11
»Gibt es auf diesem Flug keinen Bewirtungsservice?«, fragte Joe Zavala.
Kurt Austin quittierte Joes Beschwerde mit einem verhaltenen Lachen. Die beiden Männer saßen mit Leilani Tanner im Passagierabteil eines Bell-JetRanger-Helikopters.
»Im Ernst«, fügte Joe hinzu. »Ich bin kurz vorm Verhungern.«
Der Pilot, ein Engländer namens Nigel, drehte sich zu Joe um. »Was denken Sie, wo Sie hier sind, Kumpel? Bei den verdammten British Airways?«
Joe Zavala wandte sich an Kurt. »Ich möchte beim Leiter dieser Expedition eine offizielle Beschwerde vorbringen.«
»Du hättest eben nicht aufs Frühstück verzichten sollen«, erwiderte Kurt.
»Mich hat niemand geweckt.«
»Glaub mir, wir haben es versucht«, sagte Kurt. »Vielleicht hättest du lieber zulassen sollen, dass ich als Weckton für dich ›Dampfpfeife‹ einstelle. Oder sogar eine echte besorge und vor deinem Bett aufbaue.«
Joe lehnte sich zurück. »Es ist schrecklich. Erst quält man mich mit Schlafentzug, dann folgt Zwangshungern. Was kommt als Nächstes? Chinesische Wasserfolter?«
Kurt Austin wusste, dass Joes Klagen seine Methode waren, sich die Zeit zu verkürzen, wobei er allerdings von den Reisen, die er im Laufe der Jahre mit ihm unternommen hatte, wusste, dass Joe futtern konnte wie ein Scheunendrescher, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Mit einem solchen Metabolismus war es durchaus möglich, dass er nach einem Tag ohne Nahrung tatsächlich verkümmerte und verdorrte wie eine Pflanze ohne Wasser.
Er blickte nach vorn. »Na, dann gönn wenigstens deinen Augen was zum Sattsehen«, sagte er. »Aqua-Terra bei zwei Uhr unter uns.«
Aus fünf Meilen Entfernung war die Insel gut zu erkennen wie eine überdimensionale Ölplattform. Während sie sich ihr näherten, wurde offensichtlich, dass Marchettis Projekt durchaus die Handschrift eines Genies trug.
Mit gut einhundertfünfzig Metern Breite und fast sechshundertfünfzig Metern Länge bot Aqua-Terra einen atemberaubenden Anblick. Zuerst einmal war die Insel nicht rund – wie so viele von futuristischen Architekten erdachte schwimmende Inseln. Sie hatte die Umrisse einer Träne, verengte sich an einem Ende zu einer Spitze, während sie hinten einen breiten, geschwungenen Rand aufwies.
»Unglaublich«, flüsterte Leilani.
»Verdammt riesig«, sagte der Pilot.
»Ich hoffe nur, dass es da unten einen Food-Court gibt«, meinte Joe.
Kurt lachte und sah Leilani an. »Alles okay?«
Sie wirkte nachdenklich und konzentriert, als wäre sie im Begriff, in eine entscheidende Schlacht zu ziehen. Sie nickte zwar bejahend, schien mit den Gedanken jedoch ganz woanders zu sein. Er entschied, sie ein wenig abzulenken, indem er einiges über die Insel erzählte.
»Sehen Sie diesen Ring um die Insel?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie.
»Das ist ein Wellenbrecher aus Stahlbetonwänden. Sie sitzen auf leistungsfähigen hydraulischen Kolben. Nach dem, was ich gelesen habe, geben sie nach, wenn eine große Welle auf die Insel trifft, werden von ihr zurückgeschoben und absorbieren den Wasserdruck wie Stoßdämpfer. Wenn sich die Welle wieder verläuft, springen sie in die Ausgangsposition zurück.«
»Und was ist das alles da drüben auf der anderen Seite?«, fragte sie und deutete in die entsprechende Richtung.
