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Die Insel Malé ist das am dichtesten besiedelte der sechsundzwanzig Atolle der Malediven. Vor Jahrhunderten hatte sich Malé im Privatbesitz des Königs befunden, und die Bürger lebten auf den anderen Inseln, die als eine Kette von dreihundert Kilometern Länge vor der Südspitze Indiens liegen. Mittlerweile ist Malé die Hauptstadt des Inselstaates. Einhunderttausend Menschen leben dort auf einer Fläche von sieben Quadratkilometern.
Im Gegensatz zu Vulkaninseln wie Hawaii oder Tahiti gibt es auf den Malediven keine Berge oder felsigen Erhebungen. Tatsächlich befindet sich der höchste natürliche Punkt auf Malé gerade mal zweieinhalb Meter über dem Meeresniveau, obgleich dort überall mehrstöckige Häuser mit Eigentumswohnungen und andere Gebäude bis an das Meeresufer heran aus dem Boden schießen.
Der Flug von Washington, D. C., dorthin nahm einen ganzen Tag in Anspruch. Zuerst waren es vierzehn Stunden bis Doha, Katar, dort folgte ein Aufenthalt von drei Stunden, der einem vergleichsweise kurz vorkam, und dann ein weiterer fünfstündiger Flug. Sich nach derart viel Stunden in der Luft erneut an Bord eines Flugzeugs zu begeben kostete einiges an Willenskraft. Nachdem all das überstanden war, landeten die Reisenden glücklich an ihrem Bestimmungsort. Mehr oder weniger jedenfalls.
Malé selbst war so klein und so dicht zugebaut, dass auf der fast kreisrunden Insel kein Platz für einen Flugplatz vorhanden war. Um sie zu erreichen, musste man auf der benachbarten Insel, Hulhulé, landen, deren Umrisse einem Flugzeugträger ähnelten – und die nahezu vollständig von der Hauptstart- und -landebahn bedeckt war.
An Bord einer vierstrahligen A380 beobachtete Kurt Austin, wie andere Passagiere die Armlehnen ihrer Sitze mit weißen Fingerknöcheln umklammerten, während die Maschine dichter und dichter aufs Wasser hinabsank. Als es schien, als würde das Fahrwerk jeden Moment in die Wellen eintauchen, wurde der blau schimmernde Wasserteppich von festem Untergrund abgelöst, und der große Airbus setzte auf dem Beton der Rollbahn auf.
»Hoppla«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Kurt Austin drehte sich um. Joe Zavala war durch die Landung aus dem Schlaf gerissen worden. Sein kurzes schwarzes Haar war ein wenig zerzaust, und er riss die dunklen braunen Augen so weit auf, als sei er soeben von einem Viehtreiber angestupst worden. Er hatte fest geschlafen, bis die Räder den Grund berührten.
»Wie wäre es beim nächsten Mal mit einer kurzen Warnung?«
Austin lächelte. »Um dir die Überraschung zu verderben? Ein kleiner Adrenalinstoß wie der eben gerade ist doch eine ideale Hilfe, um in den Tag zu starten.«
Joe Zavala musterte Kurt Austin zweifelnd. »Erinnere mich daran, dass ich dir niemals gestatte, meine Ruftöne oder die sonstigen akustischen Signale einzustellen. Du würdest wahrscheinlich ein Nebelhorn oder etwas Ähnliches auswählen.«
Kurt lachte. Er und Joe konnten auf ein Jahrzehnt gemeinsam bestandener Abenteuer zurückblicken. Sie hatten zahllose Streitigkeiten und Kämpfe überstanden und waren mit Dutzenden von Situationen konfrontiert worden, die in Katastrophen zu enden drohten, bis sie es – gewöhnlich im allerletzten Moment – doch noch irgendwie schafften, das Blatt zu wenden.
Kurt Austin hatte oft sein Leben riskiert, um Joe Zavala aus dem Feuer zu holen, und Joe hatte das Gleiche für ihn getan. Das gab beiden das Recht, den jeweils anderen während ihrer Auszeiten gnadenlos zu hänseln.
