»Wer hat dich reingelassen?«, donnerte Battal den Mann an.

Der Fremde stand auf und hob den Kopf, um Battal in die Augen zu blicken, dann zog er an seinem falschen Bart.

»Ich habe mich selbst eingelassen, Altan«, erwiderte die brüchige Stimme Ozden Celiks.

Unter der Verkleidung eines einfachen Bürgers unterschied sich seine äußere Erscheinung kaum von der Battals. Er hatte das gleiche eingefallene, hagere Gesicht und die gleiche teigige Haut. Nur seine Augen brannten stärker, fanatischer.

»Du bringst mich in Gefahr, wenn du hierherkommst«, zischte Battal. Er ging schnell zur Hintertür, öffnete sie und sah wachsam hinaus.

»Komm, folge mir«, sagte er zu Celik, dann schlüpfte er durch die Tür.

Er ging voraus durch einen Korridor und betrat im hinteren Teil der Moschee einen nur selten benutzten Vorratsraum. Eine Waschmaschine stand in einer Ecke. Davor waren an einer Wäscheleine einige Handtücher zum Trocknen aufgehängt. Während Celik ihm in den Raum folgte, schloss Battal die Tür hinter ihm und verriegelte sie.

»Warum bist du hergekommen?«, fragte er ungehalten.

»Ich brauche deine Hilfe, um das Land zu verlassen.«

»Ja, dein Leben in der Türkei ist beendet. Fast genauso wie meins.«

»Ich habe alles für dich geopfert, Altan. Meinen Reichtum, meinen gesamten Besitz, nun sogar meine Schwester«, fügte er mit zitternder Stimme hinzu. »Es geschah alles mit dem Ziel, dich zum Präsidenten zu machen.«

Battal starrte Celik nur noch hasserfüllt an.

»Du hast mich vernichtet, Ozden«, sagte er mit zorngerötetem Gesicht. »Ich wurde bei der Wahl niedergewalzt. Meine Gönner haben mich im Stich gelassen. Meine Anhänger haben mich verlassen. Alles nur, weil du meinen Ruf befleckt hast. Und jetzt dies.«

Er holte einen Brief aus einer Tasche und schleuderte ihn Celik entgegen. Der Türke ignorierte ihn jedoch und schüttelte nur den Kopf, während das Blatt Papier auf den Boden flatterte.

»Er kommt vom Dyanet. Ich bin als Mufti von Istanbul abgesetzt worden.« Battals Augen brannten, als er Celik wütend anstarrte. »Du hast mich wirklich vollständig vernichtet.«

»Alles geschah doch nur, um dir zu deiner Bestimmung zu verhelfen«, erwiderte Celik leise.

Battal konnte sich nicht länger unter Kontrolle halten. Er packte Celik vorne an seinem Hemd und schleuderte ihn quer durch den Raum. Celik stolperte gegen die Wäscheleine, zerriss sie und stürzte - mit Handtüchern bedeckt - zu Boden. Er wollte sich auf die Füße kämpfen, doch Battal war schon bei ihm. Er schnappte sich das lose Ende der Wäscheleine, wand es um Celiks Hals und zog die Schlinge zu. Celik wehrte sich heftig, schlug und trat nach dem Mufti. Doch Battal war zu groß und zu kräftig und zu sehr von Rachegedanken getrieben. Rasend vor einer lange nur mühsam gebändigten Wut ignorierte er Celiks Schläge und zog noch kräftiger an der Wäscheleine.

Die schreckliche Ironie, erwürgt zu werden, entging Celik nicht. Verzweifelt nach Luft ringend sah er vor seinem geistigen Auge eine Parade seiner eigenen erwürgten Opfer aufmarschieren, während das Leben allmählich aus seinem Körper entwich. Nach einem letzten verzweifelten Versuch, sich zu befreien, konnte er den Mufti nur noch mit einer Mischung aus Angst und Trotz ansehen, ehe sich seine Augen nach hinten rollten und sein Körper erschlaffte. Battal hielt Celik noch für weitere fünf Minuten in seinem tödlichen Griff. Dies geschah weniger, um ganz sicherzugehen, als aus psychotischer Raserei. Schließlich ließ er ihn los, wich von dem Toten zurück und verließ den Vorratsraum schwankend, mit zitternden Händen und einem für immer gestörten Geist.

Am späten Vormittag des nächsten Tages wurde Celiks Leiche von einem Bosporusfischer entdeckt. Heimlich in den Hafen geworfen, war sie während der Nacht durchs Goldene Horn getrieben, ehe sie an der Saray-Spitze angeschwemmt wurde.

Der jeder Würde beraubte Körper von Ozden Celik - sowohl echter wie eingebildeter Würde -, wurde nur wenige Schritte vor den Mauern des Topkapi-Palastes gefunden, im Schatten der Pracht seiner legendären Vorfahren. Er war der letzte Osmane gewesen.

 

85

 

Pitt und Giordino trafen Lazio im dritten Stock des Istanbul Hospitals in einem freundlichen, aber schwer bewachten Zimmer mit Blick auf den Bosporus. Der Kommandosoldat lag im Bett und las in einer drei Tage alten Ausgabe der Haaretz, einer israelischen Tageszeitung, als die beiden Männer eintreten durften.

»Erzählen Sie mir bloß nicht, dass Sie zu Hause noch immer die Schlagzeilen beherrschen«, sagte Pitt, während er ihm die Hand schüttelte.

»Es tut gut, Sie zu sehen, meine Freunde«, erwiderte Lazio und ließ mit verlegener Miene die Zeitung sinken. »Ja, wir sind in Israel noch immer die ganz große Neuigkeit. Ich muss jedoch zu meinem Bedauern anmerken, dass offenbar ich es bin, dem der ganze Ruhm zuteil wird. Dabei waren Sie es doch, der den Tanker lahmgelegt hat«, sagte er zu Pitt. »Und alles wäre nicht möglich gewesen ohne die Bullet«, fügte er zu Giordino gewandt hinzu.

»Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass es eine Mannschaftsleistung war«, erklärte Pitt.

»Unter anderem haben wir drei die Beziehungen meines Landes mit der Türkei um das Zehnfache verbessert«, prahlte Lazio.

»Davon ganz zu schweigen, dass wir dabei geholfen haben, Atatürks Vision von einer säkularen Regierung der Türkei für ein paar weitere Jahre am Leben zu erhalten«, bemerkte Pitt.

»Ich finde, jemand sollte uns für den Nobelpreis nominieren«, sagte Giordino grinsend.

»Wie ich gehört habe, hat man heute Morgen die Leiche Celiks gefunden«, sagte Lazio.

»Ja, er wurde offenbar erwürgt und dann ins Goldene Horn geworfen«, sagte Pitt.

»Sind Sie mir etwa zuvorgekommen?«

Pitt lächelte. »Diesmal nicht. Ein Polizeidetektiv hat uns erzählt, man sei ziemlich sicher, dass Mufti Battal der Täter ist. Ein Undercoverpolizist in Battals Moschee hat einen Mann, auf den die Beschreibung Celiks und seiner Kleidung zutraf, etwa zur geschätzten Zeit seines Todes im Gebäude gesehen.«

»Das reinste Teufelspaar, wenn Sie mich fragen«, sagte Lazio.

Eine attraktive Krankenschwester kam für einen Moment herein, um Lazios Medikamente zu bringen, und ging dann, verfolgt von seinem wachsamen Blick, wieder hinaus.

»Sie können es wohl kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen, nicht wahr, Lieutenant?«, sagte Giordino.

»Nicht unbedingt«, erwiderte Lazio grinsend. »Und übrigens heißt es jetzt Commander Lazio. Ich bin nämlich befördert worden.«

»Dann will ich Ihnen gern als Erster gratulieren«, sagte Giordino und steckte ihm eine Flasche Whisky zu, die er ins Krankenhaus geschmuggelt hatte. »Vielleicht finden Sie hier jemanden, mit dem sie sie köpfen können«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Ihr Amerikaner seid schon in Ordnung«, erwiderte Lazio und lachte.

»Wie sind denn die Aussichten?«, fragte Pitt.

»Ich soll in einer Woche in Tel Aviv operiert werden, danach folgen ein paar Wochen Rehabilitationstherapie. Aber schließlich soll ich dann vollständig wiederhergestellt sein - und hoffe, noch vor Ende des Jahres meinen Dienst wieder antreten zu können.«

Sie wurden unterbrochen, als ein Mann in einem Rollstuhl hereinkam. Eins seiner Beine trug einen Gipsverband.

»Abel, da sind Sie ja«, hieß Lazio ihn willkommen. »Es wird Zeit, dass Sie die Männer richtig kennen lernen, die geholfen haben, Ihnen das Leben zu retten.«

»Abel Hammet, Chef der Dayan. Oder Ex-Chef, sollte ich wohl lieber sagen«, begrüßte er Pitt und Giordino herzlich. »Lazio hat mir alles geschildert, was Sie getan haben. Sie haben wirklich eine Menge riskiert, meine Mannschaft und ich können Ihnen gar nicht genug danken.«

»Es tut mir leid, dass Ihr Tanker am Ende doch noch dran glauben musste«, erwiderte Pitt.

»Die Dayan war ein gutes Schiff«, sagte Hammet wehmütig. »Aber die noch bessere Nachricht ist, dass wir ein ganz neues Schiff bekommen werden. Die türkische Regierung hat zugesagt, einen Ersatz für uns zu bauen, offenbar unter Verwendung der beschlagnahmten Vermögenswerte eines gewissen Ozden Celik zur Abdeckung der Kosten.«

»Wer sagt denn, dass es keine Gerechtigkeit auf der Welt gibt?«, meinte Giordino augenzwinkernd.

Während die Männer in Gelächter ausbrachen, sah Pitt auf seine Uhr.

»Also, die Aegean Explorer soll in etwa einer Stunde ablegen«, sagte er. »Ich fürchte, wir müssen uns auf den Weg machen.«

Er schüttelte Hammet die Hand, dann wandte er sich an Lazio.

»Commander, ich würde mich freuen, Sie irgendwann einmal wieder an meiner Seite zu haben«, sagte er.

»Es wäre mir eine große Ehre«, entgegnete Lazio.

Während Pitt und Giordino zur Tür gingen, hatte Lazio noch eine Frage.

»Und wohin geht es jetzt? Zurück zu Ihrem Schiffswrack?«

»Nein«, erwiderte Pitt. »Wir nehmen Kurs auf Zypern.«

»Zypern? Was erwartet Sie denn dort?«

Pitt lächelte rätselhaft.

»Eine göttliche Offenbarung, hoffe ich.«

 

TEIL IV

 

86

 

St. Julien Perlmutter hatte sich gerade in einem überdimensionalen Ledersessel niedergelassen, als das Telefon klingelte. Sein Lieblings-Leseplatz war maßgeschneidert, da er seinen fast vierhundert Pfund Lebendgewicht ausreichend Raum bieten musste. Er warf einen Blick auf eine Großvateruhr in seiner Nähe und stellte fest, dass sie fast Mitternacht zeigte. Dann griff er an einem hohen Glas Portwein, das auf einem Beistelltisch stand, vorbei und nahm den Telefonhörer ab.

»Julien, wie geht es dir?«, fragte eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Also, wenn das nicht der Retter Konstantinopels ist«, erwiderte Perlmutter mit dröhnender Stimme. »Mit großem Entzücken habe ich alles über deine Heldentaten am Goldenen Horn gelesen, Dirk. Ich hoffe, du hast bei der Affäre keine Blessuren davongetragen.«

»Nein, mir geht es gut«, erwiderte Pitt. »Und übrigens heißt es heute Istanbul.«

»Bullenpisse. Es hieß sechzehn Jahrhunderte lang Konstantinopel. Lächerlich, das jetzt zu ändern.«

Pitt amüsierte sich immer wieder über seinen alten Freund, der den größten Teil seines Wachzustands in der Vergangenheit verbrachte. »Ich erwische dich doch hoffentlich nicht im Bett?«, fragte er.

»Nein, ganz und gar nicht. Ich hab es mir gerade mit einer Kopie von Captain Cooks Aufzeichnungen über seine erste Pazifikreise gemütlich gemacht.«

»Irgendwann einmal müssen wir unbedingt nachschauen, was von der Endeavor noch übrig ist«, sagte Pitt.

»Aye, das wäre fürwahr eine edle Mission«, lobte Perlmutter. »Aber - wo bist du gerade, Dirk, und weshalb so spät?«

»Wir haben soeben in Limassol, Zypern, angelegt, und ich schlage mich mit einem Rätsel herum, für dessen Auflösung ich deine Hilfe brauchen könnte.«

Die Augen des massigen, bärtigen Mannes blinzelten fröhlich, als er diese Worte hörte. Als einer der auf der ganzen Welt führenden Seefahrtshistoriker hatte Perlmutter eine besondere Vorliebe für nautische Rätsel, die seine Begeisterung für gutes Essen und Trinken noch bei weitem überstieg. Auf Grund seiner langjährigen Freundschaft mit Pitt wusste er, dass sein Freund, wenn er sich meldete, gewöhnlich etwas höchst Verlockendes in petto hatte.

»Sprich, bitte«, sagte Perlmutter mit seiner sonoren Bassstimme.

Pitt berichtete ihm zunächst von dem osmanischen Schiffswrack und seinen römischen Artefakten, dann erzählte er von dem Manifest und seiner Inhaltsliste.

»Meine Güte, was für eine fantastische Fracht«, sagte Perlmutter. »Nur ein Jammer, dass wahrscheinlich sehr wenig davon, wenn überhaupt irgendetwas, zwei Jahrtausende im Meer überdauert haben dürfte.«

»Ja, das Ossuarium könnte das Beste sein, was man sich erhoffen kann.«

»Das wäre wie ein Stich ins Hornissennest«, sagte Perlmutter.

»Wenn davon noch irgendetwas existiert, dann muss es gefunden werden«, erwiderte Pitt.

»Absolut. Sogar ohne Fracht wäre eine intakte römische Galeere ein Sensationsfund. Habt ihr einen besondern Startpunkt, von wo aus man mit der Suche beginnen könnte?«

»Das ist der Zweck meines Anrufs«, sagte Pitt. »Ich hatte gehofft, dass du vielleicht von irgendwelchen noch nicht eindeutig identifizierten Wracks vor der Südküste Zyperns weißt. Jede Art von Information über die historischen Handelsrouten in der Umgebung der Insel könnte eine große Hilfe sein.«

Perlmutter überlegte einen Moment lang. »Ich habe ein paar Quellen, die von Nutzen sein könnten. Gib mir zwei Stunden, und ich sehe, was ich tun kann.«

»Danke, Julien.«

»Sag mal, Dirk«, fügte Perlmutter hinzu, ehe er auflegte, »wusstest du eigentlich, dass Zypern früher mal die besten Weine des römischen Imperiums hervorgebracht hat?«

»Was du nicht sagst.«

»Ein Glas Commandaria, habe ich gehört, schmeckt heute noch genauso wie vor zweitausend Jahren.«

»Ich werde zusehen, dass ich dir eine Flasche mitbringe, Julien.«

»Du bist wirklich ein guter Mansch, Dirk. Mach's gut.«

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, trank Perlmutter einen ausgiebigen Schluck von seinem Portwein und ließ sich sein schweres, süßes Aroma auf der Zunge zergehen. Dann wuchtete er seine massige Gestalt auf die Füße, trat zu einem deckenhohen Regal, das mit nautischen Fachbüchern vollgestopft war, und begann, leise eine Melodie vor sich hinsummend, die Titel durchzublättern.

 

Es war keine zwei Stunden später, als das Satellitentelefon auf der Aegean Explorer klingelte und auf seinem Display den Rückruf Perlmutters anzeigte.

»Dirk, bisher habe ich nur eine Kleinigkeit gefunden, aber es könnte immerhin ein Anfang sein«, sagte der Historiker.

»Jede Kleinigkeit hilft«, erwiderte Pitt.

»Es ist ein Schiffswrack aus dem vierten Jahrhundert und wurde in den 196oern von Sporttauchern entdeckt.“

»Römisch?«, fragte Pitt.