Kurt Austin folgte ihrem Finger. Neben einem halbrunden Ausschnitt im Rumpf erstreckte sich ein künstlicher Strand. In diesem Abschnitt überschnitten sich die Wellenbrecher und bildeten keine geschlossene Wand. Mehrere kleine Boote und ein zweimotoriges Wasserflugzeug waren an einem Anlegesteg vertäut.
»Sieht wie ein künstlicher Meeresarm aus«, sagte er.
»Jede Insel braucht einen Hafen«, fügte Joe Zavala hinzu. »Vielleicht gibt es dort auch ein paar Restaurants mit Seeblick.«
»Das muss man dir lassen, wenn es um die Befriedigung deiner Grundbedürfnisse geht, lässt du dich wirklich von gar nichts ablenken«, sagte Kurt.
Der Helikopter flog einen weiten Bogen und ging in den Sinkflug über. Kurt hörte, wie Nigel per Funk mit einem Fluglotsen redete. Er schaute wieder auf die Insel.
Große Teile befanden sich offenbar noch im Bau, wie an freiliegenden Stahlkonstruktionen und Gerüsten zu erkennen war. Andere Teile standen dicht vor ihrer Vollendung, und der hintere Bereich der Insel schien vollständig zu sein – inklusive zweier zehnstöckiger Bauten in Pyramidenform mit einem Helipad, der wie eine Brücke zwischen ihnen verankert war und frei zu schweben schien.
»Könnte jemand, der so etwas geschaffen hat, wirklich in das verwickelt sein, was mit meinem Bruder geschehen ist?«
»Sämtliche Spuren weisen in diese Richtung«, sagte Kurt.
»Aber dieser Marchetti hat doch alles, was man sich wünschen kann«, sagte sie, »weshalb sollte er dann so etwas Schreckliches tun?«
»Wir werden uns alle Mühe geben, das herauszufinden.«
Sie nickte, und Kurt schaute wieder aus dem Fenster. Während sich der Helikopter zu drehen begann, fielen Kurt eine Reihe hoch aufragender weißer Gebilde ins Auge, die auf jeder Seite der tränenförmigen Insel standen. In Bodennähe waren sie am breitesten und liefen nach oben spitz zu.
Sie erinnerten ihn an die überdimensionalen Heckleitwerke eingemotteter 747er. Er erkannte auch schnell, weshalb. Es waren Tragflügel, genauer gesagt: mechanische Segel, die konstruiert wurden, um dem Wind Widerstand zu bieten. Er verfolgte, wie sie den Anstellwinkel leicht veränderten und sich gleichzeitig drehten.
In der Mitte der Insel machte er eine rechteckige grüne Fläche mit Bäumen, Gras und Hügeln aus. Sie erinnerte ihn an den Central Park in New York. Auf beiden Seiten erstreckten sich lange, breite Streifen Ackerland, auf denen, wie es schien, Weizen wuchs.
Am vorderen Ende reflektierten Batterien von Solarpaneelen das Sonnenlicht, während eine Gruppe ausladender Windmühlenflügel mit majestätischer Eleganz im Wind rotierte.
Nigel gab Kurt ein Zeichen. »Sie verweigern uns die Landeerlaubnis.«
Damit hatte Kurt Austin gerechnet. Er streckte eine Hand aus und betätigte einen Schalter. Aus einem Kanister, den er am Heckausleger befestigt hatte, drang schwarzer Qualm. Er bezweifelte zwar, dass er jemanden damit für längere Zeit täuschen könnte, aber es konnte in diesem Fall auch nicht schaden.
»Sieht aus, als läge ein Notfall vor«, sagte er. »Teilen Sie ihnen mit, dass wir keine andere Wahl haben, als sicher zu landen oder abzustürzen.«
Während der Pilot die Nachricht übermittelte, grinste Kurt Leilani Tanner an. »Jetzt müssen sie uns die Landung gestatten.«
»Sind Sie immer so unverbesserlich?«, fragte sie.