»Wenn ich mir anhöre, wie laut du schnarchst«, sagte Kurt, »glaube ich kaum, dass man dich mit einem Nebelhorn wach bekäme.«
Eine halbe Stunde später, nach einem kurzen Trip durch die Gepäckausgabe und die Zollkontrolle, saßen Kurt und Joe in einem offenen Boot, gemeinhin als Wassertaxi bekannt, und überquerten den schmalen Streifen Meer zwischen Hulhulé und Malé.
Kurt Austin ließ den Blick über das Wasser schweifen, während Joe in ein Kreuzworträtsel vertieft war, mit dem er sich schon während der halben Flugzeit beschäftigt hatte.
»Eine afrikanische Wildkatze mit fünf Buchstaben?«, fragte Joe.
Kurt zögerte. »Tiger würde ich nicht nehmen«, erwiderte er.
»Wirklich nicht?«, sagte Joe. »Bist du ganz sicher?«
»Ziemlich sicher«, sagte Kurt. »Wie kommt es, dass du so müde aussiehst?«
Joe Zavala hatte gewöhnlich kein Problem mit Fernreisen. Tatsächlich fragte sich Kurt Austin oft, ob er irgendein Geheimnis kannte, das von den Forschern in seiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben worden war und ihm gestattete, Dutzende von Zeitzonen zu überspringen, ohne davon in irgendeiner Weise beeinträchtigt zu werden. Doch in diesem Moment zeigten Joes Augen dunkle Ränder, und trotz seiner drahtigen, athletischen Statur sah er ziemlich erledigt aus.
»Du warst in D. C., als dich der Ruf erreicht hat«, sagte Joe, »und nur zehn Minuten vom Flughafen entfernt. Ich bin in West-Virginia gewesen, mit fünfzehn Kindern des Jugendprogramms. Wir hatten das Wochenende mit ausgedehnten Geländeläufen und Überlebensübungen verbracht.«
In seiner Freizeit veranstaltete Joe ein spezielles Programm zur Persönlichkeitsbildung für vernachlässigte Großstadtkinder. Kurt Austin half ihm oft bei diesen Ausflügen, hatte bei diesem jedoch auf eine Teilnahme verzichten müssen.
»Hast du wieder mal versucht, den Teenagern zu zeigen, was eine Harke ist?«
»Das hält mich jung«, meinte Joe.
Kurt Austin nickte. Tatsache war, dass sie beide Sportler waren. Um den Anforderungen der Abteilung für Sonderprojekte der NUMA gerecht zu werden, musste man das auch sein. Es war unmöglich vorauszusehen, womit sie sich würden herumschlagen müssen, außer dass es mit großer Wahrscheinlichkeit strapaziös und anstrengend werden und auch den letzten Rest mentaler und physischer Energie aufzehren würde, die ein Mann oder eine Frau aufbringen konnte.
Um diese Belastungen zu ertragen, hielten sich beide Männer in Topform. Kurt Austin war größer und eher schlank und wendig. Fast jeden Tag ruderte er auf dem Potomac oder unternahm einen längeren Jogging-Lauf. Er stemmte Gewichte und betrieb Taekwondo, um seine Beweglichkeit, seinen Gleichgewichtssinn und seine Selbstkontrolle für Kampfsituationen zu trainieren.
Joe war kleiner, hatte breitere Schultern und eher die Figur eines Boxers. Außerdem spielte er in einer Mannschaft der Amateurliga Fußball und wurde nicht müde zu betonen, dass er jederzeit hätte ins Profilager wechseln können, wenn er nur ein wenig schneller gewesen wäre. Doch im Augenblick war er anscheinend ausschließlich daran interessiert, das Kreuzworträtsel zu lösen.
