ein aktuelles Satellitenbild gefunden, welches das in Frage kommende Schiff bei der Einfahrt in die Dardanellen zeigt.«
»Weißt du, um welche Uhrzeit das war?«
»Etwa um dreiundzwanzig Uhr Ortszeit«, erwiderte Gunn.
»Vielleicht solltest du Sandecker anrufen.«
»Habe ich bereits getan. Er sagte, er wolle hier drüben mal einige Leute wecken.«
»Das sollte er schnellstens tun. Es ist gut möglich, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Danke, Rudi.«
»Passt auf euch auf und sauft nicht ab. Explorer Ende.«
»Wir können nur hoffen, dass Celik nicht die türkische Armee und die Küstenwache gleich mitgekauft hat«, murmelte Giordino.
Pitt fragte sich, wie weit Celiks korrupte Einflussnahme wirklich reichte, aber er konnte zu diesem Zeitpunkt wenig dagegen tun. Er warf einen Blick auf den Navigationsschirm und stellte fest, dass ihr Tempo auf siebenundvierzig Knoten angestiegen war, da der Treibstoffvorrat der Bullet merklich abgenommen hatte und sie infolgedessen entsprechend leichter geworden war.
»Können wir sie abfangen, wenn es sein muss?«, fragte Lazio.
Pitt sah auf seine Uhr. Es war vier Uhr morgens. Eine schnelle Berechnung sagte ihm, dass beide Schiffe bei ihrer jeweiligen Höchstgeschwindigkeit Istanbul in etwa einer Stunde erreichen würden.
»Ja«, antwortete er.
Aber er wusste, dass es knapp werden würde. Verdammt knapp sogar.
62
Diesmal würde sich der Fehlschlag von Jerusalem nicht wiederholen, dachte Maria. Im Licht der Deckbeleuchtung des Tankers versenkte sie sorgfältig ein Dutzend Sprengkapseln in separaten Blöcken von HMX-Plastiksprengstoff. Sie verdrahtete jede Kapsel mit einem eigenen elektronischen Zeitzünder. Dann schaute sie auf die Uhr, richtete sich auf und blickte über den Bug des Schiffes. Vor ihr am Horizont erstreckte sich ein Gewimmel blinkender weißer Lichtpunkte unter einem dunstigen schwarzen Himmel. Die Lichter von Istanbul waren jetzt weniger als zehn Meilen weit entfernt. Sie kniete sich aufs Deck und stellte die Zeituhren auf eine Verzögerung von zwei Stunden. Dann aktivierte sie die Zünder.
Sie packte die Ladungen in einen kleinen Kasten und kletterte in den offenen Teil des vorderen Backbordwassertanks hinab. Der Boden des Tanks war mit Kisten bedeckt, die mit Ammonium Nitrate Fuel Oil gefüllt waren, und sie musste sich durch ein Labyrinth von Paletten schlängeln, um in die Mitte des Tanks zu gelangen. In einer Nische fand sie einen Stapel Holzfässer, in denen sich dreitausend Pfund HMX befanden. Sie vergrub eine der Zündladungen in dem mittleren Fass, dann verteilte sie vier weitere Ladungen auf Kisten, die in der Nähe standen und mit ANFO gefüllt waren. Schließlich begab sie sich zum Steuerbordtank und tat das Gleiche mit den restlichen Ladungen, wobei sie darauf achtete, dass sie alle gut getarnt und nicht zu sehen waren.
Danach kehrte sie auf die Kommandobrücke des Schiffes zurück, als ihr Mobiltelefon klingelte. Sie war nicht im Mindesten überrascht, dass es ihr Bruder war, der mit ihr sprechen wollte.
»Ozden, du bist aber früh auf den Beinen«, meldete sie sich.
»Ich bin unterwegs in mein Büro, um mir das Geschehen persönlich anzusehen.«
»Stell dich nicht zu nahe ans Fenster. Man kann nicht sicher sein, wie stark die Explosion ist.«
Maria konnte ihren Bruder kichern hören. »Ich bin sicher, dass diesmal niemand enttäuscht sein wird. Bist du im Zeitplan?«
»Ja, wir operieren genau nach Drehbuch. Die Lichter von Istanbul sind schon zu sehen. Ich habe es so eingerichtet, dass das Ereignis in weniger als zwei Stunden stattfinden wird.«
»Exzellent. Die Jacht ist unterwegs. Sie sollte dich in Kürze abholen. Kommst du zu mir?«
»Nein«, erwiderte Maria. »Ich denke, es ist besser, wenn die Mannschaft und ich mit der Suitana für eine Weile in der Versenkung verschwinden. Wir werden das Boot zur sicheren Aufbewahrung nach Griechenland bringen, aber ich bin dann rechtzeitig zur Wahl zurück.«
»Unser Ziel kommt näher, Maria. Schon bald werden wir die Früchte unserer Arbeit ernten und genießen können. Lebewohl, Schwester.“
»Bis später, Ozden.«
Während sie die Verbindung unterbrach, dachte sie kurz über ihre seltsame Beziehung nach. Sie waren zusammen auf einer einsamen griechischen Insel aufgewachsen und hatten sich naturgemäß als Geschwister nahe gestanden. Diese Nähe hatte sich noch verstärkt, als ihre Mutter schon in jungen Jahren gestorben war. Ihr strenger, fordernder Vater hatte hohe Erwartungen in sie beide gesetzt, aber er hatte Ozden stets wie einen König im Wartestand behandelt. Vielleicht war sie deshalb immer die stärkere Persönlichkeit von beiden gewesen, die sich mit geballten Fäusten durch ihre Jugend kämpfen und für ihren Vater eher ein zweiter Sohn als eine Tochter sein musste. Selbst jetzt, während ihr Bruder sein luxuriöses Büro aufsuchte, war sie es, die das Kommando über das Schiff hatte und die Mission leitete. Sie hatte schon immer im Hintergrund gekämpft, während ihr Bruder in der ersten Reihe saß. Aber das machte ihr nichts aus, denn sie wusste nur zu gut, dass Ozden ohne sie nichts war. Wie sie auf der Kommandobrücke stand und über den breiten Bug des Tankers auf die Lichter von Istanbul blickte, spürte sie, dass jetzt gerade sie es war, in deren Händen alle Macht lag, und sie würde jede Minute davon auskosten.
Doch ihre Selbstsicherheit erhielt einen kleinen Riss, als das Funkgerät des Schiffes plötzlich zu plärren begann.
»Küstenwache Istanbul ruft Tanker Dayan. Küstenwache Istanbul ruft Tanker Dayan. Bitte melden Sie sich.«
Ein wütender Ausdruck glitt über ihr Gesicht, dann wandte sie sich um und befahl dem Rudergänger: »Ruf die Janitscharen.«
Sie ignorierte den Funkruf, drehte sich um, studierte den Schirm des Tanker-Radars und bereitete sich geistig auf die bevorstehende Auseinandersetzung vor.
Die mitternächtlichen Warnungen aus Israel und den Vereinigten Staaten, auf diplomatischem Weg übermittelt, wurden sofort an die türkische Küstenwache weitergeleitet. Deren Kommandozentrum in Istanbul versicherte, dass alle sich nähernden Schiffe weit vor der Stadt gestoppt und sorgfältig durchsucht werden würden. Ein schnelles Patrouillenboot wurde eilends losgeschickt, um — begleitet von einem Polizeiboot - südlich des Bosporus Wache zu halten.
Die Spannung erhöhte sich noch, als ein großes unbekanntes Schiff mit Kurs nach Norden auf dem Radarschirm erschien. Es erregte sofort Verdacht, als man feststellte, dass der Sender des Automatischen Identifikationssystems deaktiviert war. Als wiederholte Funkrufe unbeantwortet blieben, wurde das kleinere und schnellere Polizeiboot abkommandiert, um das Schiff zu kontrollieren.
Während sich das Boot dem Schiff näherte, erkannte die Polizei schon bald an seinen Umrissen und den Fahrlichtern, dass es sich um einen Tanker der gleichen Größe wie die Dayan handelte. Das Polizeiboot flitzte unter den hohen Flanken des Tankers entlang und umrundete dann sein Heck. Der Polizeikommandant registrierte die israelische Flagge, die am Mast an achtern flatterte, während er den in weißen Lettern aufgemalten Schiffsnamen auf dem Heckspiegel las.
»Es ist die Dayan«, teilte er über Funk dem Patrouillenboot der Küstenwache mit.
Das allerdings sollten die letzten Worte gewesen sein, die er in seinem Leben gesprochen hatte.
63
Das Deck der Dayan und ihre Fahrlichter verdunkelten sich, kurz bevor der Geschosshagel losbrach. Eine Reihe bewaffneter Janitscharen erschien an der Heckreling des Tankers und eröffnete sofort das Feuer auf das kleine Polizeiboot. Der Kapitän des Bootes starb als Erster, niedergemäht von einem direkten Feuerstoß durch die Windschutzscheibe der Kommandobrücke. Ein anderer Polizeibeamter, der auf dem Deck stand, wurde nur einen kurzen Moment später niedergestreckt. Er erhielt einen Treffer in den Rücken, ehe er überhaupt wusste, was geschah. Ein anderer Mann auf dem Deck, ein erfahrener Polizeioffizier, reagierte schneller, ging mit einem Sprung hinter dem Dollbord in Deckung und erwiderte das Feuer mit seiner Dienstpistole. Aber auch er fand den Tod, als das Boot seitlich wegtrieb, er seine Deckung einbüßte und alle Janitscharen ihre Feuerstöße auf ihn konzentrierten.
Die Schüsse verstummten für einen Moment, als der vierte und letzte Mann an Bord des Polizeiboots von unten heraufstieg. Er sah seine Kameraden und kam mit hoch erhobenen Händen an Deck. Er war jung und noch nicht lange im Dienst, und seine Stimme zitterte, als er die Mörder anflehte, nicht zu schießen. Doch seine Bitte wurde mit einer kurzen Salve beantwortet, und er brach auf dem Deck zusammen, mit seinen Kameraden im Tod vereint.
Das ausgestorbene Polizeiboot schlingerte mehrere Minuten lang wie ein verwaistes Entenküken hinter dem Tanker her. In seinem Steuerhaus krächzten wiederholt Anfragen der Küstenwache aus dem Lautsprecher, Rufe, die auf tote Ohren trafen. Das Kielwasser des großen Tankers schob seinen Bug schließlich zur Seite, und das schwimmende Leichenhaus schaukelte dem westlichen Horizont ziellos entgegen.
Der Lärm der Schüsse war Hammets Weckruf. Der israelische Tankerkapitän befand sich seit Stunden in einem Zustand tiefster Qual und Angst, seit er und seine Mannschaft gezwungen worden waren, in die Messe zurückzukehren, nachdem sie die Sprengstoffkisten an Bord gebracht hatten und in See gestochen waren. Er wusste, dass die bewaffneten Türken, wer auch immer sie sein mochten, sein Schiff in eine Selbstmordbombe verwandelt hatten, und dass die israelische Mannschaft gleich mit in die Luft gesprengt werden würde.
Der Kapitän und sein Erster Offizier hatten sich zwar leise über Fluchtpläne unterhalten, doch ihre Möglichkeiten waren begrenzt. Das Wächterpaar an der Tür erschien erheblich aufmerksamer als vorher und wurde alle zwei Stunden gegen ein neues Paar ausgetauscht. Das Essen war den Gefangenen gestrichen worden, sie durften sich nicht mehr der Seitenwand der Messe nähern und aus dem Bullauge blicken.
Um diese späte Uhrzeit ruhte der größte Teil der Tankermannschaft auf dem Fußboden und schlief. Hammet lag zwischen seinen Männern, aber Schlaf war das, wozu er jetzt am wenigsten aufgelegt war. Er stellte sich jedoch schlafend, als die Tür aufging und ein Mann den Wächtern aufgeregt etwas zuflüsterte. Die beiden Männer standen auf, gingen sofort hinaus und ließen die israelischen Seeleute für eine Weile unbewacht zurück.
Hammet sprang augenblicklich auf die Füße.
»Alles aufwachen«, sagte er leise und schüttelte den Ersten Offizier und die Männer in seiner Nähe wach. Während die halb benommene Mannschaft schwankend auf die Beine kam, versammelte Hammet sie in der Nähe der Tür und skizzierte in knappen Worten einen Plan. »Zev, nehmen Sie die Männer und sehen Sie zu, ob Sie mit ihnen unbemerkt das Rettungsfloß an achtern flottmachen und damit verschwinden können«, befahl er seinem Stellvertreter. »Ich schleiche mich runter in den Maschinenraum und sehe nach, ob ich das Schiff irgendwie lahmlegen kann. Sie haben den Befehl, ohne mich von Bord zu gehen, wenn ich nicht innerhalb von zehn Minuten zu Ihnen stoße.«
Der Erste Offizier wollte schon protestieren, als ein Lärm von heftigem Gewehrfeuer vom Schiffsheck herüberdrang.
»Nutzen Sie diesen Moment«, schnitt ihm Hammet eilig das Wort ab. »Überqueren Sie mit den Männern das Deck und versuchen Sie, das Schlauchboot an Backbord flottzumachen. Vielleicht müssen Sie es auch nur über Bord werfen, weil wir ja im Augenblick Fahrt machen.«
»Das wird für einige Männer aber ein verdammt gefährlicher Sprung ins Meer.«
»Holen Sie sich ein paar Rettungsleinen und Schwimmwesten aus den Geräteschränken, dann können sie sich langsam runterlassen. Und jetzt Tempo!«
Hammet wusste, dass ihnen allenfalls Minuten, wenn nicht nur Sekunden blieben, und so drängte er die Männer hastig aus der Schiffskantine. Als ihn der letzte Mann passiert hatte, trat er aufs Deck hinaus und schloss die Tür hinter sich. Sie standen an der Basis des hohen Heckaufbaus in der Nähe der Steuerbordreling. Der Erste Offizier führte die Mannschaft schnell nach vorn und über das Deck, wobei sie sich dicht am Heckaufbau hielten, um von der Kommandobrücke aus nicht gesehen zu werden. Hammet machte kehrt und entfernte sich in die andere Richtung, um sich einen sicheren Weg zum Maschinenraum zu suchen.
Der Lärm von Maschinengewehrfeuer zerhackte noch immer die Luft, und als er die Rückseite des Deckaufbaus erreichte, konnte er an der Reling ein halbes Dutzend Männer stehen und ins Wasser schießen sehen. Er duckte sich und lief eilig zu einer Seitentür, hinter der sich eine Treppe befand. Mit wild schlagendem Herzen rannte er die Stufen hinunter, passierte dabei drei Decks, ehe er in einen breiten Laufgang gelangte. Eine Tür zum Maschinenraum befand sich gleich vor ihm. Er näherte sich ihr und öffnete sie langsam. Er wurde von einem Schwall warmer Luft und einem dumpfen mechanisch erzeugten Dröhnen empfangen, während er über die Schwelle trat und sich wachsam umsah.