Joe erwiderte: »Soweit ich gehört habe, war unser Kurt einer von den Typen, die die Schule geschwänzt haben, ihre eigenen Entschuldigungen schrieben und sich von den Lehrern auch noch bedauern ließen, wenn sie nach ihren überstandenen ›Krankheiten‹ wieder in die Schule zurückkehrten.«
Leilani lächelte. »Das nenne ich erfinderisch.«
Eine lange Rauchfahne hinter sich herschleppend, steuerte der JetRanger das Helipad an, das die Lücke zwischen den pyramidenähnlichen Gebäuden überbrückte. Der Sinkflug verlief glatt, fast zu glatt.
»Lassen Sie es echt aussehen«, sagte Kurt.
Der Pilot nickte, wackelte mit dem Steuerknüppel, so dass der Helikopter eine Schüttelbewegung ausführte, um technische Probleme bei der Steuerung zu simulieren. Aber dann stabilisierte er sich, während sie sich dem Helipad näherten, und setzte auf dem großen gelben H auf.
Kurt nahm sein Headset ab, stieß die Tür auf und stieg aus. Noch während er die Beine streckte, sah er sich schon um. Es war, als befände er sich in einem Dachrestaurant mit dem schönsten Panoramablick des Hauses.
Die Segel, die er aus der Luft gesehen hatte, waren mindestens fünfunddreißig Meter hoch und ausnahmslos mit einem hellblauen Streifen und dem Namen AQUA-TERRA markiert. Ein prägnanter Geruch lag in der Luft, aber er war derart fehl am Platze, dass Kurt einen Moment brauchte, um ihn zu identifizieren: frisch gemähtes Gras.
Eine weitere Erscheinung, die auf ihn zukam, erschien genauso fehl am Platze. Bekleidet mit einer orangefarbenen Hose, einem grauen Oberhemd und einem weiten, flatternden violetten Mantel, der mit einem grün-blauen Paisleymuster verziert war, näherte sich ein Mann, der einerseits wie Elwood Marchetti aussehen mochte und andererseits an einen Pfau erinnerte.
Ein dichter brauner Vollbart und eine Sonnenbrille mit kreisrunden roten Gläsern vervollständigten seine verwirrende äußere Erscheinung.
Ein hagerer Mann mit strohigem blondem Haar folgte ihm dichtauf. Er trug einen Straßenanzug und war anscheinend verärgert.
»Mr. Marchetti, Sie sollten diese Leute nicht begrüßen«, sagte der Mann. »Die haben kein Recht, hier zu landen.«
Kurt blickte an Marchetti vorbei auf den Anzugträger. »Wir hatten Probleme mit der Turbine.«
»Und haben sich dafür offenbar den geeigneten Zeitpunkt ausgesucht.«
Kurt lächelte. »So ist es. Zu unserem Glück war gerade Ihre Insel hier.«
»Alles Lüge«, sagte der Mann. »Sie sind hier, um zu spionieren oder um eine Prüfung vorzunehmen.«
Marchetti schüttelte den Kopf und drehte sich zu seinem Begleiter um. Er legte die Hände auf die Arme des Mannes und fasste ihn an wie ein Erweckungsprediger aus alten Zeiten, der jemanden aus der Schar seiner Anhänger heilen will.
»Es betrübt mich«, begann Marchetti. »Es betrübt mich zutiefst, mir vorzustellen, dass ich Sie so paranoid gemacht habe und Ihnen noch nicht die Weisheit vermittelt habe, die Sie brauchen, um den Durchblick zu haben.«
»Blake Matson«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort und richtete die Aufmerksamkeit seines Begleiters wieder auf Kurt Austin. »Dies ist nicht der Mann. Dieser Knabe hier hat noch nicht einmal eine vage Ähnlichkeit mit dem Mann. Der Mann erscheint mit Booten und Schiffen, er hat Gewehre und Anwälte und Buchhalter im Schlepptau. Er trägt keine Stiefel und wird nicht von schönen jungen Frauen begleitet.«
Bei diesen Worten betrachtete Marchetti Leilani eingehend.