»Ich bin nicht sicher. Der archäologische Bericht, der mir vorliegt, ist ziemlich alt, aber er erwähnt, dass sich unter den geborgenen Artefakten auch römische Waffen befanden. Wie du weißt, war Zypern für die Römer militärisch betrachtet niemals von hohem Interesse, eher schon als Handelszentrum für Kupfer und Getreide. Und natürlich für Wein. Daher könnte das Vorhandensein von Waffen in dem Wrack durchaus von Bedeutung sein.«

»Spekulation hin oder her, auf jeden Fall lohnt es sich, einmal nachzusehen. Wo liegt das Wrack?«

»In der Nähe einer Stadt namens Pissouri, ganz in eurer Nähe an der Südküste. Das Wrack wurde eine Viertelmeile vom öffentlichen Strand entfernt gefunden. Ich fand noch einen weiteren Hinweis, aus dem hervorgeht, dass es in den Neunzigern teilweise ausgegraben wurde und dass die gefundenen Artefakte im Archäologischen Museum des Bezirks Limassol zu besichtigen sind.«

»Das ist ja günstig«, sagte Pitt. »Passt der Fundort denn auch zu den römischen Handelsrouten?«

»Eigentlich folgten die Handelsschiffe in jener Zeit, wenn sie von Judäa nach Konstantinopel segelten, der levantinischen Küste. Das Gleiche gilt für die römischen Galeeren, die sich ebenfalls in Küstennähe hielten, weil sie dort die ruhigeren Gewässer vorfanden. Aber unsere Kenntnisse von den damaligen maritimen Praktiken sind noch ziemlich dürftig.«

»Es könnte durchaus sein, dass sie niemals die Absicht hatten, Zypern anzulaufen«, meinte Pitt. »Danke, Julien, wir werden uns das Wrack einmal ansehen.«

»Ich werde erst mal weitersuchen. Ansonsten wünsche ich euch eine gute Jagd.«

Während Pitt das Gespräch beendete, tauchten seine beiden Kinder mit Reisetaschen über den Schultern auf der Kommandobrücke auf.

»Wollt ihr das Schiff schon verlassen, bevor wir überhaupt mit unserer Suche begonnen haben?«, fragte Pitt.

»Hast du einen Ausgangspunkt?«, fragte Summer.

»Der gute Mr. Perlmutter hat mir gerade geholfen, ein Suchmuster festzulegen.«

»Und ich habe Dirk überredet, mir bei der Suche im örtlichen Archiv behilflich zu sein«, sagte sie. »Ich dachte, ich könnte mal nachschauen, ob ich irgendeinen Hinweis auf das Manifest oder vielleicht sogar eine Geschichte der Piraterie in diesen Gewässern finde. Es macht dir doch nichts aus, wenn wir erst in ein oder zwei Tagen wieder zu euch stoßen?«

»Nein, deine Idee klingt ganz gut. Wo wollt ihr mit eurer Suche beginnen?«

Summer sah ihren Vater ein wenig ratlos an. »Um ganz ehrlich zu sein, wir haben uns noch gar nicht damit beschäftigt, welche Stellen wir aufsuchen könnten. Hast du keinen Vorschlag?«

Pitt konnte sich bei dieser Bitte ein Grinsen nicht verkneifen, während er auf einen Zettel schaute, auf dem er sich während seines Gesprächs mit Perlmutter einige Notizen gemacht hatte.

»Wie es der Zufall will«, sagte er mit einem Augenzwinkern, »weiß ich sogar ganz genau, wohin ihr euch als Erstes wenden solltet.«

 

87

 

Summer und Dirk fanden das Archäologische Museum Limassol in einem modernen Gebäude östlich des Stadtzentrums, nicht weit vom Stadtpark entfernt. Zahlreiche Keramiken und Artefakte aus der wechselvollen Geschichte Zyperns, einige davon über zweitausend Jahre alt, wurden in schlichten Glasvitrinen in den drei Flügeln des Gebäudes ausgestellt. Summer bewunderte ein Arrangement von altertümlichen Tierfiguren aus Terracotta, während sie auf den Kurator des Museums warteten.

»Ich bin Giorgos Daneiiis. Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte ein Mann mit einem runden Gesicht und einem griechischen Akzent.

Summer stellte sich und ihren Bruder vor. »Wir interessieren uns für das Schiffswrack aus dem vierten Jahrhundert, das in der Nähe von Pissouri gefunden wurde«, erklärte sie.

»Ja, das Pissouri-Wrack«, sagte Daneiiis und nickte. »Die Ausstellung befindet sich in Saal drei.«

Während er sie zu dem Raum führte, fragte er: »Kommen Sie vom Britischen Museum?«

»Nein, wir arbeiten für die National Underwater and Marine Agency«, sagte Dirk.

»Oh, Verzeihung«, entschuldigte sich der Kurator. »Vor ein paar Tagen war schon mal jemand hier und erkundigte sich nach denselben Exponaten. Ich dachte, Sie hätten miteinander zu tun.«

Er trat zu einem großen Glaskasten, der mit Dutzenden von Artefakten gefüllt war. Summer stellte fest, dass es sich vorwiegend um Keramikbehälter sowie einige verwitterte Holzfragmente mit rostigen Eisenbeschlägen handelte.

»Was können Sie uns über das Schiff erzählen?«, fragte Dirk.

»Es datiert aus der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts«, sagt der Kurator und deutete auf eine korrodierte Silbermünze auf dem unteren Glasboden. »Auf diesem römischen Dinar, der in dem Wrack gefunden wurde, ist Kaiser Konstantin mit Lorbeerkranz dargestellt, was daraufhinweist, dass das Schiff um das Jahr 330 versenkt wurde.«

»War es eine römische Galeere?«, wollte Dirk wissen.

»Es gab zwar einige Spekulationen in dieser Richtung, als das Wrack gerade erst entdeckt worden war, aber die meisten Experten tippen eher auf eine Handelsgaleere. Holzproben beweisen, dass das Schiff aus libanesischem Pinienholz gebaut wurde, was diese Hypothese unterstützt.« Er deutete auf ein Gemälde an einer der Wände, auf dem eine Galeere mit hohem Bugüberhang und zwei Rechtecksegeln dargestellt war.

»Die Experten meinen, dass die Galeere wahrscheinlich Getreide oder Olivenöl geladen hatte.«

Dirk deutete auf einen von Seewasser zerfressenen Schwertgriff, der hinter einem Tontopf lag.

»Hatte das Schiff auch Waffen an Bord?«, wollte Dirk weiter wissen.

Der Kurator nickte. »Angeblich war dort noch viel mehr, aber ich fürchte, dieses Schwertfragment ist alles, was wir noch bergen konnten. Die Archäologen waren gezwungen, unter Zeitdruck zu arbeiten, da man feststellte, dass der Fundort des Wracks systematisch von Dieben geplündert wurde. Ich habe gehört, dass sehr viele Waffen entfernt wurden, bevor die Archäologen eintrafen.«

»Wie erklären Sie sich all diese Waffen auf einem Handelsschiff?«, wollte Summer wissen.

Der Kurator zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Vielleicht waren sie ein Teil der Fracht. Oder vielleicht befand sich auch ein hochrangiger Beamter an Bord.«

»Oder es gibt noch eine weitere Möglichkeit«, überlegte Dirk.

Daneiiis und Summer sahen ihn gespannt an.

»Mir kommt es so vor«, sagte er, »als könnte dieses Schiff ein Piratenschiff gewesen sein. Es erinnert mich an einen Bericht, den ich in Caesarea gelesen habe. Dort war die Rede von einem zypriotischen Piratenschiff, auf dem römische Waffen gefunden worden waren.«

»Ja, das könnte durchaus der Fall sein«, erwiderte der Kurator lebhaft. »Einige der persönlichen Gegenstände der Mannschaft erscheinen für jene Zeit nämlich auffallend luxuriös«, fügte er hinzu und deutete auf einen Glasteller und einen besonders kunstvoll geformten Keramikkelch.

»Mr. Daneiiis, gibt es in den zypriotischen Gewässern noch andere bekannte Wracks aus dieser Zeit?«, fragte Summer.

»Nein. Vor der Bordküste liegt ein Wrack, das möglicherweise aus der Bronzezeit datiert, aber das wäre dann auch das älteste Wrack, von dem ich weiß. Wofür genau interessieren Sie sich denn?«

»Wir suchen Informationen über eine römische Galeere, die im Auftrag Konstantins unterwegs war und möglicherweise in zypriotischen Gewässern verschollen ist. Sie müsste in etwa zu der gleichen Zeit unterwegs gewesen sein wie das Pissouri-Wrack.«

»Davon weiß ich nichts«, meinte der Kurator und schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber Sie könnten dem Kloster Stavrovouni einen Besuch abstatten.«

Summer sah ihn skeptisch an. »Warum einem Kloster?«

»Na ja, abgesehen davon, dass es eine wirklich großartige Sehenswürdigkeit ist«, erwiderte Daneiiis, »hat das Kloster seinerzeit Konstantins Mutter, Helena, als Unterkunft gedient, als sie mit dem Heiligen Kreuz im Gepäck von ihrer Reise ins Heilige Land zurückkehrte.«

 

88

 

Die Aegean Explorer kroch in kurzem Abstand an der Küstenlinie entlang, dann schwenkte sie abrupt herum und steuerte im gleichen trägen Tempo aufs Meer hinaus. Ein dünnes isoliertes Kabel spannte sich von ihrem Heck hinab ins Wasser und verschwand unter der Wasseroberfläche. Fünfzig Meter weiter zog das gleiche Kabel an einem kleinen zigarrenförmigen Geräteträger, der wenige Meter über dem Meeresboden durchs Wasser glitt. Ein Paar Signalwandler an dem Geräteträger schickten Schallwellen auf den Meeresgrund und maßen die Zeit, bis sie das Echo aufzeichneten. Prozessoren an Bord des Schiffes wandelten die Sonarsignale in ein visuelles Bild um und lieferten so eine optische Simulation der Bodenkonturen.

Pitt saß auf der Kommandobrücke des Schiffes und betrachtete auf einem Videomonitor die Sonarbilder und verfolgte, wie ein hügliger, mit Steinen übersäter Meeresboden unter dem Schiff vorbeiglitt. Giordino, der dicht hinter ihm stand und ihm über die Schulter blickte, machte eine kurze Pause, richtete sich auf und schaute durch ein Fernglas zum Strand hinüber.

»Gefällt dir das Panorama?«, fragte Gunn.

»Es könnte noch schöner sein«, erwiderte Giordino. »Obwohl es durch ein Paar reizender Ladys aufgepeppt wird, die gerade in einer Strandhöhle vor der Sonne Schutz suchen.«

Der Strand von Pissouri war ein schmaler Streifen Sand vor hohen Felsklippen, an denen das Dorf gleichen Namens klebte. Wenn es auch bei den englischen Soldaten, die in der nahe gelegenen Basis Akrotiri stationiert waren, überaus beliebt war, schien dieser Strandabschnitt immer noch einer der ruhigeren an der Südküste der Insel zu sein.

»Sieht so aus, als ginge es gleich mit den Seegrundstücken zu Ende«, stellte Giordino fest, während das Schiff langsam nach Osten wanderte und seinem Suchmuster dabei gewissenhaft folgte.

»Dann kann das nur bedeuten, dass wir uns dem Wrack nähern«, meinte Pitt optimistisch.

Als wäre seine Prophezeiung ein Stichwort, tauchte das Pissouri-Wrack nur Minuten später auf dem Bildschirm auf. Giordino und Gunn kamen heran, während das Bild nach und nach den Monitor füllte. Weit davon entfernt, wie ein richtiges Schiff auszusehen, war nicht mehr davon zu erkennen als ein länglicher Hügel, aus dem kleine Teile des Kiels und des Rumpfes herausragten und vom Sand befreit waren. Dass überhaupt so viel von dem siebzehnhundert Jahre alten Schiff übrig geblieben war, konnte man schon als ein Wunder betrachten.

»Der äußeren Erscheinung nach ist es ganz sicher ein altes Wrack«, sagte Gunn.

»Es ist das einzige Wrack, das wir vor Pissouri gefunden haben, demnach muss es Perlmutters Schiff aus dem vierten Jahrhundert sein«, sagte Giordino. »Obwohl es mich schon überrascht, dass es nicht näher am Land liegt«, fügte er hinzu, als er feststellte, dass sie über eine halbe Meile vom Strand entfernt waren.

»Du darfst nicht vergessen, dass das Mittelmeer vor zweitausend Jahren einen niedrigeren Wasserstand hatte«, sagte Gunn.

»Das würde seine Position allerdings erklären«, erwiderte er. »Hast du vor, danach zu tauchen?«, fragte er Pitt.

Dieser schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Erstens ist es sicher längst abgeweidet, und zweitens ist es auch nicht unser Wrack.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte Gunn.

 

»Summer hat angerufen. Sie und Dirk haben die ausgestellten Artefakte im Museum in Limassol gesehen. Die Archäologen, die das Wrack ausgegraben haben, sind sich sicher, dass es keine römische Galeere ist. Dirk glaubt, dass es ein anderes Piratenschiff sein könnte, das in einen Kampf mit den Römern verwickelt war. Vielleicht kann man später mal zu ihm hinuntertauchen, aber Summer hat angedeutet, dass es schon fast vollständig ausgeplündert worden war, als die Archäologen endlich dazu kamen.«

»Also benutzen wir das als Ausgangspunkt?«, fragte Gunn.

»Das ist jedenfalls der Punkt mit den genauesten Daten, den wir haben«, sagte Pitt mit einem Kopfnicken. »Wenn das Piratenschiff hier an Land gekommen und gesunken ist, können wir nur hoffen, dass das römische Schiff irgendwo in der Nähe liegt.«

Giordino nahm vor dem Monitor Platz und versuchte, es sich gemütlich zu machen.

»Na schön, dann lass uns weitermachen«, sagte er. »Wie heißt es so schön: Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.«

 

89

 

Nachdem sie Limassol hinter sich gelassen hatten, fuhr Summer auf der Küstenschnellstraße nach Osten, wobei Dirk ihr gerne den Platz am Steuer überließ, da sie ja direkt aus England gekommen war. Zypern war während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Kronkolonie Großbritanniens gewesen und besaß noch immer sichtbare Zeichen, die an die Zeit unter britischer Verwaltung erinnerten. Fast überall wurde Englisch gesprochen, die Währung in der südlichen griechischen Hälfte des Landes war das Pfund, und auf den Straßen herrschte Linksverkehr.

 

Summer lenkte ihren Mietwagen landeinwärts und nahm die asphaltierte Autobahn nach Nikosia. Die Straße begann leicht anzusteigen, als sie sich den östlichen Ausläufern des Trodoos-Gebirges näherten. Nach einer längeren Fahrt zwischen vorwiegend kahlen Bergen bogen sie an einer Kreuzung in eine schmale Asphaltstraße ab. Sie schwang sich steil in die Höhe und wand sich einen kleinen Berg hinauf. Auf seinem Gipfel lag das Kloster Stavrovouni und bot in seiner exponierten Lage einen atemberaubenden Anblick.

Summer parkte den Wagen auf einem kleinen Platz am Fuß des Komplexes. Sie gingen an einem nicht besetzten Eingangsschalter vorbei und kamen zu einer langen Holztreppe, die auf den Gipfel führte. Ein Bettler in zerlumpter Kleidung und mit einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf saß in der Nähe und schlief offensichtlich, wie seine Körperhaltung erkennen ließ. Die Geschwister gingen auf Zehenspitzen an ihm vorbei und stiegen dann zum Klostergelände empor, von wo aus sie einen überwältigenden Blick auf den gesamten südöstlichen Teil der Insel hatten. Dann durchquerten sie einen offenen Vorhof und näherten sich einem Mönch in einer wollenen Kutte, der mit ernster Miene neben dem Klostereingang stand.

»Willkommen im Kloster Stavrovouni«, sagte er reserviert, dann sah er Summer an. »Vielleicht ist es Ihnen nicht bekannt, aber wir leben hier nach den athonitisch orthodoxen Gebräuchen und gestatten Frauen keinen Zutritt zum Kloster.«

»Soweit ich weiß, wären Sie aber gar nicht hier, wenn es da nicht eine ganz bestimmte Frau gegeben hätte«, erwiderte Summer spitz. »Klingelt bei dem Namen Helena irgendwas bei Ihnen?«

»Es tut mir sehr leid.«

Summer verdrehte die Augen, dann wandte sie sich zu Dirk um.