Kurt riss ihm die Rätselseite der Zeitung aus der Hand und stopfte sie in einen Abfallkorb. »Schon deine Augen«, sagte er. »Du wirst sie brauchen.«
Joe blickte einen Moment lang sehnsüchtig auf die zusammengefaltete Zeitung, zuckte die Achseln und ließ den Kopf dann auf die Nackenstütze sinken. Er schloss die Augen und genoss für die Dauer der zehnminütigen Fahrt über die Meerenge den wärmenden Sonnenschein.
»Wollen Sie hier Ferien machen?«, versuchte der Lenker des Wassertaxis ein Gespräch anzufangen.
Bekleidet mit einem weißen Leinenhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, erschien Kurt Austin wie das Paradebeispiel eines Touristen, der endlich an seinem Urlaubsziel eingetroffen war. Der Taxiskipper konnte sich nichts anderes vorstellen.
»Wir sind geschäftlich hier«, sagte Kurt.
»Das ist gut«, erwiderte der Mann. »Malé ist ein gutes Pflaster für Geschäfte. Was machen Sie?«
Kurt ließ sich diese Frage kurz durch den Kopf gehen. Es war so gut wie unmöglich, genau zu erklären, was das Special Projects Team der NUMA tat und dass im Grunde von allem etwas dabei war. Gleichzeitig fiel ihm die einzige Antwort ein, die die Wahrheit absolut präzise traf.
»Wir lösen Probleme«, meinte er schließlich.
»Dann haben Sie sich den falschen Ort ausgesucht«, sagte der Skipper. »Die Malediven sind ein Paradies. Hier gibt es keine Probleme.«
Kurt lächelte. Er wünschte sich, dass der Mann damit recht hatte.
Nach einigen weiteren Minuten gemütlicher Fahrt tauchte die ziemlich gleichförmige Skyline von Malé vor ihnen auf, gleichförmig deshalb, weil in der Hauptstadt des islamischen Inselstaats laut einer strengen Bauvorschrift kein Gebäude höher sein darf als der Turm der Hauptmoschee, der sogenannten »Freitagsmoschee«. Das Taxi umrundete den Hafendamm und wurde langsamer. Das Türkis des Wassers verlor sich und ging in einen blauen Schimmer über, als die Wassertiefe schlagartig abnahm.
Das Boot stieß gegen den Kai, der Skipper schaltete den Motor aus und warf einem Helfer an Land eine Leine zu.
Kurt erhob sich, entlohnte den Skipper und kletterte aus dem kleinen Boot. Vor ihm, jenseits des Kais, schlenderten Touristen über die Uferpromenade und betrachteten die Auslagen der zahlreichen Läden. Eine Gruppe von Männern in hellorangefarbenen Warnwesten war damit beschäftigt, eine schadhafte Stelle im Beton des Hafenkais auszubessern. Dann unterbrachen sie alle ihre Arbeit, stützten sich auf ihre Schaufeln und begafften eine ziemlich gut aussehende Polynesierin, die nicht weit entfernt vorbeispazierte.
Kurt konnte es den Männern nicht verübeln. Ihr üppiges schwarzes Haar ergoss sich wie Tinte über das ärmellose schneeweiße Top. Das gebräunte Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den vollen Lippen schimmerte in der Sonne. Und auch wenn ihre Beine von einer konservativen leichten grauen Hose bedeckt wurden, zweifelte Kurt keine Sekunde daran, dass sie ebenso aufregend gebräunt waren wie der Teil ihres Körpers, der die Arbeiter ihren Reparaturauftrag vergessen ließ.
Die Frau verschwand in einem Juwelierladen, und sowohl Kurt Austin als auch die Straßenarbeiter nahmen ihre jeweilige Tätigkeit wieder auf.
»Bist du so weit?«, fragte Kurt.
»Klar, ich könnte gar nicht weiter sein«, erwiderte Joe Zavala.