»Entschuldigen Sie«, sagte Kurt. »Aber von was um alles in der Welt faseln Sie die ganze Zeit?«
»Vom Finanzamt, mein Freund«, antwortete Marchetti. »Ich rede vom IRS, den verschiedenen europäischen Äquivalenten und den Vertretern eines besonders unangenehmen südamerikanischen Landes, die offenbar annehmen, dass ich ihnen irgendetwas schulde.«
»Der Internal Revenue Service«, sagte Kurt. »Warum sollten Sie sich wegen dieser Leute Sorgen machen?«
»Weil sie anscheinend nicht begreifen, dass ich mittlerweile nicht mehr in ihrer Welt lebe und daher auch nicht mehr zu ihren Einnahmequellen gehöre oder in irgendeiner Form an ihrem sogenannten Service interessiert bin.«
Marchetti legte Kurt eine Hand auf die Schulter und schob ihn vorwärts.
»Dies hier ist mein Herrschaftsbereich. In den ich bis jetzt eine Milliarde Dollar hineingesteckt habe. Meine eigene Terra firma. Nur ist sie nicht firma«, sagte er und stolperte über seine eigenen Worte, »sie ist aqua. Terra-aqua. Oder eigentlich Aqua-Terra. Aber Sie verstehen sicher, was ich meine.«
»Vage«, sagte Kurt, ohne die Miene zu verziehen, obgleich ihn das Auftreten seines unfreiwilligen Gastgebers amüsierte.
»Die Steuerbehörden bezeichnen das Ganze hier als Schiff. Sie meinen, ich müsse Zoll und Registrierungsgebühren bezahlen und eine Versicherung abschließen. Und dass für mich die Vorschriften der Occupational Safety and Health Administration, kurz OSHA, gelten und ich jederzeit Inspektionen zulassen müsse. Sie nennen dies hier zum Beispiel einen Bug. Ich erkläre ihnen hingegen, dass es eine Insel ist, deren Landfläche genau dort endet.«
Kurt sah Marchetti groß an. »Von mir aus können Sie Ihr Anwesen auch Planet Mars nennen. Ich komme nicht vom Finanzamt und will Ihnen keine Steuern abknöpfen oder Ihre Souveränität – oder, was das betrifft, Ihren Geisteszustand – in Frage stellen. Aber ich habe ein Problem und gute Gründe anzunehmen, dass Sie dessen Ursache sind.«
Marchetti erschien ernsthaft geschockt. »Ich? Problem? Diese beiden Worte werden nur selten in einem Atemzug genannt.«
Kurt wartete, bis Marchetti sich wieder beruhigte.
»Welche Art von Problem soll das sein?«, fragte der Milliardär schließlich.
Kurt zog eine mit einem Deckel verschlossene kleine Flasche aus der Brusttasche. Sie enthielt die schmierige Mischung aus Ruß, Wasser und Mikroroboter, die Gamay Trout ihm mitgegeben hatte.
»Winzige Maschinen«, sagte er. »Von Ihnen konstruiert und dafür gedacht, Gott weiß was zu tun, und auf einem teilweise verbrannten Boot gefunden, dessen drei Besatzungsmitglieder vermisst werden.«
Marchetti ergriff die Flasche und schob die rote Brille auf die Nasenspitze. »Maschinen?«
»Mikroroboter«, präzisierte Kurt.
»In diesem Fläschchen?«
Kurt nickte. »Ihre Konstruktion. Es sei denn, jemand meldet unter Ihrem Namen Patente an.«
»Aber das kann nicht sein.«
Marchetti erschien ehrlich verdutzt. Kurt erkannte, dass er seine Anschuldigung beweisen musste.