Hammet hatte die ganze Zeit gehofft, dass die Entführer für ihre Einwegfahrt keinen Hilfsmaschinisten engagiert hatten, und er hatte sich nicht getäuscht. Der Maschinenraum war leer. Schnell stieg er eine Treppe mit geriffelten Stufen hinunter, stand schließlich vor dem mächtigen Dieselmotor des Schiffes und überlegte, was er tun solle. Es gab verschiedene Möglichkeiten, die Maschine zu stoppen, aber ein plötzliches Versagen würde sicherlich sofort einen Alarm auslösen. Er brauchte also einen Verzögerungseffekt, damit die Mannschaft genug Zeit hätte, um vorher zu fliehen.
Dann blickte er an der Maschine vorbei zu zwei großen Dieseltanks, die den Raum vor der Maschine wie zwei riesige liegende Getreidesilos ausfüllten.
»Natürlich«, murmelte er vor sich hin und setzte sich mit einem Funkeln in den Augen in Bewegung.
64
Nach weniger als zehn Minuten hatte Hammet die Treppe wieder erklommen und ließ den Blick über das Achterdeck schweifen. Die Schüsse waren längst verstummt, und er sah keinen der Janitscharen, was ihn beunruhigte. Jenseits der Heckreling entdeckte er den Schatten eines kleinen Boots, das langsam von dem Tanker wegtrieb und, wie er zu Recht annahm, das Ziel des Gewehrfeuers gewesen war.
Eilig ging er an der Rückwand des Deckaufbaus entlang zur Backbordseite. Ein Blick um die Ecke verriet ihm, dass es hier leer war. Zwei Seile, die an der Reling verknotet waren und über die Seite hinabhingen, machten ihm Hoffnung, dass die Mannschaft bereits hatte fliehen können. Aber sein Mut sank, als er das aufblasbare Rettungsfloß noch immer in seinem Gestell vor der Wand des Deckaufbaus liegen sah. Er schob sich vorsichtig näher heran, blickte über die Reling, um nachzuschauen, ob noch jemand an den Seilen hing. Doch er sah unter sich nur Wasser.
Ein Schuss erklang, ehe er ihn spürte, ein kurzer, knapper Schlag, erzeugt von einer Pistole ganz in der Nähe. Blut rann an seinem Bein hinab, ehe er den brennenden Schmerz spürte, der durch seinen Oberschenkel pulsierte. Sein Bein wurde schnell wabbelig und gab nach, und er sackte auf das andere Knie, während eine Gestalt aus dem Wandschatten heraustrat.
Maria kam herüber und hielt die Pistole auf Hammets Brust gerichtet.
»Ein bisschen spät für einen Spaziergang, Kapitän«, sagte sie kühl. »Sie sollten sich lieber zu Ihren Kameraden begeben.« Hammet starrte sie zutiefst enttäuscht an. »Warum tun Sie das?«, rief er.
Sie ignorierte seine Frage, während zwei Janitscharen, von den Schüssen alarmiert, angerannt kamen. Auf Marias Befehl packten sie Hammet, schleiften ihn über das Deck und deponierten ihn in der Schiffsmesse. Dort traf er seine verzweifelte Mannschaft mit langen Gesichtern auf dem Boden sitzend an. Ein Wächter marschierte mit schussbereiter Maschinenpistole vor den Gefangenen auf und ab.
Die Janitscharen ließen den Kapitän brutal fallen und bezogen dann wieder ihre Posten rechts und links neben der Tür. Der Erste Offizier der Dayan kam eilends herüber und half Hammet, sich hinzusetzen, während ein Sanitäter der Mannschaft seine Beinwunde notdürftig versorgte.
»Ich hatte gehofft, Sie nicht mehr hier anzutreffen«, sagte Hammet und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz durch sein Bein fuhr.
»Entschuldigung, Käpt'n. Diese Männer am Heck haben aufgehört zu schießen, gerade als wir die Leinen über die Reling warfen. Wir wurden entdeckt, ehe wir auch nur die Chance hatten, das Rettungsfloß zu Wasser zu lassen.«
Obwohl die Blutung seiner Beinwunde gestoppt worden war, spürte Hammet, wie sein Körper in den Schock zu gehen drohte. Er atmete mehrmals tief durch und versuchte sich zu entspannen.
»Hat Ihr Plan wenigstens geklappt?«, fragte der Erste Offizier.
Der Kapitän betrachtete sein verwundetes Bein, dann zwang er sich zu einem mühsamen Kopfnicken.
»Ich glaube, das könnte man sagen«, erwiderte er, wobei seine Augen glasig wurden und seine Stimme zitterte. »Ich glaube, dass unsere Reise schon sehr bald zu Ende sein wird — so oder so.«
65
Drei Meilen weiter nördlich rief das türkische Küstenwachboot wiederholt sowohl die Dayan als auch das Polizeiboot. Aber ohne Erfolg. Als der Brücke die Beobachtung von Mündungsfeuer in der Ferne gemeldet wurde, befahl der Kapitän des Bootes sofortige Maßnahmen, um den Tanker anzuhalten.
Während das Küstenwachboot mit Höchstgeschwindigkeit auf das große Schiff zuhielt, wurde die am Bug aufgestellte 30-Millimeter-Kanone bemannt und eine Entermannschaft zusammengestellt. Das Boot drehte eine schnelle Runde um den Tanker und näherte sich ihm dann, als kein Polizeiboot gesichtet wurde, von Steuerbord. Der Kapitän wandte sich per Lautsprecher an die Dayan.
»Hier ist Küstenwachboot SG-301. Ihnen wird hiermit befohlen beizudrehen und Vorbereitungen zu treffen, Besucher an Bord aufzunehmen«, rief er.
Während der Kapitän der Küstenwache abwartete, um zu sehen, ob die Dayan langsamer wurde, machte sich sein Zweiter Offizier bemerkbar.
»Von Steuerbord nähert sich ein anderes Schiff!«
Der Kapitän sah sich um und erkannte eine dunkle Luxusjacht, die das Boot der Küstenwache kurz überholte und sich dann dahinter zurückfallen ließ.
»Sagen Sie ihm, er soll verschwinden, wenn er nicht Bekanntschaft mit dem Meeresgrund machen will«, befahl der Kapitän gereizt. Seine Aufmerksamkeit wurde schnell wieder auf den Tanker gelenkt, als über ihnen an der Reling plötzlich eine Gestalt auftauchte.
Zur Überraschung des Kapitäns war es eine Frau, die dem Boot zuwinkte und versuchte, ihm etwas zuzurufen. Der Kapitän trat auf die Brückennock hinaus, dann winkte er seinem Rudergänger.
»Bringen Sie uns näher ran, ich kann sie nicht verstehen.«
Maria musste lächeln, als sich das Küstenwachboot bis auf wenige Meter an den Rumpf des Tankers heranschob. Auf ihrem Platz an der Reling stand sie hoch über dem viel kleineren Schiff, konnte jedoch direkt in den Raum der Kommandobrücke hineinblicken.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, rief sie den Offizieren zu, die jetzt beide auf der Brückennock standen.
Ohne auf eine Antwort zu warten bückte sie sich nach einer kleinen Reisetasche neben ihren Füßen und schleuderte sie schnell über die Reling. Ihr Wurf war nahezu perfekt. Die Tasche flog in einem eleganten Bogen auf einen der Offiziere zu, der sie geschickt auffing. Sie wartete eine Sekunde, bis sie sah, wie der Offizier die Tasche öffnete, dann ließ sie sich einfach aufs Deck fallen und bedeckte den Kopf mit den Armen.
Die folgende Explosion erhellte den Nachthimmel mit einem grellen Blitz, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Maria blieb in Deckung, bis die herumfliegenden Trümmer vom Himmel gefallen waren, bevor sie einen Blick über die Seitenreling warf. Das Küstenwachboot war ein Schauplatz vollständiger Vernichtung. Die Explosion hatte den gesamten Aufbau weggefegt und sämtliche Männer, die dort gestanden hatten, zerfetzt. Rauch wallte von einem Dutzend kleiner Feuer, die die elektrischen Komponenten des Bootes verschlangen, zum Himmel empor. Auf dem restlichen Teil des Bootes rappelten sich benommene und mit Brandwunden gezeichnete Matrosen auf, nachdem der Explosionsdruck sie umgeworfen hatte.
Maria kroch auf ihrem Schiff zu einem Laufgang, dann schob sie den Kopf durch eine offene Tür.
»Jetzt!«, schrie sie.
Ihre kleine Truppe Bewaffneter stürmte durch die Tür, rannte zur Reling und beharkte mit ihren Gewehren die benommenen Seeleute auf dem kleineren Schiff. Das Gefecht war nur von kurzer Dauer, da die Besatzung der 30-Millimeter-Kanone schnell ausgelöscht wurde, gefolgt von der Entermannschaft. Ein paar von den Matrosen erholten sich schnell von dem Schreck und erwiderten das Feuer. Aber sie hatten einen ungünstigen Schusswinkel, durch den sie jeder Deckung beraubt waren. Innerhalb weniger Minuten waren sie überwältigt, und das Patrouillenboot war ausschließlich mit toten und verwundeten Männern bedeckt.
Maria befahl ihren Schützen, das Feuer einzustellen, dann sprach sie in ein tragbares Funkgerät. Sekunden später tauchte die blaue Jacht neben dem Patrouillenboot auf, wurde langsamer und begann behutsam gegen den Bug des Küstenwachboots zu drücken. Nur ein paar Schubser waren notwendig, ehe das Patrouillenboot am Rumpf des Tankers entlangschrammte. Ohne Antrieb verlor das Boot schnell an Schwung und glitt an der Flanke des Tankers entlang zu seinem Heck.
Die Jacht drosselte ebenfalls das Tempo, schob sich nach und nach vor das Küstenwachboot und drückte es weiter gegen die Dayan, bis das Heck des Tankers über ihm aufragte. Die Jacht wartete, bis sich der Bug des Bootes ganz hinter das Heck schob, dann versetzte sie ihm unter Einsatz der Steuerstrahldüsen am Bug einen heftigen Stoß. Das Boot drehte sich nach links und geriet in das flache Wasser direkt hinter dem Tankerheck. Ein gedämpftes Poltern erklang unter der Wasseroberfläche, als sich die mächtige Bronzeschraube des Tankers in den Rumpf des Küchenwachboots fraß.
Mit seinem von den Toten und Verwundeten blutüberströmten Deck und dem qualmenden Steuerhaus vollführte das Küstenwachboot plötzlich einen Satz und sackte schwer nach Steuerbord. Nur wenige Schreie hallten durch die Nacht, als sein Bug hochstieg und dann das ganze Schiff auf sein Heck zurücksank und unter den Heckwellen des Tankers verschwand, als hätte es nie existiert.
66
Nachdem sie zwei Stunden lang mit Höchstgeschwindigkeit durch die Nacht gerast waren, begann sich sowohl die physische wie auch mentale Erschöpfung bei Pitt bemerkbar zu machen. Sie hatten mehr als die Hälfte des Marmarameeres hinter sich, wo sie auf stärkeren Seegang getroffen waren, der die Bullet alle paar Sekunden hoch in die Luft hatte springen lassen. Auf dem Rücksitz hatte Lazio endlich seinen Magen beruhigt, fühlte sich jedoch von den ständigen Schlägen gegen den Rumpf des U-Boots wie nach einem Zwölf-Runden-Boxkampf gegen einen überlegenen Gegner.
Ihre Hoffnungen lebten auf, als sie den Funkverkehr des Küstenwachboots auf dem internationalen Notrufkanal aufschnappten.
»Ich glaube, ich habe gehört, wie sie die Dayan gerufen haben«, sagte Giordino und drehte die Lautstärke des VHF-Geräts hoch, um über dem Brüllen der Motoren der Bullet irgendetwas verstehen zu können.
Während der nächsten Minuten hörten sie aufmerksam zu, wie die wiederholten Fragen an die Dayan unbeantwortet blieben. Ein paar Minuten später nahm Giordino am Horizont einen kleinen weißen Blitz wahr.
»Hast du das gesehen?«, fragte er Pitt.
»Ich habe genau vor uns etwas Weißes aufblinken sehen.«
»Ich finde, es sah wie ein Feuerball aus.«
»Eine Explosion?«, fragte Lazio und beugte sich vor. »Ist es der Tanker?«
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Pitt. »So groß war der Blitz nicht. Aber wir sind zu weit entfernt, um etwas Genaues erkennen zu können.«
»Es könnte in einer Entfernung von mehr als zehn Meilen passiert sein«, pflichte Giordino ihm bei. Er blickte auf den Navigationsschirm und gewahrte die Einfahrt in den Bosporus am oberen Rand der digitalen Seekarte. »Damit stünden sie ziemlich dicht vor Istanbul.«
»Woraus sich ergibt, dass wir immer noch einen Rückstand von einer Viertelstunde haben«, sagte Pitt.
Es wurde still in der Kabine, als auch das Funkgerät nichts mehr übertrug. Ebenso wie seine Mitinsassen konnte er nur vermuten, dass es den zuständigen türkischen Behörden nicht gelungen war, den Tanker zu stoppen. Es schien durchaus möglich, dass nur noch sie es in der Hand hatten, eine katastrophale Explosion zu verhindern, die den Tod von einigen zehntausend Menschen zur Folge haben konnte. Aber was sollten drei Männer in einem kleinen U-Boot dagegen ausrichten können?
Pitt verdrängte diesen Gedanken aus seinem Bewusstsein, während er sich vergewisserte, dass die Gashebel bis zum Anschlag nach vorn geschoben waren, als er einem direkten Weg zu den funkelnden Lichtern von Istanbul folgte.
67
Maria ging auf der Kommandobrücke des Tankers auf und ab. Rasende, nur mühsam unterdrückte Wut ließ ihr Gesicht wie aus Stein gemeißelt aussehen.
»Ich hatte nicht mit einer Einmischung der Küstenwache gerechnet«, schimpfte sie. »Wie konnten sie wissen, dass wir uns genähert haben?«
Ein kleiner Mann mit fahlem Gesicht, der den Tanker steuerte, schüttelte den Kopf.
»Es ist ja bekannt, dass die Dayan vermisst wird. Durchaus möglich, dass man uns auf einem anderen Schiff erkannt und die Küstenwache benachrichtigt hat. Vielleicht ist es sogar ganz gut so. Dann werden die Behörden sofort davon ausgehen, dass die Israelis für die Attacke verantwortlich sind.«
»Ich denke, das ist richtig. Trotzdem können wir uns keine weitere Störung erlauben.«
»Das Funkgerät ist still geblieben. Ich glaube nicht, dass sie noch Gelegenheit hatten, jemanden zu alarmieren«, sagte der Steuermann. »Außerdem zeigt das Radar, dass vor uns keine Schiffe sind.«
Er blickte aus dem Seitenfenster und bemerkte die Lichter der Jacht nur wenige Meter von der Schiffsmitte des Tankers entfernt.
