12
»Ich schwöre«, beteuerte Marchetti und hob instinktiv die Hände hoch. »Ich weiß nicht, wie sie auf das Boot Ihres Bruders gekommen sind.«
Kurt trat zwischen Leilani und den Milliardär. »Nehmen Sie die Pistole runter.«
»Warum?«, fragte sie.
»Weil er unsere einzige Verbindung zur Wahrheit ist«, sagte Kurt. »Wenn Sie ihn töten, werden wir nie erfahren, was wirklich passiert ist. Und so traurig das auch klingen mag, ich werde dafür sorgen, dass Sie ins Gefängnis kommen.«
»Aber er hat diese Maschinen gebaut«, sagte sie. »Er hat es zugegeben. Wir brauchen nicht weiterzusuchen.«
Kurt sah ihr in die Augen. Er hoffte, dort Angst, Zweifel und Unsicherheit zu sehen, aber da waren nur Kälte und Zorn.
»Gehen Sie aus dem Weg, Kurt.«
»Sie sind es leid, allein zu sein«, sagte er und wiederholte ihre Worte aus der Nacht im Hotel. »Wenn Sie jetzt abdrücken, sind Sie einsamer, als Sie es sich je vorstellen können.«
»Er hat meinen Bruder getötet, und wenn er uns nicht erzählt weshalb, dann revanchiere ich mich bei ihm«, sagte sie. »Und jetzt gehen Sie mir bitte aus dem Weg.«
Kurt rührte sich nicht.
»Hören Sie«, meinte Marchetti nervös. »Ich habe mit dem Tod Ihres Bruders nicht das Geringste zu tun. Aber vielleicht kann ich Ihnen dabei helfen herauszufinden, wer es war.«
»Wie?«, wollte Kurt wissen.
»Indem wir diejenigen ausfindig machen, die über entsprechendes Wissen verfügen und den Prozess verstehen«, bot Marchetti an. »Es liegt auf der Hand, dass man nicht einfach einen Schraubenzieher und eine Lötpistole zur Hand nehmen und diese Dinger zusammensetzen kann. Es ist ein außerordentlich kompliziertes Unterfangen. Nur jemand, der die Grundkonstruktion gekannt haben muss, kann an der Herstellung beteiligt gewesen sein.«
Während Marchetti redete, schlich sich Joe Zavala leise wie eine Katze hinter Leilani. »Reden Sie weiter, Marchetti«, sagte Kurt.
»Es gibt vielleicht neun oder zehn Leute, die wesentliche Teile des Systems kennen«, stotterte er, »aber nur einer weiß genauso viel wie ich. Er heißt Otero – und er befindet sich hier auf der Insel.«
»Er lügt!«, schnappte Leilani. »Er versucht, jemand anders die Schuld in die Schuhe zu schieben.«
Während Leilani schimpfte, griff Joe Zavala an. Er schlug ihr die Pistole aus der Hand, packte ihren Arm und drehte ihn ihr auf den Rücken.
Ein lauter Knall ertönte, und für einen kurzen Moment glaubte Kurt, dass die Pistole losgegangen war. »Sind alle heil geblieben?«
Marchetti nickte und Joe ebenfalls. Leilani war sichtlich verärgert, ansonsten aber unversehrt.
»Was für ein Geräusch war das?«, fragte Kurt.
Niemand konnte darauf eine Antwort geben, aber als ein weiteres Poltern an seine Ohren drang, nahm Kurt im hinteren Teil des dunklen Labors eine Bewegung wahr. Dann folgte der stechende Geruch elektrischer Entladungen. Die Schweißroboter hatten sich in Bewegung gesetzt. Sie hatten sich auf die Füße gestellt, schlugen nun Hindernisse aus dem Weg und verschossen blaue Plasmaladungen aus ihren Schweißpistolen.
Kurt wandte sich an Marchetti. »Lassen Sie mich raten«, sagte er. »Otero ist Ihr Chefprogrammierer.«
Marchetti nickte.
»Ich habe das Gefühl, er hat uns beobachtet.«
Die Schweißroboter rückten gegen die Menschen vor. Zwei von ihnen verfügten über kleine Laufketten, um sich vorwärtszubewegen. Ein dritter hatte klauenähnliche Füße, die über den Stahlboden scharrten.
Joe ließ Leilani los. Sie sah Kurt verlegen an.
»Es tut mir leid, ich wollte nur …«
»Sparen Sie sich alles für später auf«, unterbrach Kurt sie, während er die bedrohlichen Maschinen im Auge behielt.
Marchetti rannte zum Wandschott. Er zerrte und drehte am Handgriff, aber die Tür wollte nicht nachgeben.
»Achtung!«, rief Joe.
Eine der Maschinen war im Begriff, Marchetti aufs Korn zu nehmen. Sie glitt auf ihren Laufketten auf ihn zu, griff mit einem mechanischen Arm nach ihm, während aus dem zweiten Arm gleißend weißes Plasma herausschoss.