»Verfügen Sie an Bord über Einrichtungen, mit denen man dies hier genauer betrachten kann?«
Marchetti nickte.
»Dann lassen Sie uns einen Blick darauf werfen und alle Zweifel beseitigen.«
Fünf Minuten später waren Kurt, Joe und Leilani mit einem Fahrstuhl zum Hauptdeck hinuntergefahren, das von Marchetti als Null-Deck bezeichnet wurde, weil die Decks darunter negative und die darüber positive Zahlen trugen. Sie gingen auf eine Reihe bereitstehender Golfwagen zu, stiegen in einen langen Sechssitzer und starteten zu einer Fahrt, die sie zur Inselspitze führen sollte. Matson blieb zurück, und Nigel tat weiterhin so, als repariere er den Hubschrauber.
Der Golfwagen trug sie über die Insel, eine Insel, die fast verlassen erschien.
»Wie groß ist Ihre Besatzung?«, erkundigte sich Kurt.
»Gewöhnlich fünfzig Leute, aber in diesem Monat haben wir nur zehn an Bord.«
»Fünfzig?« Kurt hatte mit einer Zahl um die eintausend gerechnet. Er blickte sich um. Geräusche von intensiver Bautätigkeit drangen aus allen Richtungen zu ihnen, aber Kurt erblickte nicht einen einzigen Arbeiter oder hörte irgendwelche Stimmen.
»Wer macht denn hier die ganze Arbeit?«
»Alles läuft vollständig automatisiert ab«, sagte Marchetti.
Er hielt neben einem abgesenkten Bereich an. Und deutete auf etwas.
Kurt sah Funken fliegen, wo geschweißt wurde, hörte, wie Nieten eingeschlagen wurden, und dann das Summen leistungsfähiger Elektroschrauber. Aber er sah niemanden. Nach einem weiteren Funkenregen rührte sich etwas. Ein Objekt, so groß wie ein Staubsauger, mit drei Armen und einer Plasmaschweißpistole in einem vierten Greifwerkzeug glitt zu einer Leiter.
Die Maschine vollführte die gleichen eckigen Bewegungen wie die Roboter in einer Montagestraße, ruckartig, aber genau abgezirkelt. Roboter mochten in ihrer Motorik präzise sein, aber sie hatten noch immer keinen Sinn für Eleganz und Stil.
Die Maschine beendete die Schweißarbeiten, zog zwei Arme zurück und fasste nach einem Leiterholm. Während sie sich festhielt, begann sie hochzusteigen. Als sie das Deck ein paar Schritte von Kurt entfernt erreichte, ließ sie los und wuselte die Fahrstraße hinunter.
Eine kleinere Maschine folgte ihr.
»Meine Arbeiter«, sagte Marchetti. »Ich verfüge über siebzehnhundert Roboter unterschiedlicher Größe und Konstruktion, die den größten Teil der Bauarbeiten ausführen.«
»Frei bewegliche Roboter«, stellte Kurt fest.
»O ja, sie können jeden Punkt der Insel aufsuchen«, prahlte Marchetti.
Ein Stück weiter erhielten die Roboter auf der Straße Gesellschaft von mehreren anderen. Gemeinsam bildeten sie einen kleinen Konvoi, der zu irgendeinem Ziel unterwegs war.
»Offenbar ist gerade Mittagspause«, scherzte Joe Zavala.
»Das stimmt tatsächlich«, bestätigte Marchetti. »Aber es ist keine Arbeitspause wie bei Menschen aus Fleisch und Blut, sondern sie sind darauf programmiert, selbst auf ihre Energiereserven zu achten. Wenn die Leistung abnimmt, kehren sie zu den Stromknoten zurück und stöpseln sich ein. Sobald sie aufgeladen sind, begeben sie sich wieder an ihre Arbeit. Das Ganze ist ein Rund-um-die-Uhr-Betrieb.«
»Und was passiert, wenn einer einen Unfall hat?«, fragte Joe.
