14
Im Innenhof eines im marokkanischen Stil erbauten Hauses, einen Steinwurf vom Golf von Aden entfernt, saß Sabah und genoss die Kühle des Abends. Während die Dämmerung ihren Mantel über die Welt breitete, speiste er zu Abend und delektierte sich an Lammbraten mit frisch gebackenem Fladenbrot und Tomatenscheiben. Ringsum flatterten hauchdünne Vorhangschleier in der lauen Brise, und der gedämpfte Klang der Brandung an den nahe gelegenen Klippen erklang wie ein nie verstummendes Wiegenlied.
Ein Bediensteter erschien und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Sabah lauschte und nickte. Die Verärgerung über die Nachricht furchte für einen kurzen Moment seine Stirn.
Der Bedienstete nahm seinen Teller vom Tisch, und Sabah lehnte sich mit einem Glas schwarzen Tees in der Hand zurück. Der Klang sich nähernder Schritte verharrte unter dem Türbogen.
»Ich bitte um eine Audienz«, sagte eine Gestalt im Schatten des Türbogens.
»Ich würde sagen, dass du sie bereits hast«, erwiderte Sabah, »zumal du jetzt – eingeladen oder nicht – vor mir stehst.«
»Ich wollte dich nicht stören«, sagte der Mann. »Daher habe ich gewartet, bis du deine Mahlzeit beendest.«
Sabah deutete auf ein Sitzpolster. »Komm, setz dich, Mustafa. Schon seit dem ersten Krieg gegen Israel sind wir Freunde. Zwar haben die Waffen, die du uns damals geliefert hast, nicht den Sieg gebracht, aber ich konnte al-Khalif und seine Familie mit ihnen stärken. Danach haben sie auch zu meinem Wohlergehen beigetragen.«
Mustafa kam herein und nahm gegenüber Sabah Platz. Sabah glaubte, in seiner Haltung eine gewisse Verzagtheit zu bemerken. Da er Mustafa als einen der unerschrockensten, überheblichsten und kühnsten Männer kannte, fragte sich Sabah, was ihn wohl bedrücken mochte.
»Über Glück und Wohlergehen wollte ich mit dir reden«, begann Mustafa, »und zwar über deins und meins. Und das von anderen, die den Löwenanteil davon für sich einstreichen.«
Sabah trank einen weiteren Schluck Tee und stellte das Glas auf den Tisch. Daneben stand ein Teller mit frisch gezupften Blättern Khat, einer Pflanze, die während des Genusses eine berauschende Wirkung entfaltete. Darin ähnelte sie einem schwachen Amphetamin. Sabah nahm ein Blatt, faltete es zusammen und steckte es in den Mund. Er kaute langsam und lutschte den Saft des Khatblattes.
»Löwen nehmen sich den größten Anteil, und zwar weil sie Löwen sind«, erklärte Sabah. »Niemand kann sie daran hindern.«
»Aber wenn der Löwe schwach und anmaßend ist?«, fragte Mustafa. »Oder blind für die Bedürfnisse seines Rudels? Dann wird ein anderer aufstehen und seinen Platz einnehmen.«
»Was soll das?«, sagte Sabah. »Es ist nicht nötig, in Rätseln zu sprechen. Du erwähnst Jinn und das Projekt. Du glaubst, dass er uns irgendwie hintergeht.«
Mustafa zögerte und rang die Hände, als befände er sich in einem heftigen inneren Zwiespalt.
Sabah schob den Teller mit den Khatblättern zu ihm hinüber. »Nimm eins. Es wird deine Zunge lösen.«
Mustafa griff zu, folgte Sabahs Beispiel und faltete das Blatt zusammen. Dann schob er es zwischen die Lippen.
»Was stört dich an Jinns Verhalten?«, fragte Sabah.
»Drei Jahre lang Versprechen«, sagte Mustafa, »und nicht ein Tropfen Regen.«
»Die Veränderungen brauchen Zeit. Darauf wurdest du vorher aufmerksam gemacht.«
»Für uns wird die Zeit knapp«, sagte Mustafa, »wie auch für euch. Der Jemen stirbt. Menschen werden mit Waffengewalt aus den Städten vertrieben, weil dort das Wasser für alle nicht ausreicht.«
Sabah spuckte grünen Speichel und die Reste des Khatblattes in eine Schüssel und trank einen Schluck Tee. Mustafa hatte recht. Man war fest davon überzeugt, dass in der Hauptstadt des Landes das Wasser so knapp würde, dass nicht einmal eine Rationierung helfen könnte. Die einzige Möglichkeit bestand darin, die Menschen zu zwingen, in andere Gegenden weiterzuwandern, aber der Rest des Landes befand sich kaum in einem besseren Zustand.