Marchetti duckte sich und wich auf einen anderen, vermeintlich sicheren Platz aus. Die Maschine verfolgte ihn und kam näher.
Kurt hielt Ausschau nach der Pistole und entdeckte sie auf der anderen Seite des Raums. Ehe er Anstalten machen konnte, an sie heranzukommen, erwachte eine vierte Maschine und versperrte ihm den Weg.
Er wich zurück und brachte die Couch zwischen sich und die wandelnde Maschine. Joe und Leilani traten ebenfalls den Rückzug an.
»Wie operieren sie?«, rief Kurt, während einer der Roboter den Tisch erreichte und ihn mit einer Kreissäge in zwei Hälften schnitt.
»Entweder autonom oder ferngesteuert«, sagte Marchetti. »Als Augen haben sie kleine Lochkameras.«
Wie schläfrige Tiere schwankten die Maschinen schwerfällig auf sie zu. Jedes Mal, wenn sie gegen etwas Festes stießen, reagierten ihre Stellmotoren, und die Greifklauen wurden ausgefahren. Ein Sessel wurde beiseitegeschleudert, eine Couch mit dem Schweißgerät in Brand gesetzt.
Kurt bemerkte, dass ihre Aktionen einem seltsamen Muster folgten. Anscheinend machte jeweils nur eine Maschine etwas, das nicht zu ihrem üblichen Aktionsprogramm gehörte. »Könnte es sein, dass Otero im Augenblick an der Fernbedienung sitzt?«
Marchetti nickte. Kurt wandte sich an Zavala. »Jetzt wäre ein geeigneter Moment für einen Vorschlag.«
»Ich würde sagen, dass wir den Stecker rausziehen sollten«, erwiderte Joe, »aber ich habe den bösen Verdacht, dass die Dinger von Batterien in Gang gehalten werden.«
Mit diesen Worten ergriff er einen Stuhl und schleuderte ihn dem ersten Roboter entgegen. Er prallte gegen die schwerfällige Maschine, stieß sie ein Stück zurück, erzielte jedoch keine weitere Wirkung.
Mittlerweile war Kurt in Marchettis Richtung abgedrängt worden. Joe und Leilani hatten einen anderen Platz gefunden. Aber die Maschinen – oder Otero – waren darauf bedacht, sie an einer Stelle zusammenzutreiben.
Kurt wollte nach rechts ausbrechen, aber ein Plasmastoß aus einer Schweißpistole stoppte ihn. Er warf sich zur anderen Seite und vertraute auf seine Schnelligkeit.
Die Maschine wirbelte herum und feuerte einen weiteren blendenden Plasmastrahl ab, doch Kurt befand sich bereits in Reichweite der Maschine. Er spürte, wie die Plasmaflamme beinahe seinen Rücken versengte. Er griff nach dem ersten Arbeitsarm, den er erwischen konnte, und zerrte daran, bis er abbrach. Dann fand er eine andere Ausbuchtung, die wie eine Kamera aussah, und bog sie mit einem Hieb zur Seite.
Das Schweißgerät jagte einen weiteren Plasmastoß über seine Schulter, und ein anderer Greifarm begann sich zu bewegen.
»Haben diese Dinger keinen Schalter, um sie zu stoppen?«, rief er.
»Nein«, antwortete Marchetti. »Ich konnte mir damals nicht vorstellen, irgendwann mal den Wunsch zu haben, sie manuell zum Stillstand zu bringen.«
»Ich vermute, dass Sie jetzt sicher anders darüber denken.«
Kurt streckte die Hand nach einem Bündel von drei offenbar hydraulischen Leitungen aus, wurde jedoch mit einem wuchtigen Schlag gegen die Brust, der ihn von der Maschine wegschleuderte, daran gehindert. Irgendein Hammer, mit dem gewöhnlich Nieten eingeschlagen wurden, war ausgefahren worden und hatte sich in seine Rippen gebohrt.
Er landete auf dem Rücken und sah gleichzeitig, wie sich das rotierende Sägeblatt einer zweiten Maschine auf ihn herabsenkte. Er rollte sich zur Seite und blieb vor dem runden Fenster liegen, hinter dem der türkisfarbene Ozean wogte.
Marchetti war bereits dort, und Joe und Leilani wurden beharrlich in die gleiche Richtung getrieben.
»Ich habe eine Idee«, sagte Kurt Austin.
Er stürzte sich auf dieselbe Maschine, mit er gerade gekämpft hatte, und achtete darauf, einen Kontakt mit ihren Gliedmaßen zu vermeiden. Die Schweißdüse leuchtete wieder auf und blendete ihn fast. Der hydraulische Hammer erschien, doch Kurt verrenkte sich, um ihm auszuweichen.