»Wenn sie einen Defekt haben, senden sie ein Notsignal, dann kommen andere Roboter, um sie zu bergen. Sie transportieren sie zur Reparaturwerkstatt, wo sie in Ordnung gebracht und wieder auf ihre jeweiligen Positionen zurückgeschickt werden.«
»Wer sagt ihnen, was sie tun sollen?«, fragte Kurt.
»Sie werden von einem Master-Programm gesteuert. Die Instruktionen werden über WLAN heruntergeladen. Die Arbeitsberichte übermitteln sie dem Zentralcomputer, in dem sämtliche Betriebsdaten von Aqua-Terra gespeichert sind. Er verfolgt außerdem den jeweiligen Stand der Arbeiten und nimmt Korrekturen vor. Eine zweite Gruppe von Robotern ist für die Qualitätsprüfung zuständig.«
»Kontrollroboter«, sagte Kurt und konnte ein Lachen kaum unterdrücken.
»Ja«, sagte Marchetti, »auf gewisse Weise sind sie das sicher, aber ohne all diese lästigen Konflikte zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber.«
Marchetti startete den Golfwagen, und nur wenig später waren sie wieder zu Fuß unterwegs, drei Decks tiefer, und betraten sein Labor. Der ausgedehnte Raum bot eine Mixtur von bequemen Sofas aus Lackleder in hellen Farben, stellenweise mit Kondenswasser bedeckten Stahlwänden und blinkenden Computern und Bildschirmen. Bildschirmen, wohin man sah.
Weiches bläuliches Licht erfüllte den Raum und drang durch ein großes rundes Fenster herein. Auf der anderen Seite des Fensters schwammen Fische und tanzten Lichtreflexe.
»Wir befinden uns unterhalb der Wasserlinie«, stellte Kurt fest und blickte durch die riesige aquariumähnliche Panoramascheibe.
»Ungefähr sieben Meter«, bestätigte Marchetti. »Ich finde das Licht beruhigend und für den Denkprozess außerordentlich förderlich.«
»Aber offensichtlich nicht für den Ordnungssinn«, meinte Kurt und deutete mit einem Kopfnicken auf das herrschende Durcheinander.
Überall lagen Haufen unterschiedlichsten Krempels neben Kleidern und Speisetabletts. Einige Dutzend Bücher waren auf einem Tisch ausgebreitet, einige aufgeschlagen, einige geschlossen und teilweise zu einer eigenwilligen Version des Schiefen Turms von Pisa aufgestapelt. In einer Ecke des Raums stand ein Trio Schweißroboter untätig herum.
»Ein aufgeräumter Schreibtisch verrät einen ungesunden Geist«, erklärte Marchetti, während er vorsichtig einen Tropfen Wasser aus dem Fläschchen auf einem Objektträger platzierte und diesen zu einer großen, würfelförmigen Maschine hinübertrug. Sie saugte den Objektträger ein und begann zu summen.
»Das macht Sie zu einem der gesündesten Menschen weit und breit«, murmelte Kurt, nahm einen Stapel Papier von einem Stuhl und setzte sich hin.
Marchetti ignorierte ihn und wandte sich wieder zu der Maschine um. Sekunden später erschien eine Darstellung des Wassertropfens auf einem Flachbildschirm über Marchettis Schreibtisch.
»Vergrößerung steigern«, sagte Marchetti und sprach offensichtlich mit der Maschine.
Das Bild veränderte sich mehrmals, bis es wie das Satellitenfoto einer Inselkette aussah.
»Noch einmal«, befahl Marchetti dem Computer. »Fokus auf Sektion 142. Vergrößerung elfhundert.«
Die Maschine summte, und ein neues Bild erschien. Diesmal zeigte es vier der kleinen spinnenähnlichen Gebilde, die sich um etwas drängten.
Erstaunt riss Marchetti die Augen auf.
»Gehen Sie näher ran«, sagte Kurt.