»Die Suitana meldet einige leichte Beschädigungen, die während des Kontakts mit dem Küstenwachboot entstanden sind«, berichtete er, »aber sie halten sich bereit, um uns jederzeit aufzunehmen.«
»Wie lange noch, bis wir umsteigen können?«
»Ich werde die Geschwindigkeit des Schiffes drosseln, wenn wir in den östlichen Bosporus-Kanal einfahren. Sie können dann Vorbereitungen fürs Umsteigen treffen, während ich das Schiff auf das Goldene Horn ausrichte und den Autopiloten programmiere. Ich schätze, das Schiff wird in einer Viertelstunde in Position sein.«
Maria sah auf die Uhr. Die elektronischen Zünder sollten in gut einer Stunde explodieren.
»Sehr schön«, sagte sie. »Dann wollen wir keine Zeit verlieren.«
68
Blass purpurne Streifen hellten den dunkelgrauen Himmel auf, während die Sonne am östlichen Horizont aufstieg. Überall in Istanbul erhoben sich fromme Muslime von ihren Nachtlagern, um noch vor Sonnenaufgang eine üppige Mahlzeit zu sich zu nehmen. Die Muezzine würden die Gläubigen in Kürze mit ihrem leiernden Gesang zum Morgengebet ins Gotteshaus rufen. Die Moscheen würden mehr Besucher haben als sonst, da der islamische Kalender anzeigte, dass man sich in der letzten Woche des Ramadan befand.
Der Name Ramadan bezeichnet den neunten Monat des islamischen Kalenders, in dem laut Überlieferung Mohammed die ersten Verse des Koran übermittelt wurden. Anhänger wollen in diesem Monat eine größere Nähe zu Gott erreichen, indem sie sich während der Tagesstunden einem strengen Fastenritus unterziehen. Der Akt der Selbstreinigung wird aber nicht nur durch das Fasten gefördert, sondern auch durch die Ausführung guter Taten zum Wohle anderer. Besondere Speisen und Geschenke werden Freunden und Verwandten überreicht, während den Armen Spenden und Hilfe zuteil werden. Aber nur wenige Kilometer von den historischen Moscheen der Stadt entfernt traf Maria Celik Vorbereitungen, um der Welt ihre ganz eigene Art von Wohltätigkeit zu schenken.
Der israelische Tanker schob sich dicht an der asiatischen Küste in die Einfahrt des Bosporus. Als das Goldene Horn in Sicht kam, nahm der Steuermann des Tankers etwas Fahrt zurück.
»Jetzt ist es so weit«, sagte er zu Maria.
Die starke Strömung des Bosporus von Süden zum Schwarzen Meer bremste das große Schiff schnell bis auf Kriechfahrt herunter. Maria versammelte mehrere Männer auf der Steuerbordseite und ließ eine stählerne Fallreepstreppe an der Seite hinunter. Die Jacht kam sofort heran und hielt sich am Fuß der Treppe in einer konstanten Position.
»Schließt die Gefangenen ein, und dann bringt die restlichen Männer vom Schiff«, befahl sie einem der Janitscharen, danach kletterte sie auf die heruntergelassene Treppe.
Sie stieg die stählernen Stufen hinab, dann wurde ihr von einem Mannschaftsmitglied an Bord geholfen. Auf dem Weg zum Ruderhaus wurde sie von ihren gemieteten irakischen Gangstern erwartet. Selbst bei dieser morgendlichen Dunkelheit trug der Mann namens Farzad seine gewohnte Sonnenbrille.
»Haben Sie in Griechenland alles vorbereitet?«, wollte sie von ihnen wissen.
»Ja«, antwortete Farzad. »Wir können über Thios unauffällig ins Land gelangen. Für die Suitana wurde ein sicherer geschlossener Liegeplatz reserviert, und für Ihre Weiterfahrt nach Athen sind entsprechende Arrangements getroffen worden. Ihr Rückflug nach Istanbul geht in drei Tagen.«
Maria nickte, als sie die übrigen Janitscharen die Treppe herabklettern und auf die Jacht springen sah. Die Männer, die die Tanker-Crew bewacht hatten, waren unauffällig abgezogen worden. Die Tür zur Messe hatte man mit Ketten gesichert.
Auf der Kommandobrücke der Dayan beobachtete der Steuermann, wie der letzte der Janitscharen das Schiff verließ, dann gab er der Jacht ein Zeichen, dass er den Kurs ändern wolle. Während die Suitana zeitweise auf Distanz zum Tanker ging, steigerte der Steuermann die Maschinendrehzahl auf halbe Kraft und richtete den Bug des Tankers nach Westen aus. Indem er die Süleyman-Moschee als Ziel eingab, programmierte er den Autopiloten und aktivierte ihn.
Gerade wollte er die Brücke verlassen, als er auf dem Armaturenbrett ein Blinken wahrnahm. Er warf einen Blick auf das Warnlicht und schüttelte den Kopf.
»Daran kann ich jetzt nichts mehr ändern«, murmelte er, dann kletterte er schnell die Treppe hinunter, sprang auf die wartende Motorjacht und überließ die massige Dayan ihren eigenen technischen Geräten.
69
Die Bullet zog eine Fahne weißer Gischt hinter sich her, als sie durch die Einfahrt des Bosporus jagte. Die wenigen angelbegeisterten Frühaufsteher verfolgten gebannt, wie das seltsame Tauch-Schnellboot im ersten ungewissen Licht des Tages an ihnen vorbeirauschte.
Pitt suchte den Horizont ab, als er ein mit hohem Tempo näher kommendes Boot bemerkte.
»Irgendwie kommt mir das Profil bekannt vor«, meinte er zu Giordino.
Während die italienische Motorjacht mit Höchsttempo nach Süden zog, passierten die beiden Schiffe einander in knappem Abstand.
»Das ist ganz sicher Celiks Jacht«, bestätigte Giordino.
»Höchstwahrscheinlich verlässt sie den Ort des Verbrechens«, sagte Pitt.
»Möglicherweise ist das ein Hinweis darauf, dass uns nicht mehr allzu viel Zeit bleibt«, sagte Giordino und musterte Pitt gespannt von der Seite.
Pitt sagte nichts und verdrängte den selbstmörderischen Aspekt der Annäherung an ein zur schwimmenden Bombe umfunktioniertes Schiff, während er sich einen Plan zurechtlegte, um es zu stoppen.
»Das dahinten muss sie sein.«
Es war Lazio, der jetzt einen Arm hob und knapp am Bug der Bullet vorbei nach Backbord deutete. In zwei Meilen Entfernung konnten sie sehen, wie das Heck eines großen Tankers soeben hinter einer Erhebung auf der westlichen Küstenlinie verschwand.
»Sie schicken sie ins Goldene Horn«, sagte Pitt, nachdem jegliche Zweifel an der Mission des Tankers beseitigt waren.
Seit über zweitausend Jahren das nasse Herz von Istanbul, ist der berühmte Hafen von den Stadtvierteln mit der größten Bevölkerungsdichte umgeben. Auf einen Kurs mit der Süleyman-Moschee als Ziel programmiert - die nur zwei Blocks vom Ufer entfernt steht -, würde die Explosion des Tankers nicht nur das historische Bauwerk zerstören, sondern auch die halbe Million Menschen, die im Umkreis von einer Meile um das Explosionszentrum wohnten, ins Verderben stürzen.
Aber noch war die steuermannslose Dayan nicht dort angekommen. Soeben war sie um Haaresbreite der Kollision mit einer frühmorgendlichen Fähre entgangen, als sich die Bullet ihr von hinten näherte. Pitt bemerkte, dass der Fährbootkapitän wütend die Faust schüttelte und den Tanker mit seinem Horn anblökte, da er offenbar nicht ahnte, dass sein Ruderhaus leer war.
»Kein Anzeichen, dass irgendwer an Bord ist«, sagte Giordino und verrenkte sich fast den Hals, als er versuchte, auf dem Deck und am Deckaufbau des Tankers etwas zu erkennen.
Pitt lenkte auf der Suche nach einer Zugangsmöglichkeit die Bullet an der Backbordflanke des Tankers entlang, dann wechselte er auf die Steuerbordseite. Giordino deutete sofort auf die Fallreepstreppe, die im hinteren Bereich der Flanke zum Wasser herabhing.
»Besser, als an einem Seil hochzuklettern«, sagte Giordino.
Pitt lenkte das Tauchboot dicht an die Treppenstufen.
»Das Ruder gehört dir, Al«, sagte er. »Bleib in der Nähe... aber nicht zu nah.«
»Bist du ganz sicher, dass du an Bord gehen willst?«
Pitt nickte entschlossen.
»Lazio«, sagte er zu dem Kommandosoldaten. »Mit Ihrer Erfahrung versuchen wir, die Bomben zu entschärfen. Falls das nicht klappt, werde ich probieren, den Tanker in Pachtung Marmarameer zu lenken, und dann können wir abhauen.«
»Aber bitte keine unnötigen Besichtigungstouren«, sagte Giordino, während sie durch die hintere Luke hinauskletterten.
»Ich ruf dich auf Kanal 86, falls ich dich brauche«, sagte Pitt, ehe er sich aus der Kabine schlängelte.
»Ich werde die Ohren spitzen«, erwiderte Giordino.
Pitt kroch am Backbordponton entlang, bis er die heruntergelassene Treppe erreichte, fasste nach dem Geländer und zog sich hoch. Lazio folgte ihm auf den Fersen. Pitt rannte die Treppe hinauf, dann sprang er auf das Tankerdeck und blickte in Fahrtrichtung. Er sah sofort die beiden in den Stahl geschnittenen Öffnungen, die Green beschrieben hatte und in denen die tödliche Sprengstoffmischung lagerte.
Gib uns Zeit, dachte er, während Lazio ihm im Laufschritt zu den zweckentfremdeten Wassertanks folgte. »Gib uns nur ein wenig Zeit.«
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Der Janitschar näherte sich Maria nur zögernd, da er Hemmungen hatte, ihre Unterhaltung mit dem Kapitän der Jacht zu stören. Als sie bemerkte, wie er ihr allmählich lästig nahe kam, fuhr sie schließlich herum und funkelte ihn wütend an. »Was ist los?«
»Miss Celik, das Boot, das uns gerade entgegenkam, Sie erinnern sich? Ich... ich glaube, es ist dasselbe Boot, das die Eindringlinge im Hafen von Kirte benutzt haben.«
Marias Mund öffnete sich, aber nur für einen kurzen Moment. Sie wirbelte herum, sah aus dem hinteren Fenster und erhaschte gerade noch einen letzten Blick auf die Bullet, als diese den Felsvorsprung umrundete und dann ins Goldene Horn einbog.
Sie blickte den Jachtkapitän mit vor Wut lodernden Augen an.
»Sofort umdrehen«, fauchte sie. »Wir fahren zurück.«
Pitt wusste nicht, wo er anfangen sollte. Der vordere an Backbord gelegene Laderaum wirkte wie ein Rattenlabyrinth in Augenhöhe. Zwei Meter hohe Paletten, bepackt mit schweren Säcken voll ANFO, standen überall herum, offensichtlich in großer Hast eingeladen. Irgendwo in der Mitte war das hochwirksame HMX versteckt. Und daran befestigt, so hoffte Pitt, ein nicht zu übersehender Zünder mit Sprengkapsel.
Pitt hatte Lazio erklärt, sie hätten fünf Minuten Zeit, um die Sprengladungen zu suchen und zu entschärfen. Lazio suchte ebenso wie er im Steuerbordraum, nachdem er Pitt in groben Zügen beschrieben hatte, wonach er Ausschau halten solle. Die Hälfte der Zeit, die sie sich bewilligt hatten, war bereits verstrichen, als sich Pitt bis in die Mitte des Laderaums vorgearbeitet und Dutzende Blöcke Plastiksprengstoff gefunden hatte, die in mehrere Holzfässer gepackt worden waren. Während die Sekunden laut in seinem Kopf vertickten, öffnete er hastig ein Fass nach dem anderen und ließ sofort wieder davon ab, wenn er keinen Zünder sehen konnte. Erst als er das letzte Fass öffnete, fand er eine elektrische Zeituhr mit einer Sprengkapsel, die in einen Block Plastiksprengstoff hineingedrückt worden war. Mit einem zuversichtlichen Kopfnicken zog er den Mechanismus aus dem HMX-Block heraus, dann suchte er sich seinen Rückweg durch das Labyrinth.
Fünf Minuten waren bereits verstrichen, als er die Leiter aus dem Laderaum hinaufstieg und aufs Deck hinaustrat. Lazio tauchte gerade aus dem Steuerbord-Laderaum auf und kam eilig zu Pitt herüber, in der Hand zwei Zeituhren. Pitt hielt seine Zeituhr mit Zündkapsel hoch und reichte Lazio beides.
»Das habe ich in der Hauptladung HMX gefunden«, sagte Pitt.
»Es hat keinen Sinn«, erwiderte Lazio und schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Sie haben im Frachtraum mehrere Ladungen versteckt. Dies hier habe ich nur durch Zufall in einer Kiste mit ANFO gefunden«, sagte er und hielt eine der Zeituhren hoch. »Ich bin ganz sicher, dass es noch mehr davon gibt.«
Er blickte auf Pitts Zeituhr und verglich sie mit den beiden, die er in der Hand hielt.
»Vierzehn Minuten, bis der Tanker hochgeht«, sagte er, wandte sich um und schleuderte die Zeituhren über die Reling. »Es ist gar nicht daran zu denken, dass wir bis dahin alle finden können.«
Pitt ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen.
»Suchen Sie die Mannschaft«, befahl er. »Ich bringe uns in die Meerenge zurück.«
Pitt wartete nicht auf eine Antwort, sondern rannte zur Kommandobrücke. Das Deck unter seinen Füßen rumpelte und vibrierte, und er spürte plötzlich, wie das Schiff erschauerte. An der Seitentreppe warf er einen kurzen Blick nach hinten und wünschte sich sofort, es lieber nicht getan zu haben.
Von Osten näherte sich Ozden Celiks Jacht mit hoher Fahrt dem Tanker.