Kurt schwang sich seinen Rucksack auf die Schulter, und dann marschierten die beiden Männer über den Kai. Zwei andere Gestalten warteten bereits auf sie: ein Mann von beachtlicher Größe, fast zwei Meter, mit ernstem, angespanntem Blick, und eine Frau mit freundlicher, zugleich schelmischer Miene, blau-grünen Augen und leicht gelocktem, weinrotem Haar. Sie war etwa eins fünfundsiebzig groß, wirkte neben dem Mann jedoch geradezu zierlich.
»Sieht so aus, als seien uns die Trouts diesmal zuvorgekommen«, sagte Kurt Austin und machte Joe Zavala auf sie aufmerksam.
Paul und Gamay Trout gehörten zu ihren besten Freunden und waren unersetzliche Mitglieder des Special Projects Teams. Gamays unwiderstehliche Fröhlichkeit und zu jedem Schabernack aufgelegte Natur war das ideale Yin zu Pauls ernstem, sensiblem Yang.
»Willkommen im Paradies«, sagte Gamay. Sie stammte aus Wisconsin und hatte immer noch den typischen weichen Akzent der Bewohner des amerikanischen Mittelwestens.
»Du bist schon die zweite Person, die diesen Begriff verwendet«, stellte Kurt fest.
»So steht’s im Reiseführer.«
Kurt Austin umarmte sie und begrüßte danach Paul Trout mit einem kräftigen Händedruck. Joe Zavala folgte seinem Beispiel.
»Wie um alles in der Welt habt ihr es geschafft, so schnell hier zu sein?«
Gamay lächelte. »Wir hatten einen enormen Vorsprung. Wir waren gerade in Thailand, wo wir die besten Speisen kosten durften, die meine Zunge jemals berührten.«
»Ihr Glückspilze«, sagte Kurt.
»Möchtest du im Hotel einchecken?«, fragte Paul Trout.
Kurt Austin schüttelte den Kopf. »Ich möchte mir den Katamaran ansehen. Haben sie ihn schon geborgen?«
»Ein Rettungsschiff der National Defense Force der Malediven hat ihn vor einer Stunde in den Hafen geschleppt. Auf unsere Bitte hin haben sie ihn unter Quarantäne gestellt.«
Das war eine gute Nachricht. »Dann lass uns nachsehen, was wir finden können.«
Nach einem sieben Minuten langen Fußmarsch über die Hafenmole gelangten sie zu einem Anlegesteg, auf dem einige Matrosen offenbar Wache hielten. Zwei schnelle Patrouillenboote waren am Ende des Stegs vertäut, während man den ausgebrannten NUMA-Katamaran daneben am Kai festgemacht hatte.
In einem kleinen Wachhaus füllte Kurt Austin einige amtliche Formulare aus und hinterlegte Kopien seiner Ausweispapiere und seines Reisepasses. Während sie darauf warteten, dass die Dokumente abgestempelt wurden, ließ Kurt den Blick über den Kai wandern und machte eine seltsame Beobachtung. Anfangs behielt er sie für sich, nahm seinen Ausweis wieder an sich und wandte sich dann an den Mann in Uniform, der ihn abgefertigt hatte.
»Sprechen Sie Englisch?«
»Aber ja«, erwiderte der junge Mann voller Stolz.
»Sagen Sie mir«, fuhr Kurt fort, »aber ohne hinzuschauen – werden wir von einer hübschen Brünetten in weißer Bluse, die sich auf dem Fußgängerweg aufhält, beobachtet?«
Der Soldat drehte den Kopf ein wenig, um einen besseren Überblick zu haben.
»Ohne hinzuschauen«, erinnerte Kurt ihn.
Diesmal verhielt er sich unauffälliger. »Ja, sie ist dort. Ist sie ein Problem?«
»Sicher nicht, wenn man nichts dagegen hat, von einer schönen Frau verfolgt zu werden«, erwiderte Kurt Austin. »Behalten Sie sie für uns im Auge.«
Der Mann lächelte. »Mit Freuden«, sagte er und fügte dann, ehe Kurt etwas sagen konnte, hinzu, »natürlich ohne hinzuschauen.«
»Genau.«
Kurt verließ das Wachhäuschen. Und dann enterten er, Joe Zavala und die Trouts den Katamaran.