»Ich denke, ich bleibe hier und sehe mir die Fresken an«, sagte sie und deutete auf die bemalten Wände des Innenhofs. »Viel Spaß bei deinem Rundgang.«

Dirk beugte sich zu seiner Schwester vor und flüsterte: »Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, habe ich mich entschlossen, für immer hierzubleiben.«

Wahrend seine Schwester nur mühsam ihren Zorn zügeln konnte, folgte er dem Mönch durch eine offene Tür.

»Können Sie mir erzählen, welche Rolle Helena im Zusammenhang mit dem Kloster und seiner Geschichte gespielt hat?«, fragte Dirk.

»In der Antike stand auf dieser Bergspitze ein griechischer Tempel. Er war schon lange verlassen und in einem ziemlich verfallenen Zustand, als die heilige Helena nach ihrer Pilgerfahrt nach Jerusalem hierher nach Zypern kam. Es heißt, dass die gütige Heilige mit ihrem Besuch eine dreißig Jahre währende Dürrezeit beendete, die das Land vollkommen ausgedörrt hatte. Während ihres Aufenthalts auf Zypern hatte sie einen Traum, in dem ihr aufgetragen wurde, eine Kirche zu bauen und diese dem ehrwürdigen Kreuz zu weihen. Falls Sie es nicht wissen sollten, Stavrovouni heißt so viel wie Berg des Kreuzes. Hier also hat sie die Kirche gebaut und das Kreuz des reuigen Diebes sowie ein Fragment des Heiligen Kreuzes, die sie aus Jerusalem mitgebracht hatte, zurückgelassen.«

Der Mönch führte Dirk in die kleine Kirche und geleitete ihn an einer großen hölzernen Ikonenwand vorbei zum Altar. Darauf stand ein hohes Holzkreuz, das in Silber eingefasst war. In diesem Kreuz befand sich ein kleiner goldener Rahmen, der ein kleines Holzfragment schützte.

»Die Kirche hat im Laufe der Jahrhunderte sehr unter Zerstörung und Vandalismus gelitten«, erklärte der Mönch, »zuerst durch die Mameluken und später durch die Osmanen. Ich fürchte, von Helenas Vermächtnis ist außer diesem heiligen Splitter des Wahren Kreuzes nicht mehr viel übrig«, sagte er und deutete auf das in Gold eingeschlossene Fragment.

»Wissen Sie etwas von anderen Reliquien von Jesus Christus, die Helena auf Zypern zurückgelassen haben könnte?«, fragte Dirk.

Der Mönch massierte sein Kinn einen Moment lang. »Nein, davon weiß ich nichts, aber Sie sollten mit Bruder Andros reden. Er ist unser Haushistoriker. Mal sehen, ob er in seinem Büro ist.«

Der Mönch führte Dirk in einen Gang zu ihrer Linken, an dem sich mehrere spartanisch eingerichtete Gästezimmer befanden. Am Ende mündete der Korridor in zwei Büros, wo Dirk einen schlanken Mann sehen konnte, der sich offensichtlich gerade mit einem Handschlag von einem Mönch verabschiedete und sich dann zu ihm umdrehte.

Als sie aneinander vorbeigingen, fragte Dirk: »Ridley Bannister?«

»Nun, ja«, antwortete Bannister und sah Dirk erschrocken und misstrauisch zugleich an.

»Mein Name ist Dirk Pitt. Ich habe vor kurzem Ihr letztes Buch über Ihre Ausgrabungen im Heiligen Land gelesen. Erkannt habe ich Sie von dem Foto auf dem Schutzumschlag. Ich muss es Ihnen sagen: Von Ihren Funden zu lesen hat mir großen Spaß gemacht.«

»Vielen Dank«, sagte Bannister und reichte Dirk die Hand. Dann huschte ein nachdenklicher Ausdruck über sein Gesicht. »Sagten Sie nicht, Ihr Nachname laute Pitt? Sie haben nicht zufälligerweise eine Verwandte namens Summer?«

»Doch, die habe ich. Sie ist meine Schwester. Sie wartet zufälligerweise draußen. Kennen Sie sie?«

»Ich glaube, wir haben uns mal bei einer Archäologenkonferenz vor einiger Zeit kennen gelernt«, stotterte er. »Was führt Sie denn nach Stavrovouni?«, fragte er, um schnell das Thema zu wechseln.

»Summer hatte vor kurzem Hinweise gefunden, dass Helena vielleicht viel mehr als nur das Heilige Kreuz aus Jerusalem mitgenommen haben könnte und dass diese Reliquien auf Zypern verschollen sind. Wir hoffen, Informationen über den Verbleib einer römischen Galeere zu finden, die möglicherweise die Objekte für sie transportiert hat.«

Das düstere Licht im Korridor kaschierte Bannisters plötzliche Blässe. »Eine faszinierende Möglichkeit«, sagte er. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wo sich die Reliquien befinden könnten?«

»Wir fangen bei einem bekannten Schiffswrack in der Nähe einer Ortschaft namens Pissouri an. Aber wie Sie ja selbst wissen, zweitausend Jahre alte Hinweise sind schwer zu finden.«

»In der Tat. Na ja, ich fürchte, ich muss mich jetzt beeilen. Es war mir eine Freunde, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mr. Pitt, und viel Glück bei Ihrer Suche.«

»Vielen Dank. Und sagen Sie doch Summer kurz guten Tag, wenn Sie hinausgehen.«

»Das werde ich gerne tun.«

Diese Absicht hatte Bannister natürlich nicht. Er ging schnell den Korridor hinunter, gelangte in die Kirche und fand auf der gegenüberliegenden Seite einen Nebenausgang. Dann trat er ins Sonnenlicht hinaus und schlich vorsichtig bis zum Innenhof, wo er Summer dabei entdeckte, wie sie gerade ein Wandfresko eingehend studierte. Er wartete noch, bis sie ihm den Rücken zuwandte, dann eilte er leise über das Gelände und erreichte die obere Treppe, ohne gesehen zu werden.

Als er die Treppe hinunterstürmte, stolperte er ganz unten beinahe über den Bettler, bevor er zu seinem Wagen kam. Er lenkte ihn zügig die gewundene Straße hinunter bis zur Schnellstraße, wo er an die Seite fuhr und hinter einer Gruppe Johannisbrotbäume parkte. Dort saß er, wartete und hielt Ausschau nach Dirk und Summer.

Sekunden nachdem Bannister den Parkplatz des Klosters verlassen hatte, startete ein weiterer Wagen. Der Fahrer fuhr bis zur Treppe und wartete, während der schmutzige Bettler aufstand und sich auf den Beifahrersitz schwang. Als er den Hut abnahm, entblößte der Bettler eine lange Narbe an seinem rechten Unterkiefer.

»Schnell«, trieb Zakkar den Fahrer an. »Lass ihn bloß nicht aus den Augen.«

 

90

 

Summer stand gerade auf der anderen Hofseite, als Dirk aus dem Kloster herauskam.

»Na, wie war's im Pfadfinderclub?«, fragte sie mit einem Unterton von Bitternis.

»Nicht so lustig, wie du vielleicht geglaubt hast.«

»Hattest du Glück?«

Dirk berichtete, was er über die Geschichte der Kirche und das Schicksal des Wahren Kreuzes erfahren hatte.

»Ich habe den Historiker des Hauses kennen gelernt, aber er konnte über Helenas Besuch auf Zypern nicht viel mehr beisteuern. Hier hat es so viele Plünderungen gegeben, dass keinerlei Ankunftsdaten zurückgeblieben sind. Das Fazit ist: Niemand weiß etwas von Reliquien - außer dem Heiligen Kreuz.«

»Hat er vielleicht irgendetwas über Helenas Flotte gesagt?«

Dirk schüttelte den Kopf. »Soweit man weiß, ist Helena ohne irgendeinen Zwischenfall auf Zypern angekommen und wieder abgereist.«

»Dann muss Plautius mit seiner Galeere vor ihrer Ankunft angegriffen worden sein.«

Sie ergriff seinen Arm und zog ihn zu einer der Hofwände. »Komm. Sieh dir das mal an.«

Sie führte ihn zu einem Trio großer Fresken auf einem geraden Mauerstück. Die Fresken waren fast bis zur Unsichtbarkeit verblichen. Dirk trat näher heran und studierte das erste Feld. Es war die übliche Madonna mit dem Kinde - einem kleinen Jesus mit Heiligenschein, den Maria im Arm hielt. Die großen Augen und die flächige Darstellung beider Figuren zeigten, dass es ein uralter Kunststil war. Das nächste Feld zeigte die Kreuzigungsszene mit Jesus am Kreuz, der den Kopf in schrecklicher Qual herabhängen lässt. Ein wenig ungewöhnlich für das Genre war, wie Dirk bemerkte, dass die beiden Diebe, die an den benachbarten Kreuzen hingen, ebenfalls dargestellt worden waren.

Dann trat er zum dritten Feld, vor dem Summer mit einem äußerst zufriedenen Gesichtsausdruck stand. Darauf war eine gekrönte Frau im Profil zu sehen, die in die obere Ecke des Freskos deutete. Ihr Finger war auf einen aufragenden Berg mit zwei Kreuzen auf seiner Kuppe gerichtet. Die geologischen Eigenheiten des Stavrovouni waren auf dem Bild klar zu erkennen.

»Helena?«, fragte Dirk.

»Das muss sie sein«, erwiderte Summer. »Und jetzt schau mal zum unteren Rand.«

Dirk blickte aufmerksam auf den unteren Teil des Freskos und konzentrierte sich auf eine verblichene blaue Fläche, die das Meer darstellen sollte. Drei Schiffe waren unter Helenas Profil schwach zu erkennen. Ziemlich grob dargestellt, waren die Schiffe etwa gleich groß und wurden durch Ruder und Segel angetrieben. Wenn er richtig hinsah, konnte Dirk erkennen, dass zwei der Schiffe das dritte verfolgten. Er deutete auf die beiden Verfolgerschiffe.

»Das eine scheint mit dem Heck zuerst zu versinken«, sagte er, »während das andere aufs offene Meer zusteuert.«

»Sieh dir mal das Segel des führenden Schiffes an«, sagte Summer.

Dirk musste seine Augen anstrengen, um das Symbol erkennen zu können. Es sah aus wie ein »X« mit einem langbeinigen »P« darüber.

»Das ist das Chi-Ro-Monogramm, das auch von Konstantin benutzt wurde«, erklärte sie. »Es ist das göttliche Zeichen, das ihm wahrscheinlich vor seinem Sieg in der Schlacht bei der Milvischen Brücke im Traum erschienen ist. Er benutzte es als seine Kriegsfahne und als Zeichen seiner Herrschaft.«

»Dann zeigt das Bild entweder Helena mit einer Eskorte bei ihrer Ankunft auf Zypern ...«, sagte er.

»Oder es ist Plautius' Galeere auf der Flucht vor zwei Piratenschiffen«, ergänzte sie und führte seinen Gedanken damit zu Ende.

Eine kleine Scharte im Fresko verdeckte den Weg der Galeere, aber die Fortsetzung der Küstenlinie am unteren Bildrand deutete an, dass sie mit Kurs aufs Land unterwegs war. Knapp über dem Horizont befand sich ein weiteres kleines Bild. Es zeigte eine unbekleidete Frau, die gerade dem Meer entstieg und von zwei Delfinen flankiert wurde.

»Was das bedeuten soll, kann ich mir beim besten Willen nicht zusammenreimen«, sagte Summer, während Dirk das Bild eingehend betrachtete.

In diesem Augenblick ging der mürrische Mönch vorbei, nachdem er ein französisches Touristenpaar durch die Kirche geführt hatte. Dirk winkte ihm und erkundigte sich nach den Fresken.

»Ja, sie sind sehr alt«, erklärte der Mönch. »Die Archäologen schätzen, dass sie aus byzantinischer Zeit stammen. Einige behaupten sogar, dass diese Mauern einst Teile der ursprünglichen Kirche waren. Aber mit Sicherheit weiß das niemand.«

»Dieses letzte Fresko«, fragte Summer, »ist das ein Bild von Helena?«

»Ja«, bestätigte der Mönch. »Sie kam übers Meer und hatte die Vision von der Kirche hier auf dem Stavrovouni.«

»Wissen Sie, wer diese Figur ist?«, fragte sie und deutete auf die nackte Frau.

»Das ist Aphrodite. Sehen Sie, das Kloster wurde auf den Ruinen eines Aphrodite-Tempels erbaut. Der Künstler muss diesen Ort mit seinem Bild gewürdigt haben, ehe Helena den Auftrag erteilte, die Kirche genau an dieser Stelle zu erbauen.«

Sie bedankte sich bei dem Mönch, dann blickte sie ihm nach, wie er zum Klostereingang zurückschlurfte.

»Also, wir waren dicht dran«, sagte sie. »Jetzt wissen wir wenigstens, dass es zwei Piratenschiffe gab.«

»Auf dem Bild sieht es so aus, als wäre das römische Schiff nach dem Kampf mit den Piraten immer noch schwimmfähig gewesen. Es war irgendwohin unterwegs«, murmelte Dirk und starrte auf das Bild, bis es vor seinen Augen verschwamm. Schließlich trat er von dem Fresko zurück und folgte Summer zum Ausgang.

»Ich glaube, hier haben wir alles erfahren, was es zu erfahren gab«, sagte er. »Übrigens, hast du mit Ridley Bannister gesprochen?«

Auf ihren fragenden Blick hin schilderte er seine Begegnung im Kloster.

»Ich habe ihn gar nicht zu Gesicht bekommen«, sagte sie. Dann regte sich in ihr ein Verdacht. »Wie sieht er überhaupt aus?«

»Schlank, mittelgroß, blondes Haar. Ich vermute, Frauen würden ihn attraktiv nennen.«

Summer blieb abrupt auf einer Treppenstufe stehen. »Hast du vielleicht gesehen, ob er einen Ring getragen hat?«

Dirk überlegte. »Ja, ich glaube schon. An seinem rechten Ringfinger. Ich habe ihn bemerkt, als wir uns die Hand schüttelten. Er war wohl aus massivem Gold und sah ein wenig seltsam aus, wie etwas aus dem Mittelalter.«

Summers Gesicht rötete sich vor Zorn. »Das ist der Kerl, der Julie und mich mit einer Pistole bedroht und uns das Manifest gestohlen hat. Da sagte er, sein Name sei Baker.«

»Er ist ein bekannter und sehr angesehener Archäologe«, meinte Dirk.

»Angesehen?«, zischte Summer. »Ich wette, er sucht hier ebenfalls nach der Galeere.«

»Einer der Mönche erwähnte, dass er an einem Buch über Helena arbeite.«

Summer schäumte vor Wut, als sie zu ihrem Wagen kamen. Das Bild von Bannister, wie er im Keller von Kitcheners Landsitz das Manifest einsteckte, wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Sie jagte die gewundene Straße vom Kloster ins Tal, und ihr Fahrstil spiegelte ihren Zorn wider. Als sie auf die Schnellstraße kamen, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, dass ihr die Quelle ihres Zorns in einem anderen Wagen dichtauf folgte.

Sie beruhigte sich erst ein wenig, als sie Limassol vor sich liegen sahen. Während sie den Frachthafen der Stadt erreichten, fasste sie neue Zuversicht.

»Wenn Bannister hier ist, dann muss die Galeere existieren«, sagte sie zu Dirk.

»Auf jeden Fall hat er sie noch nicht gefunden«, erwiderte er. Summer nickte zufrieden. Wer weiß, schoss es ihr durch den Kopf, vielleicht sind wir ihr ja sogar näher, als wir denken.

 

91

 

»Wollt ihr schon wieder verschwinden?«, fragte Summer.

Sie stand auf der Kommandobrücke der Aegean Explorer und sah zwei Mannschaftsmitgliedern dabei zu, wie sie den vorderen Festmacher einholten und verstauten. Es war noch keine Stunde vergangen, seit das Schiff in Limassol angelegt hatte und sie und Dirk an Bord gekommen waren.

Pitt stand in der Nähe des Ruders und trank eine Tasse Kaffee.

»Wir müssen zur westlichen Seite der Atrotiri-Halbinsel zurück, um Rudis AUV im Auge zu behalten«, sagte er.