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Während er dem Tanker in geringem Abstand folgte, hatte Giordino die Jacht, die auf ihn zuhielt, längst gesehen. Er schaltete das Seefunkgerät auf Kanal 86 und versuchte, Pitt einen Warnruf zu schicken, aber er erhielt keine Antwort von der Kommandobrücke der Dayan. Indem er Gas gab, entfernte er sich mit dem Tauchboot vom Tanker, und zwar mit Kurs auf die Kanalmitte, während er auf gleiche Höhe mit dem Deckaufbau der Dayan gelangte. Er lag zwar zu tief im Wasser, um auf der Kommandobrücke etwas erkennen zu können, aber er entdeckte zumindest Lazio, wie er auf dem Deck hin und her lief.
Er blickte nach hinten und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass die Jacht bereits den Kurs geändert hatte und schnell zur Bullet aufholte. Offenbar hatte sie gar nicht gesehen, wie er Pitt und Lazio am Tanker abgesetzt hatte. Trotz des frühmorgendlichen Dämmerlichts konnte er zwei Gestalten erkennen, die an der Vorderreling der Motorjacht Stellung bezogen. In den Händen, das wusste er, hatten sie automatische Waffen und zielten auf ihn.
Giordino betätigte sofort die Gashebel des Tauchboots. Die Bullet sprang regelrecht aus dem Wasser und nahm schnell Tempo auf. Giordino jagte am Bug des Tankers vorbei, dann suchte er die Nähe der nördlichen Küstenlinie. Nicht weit entfernt vor ihm spannte sich die Galata-Brücke über das Wasser und würde ihm, so hoffte er, ein wenig Deckung bieten. Aber ein Blick nach hinten verriet ihm, dass die schnelle Jacht bereits bis auf weniger als fünfzig Meter herangekommen war. Sie hatte die Lücke wahrscheinlich in der kurzen Zeitspanne geschlossen, in der die Bullet beschleunigt hatte. Giordino stieß einen lauten Fluch aus, als er am Bug der Jacht einen gelben Blitz aufzucken sah.
Die Gewehrsalve traf das Wasser nur wenige Zentimeter neben dem Rumpf des Tauchboots, wobei Giordino weder sehen noch hören konnte, wie die Kugeln einschlugen. Trotzdem drückte er den Steuerknüppel scharf nach links, dann nach rechts. Das wendige Tauchboot reagierte sofort und pflügte im Zickzackkurs durch die Wellen. Diese Aktion reichte aus, um die Zielgenauigkeit der Schützen auf der Jacht vorübergehend zu beeinträchtigen.
Plötzlich ragte vor ihm der Schatten der Galata-Brücke auf, und Giordino schoss unter ihr hindurch. Er fuhr eine scharfe Wende, dann drehte er sich um und sah, dass die Jacht unter der Brücke hervorschoss und seinem Beispiel folgte. Die schnellere und manövrierfähigere Bullet zeigte endlich ihre Beine, und der Abstand zwischen den beiden Schiffen begann nach und nach zuzunehmen. Doch das hatte nur weitere Schüsse von Seiten der Jacht zur Folge.
Giordino behielt den Zickzackkurs bei, während er schon die nächste Brücke, die Atatürk-Brücke, in weniger als einer halben Meile Entfernung ins Auge fasste. Ein plötzliches Knacken über seinem Kopf zwang ihn, sich reflexartig zu ducken, dann blickte er hoch und sah, dass in der Acrylglaskuppel drei Einschusslöcher klafften. Jeder Plan, hinter einem Hindernis in Deckung zu gehen und dann zu tauchen, hatte sich damit zerschlagen, daher konzentrierte er sich auf die Brücke, die vor ihm lag.
Mehrere wuchtige Pfeiler ragten aus dem Kanal und stützten die Atatürk. Giordino nahm sie als mögliche Deckung ins Visier. Er wusste, wenn er zwischen den Pfeilern umherkreuzte, könnte er die Jacht ablenken, ohne in ihre direkte Feuerlinie zu geraten. Aber sein Selbsterhaltungstrieb verlor merklich an Priorität, als er an Pitt und den mit Sprengstoff beladenen Tanker dachte.
Nur eine Meile hinter ihm befand sich die Dayan wahrscheinlich auf der letzten Etappe ihrer Todesfahrt. Er musste bereit sein, beide Männer vom Tanker zu holen, und das so bald wie möglich. Im Augenblick konnte er nicht sagen, ob für Pitt und Lazio auch nur eine winzige Hoffnung bestand.
Dann wandte er sich um und sah, dass die Jacht, die ihn so hartnäckig verfolgt hatte, plötzlich verschwunden war.
72
Lazio brauchte nur seinen Ohren zu folgen, um die gefangenen Mannschaftsmitglieder des Tankers zu finden. Obwohl durch seine Schusswunde geschwächt, hatte Kapitän Hammet, kaum dass die Wächter aus der Messe verschwunden waren, seine Männer einen Fluchtweg suchen lassen. Die Kette, die die Kantinentür sicherte, wurde schnell als unzerstörbar verworfen, daher suchten die Männer an anderen Stellen weiter. Sie waren von Stahlwänden umgeben, daher gab es nur einen Weg hinaus, und er führte nach oben.
Mit Hilfe von Metzgermessern aus der kleinen Kantinenküche begann sich die Mannschaft durch die Deckenplatten in einen Kabelschacht vorzuarbeiten - in der Hoffnung, auf diesem Weg das Oberdeck zu erreichen. Lazio hörte das Klappern in einem angrenzenden Vorratsraum, den er gerade durchsuchte, und eilte sofort zur Tür der Messe. Er löste die Kette, die einfach nur mehrmals um die Türgriffe geschlungen war, und öffnete die Tür mit einem Fußtritt. Mehrere Matrosen, die mit Messern in den Händen auf Tischen standen, hielten inne und starrten ihn verblüfft an.
»Wer führt hier das Kommando?«, fragte Lazio barsch.
»Ich bin der Kapitän der Dayan«, meldete sich Hammet. Er saß auf einem Stuhl und hatte das verwundete Bein auf einen Hocker gelegt.
»Kapitän, wir haben nur noch wenige Minuten Zeit, ehe das Schiff explodiert. Wie bekommt man Sie und Ihre Mannschaft am schnellsten von diesem Kahn herunter?«
»Mit dem Rettungsboot auf dem Achterschiff«, antwortete Hammet und kam mit schmerzverzerrter Miene auf die Füße. »Können Sie die Sprengladungen nicht unschädlich machen?«
Lazio schüttelte den Kopf.
»Dann alle Mann zum Rettungsboot«, befahl Hammet. »Aber schnell.«
Die Matrosen drängten sich eilig durch die Tür. Lazio und der Erste Offizier, die beide Hammet stützten, folgten als Letzte. Als sie auf das Oberdeck kamen, spürte Hammet ein ungewöhnliches Vibrieren unter seinen Füßen, dann schaute er zur Reling. Der israelische Kapitän bekam einen Schock, als er die Minarette der Süleyman-Moschee in nicht allzu großer Entfernung vor ihnen aufragen sah.
»Wir sind ja mitten in Istanbul«, stammelte er.
»Ja, das sind wir«, bestätigte Lazio. »Kommen Sie, wir haben wenig Zeit.«
»Aber wir müssen den Tanker wenden und von hier wegbringen«, protestierte er.
»Das versucht gerade jemand auf der Brücke.«
Hammet wollte den anderen zum Heck folgen, dann blieb er stehen, als das Deck abermals erschauerte.
»O nein«, stöhnte er plötzlich, und seine Miene verdüsterte sich. »Ich habe dafür gesorgt, dass die Maschine keinen Treibstoff mehr hat.«
73
Pitt hatte soeben dasselbe festgestellt. Als er auf die Kommandobrücke gekommen war, hatte er zwei blinkende Warnlichter auf der Steuerkonsole übersehen, während er die Kontrollen fand, mit denen sich der Autopilot ausschalten ließ. Der Tanker näherte sich gerade der Galata-Brücke und steuerte auf den mittleren Bogen zu, als Pitt wieder die manuelle Kontrolle des Ruders übernahm. Ein Blick zum Pfeiler auf der Backbordseite sagte ihm, dass der Raum nicht ausreichte, um das große Schiff zu wenden. Er müsste die Brücke erst vollständig passieren, dann eine Kehre ausführen und abermals unter der Brücke hindurchfahren, um das Goldene Horn zu verlassen.
Während sich der Schiffsbug unter die Brücke schob, gewahrte Pitt, dass sich der Brückenbogen vor ihm fast in Augenhöhe befand, und er fragte sich, ob der hohe Deckaufbau des Tankers darunterpassen mochte. Während er auf den entscheidenden Augenblick wartete, warf er endlich einen Blick auf die roten Warnlichter. Entsetzt erkannte er, dass es sich um die LEER-Anzeigen für den Haupt- und den Reservetank handelte. Als Hammet in den Maschinenraum geschlichen war, hatte er die Auslassventile der Treibstoffbunker geöffnet, durch die das Dieselöl in die Bilge geströmt war, um von dort über Bord gepumpt zu werden. Die Tanks waren jetzt geleert, wie Pitt wusste - und wie es durch den unrunden Lauf der Maschine angezeigt wurde, die die letzten Reste Treibstoff verbrauchte.
Pitt erkannte plötzlich mit absoluter Klarheit, dass er keine Chance hatte, den Tanker zurück ins Marmarameer zu lenken, wo er explodieren konnte, ohne großen Schaden anzurichten. Den Tanker nur in sichere Entfernung von der Stadt zu bringen war eine vergebliche Hoffnung. Auf der Kommandobrücke einer tickenden Zeitbombe zu stehen, einer Zeitbombe, die schon bald nicht mehr zu lenken sein würde, hätte jeden Menschen in Panik ausbrechen lassen. Man hätte nur noch den unwiderstehlichen Drang verspürt zu fliehen, irgendwie dieses Todesschiff hinter sich zu lassen und zu versuchen, die eigene Haut zu retten.
Aber Pitt war nicht so wie die meisten Menschen. Während seine Nerven absolut ruhig blieben, arbeitete sein Geist auf Hochtouren und suchte und überprüfte sämtliche Möglichkeiten, die aktuelle Krisensituation zu entschärfen. Dann bot sich eine potentielle Lösung des Problems auf der anderen Seite des Hafens an. Riskant und tollkühn, dachte er, aber es wäre auf jeden Fall eine Möglichkeit. Das Seefunk-Radio auf der Kommandobrücke auf Kanal 86 schaltend griff er zum Mikrofon.
»Al, wo bist du?«, rief er.
Giordinos Stimme krächzte sofort aus dem Lautsprecher.
»Ich bin etwa eine Meile von dir entfernt. Ich spiele mit der Jacht Katz und Maus, aber ich glaube, sie haben jetzt keine Lust mehr. Halte die Augen offen, denn sie sie sind in deine Richtung unterwegs. Seid ihr beiden - Lazio und du - so weit, dass ich euch von diesem Schiff runterholen kann?«
»Nein, ich brauche dich woanders«, erwiderte Pitt. »Ein holländisches Baggerschiff liegt nicht weit vom südöstlichen Ende der Brücke.«
»Bin gleich dort. Ende.«
Der Decksaufbau des Tankers war kaum unter der Brücke hindurchgeglitten, als die Maschine abermals hustete. Im matten Licht der Morgendämmerung entdeckte Pitt die blaue Motorjacht in knapp einhundert Metern Entfernung, wie sie auf den Tanker zuraste. Er ignorierte die Jacht, warf das Ruder weit nach Backbord herum und fragte sich, wie Lieutenant Lazio wohl zurechtkam.
74
Der israelische Kommandosoldat half, Kapitän Hammet zum Rettungsboot zu bringen, als in nächster Nähe Gewehrschüsse fielen. Eine Sekunde später regneten Glasscherben von oben auf das Schiffsdeck herab. Lazio blickte hoch und sah, dass sich das Gewehrfeuer auf die Fenster der Kommandobrücke konzentrierte. Er konnte gerade noch die Funkmasten der Jacht erkennen, als sie den Tanker an Steuerbord passierte.
»Schnell, ins Boot«, trieb Lazio die Seeleute an.
Sechs Mannschaftsmitglieder waren bereits in das geschlossene Glasfiberrettungsboot eingestiegen. Es lag auf einer steilen Rutsche direkt über der Heckreling, und sein Bug zeigte aufs Wasser hinab. Der Erste Offizier und ein anderer Mann stützten Hammet, als dieser durch den Heckeingang des Bootes stolperte. Er fummelte an seinem Sitzgurt herum und befahl seinen Männern, sich anzuschnallen. Dann blickte er zum Eingang, als Lazio gerade im Begriff war, ihn von außen zu schließen.
»Sie kommen nicht mit?«, fragte Hammet erschreckt.
»Meine Arbeit ist noch nicht beendet«, erwiderte Lazio. »Lassen Sie sich sofort zu Wasser, und nehmen Sie Kurs aufs Ufer. Viel Glück.«
Hammet wollte sich noch bei dem Soldaten bedanken, doch Lazio schloss eilig die Luke und sprang vom Boot herunter. Als er sah, dass seine Mannschaft sicher angeschnallt auf ihren Plätzen saß, wandte sich der Kapitän an seinen Ersten Offizier.
»Klinken Sie uns aus, Zev.«
Der Erste Offizier zog an einem Hebel, der eine außen liegende Klammer öffnete und das Rettungsboot freigab. Das Boot rutschte von seiner Rampe und stürzte dann gut zehn Meter tief aufs Wasser, wo es mit dem Bug anderthalb Meter tief eintauchte. Das Boot hatte kaum Zeit hochzukommen und sich auf der Wasseroberfläche zu stabilisieren, als die blaue Jacht neben ihm erschien und das Knattern von Maschinengewehrfeuer aufbrandete. Nur diesmal kamen die Schüsse nicht von der Jacht.
Am Heck - in sicherer Deckung - gab Lazio mit seinem M-4-Sturm-gewehr zwei kurze Feuerstöße ab. Auf zwei bewaffnete Männer am Bug der Jacht gezielt, tötete der erste Feuerstoß einen der Männer sofort, dessen schlaffer Körper über den Bootsrand ins Meer rutschte. Der zweite Schütze schaffte es knapp, unverletzt in die Kabine zu flüchten.
Maria stand auf der Kommandobrücke und verfolgte das Geschehen — rasend vor Wut. Sie schaute auf die Uhr und schrie den Kapitän der Jacht an.
»Wir haben noch Zeit! Bringen Sie uns zur Rampe.«
»Was ist mit dem Rettungsboot?«, fragte er.
»Vergessen Sie's. Darum kümmern wir uns später.«
Die Jacht beschleunigte und geriet aus Lazios Sicht, als sie zur heruntergelassenen Fallreepstreppe manövriert wurde. Eilig befahl Maria zwei Janitscharen hinaufzuklettern.
»Ich sichere die Brücke«, bot der Janitschar Farzad an. Er holte eine Glock aus einem versteckten Schulterhalfter und ging zur Kabinentür.