»Was für ein Chaos«, sagte Gamay und stützte die Hände in die Hüften.
Das war es in der Tat. Feuer hatte das halbe Boot verkohlt und geschwärzt und den Glasfiberrumpf an achtern, wo es die größte Hitze entwickelt haben musste, zum Schmelzen gebracht. Überall waren Ausrüstungsteile und Lebensmittelkonserven verstreut.
»Wonach suchen wir?«, wollte Paul Trout wissen.
»Nach allem, was uns darüber Aufschluss geben kann, was hier passiert sein könnte«, erwiderte Kurt Austin. »War es ein Unfall oder Fremdeinwirkung? Hatten sie über einen längeren Zeitraum Probleme, oder war die Ursache eine plötzliche Fehlfunktion?«
»Ich suche mal das Logbuch und das GPS-Gerät«, meinte Paul.
»Ich nehme mir die Kabinen vor«, entschied Gamay.
Joe Zavala ging zum Steuersitz. Er betätigte einige Schalter. Nichts geschah. »Kein Strom.«
Kurt sah sich um. Auf dem Kabinendach des Katamarans befanden sich zwei Solarpaneele, die offenbar intakt waren. Außerdem drehte sich oben an der Mastspitze ein kleines Windrad. Eigentlich hätte das System Strom haben müssen, auch wenn niemand hier war, der ihn gebraucht hätte.
»Überprüf mal die Leitungen«, sagte er.
Joe Zavala kletterte auf das Kabinendach und fand auf Anhieb das Problem. »Sie sind hier oben durchgebrannt«, sagte er. »Aber ich glaube, ich kann sie wieder miteinander verbinden.«
Während sich Joe an die Arbeit machte, stocherte Kurt in der Nähe der Behälter mit den Rettungsinseln herum. Sie waren nicht nur nicht benutzt worden, sondern die Behälter waren noch nicht einmal aus ihrer Verankerung gelöst worden.
»Irgendwelches Wasser unter Deck?«, rief er, weil er die Möglichkeit einer Monsterwelle, die die Besatzung über Bord gespült hatte, nicht von vornherein ausschließen wollte, auch wenn sich damit kaum das Ausbrechen eines Feuers erklären ließ.
»Nein«, rief Gamay Trout. »Hier unten ist alles knochentrocken.«
Kurt Austin ging in die Hocke, um die Brandspuren eingehender zu untersuchen. Was die Flammen übrig gelassen hatten, war ein dicker Belag und sah seltsam aus, eher wie eine Schmiere als wie herkömmlicher Ruß.
Das Boot verfügte über einen Hilfsmotor für Notfälle oder eine Flaute. Er war unter Deck in der Nähe des Hecks installiert. Kurt hob die Abdeckplatte an, um einen Blick darauf zu werfen.
»Keinerlei Brandspuren im Motorraum«, sagte er, hielt die Klappe offen und blickte über ihre Kante hinweg.
Die brünette Polynesierin war inzwischen näher gekommen und stand auf dem Fußweg hinter einem Baum am Rand des Kais. In der Hand hatte sie ein Mobiltelefon, mit dem sie offenbar den Katamaran fotografierte.
War sie eine Reporterin?
Irgendwie erschien Kurt Austin dieses Chaos nicht berichtenswert, es sei denn, die Frau wusste etwas, das ihm zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt war.
Gamay Trout kam von unten herauf.
»Hast du was gefunden?«, fragte Kurt.