»Ich dachte, ihr benutzt für die sonare Suche den Geräteträger.«

»Tun wir auch. Wir haben unser erstes Gitter vor Pissouri abgeschlossen und mit einem neuen Suchgitter im Westen angefangen. Aber Rudi hat das AUV für Side-Scan-Betrieb umgerüstet, und damit hat es auch schon begonnen. Zurzeit wird ein großes Gitter östlich von Pissouri absolviert. Wir gehen mit der Explorer weiter nach Westen und decken ein doppelt so großes Gebiet ab.«

»Das leuchtet ein«, sagte sie. »Wie lange bleibt das AUV noch unten?«

»Noch etwa achtzehn Stunden, ehe es wieder auftaucht. Dadurch können wir selbst noch einiges schaffen, bevor wir das AUV rausholen müssen.«

»Dad, es tut mir leid, dass wir nichts Besseres mitgebracht haben.«

»Euer Fresko scheint die Rolle des Pissouri-Wracks als eins der Piratenschiffe zu bestätigen. Wenn die Galeere existiert, haben wir doch gute Chancen, wieder ins Spiel zu kommen.«

Die Aegean Explorer dampfte nach Süden um die kurze Akrotiri-Halbinsel herum, dann wandte sie sich nach Nordwesten in Richtung Pissouri, das in etwa zwanzig Meilen Entfernung lag. Die Sensoren des Forschungsschiffs nahmen Kontakt mit zwei Wandler-Bojen auf, die Daten vom AUV übermittelten, während es sechzig Meter unter der Wasseroberfläche über den Meeresgrund glitt. Zur gleichen Zeit, als Gunn und Giordino die Ergebnisse des AUV überwachten, ließ Pitt den sonaren Geräteträger am Heck zu Wasser und teilte sich den Monitordienst mit Dirk und Summer.

Es war neun Uhr am nächsten Morgen, als Summer mit einer Tasse heißen Kaffees auf die Kommandobrücke kam, um ihren Vater vor dem Bildschirm abzulösen.

»Gibt es was Neues im Fernsehen?«, fragte sie.

»Ich fürchte, mehr als eine Wiederholung kann ich dir nicht bieten«, erwiderte Pitt, stand auf und reckte und streckte sich. »Das gleiche Fels- und Sandpanorama, das schon die ganze Nacht über gelaufen ist. Außer einem gesunkenen Fischerboot, das Dirk gefunden hat, gab es überhaupt nichts.«

»Ich war gerade bei Al in seiner Überwachungsbaracke«, sagte sie und rutschte auf Pitts Platz. »Er meinte, sie bekämen mit dem AUV ähnliche Ergebnisse.«

»Wir sind fast am Ende dieses Feldes«, sagte Pitt. »Sollen wir in Richtung Westen weitersuchen?«

Summer lächelte ihren Vater an. »Wenn es darum geht, ein Schiffswrack aufzuspüren, werde ich einen Teufel tun und deinen Instinkt in Frage stellen.«

»Dann also nach Westen«, erwiderte er mit einem Augenzwinkern.

Kapitän Kenfield kam vom Ruderstand herüber und breitete eine örtliche Seekarte auf dem Tisch aus.

»Wohin genau wollen Sie das nächste Suchfeld denn legen?«, wollte er von Pitt wissen.

»Wir verlängern einfach unser augenblickliches Suchfeld und gehen so nahe an die Küste heran wie möglich. Suchen wir noch zwei Meilen weiter nach Westen, etwa bis zu diesem Punkt hier«, sagte er und deutete auf einen kleinen Küstenvorsprung auf der Karte.

»Okay«, sagte Kenfield. »Ich berechne die Koordinaten zum Petra tou Romiou, wie hier auf der Karte steht, oder zum Aphrodite-Felsen.«

Summer richtete sich ruckartig in ihrem Sessel auf. »Sagten Sie Aphrodite-Felsen?« fragte sie.

Kenfield nickte, dann holte er einen leicht zerfledderten Reiseführer für Zypern aus dem Regal hinter dem Kartentisch.

»Ich habe es erst gestern Abend gelesen. Der Petra tou Romiou - oder auch Rock of Romios - verdankt seinen Namen einem byzantinischen Volkshelden, der angeblich riesige Felsblöcke ins Meer warf, um Piraten abzuschrecken. Die Felsformationen sind heute noch in der Brandung zu sehen. Jedoch kennt man diesen Ort auch aus der Antike als diejenige Stelle, an der Aphrodite, die Schutzgöttin Zyperns, dem Schaum der Wellen entstieg.«

»Dad, das ist es.« Summer sprang aus dem Sessel auf. »Das Bild der Aphrodite war auf dem Fresko. Es zeigte nicht den Tempel auf dem Stavrovouni, wo heute das Kloster steht. Es ist der Ort, wo die römische Galeere hinwollte. Irgendjemand am Strand oder vielleicht sogar die Piraten haben gesehen, wie die Galeere zu den Felsen floh.«

»Diese Stelle ist fast in Sichtweite vom Fundort des Pissouri-Wracks«, stellte Kenfield fest.

»Okay, ich glaub's ja«, sagte Pitt und quittierte die Begeisterung seiner Tochter mit einem Lächeln. »Dann also nichts wie hin zum Aphrodite-Felsen. Mal sehen, ob uns die Göttin ein wenig Liebe schenkt.«

Kurze Zeit später ereichten sie das Ende ihrer Suchbahn und hievten den Geräteträger an Bord. Während das Schiff seinen Kurs änderte, um die Suche entlang der Küste fortzusetzen, ging eine spürbare Woge der Zuversicht durch die Kommandobrücke. Im allgemeinen Zustand gespannter Erwartung bemerkte niemand das kleine Boot, mit dem Ridley Bannister, ein Fernglas vor den Augen, dem türkisfarbenen Schiff in einem Abstand von einer halben Meile folgte.

 

92

 

Sechs Stunden später schenkte die Göttin Aphrodite den NUMA-Forschern alles andere als Liebe. Der Meeresgrund um den Petra tou Romiou erwies sich als bar jeden von Menschenhand geschaffenen Objekts. Dirk hatte die nächste Überwachungsschicht übernommen und starrte auf das endlose Band mit Felsen und Sand, wie es auf dem Monitor sichtbar wurde, während Summer und Pitt untätig herumlungerten und auf einen Treffer warteten. Giordino betrat die Brücke und war überrascht, dass sich Summers Begeisterung in tiefe Frustration verwandelt hatte.

»Das AUV kommt in einer Dreiviertelstunde hoch«, sagte er zu Pitt.

»Wir haben diesen Streifen in wenigen Minuten abgefischt«, meldete Dirk.

»In Ordnung, brecht ab, wenn wir das Ende erreichen. Dann holen wir den dicken Fisch rauf«, sagte Pitt.

»Habt ihr irgendwas gefunden?«, fragte Giordino.

»Wenn du auf Steingärten stehst, dann wird der Meeresgrund hier für dich das reinste Paradies sein«, antwortete Dirk.

Giordino ging zum Ruderstand und blickte aus dem Vorderfenster. Als er sah, dass sie sich in unmittelbarer Küstennähe befanden, griff er nach einem Fernglas und suchte den mit Kies bedeckten Strand westlich der großen Felsformation ab.

»Liegen dort irgendwelche griechischen Göttinnen herum?«, erkundigte sich Summer ungehalten.

»Nein, die Götter haben den Strand an diesem sonnigen Nachmittag sich selbst überlassen. Nicht mal in den schattigen Seehöhlen sind irgendwelche Geister zu sehen.«

Pitt trat mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht neben ihn. »Was dagegen, wenn ich mal einen Blick darauf werfe?«

Während Pitt die Küstenlinie betrachtete, verkündete Dirk, dass sie das Ende ihrer Suchbahn erreicht hatten.

»Al, kannst du mir mal helfen, den Geräteträger an Bord zu holen?«, fragte er, während er das Sonarsystem ausschaltete.

»Stets zu Diensten«, erwiderte Giordino, und die beiden Männer begaben sich zum Heck des Schiffes.

Pitt behielt den Strand im fernglasbewehrten Auge, dann wandte er sich an Kenfield.

»Kapitän, können Sie uns mit einem Kurs von zwanzig Grad näher an den Strand lenken?«, fragte er.

»Was ist los, Dad?«, wollte Summer wissen.

»Ich überprüfe nur die Möglichkeit, dass König Al wieder mal auf Gold gestoßen ist.«

Während die Aegean Explorer in seichteres Wasser vordrang, erhielt Pitt bessere Sicht auf die Küstenlinie. Von dem flachen Kiesstrand rund um den Petra tou Romiou herum stieg das Gelände nach Osten steil an und ging in hohe, kreideweiße Klippen über, die mehrere zig Meter hoch waren. Die stetigen Mittelmeerwellen rollten dröhnend gegen die Klippenbasis und schleuderten Gischt gegen die Felsen an der Wasserlinie. In der unteren Klippenwand befanden sich verstreut zahlreiche Vertiefungen im Kalkstein, wo die See ein Loch — oder eine Seehöhle, wie Giordino sie nannte - ausgewaschen hatte. Es waren diese Höhlen, die Pitts Neugier geweckt hatten, und er studierte sie sorgfältig eine nach der anderen. Schließlich konzentrierte er sich auf eine ganz besonders, eine kleine schwarze Öffnung dicht über dem Wasser, mit herabgestürzten Felsen vor ihrem Eingang.

»Der Geräteträger ist an Bord«, meldete Dirk und kam mit Giordino auf die Kommandobrücke zurück.

Pitt ließ das Fernglas sinken. »Kapitän, welchen Gezeitenstand haben wir im Augenblick?«, fragte er.

»Kurz nach Hochflut«, antwortete Kenfield. »Der Gezeitenunterschied ist hier ziemlich gering, gut ein Meter nur, mehr sicher nicht.«

Pitt nickte mit einem leisen Lächeln und wandte sich an Gunn.

»Rudi, du kennst dich mit Meeresbodenformationen aus. Was würdest du sagen, welche Veränderungen in Bezug auf seine Meereshöhe hat das Mittelmeer in den letzten siebzehnhundert Jahren erlebt?«

Gunn kratzte sich am Kopf. »Die Meereshöhe beträgt heute wahrscheinlich zwei oder drei Meter mehr als vor zweitausend Jahren. Einen genauen Wert kann ich dir aber erst nennen, wenn ich einen Blick ins NUMA-Datenarchiv geworfen habe.«

»Das ist nicht nötig«, sagte Pitt. Er betrachtete noch einmal die Seehöhle. »Ich glaube, sie passt genau hinein«, murmelte er.

»Wir müssen jetzt endlich das AUV reinholen«, bat Gunn.

»Okay, aber bevor du gehst, musst du Summer und mich noch mit dem Zodiac absetzen. Dirk, möchtest du mitkommen?«

»Nein, danke, Dad«, lehnte Dirk ab. »Ich bin mit Summer lange und oft genug sinnlos auf der Jagd gewesen. Ich helfe lieber beim AUV.«

»Aber wo soll es denn hingehen?«, fragte Summer. »Na ja, zu dieser Klippe«, sagte Pitt und deutete lächelnd zum Strand. »Wo sonst sollen wir eine römische Galeere finden?«

 

93

 

Während sich die Aegean Explorer nach Osten entfernte, um das AUV aufzunehmen, gab Pitt dem Außenbordmotor des neuen Zodiac die Sporen und jagte zum Strand. Summer saß im Bug, die langen roten Haare flatterten im Fahrtwind - und sie hatte einen hoffnungsvollen Ausdruck im Gesicht, während sie sich der Seehöhle näherten. Die niedrige Öffnung in Wasserhöhe war dunkel und verriet Pitt, dass sie sich tief in die Klippe bohrte.

Während sie näher kamen, konnte Pitt erkennen, dass die Einfahrt breit genug schien, um das Zodiac hindurchzubugsieren. Obwohl die Flut mittlerweile ein wenig niedriger war, machten die Wellen die ungehinderte Einfahrt zu einem gefährlichen Vorhaben. Pitt entdeckte auf der rechten Seite eine Ansammlung flacher glatter Felsen, lenkte das Zodiac längsseits und wartete, bis eine Flutwelle es über das Hindernis hinwegtrug. Summer sprang schnell aus dem Schlauchboot und schlang eine Leine um einen Felsbrocken, um das Boot zu sichern.

»Sieht so aus, als müssten wir uns nasse Füße holen«, sagte Pitt, ergriff eine Taschenlampe und sprang ebenfalls aus dem Zodiac.

Summer folgte ihm, während er sich an den Felsen entlangdrückte, bis er gezwungen war, in der Nähe des Höhleneingangs ins Wasser zu waten. Ein vom Wasser überspülter kleiner Steinwall bildete ein halbwegs flaches und ebenes Band, dem Pitt in die Öffnung folgte, während eine kleine Welle seinen Nacken umspülte. Er knipste die Taschenlampe an, hielt sie hoch über den Kopf und konnte erkennen, dass die Höhle mindestens fünf Meter weit eher einem Tunnel glich, bis sie sich in der Dunkelheit verbreiterte.

Er blieb stehen und wartete wieder, während Summer sich ebenfalls einen Weg über die glitschigen Felsen suchte und nach seiner Hand griff. Dann rutschte sie ab und stürzte.

»Vielleicht ist es einfacher, wenn wir schwimmen«, keuchte sie.

»Ich sehe da vorn einen trockenen Vorsprung«, erwiderte Pitt und ließ den Lichtstrahl der Lampe herumwandern.

Sich an die Wand schmiegend arbeiteten sie sich weiter vor und stellten fest, dass das Steinband unter ihren Füßen allmählich anstieg, bis sie das Wasser vollständig hinter sich ließen. Über ihren Köpfen entschwand die Decke in enorme Höhen, während sich der Tunnel zu einer riesigen Höhle ausdehnte. Das Wasser nahm seinen Weg durch einen U-förmigen Kanal, der offenbar ins Meer zurückführte. Pitt konnte erkennen, dass das Wasser eine leichte Strömung hatte.

Sie folgten dem Felsband für ein paar Meter bis zu einer kleinen sandigen Erhebung. Pitt sah zu seiner Überraschung, dass die innere Höhle in ein sanftes, weiches Licht getaucht war. Er blickte hoch und konnte sofort erkennen, wo ein paar Sonnenstrahlen durch einen Riss in der Klippenwand drangen.

Plötzlich spürte er, wie sich Summers Hand um seinen Arm klammerte.

»Dad!«, rief sie.

Er sah sie mit großen Augen in die Höhle starren. Sich umwendend erwartete er, eine flatternde Fledermaus oder eine Schlange auf dem Boden zu sehen. Stattdessen fiel sein Blick auf den Rumpf eines alten Schiffes.

Es stand aufrecht auf einem Sandwall und erschien im matten Licht kaum beschädigt. Pitt machte ein paar Schritte darauf zu und erkannte schnell, dass seine Konstruktion antiken Bauplänen entsprach. Ein kantiger Bug ragte in die Höhe und setzte sich ein Stück weiter nach hinten über das offene Deck fort. Dutzende kleiner runder Löcher befanden sich über der Wasserlinie in der Rumpfseite, die ihm zugewandt war. Pitt identifizierte sie als Öffnungen für Ruder. Von den Rudern selbst war jedoch nichts zu sehen. Lediglich eine Anzahl zerbrochener Holzstümpfe hing aus einigen Öffnungen heraus.

Schließlich konnten sie erkennen, dass der einzige Mast dicht über seiner Basis abgebrochen war und jetzt auf dem Achterdeck lag. Als Pitt seine Taschenlampe auf das hochgezogene Heck richtete, sah er die knöchernen Überreste eines Mannes. Sie waren grotesk über das Ruder drapiert.

»Es ist eine Galeere«, stellte Pitt mit einem breiten Grinsen fest. »Dem Aussehen nach sogar eine sehr alte. Wahrscheinlich ist der Mast abgebrochen, als sie durch die Höhleneinfahrt gerauscht ist.«

Summer betrachtete ihren Fund in stummer Ehrfurcht. Sie ging zum Bug und fand endlich die wenigen Worte, um ihren Vater zu rufen.