Maria nickte. »Sorgen Sie dafür, dass der Tanker am Ufer auf Grund läuft.«
Lazio hatte das Heck überquert und schaute gerade über die Reling, als die Jacht von der Treppenrampe wegschwenkte. Eine Maschinengewehrsalve von einem Schützen auf der Jacht beharkte die Reling und zwang Lazio, sich aufs Deck zu werfen. Er schaute hoch und stieß einen Fluch aus, als er die beiden Janitscharen die Treppe heraufkommen und hinter einem Schott in der Nähe des Deckaufbaus verschwinden sah.
Lazio rollte sich zur Reling, dann robbte er rückwärts bis zu einem großen Speigatt, durch das Seewasser vom Deck ablaufen konnte. Er schmiegte sich hinein und fand ein wenig Deckung hinter einer erhöhten Bodenrippe vor dem Speigatt. Zwar war es alles andere als eine optimale Verteidigungsstellung, aber Lazio glaubte, dass ihn niemand beobachtet hatte und er den ungebetenen Besuchern vielleicht eine böse Überraschung bereiten konnte.
Er hatte recht. Der erfahrene und disziplinierte Kommandosoldat wartete geduldig, während die beiden Janitscharen versuchten, gleichzeitig nach achtern zu gelangen. Als sie beide ihre Deckung verließen und auf dem Deck erschienen, hob Lazio sein Gewehr und schoss.
Der Kommandosoldat traf ins Schwarze, sein Gewehr pumpte vier Projektile in die Brust des ersten Mannes und fällte ihn auf der Stelle. Der zweite Mann ging sofort auf Tauchstation und wälzte sich hinter einen Pfosten, ehe Lazio ihn ins Visier nehmen konnte.
Beide Schützen nagelten sich gegenseitig in ihrer jeweiligen Deckung fest. Längere Feuerstöße in beide Richtungen wechselten sich jetzt ab, als jeder der Kontrahenten hoffte, seinen Gegner mit einem Glückstreffer auszuschalten.
Auf der Kommandobrücke versuchte Pitt das Gewehrfeuer zu ignorieren, während er das Ruder des Tankers in seiner eingeschlagenen Stellung festhielt. Doch er behielt trotzdem die Jacht wachsam im Auge und verfolgte aufmerksam ihre Manöver. Es geschah, als er einen Blick aus dem hinteren Fenster warf, dass er einen dritten Mann hinter den Janitscharen an Bord klettern und in Pachtung Vorderdeck verschwinden sah, kurz bevor Lazio zu schießen begann.
Während unten das Feuergefecht entbrannte, suchte Pitt auf der Brücke nach einer potentiellen Waffe für sich und kramte in einem Notfallkasten, der an der Wand über dem Kartentisch befestigt war. Ein kurzer Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass sich Lazios überlebender Gegner fast genau unter ihm befand. Er eilte zum Notfallkasten zurück und kam mit einem großen Feuerlöscher wieder. Er beugte sich damit aus dem Fenster, zielte kurz und ließ ihn dann fallen.
Die rote Behelfsrakete verfehlte den Kopf des Janitscharen um wenige Zentimeter, traf ihn jedoch an der Schulter. Der Schütze zuckte zusammen und krümmte sich, mehr vor Schreck als vor Schmerzen, dann drehte er sich instinktiv um und blickte auf der Suche nach dem Ursprung der Attacke nach oben.
In zwanzig Metern Entfernung nahm Lazio den Mann ins Visier seines Karabiners und drückte ab. Der kurze Feuerstoß erzeugte weder einen lauten Schrei noch einen Blutregen. Der Janitschar kippte einfach nur sterbend nach vorne und hinterließ auf dem Schiff eine plötzliche, unbehagliche Stille.
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Die Kommandobrücke war anscheinend leer, als Farzad sie von der Hintertreppe aus vorsichtig betrat. Als er die Küstenlinie von Sultanahmed am Schiffsbug langsam vorbeiwandern sah, ging er zum Ruder, um die Wende des Schiffes zu stoppen. Er senkte die Pistole, als er die Ruderkontrollen fand und eine Hand danach ausstreckte.
»Daran würde ich jetzt lieber nicht herumspielen«, sagte Pitt.
Er erhob sich aus einer Kauerhaltung hinter einer Konsole vor der Backbordwand. In der Hand hielt er eine Signalpistole aus Messing, die er im Notfallkasten gefunden hatte.
Farzad musterte Pitt mit einem Ausdruck überraschten Wiedererkennens, das sich aber schnell in Zorn verwandelte. Doch aus Wut wurde Heiterkeit, als sein Blick auf Pitts Waffe fiel.
»Ich habe mich schon darauf gefreut, Sie wiederzusehen«, sagte Farzad mit schwerfälligem Akzent.
Während er versuchte, seine Pistole unmerklich zu heben, drückte Pitt auf den Abzug der Signalpistole. Die Leuchtrakete schoss quer durch die Kommandobrücke und prallte mit einem Funkenregen gegen Farzads Brust. Seine Kleidung fing sofort Feuer, während die Raketenkapsel zu Boden fiel und dann wie eine brennende Ratte in eine der Ecken flitzte. Eine Sekunde später explodierte die Leuchtladung und sandte eine Wolke aus auflodernden Flammen und Rauch durch das Ruderhaus.
Pitt war bereits abgetaucht, lag nun flach auf dem Boden und bedeckte seinen Kopf, während die Funken um ihn herumflogen. Farzad hatte nicht so schnell reagiert und versuchte mit den Händen die Glutnester in seiner Kleidung zu löschen, als die Explosion der Leuchtkugel eine zweite Flammenfront aufwallen ließ. Er wurde in eine Wolke aus Qualm und Funken gehüllt, ehe er sich vor der Eruption in Sicherheit bringen konnte und heftig nach Luft rang. Pitt sprang sofort auf, stürmte los und hoffte, den Mann zu Boden zu werfen, bevor dieser genug erkennen konnte, um gezielt zu schießen. Aber der Berufskiller hatte Pitt keineswegs vergessen und schwenkte die Glock in seine Richtung herum.
Ein lauter Schuss rollte durch die Brücke, aber Pitt wusste, dass es nicht Farzad war, der abgedrückt hatte. Der Revolvermann wurde nach hinten und gegen die Steuerkonsole geschleudert, dann rutschte er zu Boden und hinterließ dabei eine blutige Spur auf der Konsolenverkleidung.
Lazio betrat eilig die Brücke und hielt sein rauchendes Gewehr auf die liegende und glimmende Gestalt Farzads gerichtet.
»Sind Sie okay?«, fragte Lazio und schaute Pitt prüfend an.
»Ja, ich war nur kurz durch ein kleines Feuerwerk abgelenkt«, erwiderte Pitt und bekam von den dichten Rauchschwaden, die sich durch die Kommandobrücke wälzten, einen kleinen Hustenanfall. »Danke für Ihr pünktliches Erscheinen.«
Lazio reichte ihm den nunmehr zerbeulten Feuerlöscher, den er sich unter einen Arm geklemmt hatte.
»Hier, ich dachte, Sie möchten ihn vielleicht zurückhaben. Übrigens danke für Ihre wirkungsvolle Unterstützung aus der Luft.«
»Sie haben sich soeben angemessen revanchiert«, sagte Pitt und benutzte dann den Feuerlöscher für einige kleinere Flammenherde, die die Leuchtkugel entfacht hatte.
»Ich habe gar nicht bemerkt, dass der da an Bord gekommen ist«, sagte Lazio, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Farzad wirklich tot war.
»Er ist kurz nach den ersten beiden aufgesprungen.“
»Ich befürchte, sie werden es nochmals versuchen.“
»Die Zeit wird allmählich knapp«, erwiderte Pitt. »Aber Sie können die Treppenrampe trotzdem ruhig hochziehen.“
»Gute Idee. Was ist mit uns?«
»Für uns könnte es verdammt eng werden. Darf ich davon ausgehen, dass Sie schwimmen können?«, fragte Pitt grinsend.
Lazio verdrehte die Augen, dann nickte er. »Wir sehen uns unten«, sagte er und verschwand dann die Treppe hinunter.
Der Qualm von der Leuchtrakete zog schnell durch die geborstenen Fenster der Kommandobrücke ab, während Pitt zum Steuerstand ging, um ihre Position zu überprüfen. Die Dayan hatte etwa die Hälfte ihrer Wende absolviert, ihr Bug schwang langsam zum südlichen Bogen der Galata-Brücke herum. Pitt justierte behutsam das Ruder, um den großen Tanker gefährlich dicht an das Ufer heranzubringen, während er seine Wende vollendete. Und dann erhöhte er die Drehzahl der Maschine. Die Aussetzer und das Husten unter Deck waren zahlreicher und heftiger als vorher, und Pitt quälte so viel Tempo aus dem stockenden Motor heraus wie möglich.
Er suchte das Meer in Ufernähe nach Anzeichen von der Bullet ab, aber sie war nirgendwo zu sehen. Nach Pitts Funkruf hatte Giordino mit Höchstgeschwindigkeit Kurs auf das Baggerschiff genommen und war schon wieder unter der Galata-Brücke hindurchgefahren. Als wüsste er, dass Pitt ihn suchte, rief Giordino plötzlich über das Seefunkradio den Tanker.
»Bullet hier. Ich habe die Brücke hinter mir und gehe gerade neben dem grünen Baggerschiff längsseits. Was soll ich tun?«
Pitt skizzierte seinen Plan, was Giordino zu einem leisen Pfiff animierte.
»Ich hoffe, du hast heute schon dein Heldenfrühstück gehabt«, meinte er dann. »Wie viel Zeit hast du?«
Pitt schaute auf seine Uhr. »Rund sechs Minuten. Wir müssten etwa in der Hälfte der Zeit dort sein.«
»Danke, dass du das Pulverfass zu mir bringst. Sieh nur zu, dass du dich nicht verspätest«, fügte er hinzu und meldete sich dann eilig ab.
Mittlerweile hatte die Dayan ihre Wende vollendet, und der südliche Bogen der Galata-Brücke spannte sich knapp eine Viertelmeile vor ihnen über das Wasser. Pitt wünschte sich, das Schiff möge mehr Fahrt machen, während er geradezu körperlich spürte, wie die Sekunden versickerten, der Abstand zur Brücke jedoch scheinbar unverändert blieb. Die zeitliche Abstimmung würde heikel werden, wie er wusste, doch es gab wenig, was er in dieser Hinsicht tun konnte.
Dann drang plötzlich eine unerwünschte Stille aus den Eingeweiden des Tankers zu ihm nach oben auf die Kommandobrücke. Das Rumpeln und Zittern unter seinen Füßen erstarb, während die Konsole wie ein Weihnachtsbaum vor ihm aufleuchtete. Die nach Treibstoff dürstende Maschine der Dayan hatte ihren allerletzten Schnaufer getan.
Während sie der Dayan mit ein paar Dutzend Metern Abstand auf der Backbordseite folgte, betrachtete Maria sie durch ein Fernglas. Zu ihrer Enttäuschung hatte sich der große Tanker weiter vom Ufer entfernt und schwenkte auf einen Umkehrkurs unter der Galata-Brücke hindurch um. Als sie das Ruderhaus des Tankers unter die Lupe nahm und einen kurzen Blick auf Pitt am Ruder erhaschen konnte, begriff sie auch, weshalb.
»Sie haben versagt«, sagte sie heiser vor Zorn. »Bringen Sie schnellstens meine letzten Männer an Bord.«
Der Jachtkapitän sah sie nervös an.
»Sollten wir nicht lieber verschwinden?«, fragte er drängend.
Maria trat dicht an ihn heran und sprach nun so leise, dass niemand anders auf der Brücke sie verstehen konnte.
»Wir können verschwinden, sobald die Männer an Bord sind«, flüsterte sie kalt.
Ihre letzten drei Janitscharen versammelten sich an Deck, während sich die Jacht der Flanke der Dayan näherte. Als die Jacht die Fallreepstreppe des Tankers erreichte, um die bewaffneten Männer abzusetzen, stieg die Treppe plötzlich in die Höhe. An ihrem oberen Ende stand Lazio an den hydraulischen Kontrollen und zog die Rampe hoch.
»Erschießt ihn!«, kreischte Maria, als sie den Kommandosoldaten entdeckte.
Die aufgeschreckten Janitscharen legten sofort mit ihren Waffen auf Lazio an und feuerten. Der israelische Elitesoldat hatte die Reaktion der Männer beobachtet und wandte sich ab, um sich von der Reling zurückzuziehen. Aber er verharrte einen Moment zu lange an den Kontrollen, da er die Rampe außer Reichweite seiner Gegner bringen wollte. Dieses Zögern musste er teuer bezahlen, als ihn eine Kugel aus einem der Gewehre in der Schulter erwischte.
76
Er verlor augenblicklich das Gleichgewicht, kippte nach vorne auf die Kontrollen, ehe er sich aufs Deck rutschen ließ, um weiteren Kugeln zu entgehen. Sein linker Arm war taub, und er verspürte einen brennenden Schmerz in der Schulter, aber seine Sinne waren noch immer intakt, als er von unten ein lautes Krachen hörte. Während er sein Gewehr mit einer Hand festhielt, robbte er zur Reling, stand auf und warf einen schnellen Blick nach unten.
Zu seiner Enttäuschung sah er, dass das untere Ende der Treppe vom Tanker weg geschwungen war und nun genau über der Jacht schwebte. Dann sah er genauer hin und erkannte, dass sie sich in die Jacht gebohrt hatte. Als er auf die Kontrollen gekippt war, hatte er unabsichtlich das Zugkabel für das untere Ende gelöst. Die schwere stählerne Plattform war wie ein Pfeil abwärts gerauscht. Nur anstatt ins Wasser einzutauchen war sie durch das Dach der Jacht geschlagen und tief in die darunter liegende Kabine eingedrungen.
Trotz der Schäden und des ungünstigen steileren Winkels waren zwei Janitscharen bereits auf die Rampe gesprungen und schickten sich an, so schnell wie möglich hinaufzusteigen. Lazio zielte auf die Stahltreppe und gab einen langen Feuerstoß ab, der beide Männer zurückkippen und ins Wasser stürzen ließ.
Vom hohen Blutverlust plötzlich benommen, rollte Lazio sich auf dem Deck zusammen und suchte in den Taschen seines Kampfanzugs nach einem Erste-Hilfe-Set. Indem er gegen den Drang ankämpfte, sich einfach auszustrecken und zu schlafen, sagte er sich, dass er die Jacht nur ein paar wenige Minuten lang in Schach halten musste. Dann schaute er zur Kommandobrücke hoch und fragte sich, wie viel Zeit Pitt tatsächlich brauchen würde.