Mit besorgter Miene ließ sich Marchetti auf den Sessel vor dem Computerterminal sinken. Mit Maus und Tastatur aktivierte er die Zoomfunktion. Eine der Spinnen schien sich zu bewegen.
»Das kann einfach nicht sein«, murmelte Marchetti.
»Kommen sie Ihnen vertraut vor?«
»Wie seit langer Zeit verloren geglaubte Kinder«, sagte Marchetti. »Identisch mit meiner Konstruktion, nur …«
»Nur was?«
»Nur dass sie nicht von mir sein können.«
»Jetzt geht’s los«, sagte Kurt und wartete auf all die Dementis und die Aufzählung von Schutzmaßnahmen, die eigentlich hätten funktionieren müssen. »Warum nicht?«, fragte er. »Warum können sie nicht von Ihnen sein?«
»Weil ich niemals welche hergestellt habe.«
Das allerdings hatte Kurt nicht erwartet.
»Sie bewegen sich«, warf Leilani ein und deutete auf den Bildschirm.
Marchetti wandte sich um und vergrößerte das Bild noch einmal. »Sie fressen.«
»Was meinen Sie mit ›sie fressen‹? Was fressen sie?«
Marchetti kratzte sich am Kopf, dann ging er auf eine stärkere Vergrößerung. »Kleine organische Proteine.«
»Warum sollte ein winziger Roboter ein organisches Molekül verzehren wollen?«
»Weil er Hunger hat«, sagte Marchetti. Er löste den Blick vom Bildschirm.
»Verzeihen Sie mir die Frage, aber warum sollte ein Roboter hungrig sein?«, fügte Kurt gleich die nächste Frage hinzu.
»Hier, auf meiner Insel«, erklärte Marchetti, »können sich die größeren Roboter an eine Ladestation anschließen. Aber wenn man Roboter herstellen will, die unabhängig sind, müssen sie die Fähigkeit haben, ihren Energievorrat auf die eine oder andere Art selbstständig wieder aufzufüllen. Diese kleinen Kerle haben verschiedene Möglichkeiten. Diese Linien auf ihren Rücken, die wie Mikrochips aussehen, sind in Wirklichkeit winzige Solarzellen. Aber weil der unabhängige Roboter andere Bedürfnisse hat, müssen sie in der Lage sein, sich von dem zu ernähren, was ihre Umgebung bereithält. Wenn diese Mikroroboter genau meiner Konstruktion entsprechen, müssten sie organische Nährstoffe aus dem Meerwasser herausfiltern und verarbeiten können. Sie müssten außerdem fähig sein, gelöste Metalle und Kunststoffe und andere Dinge, die man im Meer finden kann, aufzuspalten, um sich einerseits zu ernähren und andererseits fortzupflanzen.«
»Diese Unterhaltung hat schon ziemlich verrückt angefangen, aber nun wird sie immer verrückter«, sagte Kurt. »Erklären Sie mir bitte, wie sie sich fortpflanzen. Und kommen Sie mir nicht mit Vögeln oder Bienen. Ich habe den Begriff ›fortpflanzen‹ noch nie zuvor in Verbindung mit Maschinen gehört.«
»Die Prokreation des Roboters ist eine fundamentale Notwendigkeit, wenn man will, dass er irgendetwas Nützliches leistet.«
Kurt atmete tief durch. Wenigstens erhielten sie Antworten auf ihre Fragen, auch wenn ihm die Einzelheiten nicht gefielen. »Und für welche nützliche Tätigkeit haben Sie diese Dinger entwickelt?«
»Meine ursprüngliche Absicht war es, sie als Waffe gegen die Meeresverschmutzung einzusetzen«, begann Marchetti.
»Sie verzehren Schadstoffe«, vermutete Kurt.