»Dad, sieh dir das an.«

Der Bug der Galeere bot in Höhe der Wasserlinie ein Gewirr von geborstenen Holzbalken. Als sie genauer hinsah, konnte sie mehrere verbogene Kupferstachel erkennen, die auf beiden Seiten horizontal aus dem Rumpf ragten.

»Das ist der einzige ernste Schaden im Rumpf«, stellte Summer fest. »Sie müssen mehrmals gegen die Felswand geprallt sein, bevor sie in diese Grotte gelangt sind.«

»Mir kommt es eher so vor, als hätte die Galeere irgendwann Bekanntschaft mit einem Rammsporn gemacht«, sagte Pitt versonnen.

Indem er den Stachel als Leitersprossen nutzte, kletterte er am Bug hoch, dann schwang er sich über den Rand. Der Anblick, der sich ihm an Bord bot, raubte ihm fast den Atem. Überall auf dem Deck lagen Skelette, bekleidet mit verblichenen Hemden oder Mänteln, einige sogar noch mit Schwertern in den Knochenhänden. Dazwischen waren Kampfschilde und Lanzen verstreut und kündeten von einem blutigen Kampf um Leben und Tod.

»Irgendein Zeichen, dass das ein römisches Schiff ist?«, fragte Summer von unten.

»Natürlich ist es das.«

Summer erstarrte bei der Antwort. Es war nicht der kalte Tonfall, in dem sie gegeben wurde, sondern die Tatsache, dass sie nicht von Pitt kam.

Sie fuhr herum und sah die Gestalt Ridley Bannisters aus der Dunkelheit auftauchen, die Kleider bis in Brusthöhe triefnass. In der Hand hielt er eine kleine Videokamera, die er jetzt einschaltete, so dass die Höhle in bläuliches Licht getaucht wurde.

»Also wirklich, wenn das nicht der angesehene Archäologe Ridley >Baker< Bannister ist«, sagte Summer spöttisch, während er näher kam. »Haben Sie auch wieder Ihre Pistole mitgebracht?«

»O nein. Das war der Revolver von Feldmarschall Kitchener - und er war ungeladen, wie ich zu meinem Ärger gestehen muss.« Er hielt die Videokamera hoch, damit sie sie erkennen konnte. »Es freut mich, Sie wiederzusehen, Miss Pitt. Wenn Sie jetzt so nett wären und ein wenig zur Seite gingen, dann könnte ich nämlich damit anfangen, meine Entdeckung zu dokumentieren.«

»Ihre Entdeckung?«, sagte sie und spürte, wie ihr Blut zu kochen begann. »Sie verlogenes Schwein, Sie haben überhaupt nichts gefunden!«

»Aber das ist jetzt so gut wie meine Entdeckung. Ich denke, ich sollte Ihnen verraten, dass ich mit dem zypriotischen Minister für Altertumsgüter auf freundschaftlichem Fuß stehe. Ich habe mir für den Fall einer Entdeckung, bei der Sie so freundlich mitgeholfen haben, bereits die exklusiven Film- und Buchrechte gesichert. Ich weide aber natürlich daran denken, Ihren Beitrag durch eine entsprechende Danksagung angemessen zu würdigen.«

Bannister nahm die Kamera ans Auge und begann, das Äußere der Galeere aufzunehmen.

»Übrigens, befindet sich die im Manifest aufgeführte Fracht auch noch an Bord?«, fragte er, während er die Kamera auf den Schiffsrumpf richtete.

Während er den beschädigten Bug mit der Kamera ins Visier nahm, bemerkte er nicht, wie Summer mit schnellen Schritten auf ihn zuging, bis es zu spät war. Summer riss ihm die Kamera aus der Hand und schmetterte sie zwischen die Felsen. Ein lautes Klirren ertönte, als die Optik zerbarst, auch wenn das bläuliche Hilfslicht weiterbrannte.

Bannister starrte auf die zerstörte Kamera, dann geriet er in Wut. Er packte die Frau - die größer war als er — an ihren Blusenaufschlägen und schüttelte sie zornig. Als erfahrene Judokämpferin bereitete sich Summer darauf vor, einen massiveren Angriff abzuwehren, als eine laute Gewehrsalve durch die Höhle hallte. Der Schusslärm war noch nicht ganz verhallt, da spürte Summer, wie Bannisters Hände von ihrer Bluse abrutschten. Der Archäologe sah sie gequält an, dann sank er langsam zu Boden. Als er sich ausstreckte, gewahrte Summer, dass seine Khakihose stellenweise mit Blutspritzern übersät war.

Summer schaute in ihm vorbei und sah drei Männer auf der Erhebung stehen. Selbst bei dem spärlichen Licht konnte sie erkennen, dass sie es offenbar mit Arabern zu tun hatte. Der größte der drei stand in der Mitte. Rauch kräuselte sich aus der Mündung einer kompakten Uzi-Maschinenpistole, die er in der Armbeuge hielt. Er machte einen langsamen Schritt vorwärts und hielt die Waffe auf Summer gerichtet, während er den Blick über die Galeere schweifen ließ.

»So, so«, sagte Zakkar in holperigem Englisch. »Sie haben also tatsächlich den Schatz gefunden.«

 

94

 

Summer stand stocksteif da, während die Männer näher kamen. Bannister lag vor ihren Füßen und presste die Hände auf seine Wunden, einen Ausdruck verständnislosen Schocks in den Augen. Zakkar senkte seine Uzi, während er sich näherte, und hatte nur noch Augen für die Galeere.

»Gutzman wird erfreut sein«, sagte er auf Arabisch zu dem Mann, der neben ihm ging. Es war der bärtige Schütze namens Salaam, der an dem Anschlag auf den Felsendom beteiligt gewesen war.

»Was geschieht mit den beiden?«, fragte Salaam und richtete seine Stiftlampe auf Summer und Bannister.

»Töte sie, und wirf ihre Leichen ins Meer«, antwortete Zakkar und wischte mit der Hand über den Rumpf das antiken Schiffes.

Da er die kurze Unterhaltung verstanden hatte, versuchte Bannister, sich kriechend in Sicherheit zu bringen. Vor Schmerzen stöhnend wälzte er sich hinter Summer. Salaam ignorierte ihn, während er auf Summer zuging und eine Pistole auf ihren Kopf richtete.

»Renn!«

Pitts Ruf hallte vom Deck der Galeere durch die Höhle und überrumpelte die Araber. Summer sah, wie der Mann vor ihr zum Schiff blickte, in den Augen schlagartig das nackte Grauen.

Durch die Luft flog pfeifend ein pilum auf ihn zu, jener römische Speer mit Eisenspitze. Salaam hatte keine Chance mehr, sich zu rühren, ehe sich der rasiermesserscharfe Speer in seine Brust bohrte. Die perfekt ausgewogene Waffe suchte sich einen geraden Weg durch den Oberkörper des Mannes und trat unterhalb einer Niere wieder aus. Der Mann spuckte einen Mund voll Blut aus, dann brach er zusammen. Er war auf der Stelle tot.

In dem Moment, als Salaam getroffen wurde, berechnete Summer bereits ihre Möglichkeiten. Sie entschied augenblicklich, dass sie sich entweder die Waffe des Mannes holen, dann rennen und ins Wasser springen konnte oder dass sie versuchte, zu ihrem Vater aufs Schiff zu gelangen. Das Adrenalin kreiste bereits durch ihre Adern und schrie nach einer Entscheidung des Gehirns. Aber Summer wusste, dass die Pistole gegen Zakkars Uzi keine Chance hätte. Und obgleich ihr Herz ihr befahl, zu ihrem Vater zu rennen, diktierte ihr die Vernunft, dass das Wasser viel näher war.

Indem sie ihre emotionalen Bedürfnisse unterdrückte, machte sie einen Riesenschritt nach rechts und sprang. Schüsse hallten bereits durch die Luft, als ihre ausgestreckten Hände ins Wasser eindrangen und ihr restlicher Körper folgte. Die Sandbank brach abrupt ab, und sie rauschte in die Tiefe, ohne sich den Hals zu brechen.

Sie schwamm instinktiv abwärts und folgte der leichten Strömung, die sie vom Höhleneingang forttrug. Sie war eine gute Schwimmerin, und das Adrenalin, das in ihren Adern pulsierte, ließ sie schnell in die Tiefe vordringen, bis ihre Hand nach etwa fünf Metern den Boden berührte. Das Wasser war pechschwarz, daher nutzte sie die Strömung, um sich vorwärtsgleiten zu lassen, wobei sie gelegentlich an Felswänden entlangschrammte.

Sie machte etwa zwölf kraftvolle Schwimmzüge und glitt zügig durchs Wasser. Als ihre Luft knapp wurde, stieg sie zur Wasseroberfläche auf, darauf vertrauend, dass sie genügend Abstand zwischen sich und den Schützen gebracht hatte, um einen schnellen Atemzug zu riskieren. Als ihre Lungen zu brennen begannen, reckte sie eine Faust in der Sicherheitsgeste eines Sporttauchers über den Kopf und stieg zur Oberfläche auf. Sie kam etwa vier Meter weit, als ihre erhobene Hand plötzlich gegen Fels stieß. Ein unbehagliches Gefühl überkam sie, während sie die harte, unnachgiebige Oberfläche über sich abtastete. Langsam schob sie ihr Gesicht an ihrem Arm entlang aufwärts, bis ihre Wange sich an den Fels über ihr schmiegte und die Wasserströmung ihr Gesicht massierte.

Ihr heftig pochendes Herz setzte für einen Schlag aus, als sie erkannte, dass sich der offene Kanal in einen Unterwassertunnel verwandelt hatte und für sie keine Chance bestand, ihre Lungen mit Luft zu füllen.

 

95

 

Zakkar hatte mit seiner Uzi das Feuer in dem Augenblick eröffnet, als Summer in den Tümpel eingetaucht war. Er hatte jedoch auf die Galeere gezielt und eine Bleinaht in die Seitenreling gestanzt, kaum dass Pitt dahinter abgetaucht war. Pitt rannte ein paar Schritte über das Deck und hob dabei einen runden Holzschild auf, der neben seinen Füßen lag. Er hielt kurz inne und schleuderte ihn wie eine Frisbeescheibe in Zakkars Richtung - in der Hoffnung, den Araber dadurch von Summer abzulenken. Zakkar wich dem Schild jedoch mit einem kurzen Schritt zur Seite aus, eröffnete abermals das Feuer und erwischte Pitt beinahe an der Reling mit einer kurzen Salve.

Bei seinem schnellen Blick über die Reling hatte Pitt seine Tochter in Richtung Kanal abspringen sehen und gehört, wie sie in den Tümpel eintauchte. Das Wasser blieb ruhig, und die Schützen vergeudeten keinen Schuss in den Kanal, was ihn mit der Zuversicht erfüllte, dass sich seine Tochter in Sicherheit gebracht hatte.

Bannister erwies sich auf der Suche nach Schutz vor den feindlichen Schüssen als genauso erfolgreich. In der durch Pitts Wurfspeerangriff erzeugten Verwirrung hatte er sich hinter ein paar niedrige Steine gerollt und so gut wie unsichtbar gemacht, während seine Schusswunden ihn zwischen Wachheit und Dämmerzustand hin und her treiben ließen. Die Araber achteten sowieso nicht mehr auf ihn. Sie waren mehr daran interessiert, den Tod ihres Kameraden zu rächen.

»Klettere über das Heck an Bord«, rief Zakkar seinem Kumpan zu, nachdem er sich vom Tod des aufgespießten Schützen überzeugt hatte. »Ich nehme ihn von vorn aufs Korn.«

Der Araber nahm dem Toten die Stiftlampe ab, dann lief er zum Bug der Galeere, wobei er auf dem Deck über sich wachsam nach Pitt Ausschau hielt.

Pitt hatte nur drei bewaffnete Männer in die Höhle kommen sehen und hoffte, dass es keine weiteren gab. Er hatte keine Ahnung, wer sie waren, aber ihre Bereitschaft zu töten war mehr als offensichtlich. Er wusste, dass er ihnen in diesem Punkt zuvorkommen musste.

Im matten Licht verschaffte er sich einen Überblick über das Hauptdeck und fand an beiden Enden Niedergänge, die zum Ruderdeck hinabführten. Er entschied sich für den Niedergang an achtern und suchte sich unter den Überresten auf Deck ein Schwert und einen weiteren Schild aus. Der Schild kam ihm ungewöhnlich schwer vor, er drehte ihn um und sah drei gedrungene Pfeile, die auf seiner Rückseite befestigt waren. Es waren Wurfpfeile, wie sie gegen Ende des Römischen Reichs an die Soldaten verteilt wurden. Jeder Pfeil war etwa dreißig Zentimeter lang, hatte in der Mitte ein Bleigewicht und eine Bronzespitze mit Widerhaken. Pitt klemmte sich den Schild unter den Arm, dann kletterte er über den umgekippten Mast, der auf dem Achterdeck lag.

Er konnte die Geräusche seiner beiden Gegner hören, die sie machten, als sie versuchten, das Schiff an beiden Enden zu entern, während er sich zum erhöhten Heck schlich. Als er die Mitte des Schiffes überquerte, stolperte er über das Skelett eines römischen Legionärs und stürzte beinahe durch den offenen Niedergang zum Ruderdeck. Zwar verfluchte er sich wegen des Lärms, den er dabei verursachte, aber der Unfall brachte ihn auf eine Idee.

Er nahm das Schwert in beide Hände und rammte es mit der Spitze in die Deckplanke, so dass es aufrecht stand. Dann hob er den Oberkörper des Skeletts hoch und stülpte ihn über den Schwertgriff. Danach umwickelte er das Skelett schnell mit einem zerkrümelnden Mantel, der unter den Knochen gelegen hatte, und fand schließlich in der Nähe eine zerbrochene Lanze. Er schob die Lanze durch den Brustkorb des Skeletts, bedeckte ihr hinteres Ende mit dem Mantel und ließ das spitze Ende in einer drohenden Geste vorn herausragen. Im schwachen Höhlenlicht erschien der antike Krieger fast lebendig.

Über sich hörte Pitt einen dumpfen Laut, als der Schütze, der am Heckspiegel hochgeklettert war, auf das Steuerdeck hinuntersprang. Pitt zog sich leise zu dem umgestürzten Mast zurück, überkletterte ihn und versteckte sich in seinem Schatten. Leise löste er die drei Wurfpfeile von dem Schild, dann suchte er in seinen Taschen nach einer Münze. Er fand einen Vierteldollar, barg ihn in seiner Hand und wartete.

Der Bewaffnete bewegte sich vorsichtig, suchte geduldig das Hauptdeck nach einer verräterischen Bewegung ab, ehe er vom Steuerdeck herabkletterte. Dazu benutzte er eine der beiden Leitern, die rechts und links vom Niedergang zum Ruderdeck befestigt waren. Zu Pitts Glück und Vorteil entschied sich der Mann für die Leiter, die Pitt am nächsten war.

Pitt hielt sich im Schatten, bis er hörte, wie die Schuhe des Mannes über das Hauptdeck scharrten. Er hob die Hand, machte dann eine schnelle Handbewegung und schleuderte die Münze hoch in die Luft. Sie landete genau dort, wohin er gezielt hatte, nämlich dicht vor dem Skelett, von wo aus sie klirrend über die Holzbohlen rollte und hüpfte.

Der erschrockene Gangster drehte sich sofort nach dem Geräusch um und entdeckte die Gestalt im Mantel, die einen Speer hielt. Er jagte sofort zwei Schüsse aus seiner automatischen Pistole in das Skelett und verfolgte verblüfft, wie es zu einem kleinen Haufen zerfiel. Seine Überraschung dauerte nur kurze Zeit an, denn Pitt war bereits auf den Beinen und schleuderte den ersten Pfeil aus etwa sieben Metern Entfernung.

Da er feststellte, dass die Waffe hervorragend ausbalanciert war, brachte Pitt bereits den ersten Wurf ins Ziel und traf den Mann in der Hüfte. Der Getroffene stöhnte vor Schmerz auf, als das scharfe Wurfgeschoss in seinen Körper eindrang, wirbelte herum, während der zweite Pfeil an seiner Brust vorbeisirrte. Nach dem ersten Pfeil greifend, um ihn herauszuziehen, blickte er zu Pitt hinüber und sah den dritten Pfeil in seine Richtung fliegen. Zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu schießen, machte er instinktiv einen Schritt zur Seite, um dem Geschoss auszuweichen. Nur befand sich dort kein Deck mehr unter seinen Füßen.