Zeit war etwas, womit Pitt in diesem Moment am wenigstens im Bunde stand. Als er das letzte Mal nachgesehen hatte, waren ihm weniger als sechs Minuten bis zur Explosion geblieben, doch er versuchte gar nicht daran zu denken. Sein einziges Ziel bestand darin, den Tanker ein kurzes Stück von der Galata-Brücke wegzulenken.
Seit die Maschine den Dienst quittiert hatte, wurde das Schiff von seinem eigenen Schwung angetrieben. Mehrere Generatoren an Bord lieferten zusätzliche Energie, so dass Pitt wenigstens das Ruder bedienen konnte. Aber die mächtige Schraube hatte ihre letzte Umdrehung vollzogen. Die leichte Strömung des Goldenen Horns drückte sacht gegen das Heck des Tankers, und Pitt hoffte, dass sie ausreichte, um wenigstens noch für einige Minuten Fahrt zu machen. Wäre genügend Zeit vorhanden, dann wäre die Strömung am Ende sogar in der Lage, den Tanker sicher bis ins Marmarameer zu tragen. Aber Zeit stand in diesem Moment ebenso wenig zur Verfügung wie Treibstoff für den Schiffsmotor.
Mit qualvoller Langsamkeit wurde der südliche Bogen der Galata-Brücke im vorderen Fenster der Kommandobrücke größer, und Pitt stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die Dayan immer noch mit sieben Knoten dahintrieb. Gelegentliches Gewehrfeuer lenkte ihn wieder ab, er wagte einen schnellen Blick aus dem Fenster. Die Jacht befand sich so dicht beim Tanker, dass er nur einen kleinen Teil des Bootes sehen konnte. Er entdeckte Lazio, der in der Nähe des Treppenkopfes lag, und war einigermaßen beruhigt, dass der Tanker zumindest für diesen Augenblick immer noch sicher war.
Schon bald wölbte sich über ihm die Unterseite der Brücke und warf für einen kurzen Moment einen breiten Schatten auf Schiff und Kommandobrücke. Pitt trat an die Steuerkonsole und korrigierte die Stellung des Ruders mit nervösen Fingern. Den Rest müsste nun Giordino erledigen, dachte er schicksalsergeben.
»Ich hoffe nur, dass du deinen Teil der Abmachung einhalten kannst, Partner«, murmelte er laut, dann verfolgte er, wie der Schatten der Brücke immer weiter hinter ihm zurückblieb.
77
Mit einer Länge von einhundertfünfzig Metern war die Ihn Battuta eines der größten Baggerschiffe, die Giordino je gesehen hatte. Betrieben von der belgischen Firma Jan de Nul, war sie einer von nur einer Handvoll im praktischen Einsatz befindlicher selbstfahrender Schneidkopf-Saugbagger. Im Gegensatz zu einem herkömmlichen Saugbagger, der mittels eines langen Saugrohrs Schlick und Schlamm vom Meeresboden aufsammelt, verfügte der Schneidkopf-Sauger sogar über einen Grabmechanismus, auch Schneidkopf genannt. Im Fall der Ihn Battuta war dieser Kopf eine Kugel von zwei Metern Durchmesser, bestückt mit gegenläufig rotierenden Wolframkarbidzähnen, die sich durch soliden Fels fressen konnten. Befestigt an einem im Rumpf verankerten Ausleger, erinnerte der Schneidkopf an das offene Maul eines vorsintflutlichen Haifisches auf Beutejagd.
Der Schwimmbagger arbeitete etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt und war an einem Paar langer Stützen, Stelzen genannt, vertäut, die aus dem vorderen Rumpfteil des Schiffes herausragten. Das Schiff lag querab vom Land mit dem Heck zum Kanal, was Pitt bei seinem Vorhaben entgegenkam.
Giordino, der sich dem Schiff vom Heckende aus näherte, entdeckte ein längeres Stück Kette, das von der Steuerbordreling des Baggerschiffs herabhing. Er ging mit der Bullet längsseits, dann schaltete er die Motoren aus, kletterte nach draußen, schnappte sich die Kette und befestigte sie an der Bullet, ehe sie abtreiben konnte. Sich an der Kette hochziehend fasste er nach der Schiffsreling und schwang sich aufs Deck.
Als möglicherweise gefährliches Hindernis in der Fahrrinne wurde die Ibn Battuta, die ihren Namen einem marokkanischen Forscher und Entdecker verdankte, von einigen Dutzend Lampen beleuchtet. Giordino ließ den Blick vom einen Schiffsende zum anderen schweifen und sah, dass das Deck vollkommen leer war. Offenbar lag die gesamte Mannschaft noch in der Koje. Nur ein einzelner Matrose hielt auf der Brücke seine morgendliche Wache, jedoch hatte er von Giordinos Besuch bisher nichts bemerkt.
Giordino ging schnell nach achtern und suchte die Kontrollen des Baggers, von denen er hoffte, dass sie sich nicht im Steuerhaus befanden. In der Mitte des Achterdecks, vor einem großen Lagerbock und weit vor der Schneidkopfapparatur entdeckte er eine kleine, erhöht stehende Baracke mit breiten Fenstern. Er stieg die Treppe hoch, betrat sie und setzte sich in den Sessel des Baggerführers, der zum Heck hin ausgerichtet war. Zu seiner Freude und Beruhigung stellte er fest, dass der Baggermechanismus von einer einzigen Person bedient werden konnte. Doch er bekam einen gelinden Schock, als er sah, dass die Instrumente auf der Kontrolltafel holländisch beschriftet waren.
»Na ja, wenigstens ist es kein Türkisch«, murmelte er, während er das Armaturenbrett betrachtete.
Er fand einen Schalter mit der Bezeichnung Dynamo und brachte ihn in Afoc-Stellung. Ein tiefes Rumpeln brachte das Deck zum Zittern, als der massige Stromgenerator des Baggers ansprang. Oben auf der Kommandobrücke hörte der wachhabende Seemann den Lärm, eilte zum hinteren Fenster und entdeckte sofort Giordinos Gestalt im Führerhaus des Baggers. Kurz darauf plärrte seine Stimme aus den Lautsprechern einer Gegensprechanlage an der Barackenwand. Giordino streckte lässig die Hand aus und schaltete das Gerät ab, bevor er nach links schaute.
Der hohe Bug des Tankers tauchte soeben in knapp einhundert Metern Entfernung unter der Galata-Brücke auf. Giordino unterbrach seine Bemühungen, die holländische Konsole zu entziffern, und begann stattdessen hektisch auf alle möglichen Knöpfe zu drücken. Eine Reihe von ihnen erzeugte ein knirschendes Geräusch vor ihm, und er konnte zufrieden beobachten, wie die Zähne des Schneidkopfs mit einem bösartigen Jaulen zu rotieren begannen. Der Ausleger streckte sich vom Heck nach draußen und ragte etwa fünf Meter über das Wasser. Es war um einiges zu hoch für das, was Pitt im Sinn hatte.
»Wat doejij hier?«, polterte plötzlich eine wütende Stimme hinter Giordino.
Dieser fuhr herum und sah einen untersetzten Mann mit zerzausten Haaren, der die Treppe heraufkam und das kleine Führerhaus betrat. Der Pumpentechniker der Ihn Battuta, der unter seinem schmuddeligen Mantel immer noch seinen Pyjama trug, kam näher und legte Giordino eine Hand auf die Schulter. Giordino streckte einen Zeigefinger hoch und deutete zum Fenster.
»Sehen Sie!«, sagte er.
Der Ingenieur folgte Giordinos Finger und erstarrte beim Anblick der Dayan, die unaufhaltsam auf das Baggerschiff zukam. Er wollte etwas sagen, während er sich zu Giordino umdrehte, und machte mit der geballten Faust einer schulmäßig geschlagenen rechten Geraden Bekanntschaft. Giordinos Knöchel trafen ihn am Kinn, und er faltete sich wie eine aufgeweichte Nudel zusammen. Giordino fing den Mann schnell unter den Armen auf und legte ihn sanft auf den Fußboden.
»Sorry, mein Freund. Jetzt ist keine Zeit für Nettigkeiten«, sagte er zu dem bewusstlosen Techniker, ehe er sich wieder hinter die Bedienungskonsole begab. Er spürte, wie sich der Schatten des hohen Tankers auf die Baggerführerbaracke legte, während sein Blick eilig über die Instrumente flog. An der Seite entdeckte er einen kleinen Hebel und betätigte ihn. Zu seiner unendlichen Erleichterung sah er, wie der Ausleger plötzlich nach unten aufs Wasser sank. Er drückte weiter auf den Hebel, bis sich der Schneidkopf nahezu vollständig unter Wasser befand, wobei seine rotierenden Zähne das Wasser in seiner nächsten Umgebung aufschäumen ließen.
Er ließ den Hebel los und blickte in den Kanal. Der Bug des mächtigen Tankers war nur noch gut fünf Meter weit entfernt. Mit einem Gefühl vollkommener Hilflosigkeit stand Giordino da und sah ihn auf sich zukommen - und wusste gleichzeitig, dass es jetzt nichts mehr gab, das er noch hätte tun können.
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Pitt wusste, dass es ein verzweifeltes Wagnis war, doch es gab so gut wie keine Optionen mehr für ihn. Es war ganz einfach nicht genügend Zeit geblieben, um den Tanker aufs offene Meer hinauszusteuern, und da die Maschine jetzt keinen Muckser mehr von sich gab, gab es auch keine Chance mehr, sich von den dicht bevölkerten Gestaden Istanbuls zu entfernen. Selbst wenn der Tanker mitten im Goldenen Horn explodieren sollte, würden Tausende den Tod finden. Pitts einzige Hoffnung bestand darin, wenigstens zu versuchen, von dem Sprengstoff so viel wie möglich unter Wasser zu setzen, um die zerstörerische Wirkung der Explosion zu minimieren.
Und an dieser Stelle kam die Ihn Battuta ins Spiel. Pitt wusste, dass der Bagger mit seinem Gestein zertrümmernden Schneidkopf den Tanker wie ein Dosenöffner aufschneiden konnte. Aber dazu musste er den Tanker in die richtige Position bringen. Wenn er zu dicht herankäme, würde der Tanker den Ausleger mit dem Schneidkopf am Heck des Baggers glatt abreißen. Wäre der Abstand zum Land zu groß, würde der Schneidkopf den Schiffsrumpf nicht erreichen.
Antriebslos unter der Galata-Brücke hindurchgleitend warf er einen Blick auf den Bagger vor dem Tankerbug. Obgleich sich der Schneidkopf noch hoch über der Wasseroberfläche befand, konnte er seine rotierenden Zahnkränze erkennen und wusste, dass Giordino an der Arbeit war. Er tippte gegen den Hebel der Ruderkontrolle, ging dann zum Steuerbordfenster und blickte hinaus. Von seinem Standort hoch über dem Wasser konnte er an den Seiten des Tankers nicht hinunterblicken, was eine genaue Positionierung erheblich erschwerte. Er versuchte, gar nicht erst daran zu denken, dass er einen - und wirklich nur einen einzigen - Versuch hatte, seinen Plan erfolgreich umzusetzen.
Dem belgischen Bagger schnell entgegentreibend konnte Pitt zu seiner Erleichterung verfolgen, wie der Heckausleger abgesenkt wurde und der Schneidkopf ins Wasser eintauchte. Wenig später entdeckte er Giordino an der Heckreling, von wo aus er ihn mit entsprechenden Handzeichen aufforderte, den Tanker näher ans Ufer zu lenken. Pitt eilte zum Steuerstand zurück, drehte das Ruder ein paar Grad nach Steuerbord und wartete sehnsüchtig darauf, dass der Bug reagierte. Als der Tanker den Abstand zum Land tatsächlich verringerte, reckte Giordino beide Arme in die Luft und gab Pitt mit den Daumen ein doppeltes Okay-Zeichen.
Pitt verließ die Steuerkonsole und kehrte zum Seitenfenster zurück, um die Kollision zu beobachten. Hinter sich hörte er plötzlich das Röhren eines auf höchste Drehzahl beschleunigten Motors, gelegentlich übertönt von den schrillen Schreien einer Frauenstimme. Er schaute nach unten und sah Lazio immer noch am Treppenkopf auf dem Deck liegen. Diesmal jedoch erkannte er eine kleine Blutpfütze in der Nähe seines Brustkorbs. Hinter Lazio sah er die Motorjacht, die neben dem Tanker hin und her tanzte und einmal sogar gegen seinen Rumpf prallte.
Pitt fragte sich kurz, weshalb die Jacht wohl immer noch in der Nähe war. Doch das war eigentlich völlig bedeutungslos, sagte er sich, während er sich wieder auf den Bagger und auf den Augenblick der Wahrheit konzentrierte.
»Bringen Sie uns von hier weg!«, schrie Maria mindestens zum dritten Mal.
Die normalerweise so kühle und disziplinierte Despotin war in heller Panik, während sie wiederholt auf ihre Uhr schaute. In nur wenigen Minuten wäre es so weit.
Schweiß perlte auf der Stirn des Jachtkapitäns, während er das Ruder hin und her drehte und versuchte, das Boot von der Stahltreppe zu befreien. Er hatte gewartet, bis die Galata-Brücke hinter ihnen lag, ehe er die Motoren auf Rückwärtslauf geschaltet hatte und sich gegen den Schwung des Tankers stemmte. Doch die Leiter steckte im Rumpf der Jacht wie ein Angelhaken im Maul eines wütenden Marlins.
Die Motoren der Jacht kreischten auf, als der Kapitän bei Rückwärtsfahrt Vollgas gab und versuchte, das Boot vom Tanker wegzumanövrieren. Für den Kapitän nicht zu erkennen, hatten sich die Stützräder der Leiter und deren Achse im Ankergehäuse der Jacht mit der Ankerkette verheddert und waren jetzt durch die verzweifelten Manöver des Bootes untrennbar miteinander verbunden.
Die Treppe sah mittlerweile wie eine missratene Brezel aus, nur dass sie aus Stahl bestand. Doch die untere Plattform wollte nicht abbrechen. Während die Propeller das Wasser an ihrem Heck zu einem weißen Gischtstrudel aufwühlten, wurde die Jacht wie ein Schoßhündchen an einer zu kurzen Leine vom Tanker mitgeschleift. Der Kapitän starrte auf den Bagger und wartete darauf, dass die Dayan vor dem belgischen Schiff abdrehte. Aber je näher sie kamen, desto klarer wurde ihm, dass der Tanker nicht mehr ausweichen konnte.
In einem letzten verzweifelten Versuch lenkte er die Jacht abrupt hin und her, krachte gegen die Flanke des Tankers, ehe er wieder auf Distanz ging. Aber die hartnäckige Plattform wollte nicht kapitulieren. Der Bug der Dayan befand sich jetzt auf gleicher Höhe mit dem Bagger, doch er konnte erkennen, dass zwischen den Schiffen ein schmaler Spalt klaffte, obgleich der Ausleger tief ins Wasser eintauchte.