Die Maschine trottete mit Kurt als hartnäckigem Anhängsel vorwärts. Sie stieß ihn von sich und rammte ihn ebenso gegen das runde Fenster wie der Kapitän einer Footballmannschaft einen unfähigen Anfänger gegen einen Spind im Umkleideraum. Die Plasmaflamme zischte und brannte eine Furche ins Acrylfenster. Ein zweiter Plasmastoß hinterließ eine weitere tiefe Furche.
Kurt versuchte, die Maschine zurückzuschieben, aber sie drängte ihn gegen das Fenster. Er hatte das Gefühl, seine Rippen würden jeden Moment von dem enormen Druck zerbersten.
»Ich hoffe … diese Dinger … sind nicht wasserfest«, ächzte er mühsam.
Dann streckte er die Hand wieder nach den hydraulischen Leitungen aus. Wie erwartet zuckte der Hammerkopf vorwärts. Aber da Kurts Körper nicht im Weg war, krachte er gegen das riesige gewölbte Fenster.
Das gespenstische Knirschen, als mehrere Risse durch die Acrylkuppel wanderten, war von niemandem zu überhören. Alle Köpfe fuhren herum, während das Fenster, das nach außen gewölbt war, um dem Druck des Ozeans standzuhalten, seine Spannung auf der Innenseite einbüßte und nachgab.
Die Wassermassen drangen wie eine Riesenwelle schlagartig ein und trafen alles und zur gleichen Zeit. Sie spülten die Menschen, die Möbel und die Maschinen quer durch den Raum und warfen sie gegen die rückwärtige Wand.
Kurt spürte mehrere schmerzhafte Stöße und kämpfte, um sich von der Schweißmaschine zu befreien. Noch während er sich von seinem mechanischen Gegner löste, nagelte ihn die schäumende Flut gegen die Wand und hielt ihn so fest wie eine besonders tückische Welle einen Surfer. Er stieß sich mit einem Fuß vom Boden ab und brach durch die Wasseroberfläche.
Gischt und Trümmer wurden von den tobenden Wassermassen herumgewirbelt. Kurt spürte, wie er von der ansteigenden Flut nach oben gedrückt wurde, die den Raum rasend schnell füllte. Während er sich der Decke näherte, verzögerte die zusammengepresste Luft den Prozess, aber irgendwo musste ein Leck entstanden sein, weil die Luftblase merklich schrumpfte.
Kurt schaute sich um. Er sah Joe Zavala, der Marchetti mit einer Hand festhielt und sich mit der anderen an die Wand klammerte.
Leilani tauchte auf und fand sicheren Halt an einem Leitungsrohr, das an der Decke entlanglief und sich dank des steigenden Wasserstands in Reichweite befand.
»Irgendeine Spur von den Robotern?«
»Ich habe ihnen nie das Schwimmen beigebracht«, sagte Marchetti.
»Das wäre das erste Mal, dass Sie etwas richtig gemacht haben«, sagte Kurt. »Wie tief unten sind wir hier?«
»Sieben bis acht Meter, schätze ich.«
»Wir müssen rausschwimmen.«
»Das schaffe ich«, sagte Marchetti und hustete, als hätte er eine ganze Gallone Wasser geschluckt.
»Leilani?«
»Natürlich«, sagte sie
»Okay. Dann zieht die Schuhe aus«, fuhr er fort, wandte sich zu Marchetti und fügte hinzu: »Und trennen Sie sich von diesem lächerlichen Mantel. Er würde Sie nicht nur ertrinken lassen, sondern ich habe von seinem Anblick auch Kopfschmerzen bekommen, seit ich Ihre Insel betreten habe.«
Sie streiften die Schuhe ab, und Marchetti schlüpfte aus dem nassen Mantel. Dann schwammen sie zu der klaffenden Öffnung, in der sich kurz vorher noch das Fenster befunden hatte.
Ehe sie abtauchten, um hinauszuschwimmen, zwang Kurt Austin den Milliardär, ihm in die Augen zu sehen. »Wo finde ich diesen Otero?«
»Im Kontrollzentrum im Hauptgebäude, in der Nähe des Helipads.«
»Können Sie seine Zugriffsberechtigung zum System außer Kraft setzen, damit ich von Ihren Robotern nicht verbrannt, zersägt oder mit Nieten durchsiebt werde?«
Marchetti tippte sich gegen den Kopf, als fände diese Idee seine vollste Zustimmung. »Das ist das Erste, was ich tun werde.«
»Gut«, sagte Kurt. Er sah Joe Zavala an. Entschlossenheit funkelte in seinen Augen, während er den Adrenalinstoß spürte, der bei ihm stets den Wechsel von der Defensiv- in die Offensivphase begleitete.
»Ich hoffe, du bist ausgeruht«, sagte er, »denn jetzt sind wir am Drücker.«