Stürzend, wo Pitt sich vor kurzem gerade noch hatte fangen können, kippte er mit einem erstickten Schrei in den Niedergang. Das ekelerregende Knacken von brechenden Knochen drang eine Sekunde später vom Ruderdeck herauf, gefolgt von einer unheimlichen Stille.

»Ali?«, rief Zakkar vom Bug.

Doch er erhielt keine Antwort auf seine Frage.

 

96

 

Zum zweiten Mal in ebenso vielen Minuten musste Summer eine Entscheidung auf Leben und Tod treffen. Sollte sie umkehren oder weiterschwimmen? Sie hatte keine Ahnung, wie weit die Decke unter Wasser reichte. Es konnten zwei Meter sein, aber genauso gut auch fünfzig. Jedoch gegen die Strömung zu schwimmen, so leicht sie auch war, könnte gut zur Folge haben, dass ihr fünfzig Meter vorkämen wie eine Meile. Diesmal verließ sie sich auf ihren Instinkt und traf eine schnelle Entscheidung. Sie würde weiterschwimmen.

Mit Armen und Beinen rudernd und tretend bewegte sie sich durch den Tunnel. Wobei sie mit den Armen und dem Kopf gelegentlich gegen die Felswände prallte, die sie einschlossen. Nach jedem zweiten Schwimmzug hob sie einen Arm über den Kopf und hoffte jedes Mal, dass sie in einer Luftblase durch die Wasseroberfläche drang. Aber immer wieder stieß ihre Hand gegen solides Gestein. Sie spürte, wie ihr Herz heftiger schlug, und kämpfte gegen den plötzlichen Reflex an auszuatmen, während sich in ihrem Bewusstsein die ersten Vorboten einer aufkommenden Panik einnisteten. Wie lange war sie schon unter Wasser, fragte sie sich. Eine Minute? Zwei Minuten? Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Aber ganz gleich, wie die Antwort auch lauten mochte, viel wichtiger war die Frage, wie lange sie es noch aushalten würde.

Sie trat zwar heftiger mit den Beinen, doch allmählich kam es ihr vor, als schwimme sie in Zeitlupe, während ihr Gehirn nach Sauerstoff lechzte. In ihren Armen und Beinen war plötzlich ein seltsames brennendes Gefühl entstanden, als die Vorboten der Hypoxie ihre Muskeln schwächten. Das schwarze Wasser erschien vor ihren Augen noch dunkler, und das Salzwasser schien sie auch nicht zu reizen. Eine innere Stimme ermahnte sie, stark zu bleiben, aber sie spürte schon, wie sie sich allmählich gehen ließ.

Und dann sah sie es. Ein schwaches grünes Leuchten erschien im Wasser über ihr. Vielleicht spielten ihre Augen ihr auch nur einen Streich, oder es waren die ersten Momente der Bewusstlosigkeit. Aber das war ihr gleich. Indem sie ausatmete, was an Luft noch in ihrer Brust war, raffte sie die letzten Reste ihrer Energie zusammen und schwamm dem Licht entgegen.

Ihre Glieder brannten jetzt wie Feuer, während in ihren Ohren ein Rauschen erklang, das jedes andere Geräusch zudeckte. Ihr Herz drohte bei jedem Schlag aus der Brust zu springen, während ihre Lungen kurz vor der Explosion standen. Aber sie ignorierte die Schmerzen, die Zweifel und auch den Drang zu kapitulieren, während sie sich weiter durchs Wasser kämpfte.

Der grüne Schimmer verstärkte sich nach und nach zu einem warmen Leuchten, das hell genug war, um winzige Schwebstoffe im Seewasser zu erkennen. Gleich über ihr zog ein silberner Glanz, der wie wogendes Quecksilber aussah, ihre Blicke an. Mit schnell nachlassender Energie arbeitete sie sich mit Armen und Beinen weiter nach oben, dem Licht entgegen.

Wie ein Show-Delfin in Sea World tauchte Summer auf, indem sie fast ganz aus dem Wasser schoss und gleich wieder in die schäumenden Fluten zurücksank. Keuchend und nach Luft ringend paddelte sie zu einem Felsen in der Nähe und klammerte sich an seine mit Muscheln und Krebsen besetzte Oberfläche, während ihr nach Sauerstoff gierender Körper versuchte, seine innere Ordnung wiederherzustellen. Fast fünf Minuten ruhte sie sich aus, ehe sie wieder so viel Kraft gesammelt hatte, um sich zu bewegen. Dann hörte sie in der Ferne gedämpfte Schüsse und erinnerte sich sofort an ihren Vater.

Sie orientierte sich und stellte fest, dass sie sich auf einer halb vom Wasser überspülten Felszunge etwa einhundert Meter westlich der Höhle befand. Schnell entdeckte sie das NUMA-Zodiac, das neben zwei kleineren Booten an einem Felsen vertäut war. Sie ließ sich ins Wasser zurückgleiten, umrundete die Felsen und schwamm zu den Booten.

Ihre Arme wurden plötzlich tonnenschwer, und mehrmals warf die Brandung sie fast auf die dem Strand vorgelagerten Felsformationen, aber schließlich erreichte sie die Boote doch, ohne zusammenzubrechen. Das Zodiac hatte kein Funkgerät, daher zog sie sich auf das Deck des ersten der beiden anderen Boote. Es war ein kleiner Holztrawler, den Zakkar sich angeschafft hatte. In seinem winzigen offenen Ruderhaus fand sie ein Seefunkradio und rief sofort die Aegean Explorer.

Dirk, Giordino und Gunn waren gerade auf der Brücke versammelt, als Summers aufgeregte Stimme aus dem Lautsprecher drang.

»Summer, hier die Explorer. Lass hören«, erwiderte Gunn ruhig.

»Rudi, wir haben die Galeere in der Höhle gefunden. Dann sind drei bewaffnete Männer aufgetaucht. Ich bin geflüchtet, aber Dad ist noch drin, und sie wollen ihn töten.«

»Beruhige dich, Summer. Wir sind schon unterwegs. Versuch dich zu verstecken, bis wir dort sind, und halte dich aus jeder Gefahr heraus.«

Kenfield hatte die Explorer bereits gewendet und beschleunigte auf Höchstgeschwindigkeit, als Gunn noch damit beschäftigt war, den Transmitter einzuhängen. Dirk schaute aus dem vorderen Brückenfenster.

»Wir sind sechs oder sieben Meilen weit weg«, beklagte er sich bei Gunn. »Wir werden es niemals rechtzeitig schaffen.«

»Er hat recht«, sagte Giordino. »Stoppt das Schiff.«

»Was meinst du mit Stoppt das Schiff.«, rief Gunn.

»Gib uns zwei Minuten, um die Bullet aufs Wasser zu setzen, und wir sind wie der Blitz dort.«

Gunn ließ sich diese Bitte für einen Moment durch den Kopf gehen. Selbst für ihn war Pitt mehr als ein Chef, er war wie ein Bruder. Wären die Rollen umgekehrt verteilt gewesen, wusste er genau, was Pitt tun würde.

»In Ordnung«, sagte er ernst. »Aber passt auf euch auf.«

Dirk und Giordino rannten sofort zur Tür.

»Al, wir treffen uns an Deck«, sagte Dirk zu ihm. »Ich muss noch was holen.«

»Verpass bloß nicht den Bus«, erwiderte Giordino, dann verschwand er nach achtern.

Dirk begab sich ins Unterdeck, in dem sich die Quartiere der Mannschaft befanden. Er rannte zur Kabine seines Vaters, trat ein und ging zu einem kleinen Einbauschreibtisch. Über dem Schreibtisch befand sich ein Bücherregal, und Dirk überflog die Titel der Bücher, die dort standen. An einem Buchrücken blieb sein Blick hängen. Es war eine schwere, in Leder gebundene Ausgabe des Romans Moby Dick von Herman Melville. Er zog das Buch heraus und schlug es kurz auf.

»Danke, Ismael. Du bist mir wirklich eine große Hilfe«, murmelte er, dann klemmte er sich das Buch unter den Arm und verließ die Kabine.

 

97

 

Pitt hatte Zakkar schon beinahe vergessen, als dieser schließlich über den Bug aufs Galeerendeck geklettert war und nach seinem Partner rief. Da er keine Antwort erhielt, knipste der Araber Salaams Stiftlampe an und richtete sie auf das hintere Ende des Decks. Der Lichtstrahl erfasste die Gestalt Pitts, der dort stand, ein Schild in der Hand und ein fröhliches Grinsen im Gesicht.

Aber Pitt ging bereits auf der anderen Seite des Masts in Deckung, als Zakkars Uzi losbellte und einen Feuerstoß über seinen Kopf hinweg in das erhöhte Steuerdeck jagte. Pitt wartete nicht ab, dass er seine Zielgenauigkeit verbesserte, sondern schlängelte sich über das Deck und verschwand im Niedergang, als Zakker ihn bereits verfolgte.

Alis Körper war in dem kleinen Lichtfleck, der von oben ins tiefer gelegene Deck fiel, kaum zu sehen. Pitt erkannte immerhin, dass der Kopf des Arabers mit dem Hals einen unnatürlichen Winkel bildete. Bei dem Sturz musste sein Genick gebrochen sein. Eilig ging Pitt neben der Leiche auf die Knie herunter und suchte den Boden ringsum nach der Pistole ab, aber sie war nicht zu finden. Da Ali sie bei seinem Sturz aus der Hand verloren hatte, war sie unter eine der Ruderbänke in der Nähe gerutscht. Pitt hatte seine Lampe auf dem Oberdeck beiseitegelegt, als er das pilum geworfen hatte, darum hatte er jetzt keine Chance, die Pistole bei der herrschenden Dunkelheit zu finden.

Während Zakkar über ihm nach achtern stürmte, bewegte sich Pitt nach vorne und tastete sich durch einen Mittelgang, der die Ruderplätze auf beiden Seiten des Schiffes voneinander trennte. Er hatte seine römischen Waffen auf dem Oberdeck zurückgelassen und fand sich jetzt so gut wie wehrlos im dunklen Schiffsbauch wieder. Er konnte nur hoffen, dass es ihm gelang, durch den vorderen Niedergang nach oben zu gelangen, während Zakkar am Heck ins Ruderdeck hinabstieg.

Aber Zakkar wusste, dass sein Gegner nur vor ihm fliehen konnte, und zögerte nicht, die achtern gelegene Leiter zu benutzen. Pitt hörte ihn herunterkommen und beschleunigte seine Schritte. Gleichzeitig gewahrte er einen schwachen Lichtstrahl vor sich, der, wie er wusste, die Position des offenen Niedergangs markierte.

Kaum hatten seine Füße das untere Deck berührt, vergeudete Zakkar höchstens eine Sekunde damit, die tote Gestalt Alis zu inspizieren, ehe er mit der Stiftlampe durch das Ruderdeck leuchtete. Am anderen Ende nahm er eine Bewegung wahr, dann riss der Lichtstrahl Pitts Gestalt aus dem Dunkel, die sich zur vorderen Leiter hin entfernte. Zakkar zielte flüchtig und gab einen kurzen Feuerstoß ab.

Pitt warf sich aufs Deck, während sich die Kugeln um ihn herum ins Holz fraßen. Mehrere kleine Kisten waren nicht weit von dem unteren Ende des Niedergangs aufgestapelt, und er robbte schnell weiter und ging dahinter in Deckung. Zakkar kam näher, feuerte abermals und zertrümmerte eine der Kisten dicht neben Pitts Kopf.

Ohne eine Waffe befand sich Pitt in einer hoffnungslosen Lage. Seine einzige Chance bestand darin, die Leiter zu erklimmen, bevor Zakkar näher kam. Er suchte wieder nach einer Waffe, entdeckte jedoch nur ein weiteres Skelett, das in seiner Nähe lag. Es gehörte einem römischen Legionär, wie er erkennen konnte, da die Knochen noch von einem Panzer und einem Helm umhüllt wurden. Der tote Soldat musste in den Niedergang gestürzt sein, als er im Kampf gefallen war, vermutete Pitt. Er betrachtete einen Moment lang nachdenklich den Panzer, dann streckte er plötzlich die Hand aus und trennte ihn von den fleischlosen Knochen.

Im vierten Jahrhundert bestand die Rüstung eines römischen Soldaten größtenteils aus Eisen. Einerseits äußerst schwer, konnten die Schutzpanzer andererseits den spitzesten Speeren und schärfsten Schwertern standhalten. Und vielleicht, so überlegte Pitt, widerstanden sie ja auch den Projektilen einer 9-Millimeter-Uzi-Maschinenpistole. Pitt setzte sich den schweren Rundhelm mit verlängertem Nackenschild auf den Kopf. Dann studierte er den Brustpanzer. Cuirass genannt, bestand er aus einer Eisenplatte in der Form eines männlichen Brustkorbs mit entsprechender Rückenplatte. Pitt konnte erkennen, dass dieser Panzer offensichtlich jemandem als Schutz gedient hatte, der deutlich kleiner gewesen war als er.

Er vergeudete keine Zeit damit, sich den cuirass ordnungsgemäß anzulegen, schwang sich die beiden Platten auf den Rücken und befestigte sie mit einem Lederriemen an seinem Hals. Dann kroch er zum Fuß des Niedergangs, schaute zum Oberdeck hinauf, holte tief Luft und turnte die Leiter so schnell hinauf, wie seine Arme und Beine ihn nur tragen konnten.

Zakkar war immer noch an die zwanzig Meter entfernt und rannte durch den Mittelgang, die Stiftlampe auf den Niedergang gerichtet, als er Pitt aufspringen sah. Der erfahrene Killer stoppte sofort und brachte seine Waffe in Anschlag. Indem er die Lampe mit der linken Hand unter dem Lauf der Waffe festhielt, zielte er sorgfältig und drückte ab.

Das Holz in Pitts nächster Umgebung zerbarst in einem Splitterregen, als die Projektile in den Stützbalken der Leiter einschlugen. Er spürte drei harte Schläge gegen seinen Rücken, die ihn wie Treffer mit einem Vorschlaghammer nach vorne warfen. Aber er konnte sich noch immer bewegen. Mit rudernden Armen und heftig pumpenden Beinen hechtete er sich nach oben aufs offene Deck, während ein zweiter Feuerstoß den oberen Teil der Leiter zertrümmerte, wo kurz vorher seine Füße gewesen waren.

Pitt rannte zur Seitenreling und wunderte sich, dass er den Niedergang unversehrt überwunden hatte. Immer noch geschützt von seiner römischen Rüstung schickte er sich an, über die Reling zu springen, als er ein weiteres pilum auf dem Deck sah, identisch mit dem, das er schon auf den ersten Schützen geschleudert hatte. Entschlossen, in die Offensive zu gehen, hob er den Wurfspeer auf und kehrte schrittweise zum offenen Niedergang zurück.

Zakkar hatte bereits den Fuß der Treppe erreicht und klugerweise die Stiftlampe ausgeknipst. Auf der Galeere herrschte plötzlich tödliche Stille, als beide Männer mitten in der Bewegung erstarrten. Zakkar begann leise die teilweise zertrümmerte Leiter hinaufzuklettern, wobei er sich immer nur zentimeterweise bewegte. Da er Lampe und Waffe nicht gleichzeitig festhalten konnte, nahm er die Lampe zwischen die Zähne und hielt dann die Uzi hoch.

Nur sein Kopf ragte aus dem Niedergang, als er Pitt einige Schritte entfernt wahrnahm. Das pilum verließ Pitts Wurfhand und flog sich leicht drehend auf den Araber zu. Aber das Ziel war zu klein, und Zakkar duckte sich lässig weg, so dass sich das pilum in den Rahmen der Leiter bohrte, ohne weiteren Schaden anzurichten. Zakkar stieß die Uzi aus der Öffnung und feuerte blind auf Pitt, ehe er sich auf der Leiter aufrichtete. Dann war sein Magazin leergeschossen.