Sie hielt eine Handvoll Gegenstände hoch. »Thalias Tagebuch«, sagte sie. »Einige Notizen von Halverson. Einen Laptop.«
»Irgendetwas Ungewöhnliches?«
»Nichts Besonderes, aber der Tisch in der Hauptkabine ist geborsten. Und einige zertrümmerte Schüsseln und Teller. Aber die Schränke sind verschlossen, also nehme ich an, dass das Geschirr zum Zeitpunkt des Feuers wahrscheinlich benutzt wurde. Außerdem sind sämtliche Lebensmittel aus der Küche verschwunden, bis auf die Konserven.«
Eine Sekunde lang weckten Gamays Worte bei Kurt einen Anflug von Hoffnung. Falls irgendein Vorfall auf dem Katamaran die Mannschaft gezwungen hatte, ihr Überleben zu sichern, hätte ausreichende Verpflegung an erster Stelle gestanden, aber dann hätten sie die Konserven nicht zurückgelassen. Höchstwahrscheinlich hätten sie sogar eher diese als alles andere zusammengerafft.
Paul Trout kehrte vom Bug zurück. Er hatte das GPS-Gerät und die Vorrichtung zur Entnahme der Wasserproben gefunden. »Vorn gibt es auch nichts Außergewöhnliches zu sehen, außer dass dort ein geöffneter Deckschlauch liegt.«
»Vielleicht haben sie damit das Feuer löschen wollen«, sagte Gamay.
Kurt bezweifelte das. Zwei rote Feuerlöscher hingen unberührt in ihren Klemmvorrichtungen, jeder auf einer Seite des Bootes. »Warum haben sie die nicht benutzt?«
In Ermangelung einer Antwort oder auch nur einer vagen Vermutung schaute Kurt Gamay fragend an. »Dirk hat mir erzählt, dass du Kurse in Forensik absolviert hast.«
Sie nickte. »Während meiner Zeit bei Dr. Smith im vergangenen Jahr habe ich erkannt, dass uns winzige Dinge eine ganze Menge verraten können. Vor allem, wenn alles andere so gut wie keinen Sinn ergibt.«
»Nichts von dem, was ich hier sehe, ergibt für mich irgendeinen Sinn«, gestand Kurt. »Ein paar Container fehlenden Proviants bedeuten keinesfalls, dass sie von Piraten überfallen wurden, erst recht nicht wenn die Computer und alles andere, das einen gewissen Wert darstellt, zurückgelassen wurden. Zerbrochenes Geschirr und ein geborstener Tisch können auf einen Kampf hinweisen, aber das reicht noch nicht zu der Annahme, dass sie aus irgendeinem Grund durchgedreht sind und sich gegenseitig umgebracht haben. Daher sehe ich in dem Feuer die einzige Gefahr, aber wenn sie versucht haben, es mit dem Wasserschlauch zu löschen, haben sie anscheinend völlig vergessen, dass sie Feuerlöscher an Bord hatten.«
»Vielleicht hat das Feuer sie durcheinandergebracht«, überlegte Paul laut. »Vielleicht ist es nachts ausgebrochen? Oder irgendwelche giftigen Dämpfe wurden durch die Flammen freigesetzt, und sie hatten keine andere Wahl, als schnellstens von Bord zu gehen.«
Für Kurt klang das nach einem möglichen Grund. Sehr vage zwar, aber zumindest denkbar. Und das könnte auch eine Erklärung für die seltsamen Rückstände sein. Vielleicht waren es die Reste eines Brandbeschleunigers oder irgendeines brennbaren Gels. Aber wenn es sich tatsächlich um etwas Derartiges handelte, wie war es dorthin gelangt?
»Fangen wir damit an«, entschied er. »Das Feuer kam nicht aus dem Motorraum, also wurde es von etwas anderem ausgelöst. Wir sollten Proben von dieser Schmiere und von allem, das uns seltsam vorkommt, einsammeln.«
»Das erledige ich«, sagte Gamay.
»Und ich helfe Joe, das Stromnetz zu reparieren«, meinte Paul.
»Gut«, sagte Kurt Austin lächelnd. »Dann gibt es für mich jetzt nichts anderes zu tun, als eine attraktive junge Frau anzubaggern.«