Während Maria ihn mit ihren Blicken geradezu erdolchte, deutete er mit einem Kopfnicken auf den Bagger.
»Der Ausleger wird uns von der Leiter trennen«, versprach er. »Wir sind gleich frei.«
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Pitts Augenmaß mochte zwar nicht perfekt sein, aber doch immerhin beachtlich.
Der Bug der Dayan glitt wenige Meter an dem Schneidkopf vorbei, ehe dessen rotierende Zahnreihen mit dem Rumpf des Tankers auf Tuchfühlung kamen. Obwohl vom Wasser ziemlich gedämpft, gab der Schneidkopf ein durchdringendes Kreischen von sich, als seine Zähne über die stählernen Rumpfplatten schrammten. Ein paar Meter weit grub der Kopf lediglich eine tiefe Kerbe in die Tankerflanke. Dann erwischten die Zahnkränze eine Schweißnaht und rissen sie zu einem klaffenden Loch auf.
Einmal eingedrungen, gab es kein Halten mehr. Die rotierende Schneidkugel nagte sich wie ein hungriger Biber durch den Rumpf, unterstützt vom Trägheitsmoment des 8000 Bruttoregistertonnen großen, weiter treibenden Tankers. Die Wolframzähne fraßen sich durch den Rumpf und in die rostfreien Stahltanks, die reines Trinkwasser enthielten, wenn das Schiff beladen war. Doch anstelle von Trinkwasser schwappte in den Tanks jetzt eine grüne Brühe, da die Fluten des Bosporus schäumend in den Rumpf des Tankers eindrangen.
Von seinem erhöhten Standort aus sah Pitt die Wasserwirbel auf dem Boden des vorderen Steuerbordtanks. Er konnte nur hoffen, dass das Wasser schnell genug stieg, um auch in den Backbordtank hinüber zu schwappen, so dass sich die Explosionswucht der beiden Sprengladungen auf ein Minimum reduzierte. Aber die Zeit war nicht auf seiner Seite.
Als er den Blick über das Deck der Ibn Battuta schweifen ließ, entdeckte er Giordino, der bereits wieder zum NUMA-U-Boot zurückschlich. Er war an der Heckreling von einer Handvoll Mitglieder der Bagger-Crew abgelöst worden. Von dem Lärm geweckt, standen sie da und starrten völlig perplex auf den riesigen Tanker, der sich nur wenige Schritte von ihnen entfernt befand.
Während der Schneidkopf auf gleiche Höhe mit der Kommandobrücke kam, trat Pitt an den Steuerstand und legte als letzte Geste das Ruder auf fünfzehn Grad Backbord. Bereits durch das einströmende Wasser gebremst, würde der Tanker nach Pitts Einschätzung wahrscheinlich noch gut eine halbe Meile weiter treiben, ehe er explodierte, und er wollte sichergehen, dass er auf die Mitte des Kanals zusteuerte. Der Schneidkopf schrammte immer noch mit durchdringendem Kreischen über den Schiffsrumpf, als Pitt die Brücke endgültig verließ und die Treppe hinuntereilte, um Lazio zu holen und das Schiff zu verlassen.
Er wartete nicht, um zu sehen, was mit der Jacht geschah. Während Maria dem Kapitän der Suitana immer noch die Ohren vollschrie, lenkte der Kapitän die Jacht dicht an den Rumpf des Tankers, um eine direkte Kollision mit dem Baggerschiff zu vermeiden. Er bemerkte sofort die winzige Kursänderung des Tankers nach Backbord, die ihm neue Hoffnung machte, vielleicht doch noch einer Katastrophe entgehen zu können. Der kaum wahrnehmbare Schwenk gestattete der Jacht, sich am Ausleger des Baggers vorbeizuschieben, während der Schneidkopf aus der Dayan herausrutschte. Aber es blieb kein Platz mehr, um dem Schneidkopf selbst zu entgehen.
Die hungrig Stahl mampfende Schneidkugel machte Bekanntschaft mit dem Bug der Jacht und kratzte an der Steuerbordseite des Bootsrumpfs. Immer noch wie eine Lumpenpuppe im Schlepp des Tankers, wurde die Jacht leicht angehoben und über den Schneidkopf gezogen. Dieser fraß eine zwei Meter breite Schneise locker in den Glasfieberrumpf der Jacht, ehe er ihre wirbelnden Zwillingsschrauben köpfte. Die blubbernden Motoren der Jacht verstummten, als das Maschinengehäuse geflutet wurde und die Jacht auf ihr Heck zurücksank.
Der Kapitän war starr vor Schreck und hatte die Hände um das Ruder geklammert. Aber Maria zeigte keine solche Zurückhaltung.
Sie zog eine Beretta aus ihrer Gürteltasche, trat dicht hinter den Kapitän, bohrte die Pistolenmündung in sein Ohr und drückte ab.
Sie wartete nicht einmal, bis seine Leiche zu Boden gesunken war, sondern turnte nach vorne zum Bug der Jacht, um sich und den Toten ein für alle mal von dem Tanker zu befreien.
80
Als Pitt das Hauptdeck erreichte, hatte der Tanker bereits merklich Schlagseite. Der Schneidkopf hatte ein etwa siebzig Meter langes Loch in seinen Rumpf gefressen und dabei jeden der Steuerbordtanks aufgerissen. Eine vollständige, mit Pumpen ausgerüstete Mannschaft hätte es nicht geschafft, ein Volllaufen des Schiffes auf Dauer zu verhindern. Es war genau das, was Pitt beabsichtigt hatte, aber jetzt musste er für Lazio und sich einen Weg finden, um von dem Schiff herunterzukommen.
Während sich der Tanker sehr schnell auf die Steuerbordseite legte, überlegte Pitt, dass es entweder ein kurzer Hüpfer von der Treppe wäre oder, wenn nötig, ein hoher Sprung von der Reling. Während er auf Lazio zuging, sah er zu seiner Überraschung immer noch die Jacht an der Flanke des Tankers. Aus seiner Position auf dem Tankerdeck konnte er direkt auf die Jacht hinabblicken und die Treppe erkennen, die sich in ihre Eingeweide gebohrt hatte. Von größerem Interesse war für ihn jedoch die Gestalt Marias, die auf dem Bug balancierte und mit einer Pistole herumfuchtelte. Sie feuerte mehrmals auf die verbogenen Stahlstreben, die die Treppe zusammenhielten, dann entdeckte sie Pitt nicht allzu weit über sich.
»Stirb mit dem Schiff!«, schrie sie, zielte mit der Pistole auf Pitt und drückte auf den Abzug.
Pitt war allerdings eine Idee schneller und warf sich neben Lazio aufs Deck, während die Kugel über seinen Kopf hinwegsirrte.
»Kommen Sie, Lieutenant, wir müssen uns einen anderen Weg suchen, um von diesem Schiff runterzukommen«, sagte er zu dem Soldaten.
Lazio drehte sich mühsam um und sah Pitt mit glasigen Augen an, die halb geschlossen waren. Pitt erkannte plötzlich die Schwere seiner Wunde, als er die blutige Schulter sah, die Laszlo notdürftig mit einer Bandage bedeckt hatte. Jede Sekunde zählte jetzt, daher packte er Lazio entschlossen am Kragen.
»Halten Sie durch, mein Freund«, sagte er.
Indem er Maria ignorierte, ging Pitt in die Hocke und bewegte sich rückwärts über das geneigte Deck und schleifte Lazio hinter sich her. Maria schoss sofort und schickte eine Handvoll Kugeln hinter ihnen her. Ihre Schüsse schlugen zwar gefährlich nahe ein, trafen jedoch keinen der beiden Männer, ehe Pitt sie sicher außer Sicht manövriert hatte. Wieder ein wenig bei Kräften, ließ sich Lazio von Pitt auf die Füße helfen. Die Jacke des Elitesoldaten war mit Blut getränkt, eine Blutspur folgte ihm quer über das Deck.
Der Tanker bäumte sich plötzlich unter ihren Füßen auf und kippte mit fast dreißig Grad nach Steuerbord. Pitt erkannte schlagartig, dass ihnen die schlimmste Gefahr gar nicht unbedingt von der bevorstehenden Explosion drohte.
»Können Sie mit mir klettern?«, wollte Pitt von Lazio wissen.
Der zähe Kommandosoldat nickte, und nachdem er einen Arm um Pitts Taille geschlungen hatte, arbeitete er sich mit schwankenden Schritten das schräge Deck hinauf.
Hinter ihnen schoss Maria weiter. Nun war ihr Ziel wieder die verbogene Treppe. Mehrere gut gezielte Schüsse auf das Drehgelenk der Treppe schwächten den Stahl, der sich durch den sinkenden Tanker immer stärker verbog. Als sie mehrmals mit dem Fuß ausholte und gegen die Rampe trat, brach das Scharnier schließlich ganz, so dass der obere Teil der Treppe gegen den Rumpf des Tankers peitschte.
Endlich frei, bedachte Maria den Tanker vom Bug der langsam sinkenden Jacht mit einem abfälligen Grinsen. Der Tanker würde noch ein gutes Stück treiben, ehe er explodierte, und sie hätte vielleicht sogar noch genügend Zeit, um auf der Kommandobrücke der Jacht ein wenig Schutz zu suchen. Aber zumindest, so dachte sie, würden Pitt und Lazio zusammen mit dem Schiff untergehen.
Sie hätte vielleicht mit ihrer Einschätzung recht gehabt, nur konnte sie nicht mit der ganz eigenen Rachsucht der Dayan rechnen.
81
Aus dem zwanzigsten Stock seines Bürohochhauses am östlichen Ufer des Bosporus verfolgte Ozden Celik die Entwicklung der Ereignisse mit zunehmendem Grauen. Er hatte kaum den Schatten des Tankers erkennen können, als er sich Istanbul im ersten schwachen Licht des Tages näherte. Aber der sich allmählich grau färbende Himmel hatte seinen Panoramablick erweitert, bis die hoch aufragenden Minarette der Süleyman-Moschee auf der anderen Seite der Meerenge deutlich zu erkennen waren.
Durch ein Fernglas mit extremer Vergrößerung, das auf einem Stativ ruhte, betrachtete er die Dayan in genau dem Moment, als ihr Rettungsboot vom Heck ins Wasser rutschte. Entsetzt verfolgte er, wie der Tanker unter der Galata-Brücke hindurchfuhr, während neben ihm die Suitana erschien und offensichtlich in eine Schießerei verwickelt wurde. Celik konnte den Schlag seines Herzens spüren, als er sah, wie der Tanker dann eine komplette Wende ausführte und am anderen Ende der Brücke wieder auftauchte.
»Nein, du sollst bei der Moschee auf Grund laufen und am Ufer liegen bleiben!«, beschimpfte er laut das schwerfällige Schiff.
Sein hilfloser Zorn steigerte sich noch, als wiederholte Mobiltelefonanrufe bei Maria unbeantwortet blieben. Er verlor die Jacht aus den Augen, als der Tanker wendete und seine Masse das kleinere Schiff vor seinen Blicken verbarg. Celik hielt den Atem an und hoffte, dass die Jacht umgekehrt war und durch das Goldene Horn flüchtete, um der Explosion zu entgehen, die jetzt unmittelbar bevorstand. Aber die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf, als die Dayan dicht an dem Baggerschiff vorbeizog, dann Kurs auf den Kanal nahm und zu erkennen war, dass sich die Jacht noch immer an ihrer Steuerbordflanke befand.
Das Fernglas erneut scharf stellend sah er seine Schwester auf dem Bug der Jacht, von wo aus sie zuerst auf den Tanker schoss und dann auf die Stahltreppe. Celik konnte nicht übersehen, dass der Tanker Schlagseite bekam und sich bedrohlich über sie neigte.
»Flieh! Verschwinde doch!«, rief Celik seiner Schwester aus gut drei Kilometern Entfernung zu.
Die Augenmuscheln gruben sich in seine Stirn, als er das Geschehen voller Entsetzen weiterverfolgte. Maria hatte es endlich geschafft, die Jacht aus der Umklammerung der Stahltreppe zu befreien, aber sie kam nicht sehr weit. Celik hatte keine Ahnung, dass die Motorjacht ihrer Schrauben beraubt worden war und selbst im Begriff war zu sinken. Verwirrt durch das, was er sah, konnte er nicht verstehen, warum die Jacht so nahe bei dem schwer krängenden Tanker blieb.
An seinem Aussichtspunkt auf der anderen Seite der Meerenge konnte Celik die Sinfonie von Knarr- und Stöhnlauten aus dem Innern des Tankers nicht hören, während sich sein Schwerpunkt verlagerte. Der massive Wassereinbruch über die gesamte Länge der Dayan verstärkte die Schlagseite nach Steuerbord, bis das Deck wie ein steiler Berg aufragte. Ein Klirren und Krachen hallte durch den Tanker, als Geschirr, Möbel und Ausrüstungsgegenstände den Kampf mit der Schwerkraft verloren und gegen die Steuerbordwände krachten.
Als die Steuerbordreling das Wasser berührte, rollte sich der mächtige Tanker vollends auf die Seite und blieb für mehrere Sekunden in dieser Lage. Die Dayan hätte auseinanderbrechen oder einfach auf der Seite liegend versinken können, stattdessen blieb sie aber in einem Stück und vollendete ihre Todesrolle mit einer eindrucksvollen Abschiedsgeste.
Maria, die immer noch auf dem Bug der Jacht stand, spürte, wie der Schatten des Tankers über ihren Körper hinwegwanderte, als das Schiff vollends umzukippen begann. Nur wenige Meter von der so viel größeren Dayan entfernt im Wasser treibend befand sich die Jacht vollständig in ihrer Reichweite. Ihrem vernichtenden Schlag zu entgehen war völlig unmöglich.
Maria blickte nach oben und hob einen Arm, als wollte sie den Schlag des mächtigen Tankers abwehren, als dieser sich herumrollte. Stattdessen wurde sie wie ein Insekt zerquetscht. Die kenternde Dayan krachte auf die Wasseroberfläche, deckte die Jacht zu und erzeugte eine drei Meter hohe Welle, die zur Küste rollte und die Ibn Battuta wie ein Ruderboot umwarf. Der dunkle, mit Muscheln und Krebsen überkrustete Rumpf des Tankers füllte den Horizont und seine riesige Bronzeschraube drehte sich träge vor dem Morgenhimmel. Ein gedämpftes Dröhnen von nachgebenden Stahlwänden sowie das Rauschen eindringenden Wassers hallten durch den Rumpf, während das kieloben treibende Schiff mit dem Bug voraus langsam in die Tiefe glitt.