Pitt hatte bereits die Reling erreicht und warf sich über die Brüstung, als ihm die Kugeln harmlos um die Ohren flogen. Aber die Salve hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, und er landete fünf Meter tiefer mit verdrehten Beinen im Sand. Ein brennender Schmerz schnitt durch seinen rechten Knöchel, als er sich erhob, einen Schritt machte und sofort auf seinem heilen Fuß weiterhüpfte. Mit verstauchtem Knöchel kam es ihm plötzlich so vor, als sei der Kanal meilenweit entfernt. Aber viel näher lag die Leiche Salaams. Bis dorthin waren es nur ein paar Hüpfer, und Pitt wusste, dass er mit einer Pistole bewaffnet gewesen war.

Schnell humpelte er zu ihm hinüber, beugte sich über den Toten und tastete seine Hände ab.

»Suchen Sie dies hier?«, erklang von der Galeere plötzlich eine spöttische Frage.

Zögernd blickte Pitt über die Schulter und sah Zakkar, die Pistole des Toten in der Hand. Er richtete sie direkt auf seinen Kopf.

 

98

 

Pitt hatte keine Ahnung, weshalb der Araber nicht sofort auf ihn schoss. Zakkar stand mehrere Sekunden lang reglos da, ehe Pitt bemerkte, dass er an ihm vorbeischaute. Pitt folgte vorsichtig seinem Blick zum Kanal, wo eine ungewöhnliche Turbulenz im Wasser zu sehen war.

Ein mattes Leuchten erschien unter der Wasseroberfläche und wurde stetig heller, während eine Wolke Luftbläschen das Wasser darüber zum Schäumen brachte. Eine grell leuchtende Batterie Xenonlampen war das Erste, was aus der Tiefe auftauchte, gefolgt von einer Cockpitkuppel aus Acrylglas und schließlich einem langen weißen Bootsrumpf. Pitt begrüßte die Bullet mit einem grimmigen Lächeln, als sie durch die Wasseroberfläche brach und dann wie ein Korken auf den Wellen des Grottenkanals tanzte.

Dirk und Giordino, die an den Kontrollen saßen, schauten beim Anblick der riesigen Höhle und der römischen Galeere in ihrem Zentrum vor Ehrfurcht starr aus dem Cockpit. Dann sahen sie Pitt vor dem Lauf von Zakkars Pistole stehen, beide Männer im gleißenden Licht des Tauchboots. Als Dirk zu dem Araber blickte, verschlug es ihm den Atem, da er ihn wiedererkannte.

»Das ist dei Terrorist aus Jerusalem«, sagte er stammelnd zu Giordino. »Behalt ihn bloß im Auge.«

Ehe Giordino reagieren konnte, hatte sich Dirk aus seinem Sitz gestemmt und die hintere Luke geöffnet. Sofort stieg er hinaus auf den Ballasttank an der Seite. Dabei umklammerte er weiterhin das Buch von Herman Melville. Das Tauchboot war noch gut drei Meter vom Ufer entfernt, als Giordino es mit dem Bug zur Galeere drehte, aber Dirk wartete nicht, bis er ihn näher heranbrachte. Er nahm auf dem Tauchboot einige Schritte Anlauf, sprang ins Wasser und schwamm zum Ufer. Dabei hielt er das Buch hoch über den Kopf.

Vom Deck der Galeere aus beobachtete Zakkar nervös das Geschehen. Er richtete die Pistole auf Pitt, feuerte einen Schuss ab und sah, wie er wie ein gefällter Baum umkippte und sich im Sand ausstreckte. Dann konzentrierte er sich auf das Tauchboot. Obgleich er das Platschen gehört hatte, als Dirk ins Wasser gesprungen war, konnte er wegen der grellen Lampen der Bullet nicht sehen, wie er an Land kam. Sorgfältig zielend zerschoss er eine der Lampen, dann überschüttete er die Acrylglaskuppel mit mehreren Schüssen, ehe er die zweite Lampe zerstörte. Dann erst bemerkte er eine hochgewachsene Gestalt am Ufer, die mit ausgestreckten Armen vor ihm stand.

Zakkar feuerte zuerst und verfehlte ihn mit dieser Kugel, die um Haaresbreite an Dirks linkem Ohr vorbeipfiff. Dirk ließ sich davon nicht aufhalten, sondern marschierte direkt auf den Araber zu, ohne zu zucken und auch nur einen Deut langsamer zu werden. Die unterschiedlichsten Gefühle trieben ihn an. Von den Gedanken zärtlicher Liebe zu Sophie bis hin zu rasender Wut und unstillbaren Rachegelüsten. Was auf dieser Gefühlspalette aber ganz eindeutig fehlte, war Angst, Angst in jeder Form.

Zakkar mit dem Colt .45 anvisierend, den er in der ausgestreckten Hand hielt, drückte Dirk in aller Ruhe ab. Weder der donnernde Knall noch der heftige Rückschlag der Waffe in seiner Faust konnten ihn bremsen, und er marschierte weiter und betätigte wie ein Roboter bei jedem Schritt den Abzug.

Dirks erster Schuss zertrümmerte das Geländer vor Zakkar. Dieser zuckte bei seiner Gegensalve zusammen und schoss hoch daneben. Er bekam keine weitere Chance mehr zu feuern. Die nächste Kugel aus Dirks .45er bohrte sich in Zakkars Schulter und riss ihm fast den Arm ab. Er wurde herumgeworfen, dann kippte er gegen das Geländer, wo ihn der nächste Treffer erwischte, wieder in die Seite.

Bäuchlings über die Reling hängend, während das Leben aus ihm heraussickerte, war Zakkar kein schneller Tod vergönnt. Dirk kam näher und pumpte fünf weitere Schüsse in ihn hinein, bis nur noch eine hässliche, blutig rote Masse am Rumpf der Galeere herabströmte. Er blieb stehen und betrachtete den toten Terroristen, während es in der Höhle für einen Moment totenstill wurde. Dann wandte er sich um, als er hinter sich Wasser plätschern hörte.

Summer hatte geholfen, die Bullet durch den Eingang der Seehöhle zu manövrieren, und kam jetzt auf dem überspülten Felsband heraufgestolpert. Als sie endlich festen Boden erreichte, rannte sie los und kam außer Atem zu Dirk. »Wo ist Dad?»

Dirk deutete auf die Gestalt im römischen Helm und der römischen Rüstung, die ausgestreckt neben dem ersten Bewaffneten lag. Giordino hatte mittlerweile das Tauchboot an Land gesteuert und sprang ebenfalls heraus, um mit Dirk und Summer zu Pitt zu eilen.

Der NUMA-Chef regte sich allmählich wieder, dann schaute er hoch und zeigte seinen Kindern ein mattes Lächeln.

»Bist du okay?«, fragte Summer.

»Mir geht es gut«, versicherte er. »Bin nur noch ein wenig durcheinander von dem Treffer. Helft mir mal auf die Füße.«

Während Dirk und Summer ihn stützten, sah sich Giordino eingehend die Rüstung an und grinste.

»Heil Cäsar«, sagte er und schlug sich mit der geballten Faust vor die Brust.

»Ich sollte Caesar tatsächlich dankbar sein«, erwiderte Pitt und nahm den Helm ab. Er hielt ihn hoch und deutete auf eine Kerbe in der Nähe der Schläfe, wo ihn Zakkars Kugel gestreift hatte.

»Das war wirklich einer auf die Glocke«, stellte Giordino fest.

Pitt nahm den cuirass vom Rücken und untersuchte ihn. Drei saubere kreisrunde Löcher hatten den Brustpanzer durchdrungen, jedoch wies die Rückenplatte an den entsprechenden Stellen lediglich drei kleine Vertiefungen auf. Nur dadurch, dass er doppelt genommen wurde, war Pitts Leben verschont worden.

»Römische Ingenieurskunst hat wirklich etwas für sich«, sagte er.

Er ließ die Rüstung fallen und sah Dirk und den .45er, den er immer noch in der Hand hielt.

»Dieser Colt kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Pitt.

Dirk reichte die Waffe widerstrebend seinem Vater. »Du hast mir einmal erzählt, wie dir Loren eine Waffe in einer ausgehöhlten Ausgabe von Moby Dick in die Mongolei geschickt hat. Ich hatte so eine Eingebung, habe in deiner Kabine nachgesehen und fand das Buch im Regal. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«

Pitt schüttelte den Kopf, dann blickte er auf die blutige Masse, die alles darstellte, was von Zakkar noch übrig war.

»Den hast du dir aber gründlich vorgenommen«, sagte er.

»Dieser Mistkerl hat die Anschläge in Caesarea und Jerusalem inszeniert«, erwiderte Dirk kalt und verzichtete darauf zu erwähnen, dass Zakkar indirekt auch für Sophies Tod verantwortlich war.

»Ziemlich seltsam, dass er ausgerechnet hier gelandet ist«, sagte Summer.

»Ich vermute, darüber könnte dein englischer Freund etwas wissen«, sagte Pitt und deutete auf Bannister.

Der Archäologe hatte sich an den Felsen, hinter denen er sich versteckt hatte, hochgezogen und blickte sie mit glasigen Augen an.

»Ich kümmere mich um ihn«, bot Giordino an. »Seht ihr doch mal nach, was ihr an Bord alles finden könnt.«

»Irgendeine Spur von den Stücken, die auf dem Manifest stehen?«, fragte Summer voller Hoffnung.

»Ich war bisher zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um das festzustellen«, erwiderte Pitt. »Kommt, helft mal einem klapprigen alten Mann an Bord.«

Gestützt von Dirk und Summer kletterte Pitt auf die Galeere und stieg dann über den Niedergang ins dunkle Ruderdeck hinunter. Er ging zu dem Kistenstapel hinüber, den er kurz vorher noch als Deckung benutzt hatte.

»Ich schlage vor, dass wir hier anfangen«, sagte er. Er ergriff eine der kleineren Boxen, wischte mit einer Hand den Staub weg, der sich auf ihr angesammelt hatte, und richtete eine Taschenlampe darauf. Ein verblasstes rotes Chi-Ro-Symbol war auf dem Holzdeckel zu erkennen.

»Summer, das ist dein Konstantinisches Kreuz«, stellte Dirk fest.

Summer nahm ihrem Vater die Taschenlampe aus der Hand und studierte das Zeichen. Dann nickte sie aufgeregt.

Die Kiste war an der Seite beschädigt, wo ein Feuerstoß aus Zakkars Uzi die Kante zertrümmert hatte. Mit dem Griff seines .45ers klopfte Pitt vorsichtig gegen die beschädigte Kante, um die Kiste zu öffnen. Das schmale Endstück löste sich, so dass die vordere Wand nach vorn kippte. Ein Paar abgetragener Ledersandalen fiel auf den Boden. Summer richtete die Taschenlampe darauf und entdeckte einen schmalen Streifen Pergament, der an einem der Schuhe befestigt war. Sie bückte sich und erkannte eine handschriftliche Notiz auf Latein:

Sandalii Christus.

Die Bedeutung der Worte war allen auf Anhieb klar. Sie hatten die Schuhe von Jesus vor sich.

 

EPILOG

 

Die Menschenmassen vor den Toren der Hagia Sophia bildeten eine riesige Warteschlange, die sich über mehr als sechs Häuserblocks erstreckte. Fromme Christen drängten sich neben tiefgläubigen Muslimen, während die Pilgerscharen ungeduldig darauf warteten, dass die Tore geöffnet wurden und man ihnen den Zugang zu den Exponaten im Innern des Gebäudes gestattete. Das ehrwürdige Gebäude war in den vierzehnhundert Jahren, die es die Silhouette von Istanbul beherrschte, Zeuge zahlloser historischer Dramen gewesen. Jedoch hatten nur wenige Ereignisse in seiner Vergangenheit die Art von Erregung erzeugt, die die Menschenmenge, die lautstark Einlass forderte, in diesem Augenblick durchpulste.

Nur wenige der Wartenden achteten auf das alte grüne Delahaye-Kabriolett, das vor dem Eingang parkte. Hätten sie genauer hingesehen, wäre ihnen eine Naht von Einschusslöchern im Kofferraumdeckel vielleicht nicht entgangen, die der neue Besitzer des Wagens noch ausbessern lassen musste.

Im Innern des Gebäudes schritt eine kleine Gruppe VIPs andächtig über den Krönungsplatz und bewunderte die Doppel-Ausstellung unter der aufragenden Hauptkuppel der Hagia Sophia, sechzig Meter über ihren Köpfen. Auf der rechten Seite fanden sie eine Präsentation, die dem Leben Mohammeds gewidmet war. Sie enthielt eine gestohlene Kriegsfahne, einen handschriftlichen Text des Korans und andere Artefakte, die aus der Privatsammlung Ozden Celiks stammten. Auf der linken Seite der Halle befanden sich die Reliquien von Jesus, wie sie auf der Galeere in Zypern gefunden worden waren. Dutzende bewaffneter Wächter begannen sich vor den Ausstellungsvitrinen beider Ausstellungen zu versammeln und bereiteten sich auf die formelle Eröffnung des Museums vor.

Giordino und Gunn unterhielten sich mit Loren und Pitt unweit eines in eine Glasvitrine eingeschlossenen Ossuariums, als sich Dr. Ruppe zu ihnen gesellte.

»Es ist einfach großartig!« Dr. Ruppe strahlte über das ganze Gesicht. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass Sie das tatsächlich zuwege gebracht haben. Eine gemeinsame Ausstellung von Reliquien aus dem Leben von Jesus und Mohammed. An einem solchen Ort.«

»Mit ihrer historischen Bedeutung sowohl als christliche Kirche wie auch als Moschee erschien uns die Hagia Sophia als der ideale Ort für die Zurschaustellung der Artefakte«, sagte Pitt. »Außerdem kann man, glaube ich, sagen, dass der Bürgermeister von Istanbul mit noch etwas schuldig war«, fügte er grinsend hinzu.

»Es war sicherlich eine zusätzliche Hilfe, dass die Leute auf Zypern nichts dagegen hatten, die Jesus-Artefakte für die Zeit auszuleihen, die sie benötigen, um die Räumlichkeiten für eine ständige Ausstellung der Reliquien und der Galeere zu schaffen«, sagte Gunn.

»Und vergesst nicht den umfangreichen Beitrag des leider so frühzeitig verstorbenen Mr. Celik«, sagte Giordino.

»Ja, die Reliquien Mohammeds gehören jetzt dem gesamten türkischen Volk«, stellte Pitt fest.

»Eine Glanzleistung!«, sagte Ruppe. »Die Öffentlichkeit wird begeistert sein. Es ist wirklich eine überzeugende Lektion in Sachen Toleranz, die wechselvolle Geschichte zweier Religionen auf diese Weise einander gegenüberzustellen.« Stirnrunzelnd sah er Pitt an. »Wissen Sie, man könnte fast glauben, Sie wollen sich für die Zeit nach dem Tod nach allen Seiten absichern.«

»Ein wenig Rückversicherung schadet nie«, erwiderte Pitt augenzwinkernd.

Auf der anderen Seite des Krönungsplatzes stand Julie Goodyear begeistert vor einer kleinen Vitrine, in der mehrere verblichene Papyrusblätter lagen.

»Summer, ist es denn zu fassen? Ein authentischer Brief von Jesus an Petrus.«

Summer amüsierte sich über die Begeisterung in der Miene der Historikerin.

»Ja, darunter befindet sich auch eine Übersetzung. Es scheint, als instruiere er Petrus, Vorbereitungen für eine größere Versammlung zu treffen. Einige Archäologen, die auf biblische Themen spezialisiert sind, glauben, darin einen Bezug auf die Bergpredigt erkennen zu können.«

Nachdem sie das Dokument noch einige Sekunden lang stumm betrachtet hatte, wandte sich Julie zu Summer um und schüttelte den Kopf.

»Es ist einfach unglaublich. Dass diese Artefakte auf einem realen Dokument aufgelistet wurden, das bis heute erhalten geblieben ist, ist allein schon erstaunlich. Aber dann diese Artefakte auch noch in einem so hervorragendem Zustand aufzufinden, das ist ein wahres Wunder.«

»Gepaart mit ein wenig Arbeit und einer ganzen Menge Glück«, fügte Summer lächelnd hinzu. Als sie Loren und Pitt auf der anderen Seite der Halle entdeckte, sagte sie: »Kommen Sie, ich möchte Sie meinem Vater vorstellen.«

Als Summer mit Julie den Raum durchquerte, blieb Julie für einen Moment vor dem ersten Exponat der Jesus-Ausstellung stehen. In einer Vitrine aus Panzerglas lag das originale Manifest. Eine kleine Plakette verkündete: »Leihgabe von Ridley Bannister.«

»Es tut richtig gut, das Original wiederzusehen, obwohl ich, offenen gesagt, überrascht bin, dass sich Mr. Bannister überhaupt bereit erklärt hat, es der Ausstellung leihweise zur Verfügung zu stellen«, sagte Julie.