»Sie verzehren sie nicht nur«, sagte Marchetti, »sie wandeln sie in eine Ressource um. Betrachten Sie es doch mal folgendermaßen: Da draußen schwimmen so viele Schadstoffe herum, dass das Meer regelrecht daran erstickt. Das Problem ist, dass sogar an Orten wie dem Großen Pazifikmüllfleck das Zeug über eine zu große Fläche verteilt ist, um wirtschaftlich eingesammelt und entsorgt zu werden. Es sei denn, die Einrichtung, die das Einsammeln und Entsorgen übernimmt, ernährt sich von dem, was sie entfernt, und wandelt den Müll in eine Energiequelle um, die die Entsorgung erst ermöglicht.«
Er deutete auf den Ozean. »Um das zu erreichen, habe ich einen sich selbst erhaltenden und sich selbst reproduzierenden Mikroroboter entworfen, der im Meerwasser existieren und dort herumschwimmen konnte, bis er Plastik- oder anderen Müll fand und diesen verzehrte. Sobald diese Dinger eine Nahrungsquelle finden, nutzen sie die Nebenprodukte und die Metalle im Meerwasser, um Kopien von sich selbst herzustellen. Voilà! – Vermehrung – wenn auch ohne die lustbetonten Begleiterscheinungen.«
Kurt hatte sich schon immer über den weltweiten kollektiven Widerwillen gewundert, etwas gegen die Verunreinigung des maritimen Lebensraums zu unternehmen. Die Ozeane des Planeten Erde erzeugten drei Viertel seines Sauerstoffs und ein Drittel seiner Nahrung. Trotzdem verhielten sich die Verschmutzer so, als sei das belanglos. Und bis es nichts mehr zu fischen gab oder niemand mehr atmen konnte, war wohl kaum damit zu rechnen, dass jemand etwas dagegen unternehmen würde, weil es einfach nicht wirtschaftlich war.
Auf eine bizarre Art und Weise wohnte Marchettis Lösung eine gewisse Eleganz inne. Da niemand aktiv etwas gegen das Problem unternehmen wollte, schlug er einen Weg vor, das Problem zu lösen, ohne dass irgendjemand auch nur einen Finger rühren musste.
Joe schien es genauso zu sehen. »Das hat etwas Brillantes.«
»Und auch einen Anflug von Wahnsinn«, sagte Kurt Austin.
»Sie wären überrascht, wie oft diese beiden Eigenschaften nebeneinander einhergehen«, sagte Marchetti. »Aber der eigentliche Wahnsinn ist, überhaupt nichts zu tun. Oder Milliarden Tonnen Plastik und Müll in das hineinzukippen, was den halben Planeten ernährt. Können Sie sich den vielstimmigen Aufschrei, das weltweite Klagegeheul vorstellen, wenn die goldgelben wogenden Getreidefelder unter einer Lawine von Wegwerffeuerzeugen, Plastikflaschen, Nylonschnüren und zerbrochenem Kinderspielzeug begraben werden würden? Genau das geschieht aber mit den Ozeanen. Und es wird stetig schlimmer statt besser.«
»Ich widerspreche nicht«, sagte Kurt. »Aber eine sich selbst reproduzierende Maschine unbewacht ins Meer zu werfen und zu hoffen, dass alles so funktioniert, wie man es sich wünscht, ist nicht unbedingt eine vernunftgesteuerte Reaktion.«
Marchetti lehnte sich zurück. Er schien Austin beizupflichten. »Niemand hat auf den Vorschlag anders reagiert als Sie. Aus diesem Grund haben wir, wie ich schon sagte, auch keins von diesen Dingern hergestellt.«
»Wie sind sie dann auf das Boot meines Bruders gelangt?«, fragte Leilani geradeheraus.
Kurt beobachtete Marchetti, wartete auf eine Antwort, aber Marchetti blieb stumm. Sein Blick war auf Leilani gerichtet. Angst flackerte in seinen Augen. Kurt fuhr herum und sah, weshalb.
Leilani hielt eine kleine stumpfnasige Automatik in der Hand. Die Mündung zielte genau auf Marchettis Brust.