Celik umklammerte das Fernglas mit zitternden Händen, während er mit ansehen musste, wie seine Schwester unter der Masse des gekenterten Tankers den Tod fand. Starr vor Schreck starrte er reglos auf die Szene, bis ihn seine Emotionen überwältigten. Er schleuderte das Stativ mit dem Fernglas laut brüllend quer durch sein Büro, sank auf die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte hemmungslos.
82
Celik war nicht der Einzige, der entsetzt verfolgte, wie der Tanker kenterte. Giordino stieg gerade in die Bullet, als er ein lautes Krachen hinter sich hörte und sich umwandte, um Zeuge zu werden, wie sich die Dayan auf die Motorjacht legte. Er schloss eilends die hintere Luke als die von der Dayan erzeugte Flutwelle die Ibn Battuta überrollte und das Tauchboot hochhob und von dem Baggerschiff wegtrug.
Giordino ließ schnell die Dieselmotoren an und nahm Kurs auf den Tanker. Er dachte voller Sorge an Pitt, der ihm Minuten zuvor von der Kommandobrücke des Tankers zugewunken hatte. Die Brücke befand sich jetzt tief unter Wasser, und alles, was er sehen konnte, war die kalte, leblose Unterseite des israelischen Tankers.
Ungeachtet der Gefahr, dass der Tanker jeden Moment explodieren konnte, jagte er an der ihm zugewandten Längsseite entlang. Überraschend wenig Abfall und Gerumpel war aus dem Tanker an die Wasseroberfläche gestiegen, als er umkippte, daher konnte er mit hoher Fahrt an ihm entlangfahren und im Kanal nach menschlichen Körpern Ausschau halten. Er wusste, dass Pitt im Wasser wie ein Delfin war. Falls er das Kentern überlebt hatte, bestand zumindest die Chance, dass er sich schwimmend hatte retten können.
Als er sich dem untergetauchten Bug näherte, schwang Giordino herum und lenkte das Tauchboot dicht an den Rumpf heran, entweder weil er nicht wusste oder weil es ihm egal war, dass die mit einem Zeitzünder versehenen Sprengladungen in weniger als zwei Minuten explodieren würden. Das Wasser vor ihm war leer, als er den mittleren Teil des Tankers passierte und sich seinem Heck näherte. Mit schwerem Herzen zog er die Möglichkeit in Erwägung, dass sein alter Freund es doch nicht geschafft haben könnte, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.
Die Gashebel ein winziges Stück nach vorne schiebend wollte er sich vom Schiff entfernen, als er zwei Seile entdeckte, die sich über den Rumpf spannten. Seltsamerweise schienen die Seile von der untergetauchten Backbordreling über den Rumpf und den Kiel zu verlaufen, und das nur ein kurzes Stück vor der Schraube. Mit einem Funken Hoffnung in den Augen gab Giordino eilig Gas und schwang um das breite Heck des Tankers herum, das jetzt in die Höhe stieg.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tankers sah er die Seile vom Kiel herabbaumeln, ansonsten aber war der Rumpf leer. Dann, knapp fünfzig Meter entfernt, entdeckte er im Wasser zwei Objekte. Er machte sofort kehrt, fuhr näher heran und sah voller Freude seinen Freund Pitt, der den verletzten Lazio vom Schiff wegschleppte.
Giordino hielt auf die beiden zu, schaltete die Maschinen auf Rückwärtslauf und ließ sich neben sie treiben. Pitt hievte Lazio auf einen Ponton, dann winkte er heftig ab, als Giordino Anstalten machte, die Luke zu öffnen.
»Keine Zeit«, rief Pitt. »Bring uns von hier weg!«
Giordino nickte, wartete dann, bis Pitt an Bord geklettert war und einen Arm um Lazio legte, ehe er Gas gab. Die beiden Männer wurden hin und her geworfen und mit Gischt überschüttet, als die Bullet in schneller Fahrt den Hafen durchquerte. Giordino nahm Kurs auf die Galata-Brücke, weil er sie als nächste Möglichkeit betrachtete, Schutz zu finden.
Die Bullet hatte noch etwa einhundert Meter bis zur Brücke vor sich, als ein dumpfer Donner über den Kanal hallte. Obwohl ein großer Teil des Sprengstoffs auf den Meeresgrund gesunken war, als die Dayan kenterte, waren etwa die Hälfte der ANFO-Ladung und der größte Teil des HMX in den beiden vorderen Laderäumen geblieben. Aber da das Schiff über den Bug versank, befanden sich die beiden gefluteten Laderäume fast vollständig unter Wasser, so dass die Sprengwirkung weitgehend neutralisiert wurde.
Eine schnelle Folge von weiteren Donnerschlägen erklang, als die zeituhrgesteuerten Sprengkapseln gezündet wurden, und dann riss eine mächtige Explosion den Rumpf des Tankers auf. Der Explosionsdonner rollte wie ein Überschallknall die Hügel hinauf und durch die Straßen Istanbuls. Eine Fontäne weißer Gischt wallte von der Unterseite des Tankers hoch und stieg zusammen mit Stahlsplittern und anderen Trümmern gut dreißig Meter in die Luft. Die gezackten Brocken regneten auf einem etwa eine Viertelmeile breiten Streifen als tödlicher Hagelsturm vom Himmel herab.
Aber die entsetzliche Druckwelle erwies sich als weitgehend harmlos. Auf Grund der Lage des sinkenden Tankers verpuffte der Explosionsdruck hauptsächlich in Richtung Bosporus. Pitts letzte Kursänderung hatte dafür gesorgt, dass sich die Sprengwirkung vom Ufer weg und ins freie Wasser hinein entfaltete.
Während der Trümmerregen in der Bucht niederging, erklang vom Tanker ein lautes Knirschen, als der durchlöcherte Teil des Rumpfs nachgab. Der halb zerrissene Bug brach ab und sackte sofort auf den Grund des Kanals, während der restliche Rumpf nur für ein paar Sekunden an der Wasseroberfläche ausharrte, bevor er ebenfalls unterging.
Die Bullet trieb unter einem Bogen der Galata-Brücke und tanzte wie ein überdimensionaler Korken auf den Wellen, als Giordino die Kabine des Tauchboots verließ, um nach seinen Passagieren zu sehen.
»Danke fürs Abholen«, sagte Pitt, während er sich um Lazio kümmerte.
»Ihr habt aber mal wieder bis auf den letzten Drücker gewartet«, erwiderte Giordino.
»Wir hatten Glück. Maria Celik wollte uns als Ziele für Schießübungen an der Steuerbordreling missbrauchen, daher sind wir auf dem Deck hochgeklettert. Zufällig haben wir zwei Leinen gefunden, die an Backbord herabgelassen worden waren, so dass wir an ihnen runterklettern konnten, als das Schiff umkippte. Dann sind wir über den Kiel gekrochen und an der anderen Seite ins Wasser gegangen, um von der Jacht wegzukommen.«
»Ihr hättet euch deswegen keine Sorgen machen müssen«, meinte Giordino grinsend. »Sie ist jetzt so platt wie ein Pfannkuchen.“
»Irgendwelche Überlebenden?« Giordino schüttelte den Kopf.
»Lazio muss schnellstens in ärztliche Behandlung«, sagte Pitt. »Wir sollten ihn lieber an Land bringen.«
Er und Giordino halfen dem Kommandosoldaten ins Tauchboot, dann schlugen sie die Richtung zum südlichen Ufer ein.
»Das war ein ziemlich heftiger Knall«, sagte Giordino zu Pitt. »Aber es hätte auch noch um einiges schlimmer sein können.«
Pitt nickte nur und blickte aus dem Cockpitfenster.
Vor ihnen ragten die massigen Überreste des israelischen Tankers mit dem Heck hoch in die Luft. Das Schiff stand wie aus Trotz nahezu senkrecht, ehe es wie ein Stein abtauchte und unter den Wellen verschwand. Irgendwo, nicht weit entfernt auf der anderen Seite der Meerenge, gingen die bizarren Träume von einer neuen osmanischen Dynastie mit ihm unter.
83
Die Tankerexplosion erschütterte Istanbul eher politisch als physisch. Der offiziell bestätigte Verlust des Polizeiboots und des Patrouillenboots der Küstenwache in Verbindung mit dem Sprengstoffanschlag versetzte die Streitkräfte des Landes in höchste Alarmbereitschaft. Als der Tanker als die Dayan identifiziert wurde, flogen Beschuldigungen auf höchster Ebene über diplomatische Kanäle zwischen Israel und der Türkei hin und her. Proteste verängstigter Einwohner der Stadt hatten schon beinahe eine militärische Reaktion zur Folge. Aber die Befürchtungen, einen türkisch-israelischen militärischen Konflikt betreffend, wurden schnell beschwichtigt, als die Behörden die gerettete Crew der Dayan fanden.
In öffentlichen Interviews beschrieben die Mannschaftsmitglieder ihre Entführung und die Gefangenschaft in der Gewalt der unbekannten Gangster. Die türkische öffentliche Meinung schlug sehr schnell um, als die Männer berichteten, dass sie mit Waffengewalt gezwungen worden waren, den Sprengstoff einzuladen und beinahe selbst an Bord ihres Schiffes ums Leben gekommen wären, wenn sie nicht in letzter Minute gerettet worden wären. Nachdem sie Lazio in einem Krankenhaus in sicherer Obhut wussten, hatten Pitt und Giordino die Behörden vertraulich über ihre Rolle bei der Versenkung des Tankers informiert.
Als der amerikanische Geheimdienst Beweise vorlegte, dass der gleiche HMX-Sprengstoff bei den Anschlägen auf die Moscheen in Bursa, Kairo und Jerusalem benutzt worden war, handelten die türkischen Streitkräfte schnell und gründlich. Augenblicklich wurden geheime Razzien in Celiks Privatwohnung, in seinem Büro und im Frachthafen durchgeführt, während die Ottoman Star in griechischen Gewässern aufgespürt und beschlagnahmt wurde. Als der öffentliche Druck zunahm, diejenigen zu identifizieren, die hinter dem Anschlag steckten und zu ermitteln, warum, konnte die offizielle Untersuchung nicht länger geheim bleiben.
Mit der Bekanntgabe ihrer Namen wurden Ozden und Maria Celik zu Ausgestoßenen und einer Quelle nationaler Scham. Als dann später herauskam, dass sie den Einbruch in den Topkapi-Palast inszeniert hatten, verwandelten sich nationale Scham und Wut schnell in regelrechten Volkszorn. Ermittler wie auch Journalisten beschäftigten sich mit der bislang wenig bekannten Vergangenheit des Paares und enthüllten sowohl seine Verbindungen zur letzten osmanischen Herrscherfamilie als auch zu Unterweltbossen und Drogenschmugglern, die Ozden Celik erst zu seinen zahlreichen Unternehmensbeteiligungen verholfen hatten.
Zwangsläufig wurden auch die Finanzgeschäfte der Celiks mit dem arabischen Königsadel enthüllt, was zu der Erkenntnis führte, dass Millionen von Dollars in Mufti Battals Wahlkampfkassen geleitet worden waren. Ziel und Zweck der von den Celiks organisierten Anschläge wurden nun offensichtlich, und der öffentliche Zorn richtete sich gegen Mufti Battal und seine Glückseligkeitspartei. Obgleich keinerlei Beweise dafür gefunden wurden, dass der Mufti in die terroristischen Anschläge verwickelt gewesen war oder auch nur davon gewusst hatte, war der Schaden angerichtet und nicht wiedergutzumachen.
Die schuldhafte Beteiligung der Celiks galt schließlich als erwiesen, als Taucher auf den Grund des Goldenen Horns vorstießen. Die zertrümmerten Überreste der Suitana wurden nicht weit von dem geborstenen Rumpf des Tankers gefunden. Ein Bergungsteam holte das Wrack aus dem Wasser, wo es einem kriminaltechnischen Team der Polizei überlassen blieb, die zerschmetterte Leiche von Maria Celik vom plattgewalzten Deck der Motorjacht zu entfernen.
Da sein Name ruiniert und sein gesamter Besitz beschlagnahmt worden war und die sterbliche Hülle seiner Schwester in einem Leichenschauhaus der Polizei von Istanbul lag, war von Ozden Celiks Kaiserreich nichts mehr übrig - außer ihm selbst.
Allerdings war er offensichtlich spurlos von der Bildfläche verschwunden.
84
Das Freitagmittag-Gebet, Khutab genannt, war üblicherweise der am besten besuchte muslimische Gottesdienst der Woche. Es war der Zeitpunkt, da der die Moschee leitende Imam eine eigene glaubensfördernde Predigt hielt, ehe er mit seiner Gemeinde die vorgeschriebenen Gebete anstimmte.
In Istanbuls Fatih-Moschee blieb der Gebetsraum ungewöhnlich leer, obwohl der Muezzin kurz vorher zum Gebet gerufen hatte. Beim Khutab herrschte normalerweise ein derart großes Gedränge, dass sich Dutzende von Gläubigen vor der Gebetshalle und im Hof der Moschee drängten, um einen Blick auf Mufti Battal zu erhaschen, während sie seiner hoffnungsvollen Botschaft lauschten. Aber das war an diesem Tag nicht der Fall.
Kaum fünfzig Anhänger standen in der offenen Halle, als Mufti Battal hereinkam und ein Podium unweit der Mihrab betrat. Der einst so mächtige und imposante Mufti sah aus, als wäre er in der vorangegangenen Woche um zwanzig Jahre gealtert. Seine Augen waren eingesunken und kalt, sein Teint bleich und leblos. Die stolze Haltung und die zur Schau getragene Überlegenheit, die seinen Aufstieg zur Macht gefördert hatten, fehlten vollkommen. Er betrachtete die spärliche Versammlung und begann zu zittern, während er das Gefühl der Wut unterdrückte.
Mit unterdrückter Stimme begann er seine Schimpftirade gegen die gefährlichen, ungebändigten Mächte des Establishments. In völlig untypischer Weise schweifte er dann ab, faselte unzusammenhängendes Zeug und zählte einen Katalog angeblicher Übel und Bedrohungen auf. Die ernsten Gesichter, die ihn ernüchtert ansahen, stoppten seine Hetzrede. Indem er seine Predigt abrupt beendete, zitierte er eine Passage aus dem Koran, die das Thema der Erlösung zum Inhalt hatte, dann stimmte er mit der kleinen Versammlung ein Gebet an.
Da er die Nähe seiner Brüder nach Möglichkeit mied, ging er schnell auf eine Seite der Gebetshalle und betrat ein Vorzimmer, das er sich als kleines Büro eingerichtet hatte. Zu seiner Überraschung traf er dort einen bärtigen Mann an, der vor seinem Schreibtisch saß. Er war mit dem verwaschenen weißen Hemd und der Hose eines Arbeiters bekleidet und trug dazu einen breitkrempigen Hut, der sein Gesicht teilweise verdeckte.