»Er ist in dieser Grotte auf Zypern beinahe ums Leben gekommen, und ich wage zu behaupten, dass ihn diese Erfahrung von Grund auf verändert hat. Es war sogar sein Vorschlag, das Manifest in die Ausstellung mit aufzunehmen. Und er hat bereits eingewilligt, dieses Stück zusammen mit anderen Reliquien auf Zypern für unbegrenzte Zeit auszustellen. Natürlich hat er es sich nicht nehmen lassen, ein Buch und einen Dokumentarfilm über das Manifest vorzulegen«, fügte sie schmunzelnd hinzu.

Sie gingen zu Pitt und den anderen hinüber, wo Summer ihre Freundin vorstellte.

»Es ist mir eine besondere Freude, die junge Dame kennen zu lernen, die für die Entdeckung all dieser Schätze verantwortlich ist«, sagte Pitt liebenswürdig.

»Ich bitte Sie, ich habe dabei doch nur eine ganz unbedeutende Rolle gespielt«, wehrte Julie ab. »Sie und Summer waren es, die die eigentlichen Reliquien entdeckt haben. Vor allem das interessanteste Objekt«, fügte sie hinzu und deutete über Pitts Schulter hinweg auf den aus Kalkstein gefertigten Behälter, der wie ein kleiner Sarg aussah.

»Ja, das Ossuarium von J«, erwiderte Pitt. »Zuerst hat es einigen Wirbel verursacht. Aber nach sorgfältiger Analyse haben die Epigrafen die aramäische Inschrift auf der Vorderseite als Kürzel für >Joseph< und nicht >Jesus< entziffert. Einige Experten sind der Auffassung, damit sei Joseph von Arimathäa gemeint, aber ich denke, das werden wir wohl nie genau wissen.«

»Ich halte das für wahrscheinlich. Er war wohlhabend genug, um sich ein aufwendiges Grab und ein Ossuarium leisten zu können. Warum hätte Helena dieses Stück sonst in ihre Sammlung mit aufnehmen sollen? Es ist nur schade, dass die Gebeine verschwunden sind.«

»Das ist ein Rätsel, dessen Aufklärung ich Ihnen überlasse«, sagte Pitt. »Apropos Rätsel — Summer erzählte mir, Sie hätten einen neuen Hinweis in Bezug auf Lord Kitchener und die Hampshire gefunden.«

»Ja, das ist wahr. Summer hat Ihnen vielleicht erzählt, wie wir den Brief eines Bischofs namens Lowery gefunden haben, der Kitchener mit der Aufforderung verfolgt hat, ihm das Manifest zu übergeben, kurz bevor die Hampshire sank. Lowery wurde kurz danach durch einen Verkehrsunfall zum Krüppel und hat wenig später in einem Anfall von Depression Selbstmord begangen. Ich fand in den Papieren seiner Familie einen Abschiedsbrief, in dem er seine Beteiligung an der Hampshire-Katastrophe zugab. Das Schiff wurde aus Furcht, dass Kitchener das Manifest nach Russland mitnehmen könnte, um es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, absichtlich versenkt. Zu einer Zeit, als im Ersten Weltkrieg vorübergehend eine Patt-Situation herrschte, hatte die Kirche von England große Bedenken hinsichtlich seines Inhalts, vor allem in Bezug auf das Ossuarium von J und dessen Bedeutung für die Lehre von der Auferstehung.«

»Ich denke, da wird sich die Kirche einiges als Erklärung einfallen lassen müssen.«

Während sie sich unterhielten, schlenderte Loren zu einem kleinen Gemälde hinüber, das hinter einer Seilabsperrung präsentiert wurde. Leicht als wichtigstes Exponat der Ausstellung zu erkennen war es ein zeitgenössisches Porträt von Jesus auf einer Holzplatte, gemalt von einem römischen Künstler. Obgleich nicht mit der Kunstfertigkeit eines Rembrandt oder eines Rubens gesegnet, hatte der Künstler dennoch die erstaunlich realistische Darstellung eines nachdenklichen Mannes geschaffen. Er hatte ein schmales Gesicht, dunkles Haar, einen Bart und eine erstaunliche Aura, die sich dem Betrachter sofort mitteilte. Es waren die Augen, entschied Loren. Sie schimmerten olivfarben, sprangen einen regelrecht an und glänzten mit einer Mischung aus Intensität und Barmherzigkeit.

Loren studierte das Gemälde mehrere Minuten lang, dann rief sie Summer zu sich.

»Die einzige zeitgenössische Darstellung von Jesus«, sagte Summer ehrfürchtig, als sie herankam. »Ist das nicht außergewöhnlich?“

»Ganz gewiss.«

»Die meisten römischen Gemälde aus dieser Zeit, die es noch gibt, sind Fresken, daher ist ein solches freistehendes Porträt sehr selten. Ein Experte glaubt, es könnte vom selben Künstler geschaffen worden sein, der auch das berühmte Fresko in Parmyra in Syrien gemalt hat. Dieser Künstler hat sehr wahrscheinlich die Häuser der Reichen von Judäa mit Fresken verschönt und sein Einkommen mit dem Herstellen von Porträts aufgebessert. Die Historiker nehmen an, dass er Jesus auf dem Höhepunkt seines Wirkens gemalt hat, also kurz bevor er verhaftet und gekreuzigt wurde.«

Sie folgte Lorens Blick und studierte das Ausstellungsstück.

»Er hat das typische Aussehen eines Südländers aus dem Mittelmeerraum, nicht wahr?«, sagte Summer. »Ein Mensch, der die Sonne und den Wind liebt.«

»Es ist sicherlich nicht mit den Bildern der mittelalterlichen Meister zu vergleichen, die Jesus darstellten, als wäre er in Schweden geboren«, sagte Loren. »Erinnert er dich an jemanden?«, fragte sie und schien wie verzaubert von dem Bild.

Summer legte den Kopf ein wenig schief, während sie das Gemälde studierte, dann lächelte sie. »Jetzt, wo du es sagst, ja, es gibt schon eine gewisse Ähnlichkeit.«

»Eine Ähnlichkeit mit wem?«, fragte Pitt, der zu ihnen trat.

»Er hat welliges schwarzes Haar, ein schmales Gesicht und einen gebräunten Teint«, sagte Loren. »Und die gleichen Gesichtszüge wie du.«

Pitt betrachtete das Gemälde, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, seine Augen sind nicht so grün. Und dem Hintergrund nach zu urteilen kann er nicht größer als knapp eins sechzig gewesen sein und nicht viel mehr als hundert Pfund gewogen haben. Außerdem gibt es noch einen wesentlichen Unterschied zwischen uns«, fügte er mit einem leichten Grinsen hinzu.

»Und?«, fragte Loren.

»Er wandelte auf Wasser. Ich schwimme darin.«

 

Die Nachmittagshitze hatte ihren Höhepunkt überschritten, und die Sonne warf lange Schatten auf das Gebäude des Jerusalemer Bezirksgerichts, als das abschließende Urteil verlesen wurde. Die Fernseh- und die Zeitungsreporter verließen das Gebäude als Erste, um ihre Berichte über den Prozess an ihre Redaktionen weiterzuleiten. Als Nächstes folgten die Gerichtssaaltouristen und Sensationsjäger, die die Zuschauergalerie gefüllt hatten, und diskutierten lautstark über den Ausgang des Verfahrens. Als Letztes kamen die Zeugen und die Anwälte, die ausnahmslos froh waren, dass das lange Verfahren endlich sein Ende gefunden hatte. Wer jedoch unübersehbar fehlte, war der Beklagte. Oscar Gutzman würde das Gerichtsgebäude nicht mehr als freier Mann durch den Vordereingang verlassen. In Handschellen und unter schwerer Bewachung wurde er durch eine Hintertür zu einem wartenden Polizeitransporter gebracht, der ihn zum Shikma-Gefängnis fuhr, wo er seine Strafe antreten würde.

Dirk Pitt und Sam Levine bedankten sich bei den Staatsanwälten für ihre gute Arbeit, bevor sie ins Licht der sinkenden Sonne hinaustraten. Beide Männer hatten einen Ausdruck von Bitterkeit im Gesicht, wussten sie doch, dass das Urteil dem Tod von Sophie und ihrem Polizeikollegen niemals gerecht werden würde.

»Fünfzehn Jahre für Beihilfe und Anstiftung zum Mord von Agent Holder in Caesarea«, sagte Sam. »Viel mehr konnten wir nicht erreichen.«

»Es sollte gewährleisten, dass er im Gefängnis stirbt«, meinte Dirk gleichmütig.

»Bei seiner angegriffenen Gesundheit würde es mich überraschen, wenn er das erste Jahr überlebt.«

»Dann sollten Sie sich lieber beeilen, wenn Sie ihn noch wegen anderer Vergehen belangen wollen«, sagte Dirk.

»Wir haben mit den Staatsanwälten bereits eine Abmachung getroffen. Obwohl ihm eine sichere Verurteilung wegen des Handels mit gestohlenen Antiquitäten drohte, wären ein paar weitere Jahre Gefängnis zu der bereits verhängten Strafe eine reine Formsache gewesen.«

»Und was bekommen Sie von ihm?«

»Alle Anklagepunkte wurden fallen gelassen — als Gegenleistung für seine Mithilfe bei der Ermittlung der Quellen hinsichtlich der gestohlenen Artefakte in seiner Sammlung. Außerdem«, sagte Sam lächelnd, »hat sich Gutzman bereit erklärt, seine gesamte Sammlung nach seinem Tod dem Staat Israel zu vermachen.«

»Das ist doch ein gutes Geschäft.«

»Das finden wir auch«, sagte Sam, als sie das Ende der Treppe im Gerichtsgebäude erreichten. »Das lindert den Schmerz über unsere Verluste ein wenig.«

»Schön zu wissen, dass bei all dem auch noch etwas Gutes herauskommt«, sagte Dirk. Er ergriff Levines Hand. »Halten Sie die Ohren steif, und setzen Sie Ihren Kampf fort, Sam. Sophie hätte sich bestimmt gewünscht, dass Sie weitermachen.«

»Das werde ich. Passen Sie auf sich auf, Dirk.«

Während sich Sam auf den Weg zum Parkplatz machte, hörte Dirk, wie jemand seinen Namen rief. Er wandte sich um und sah Ridley Bannister, der mit Hilfe eines auf Hochglanz polierten Gehstocks die Treppe herunterkam.

»Ja, Bannister«, antwortete Dirk.

»Nur einen Moment«, bat der Archäologe und humpelte auf Dirk zu. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich vor dem Prozess keine Ahnung hatte, dass Sie mit Miss Elkin eine... persönliche Beziehung hatten. Sie war so etwas wie eine professionelle Kollegin, auch wenn wir nicht immer die gleichen Ansichten vertraten. Nichtsdestotrotz wollte ich Ihnen nur sagen, dass ich sie immer für eine bemerkenswerte Frau gehalten habe.«

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Dirk leise. »Ich danke Ihnen übrigens für Ihre Beteiligung am Verfahren. Ihre Aussage war für die Verurteilung Gutzmans entscheidend.«

»Ich wusste, dass er gestohlene Artefakte ankaufte, aber ich hätte niemals vermutet, dass er so weit gehen würde, Terroristen zu engagieren, um seine Sammlung zu vergrößern. Es geschieht sehr leicht, dass man dem Zauber der Artefakte erliegt, und auch ich muss in dieser Hinsicht einige Sünden eingestehen. Aber am Ende sollte man alles wiedergutmachen. Sie und Ihre Familie haben mir den Weg gezeigt und außerdem mein Leben gerettet. Dafür werde ich Ihnen immer dankbar sein.«

»Wie lange werden Sie den noch brauchen?«, fragte Dick und zeigte auf den Gehstock.

»Nur noch ein paar Wochen. Die Ärzte auf Zypern haben hervorragend gearbeitet, als sie mich zusammenflickten.«

»Es war eine gute Tat von Ihnen, dem neuen Museum das Manifest als Leihgabe zu überlassen.«

»Es gehört zu den anderen Artefakten, die die NUMA ihnen geschenkt hat«, erwiderte Bannister. »Vielleicht bewirkt es ja, dass mich Ihre Schwester in einem anderen Licht sieht. Summer ist übrigens eine außerordentlich reizende Lady. Bitte bestellen Sie ihr, dass es mir eine Ehre wäre, wenn ich sie eines Tages mal zum Essen ausführen darf.«

»Ich werde es weitergeben. Was wartet als Nächstes auf Sie?«

»Die Bundeslade. Ich habe einen Hinweis gefunden, dass sie vielleicht im Jemen in einer Höhle versteckt ist. Es sieht ganz vielversprechend aus. Und was ist mit Ihnen?«

»Ich denke, ich habe erst einmal genug vom Mittelmeer«, sagte Dirk leise.

»Na, viel Glück für Sie, wo immer Sie demnächst landen werden. Und bestellen Sie Ihrem Vater und Summer meine besten Grüße.«

»Viel Glück, Bannister. Wir sehen uns sicher irgendwann einmal.«

Dirk verfolgte, wie der Archäologe zu einem Taxistand humpelte und sich beim Einsteigen helfen ließ. Dirks Hotel war nur ein paar Blocks entfernt, daher entschied er, den kurzen Weg zu Fuß zurückzulegen. Während er durch die Straßen von West-Jerusalem schlenderte, vergaß er schon bald den dichten Verkehr und das Gewimmel auf den Bürgersteigen, da sich seine Gedanken in einer Art emotionalem Nebel verloren.

Er ging am Hotel vorbei, wanderte weiter und gelangte, ohne es bewusst zu wollen, durch das Herodes-Tor in die Altstadt. Geistesabwesend ging er durch die Straßen und wurde von einem unsichtbaren Kompass nach Osten gelenkt.

Er folgte einer Nonne, die bei Rot die Straße überquerte, in eine Nebenstraße und stand plötzlich auf dem Gelände der Sankt-Anna-Kirche. Er spürte, wie ihn eine tiefe Ruhe überkam, als er um die Kirche herum zum Bethesda-Teich spazierte.

Die Bank, auf der er mit Sophie zu Mittag gegessen hatte, war leer, und er setzte sich in den Schatten der Maulbeerbäume. Gedankenverloren blickte er, nachdem die Sonne schon hinter dem Horizont versunken war, noch lange auf die leeren Teiche. Und er saß noch immer dort und hing seinen Erinnerungen nach, als eine kühle Brise aufkam und den süßen Duft von Jasmin zu ihm trug.

Blocks entfernt, daher entschied er, den kurzen Weg zu Fuß zurückzulegen. Während er durch die Straßen von West-Jerusalem schlenderte, vergaß er schon bald den dichten Verkehr und das Gewimmel auf den Bürgersteigen, da sich seine Gedanken in einer Art emotionalem Nebel verloren.

Er ging am Hotel vorbei, wanderte weiter und gelangte, ohne es bewusst zu wollen, durch das Herodes-Tor in die Altstadt. Geistesabwesend ging er durch die Straßen und wurde von einem unsichtbaren Kompass nach Osten gelenkt.

Er folgte einer Nonne, die bei Rot die Straße überquerte, in eine Nebenstraße und stand plötzlich auf dem Gelände der Sankt-Anna-Kirche. Er spürte, wie ihn eine tiefe Ruhe überkam, als er um die Kirche herum zum Bethesda-Teich spazierte.

Die Bank, auf der er mit Sophie zu Mittag gegessen hatte, war leer, und er setzte sich in den Schatten der Maulbeerbäume. Gedankenverloren blickte er, nachdem die Sonne schon hinter dem Horizont versunken war, noch lange auf die leeren Teiche. Und er saß noch immer dort und hing seinen Erinnerungen nach, als eine kühle Brise aufkam und den süßen Duft von Jasmin zu ihm trug.