»Hier hat es in der vergangenen Woche drei Mal geregnet«, sagte Sabah, »was wir gar nicht kennen. Sogar jetzt werden die Gipfel der Berge im Norden von Wolken verhüllt. Die Veränderung hat schon begonnen. Jinns Versprechen werden sich erfüllen.«
»Vielleicht«, räumte Mustafa ein, »aber was hält ihn davon ab, sie wieder rückgängig zu machen?«
Der Glanz in Mustafas Augen verriet Sabah, dass er allmählich zum Kern seines Anliegens kam.
»Sein Ehrgefühl«, sagte Sabah.
»Jinn hat kein Ehrgefühl«, widersprach Mustafa. »Als Beweis brauche ich nur dich anzusehen. Es ist bekannt, dass du, Sabah, hinter Jinns Erfolg stehst. Seinen Wohlstand und seine Macht hat er allein deiner Weisheit zu verdanken. Das Vermögen seiner Familie ist das Ergebnis deiner Bemühungen, deiner Arbeit und deiner Loyalität. Jinn besitzt Millionen: Firmen, Paläste, Ehefrauen. Und was hast du dafür erhalten?« Mustafa schaute sich um. »Ein schönes Haus, ein paar Diener. Erlesene Speisen. Ist das alles für ein Leben, das man in den Dienst eines anderen gestellt hat? Nein, es ist armselig, und du hast ganz sicher sehr viel mehr verdient. Auch du solltest ein Herrscher sein.«
»Ich bin ein treuer Diener«, erwiderte Sabah.
»Sogar Diener haben Anteil an den Erfolgen ihres Herrn«, sagte Mustafa. »In früheren Zeiten konnte sogar ein Sklave in die Position eines wichtigen Beraters aufsteigen.«
Sabah hatte genug gehört. »Vielleicht wurde deine Zunge zu sehr gelöst, Mustafa.«
»Nein«, erwiderte sein Gast erregt, »gerade weit genug. Ich kenne die Wahrheit. Jinn benutzt dich genauso, wie er uns benutzt. Er nimmt sich viel und gibt nur zurück, was er unbedingt muss. Wir tanzen nach seiner Pfeife. Wenn er das Projekt abbricht, bedeutet es unser Ende. Wenn er aber mehr verlangt, haben wir keine andere Wahl, als es ihm zu geben.«
»Dann ist es also das Geld, das dir Sorgen macht.«
»Nein.« Mustafa schüttelte heftig den Kopf. »Es ist die Macht. Bald wird der Punkt überschritten sein, bis zu dem wir ihn noch unter Kontrolle haben und mit ihm verhandeln können. Er hat einen ebensolchen Zauber geschaffen wie die Geister in grauer Vorzeit. Aber wenn er allein sich dessen bedienen kann, werden wir anderen nicht mehr gebraucht. Das ist ein einsehbarer Grund, weshalb Leute wie Jinn früher verhasst und verflucht waren. Sie waren Zauberer, denen man nicht trauen konnte. Wenn man ihnen nicht rechtzeitig Einhalt gebietet, schwingen sie sich zu Göttern auf. Und genau das ist Jinns Plan.«
Prüfend betrachtete Sabah seinen alten Freund und versuchte, sich darüber klar zu werden, wie weit er gehen würde. Bis jetzt hatte Mustafa vermieden, offen Verrat zu fordern, aber das war ohne Zweifel seine Absicht. Wenn sich Sabah nicht täuschte, war er dazu entschlossen.
»Demnach haben sich die Investoren beraten«, vermutete er. »Sag mir, wer den Wunsch danach geäußert hat.«
»Das ist nicht von Bedeutung«, wich Mustafa aus.
»Für mich ist es von Bedeutung.«
»Was für dich von Bedeutung sein sollte, ist deine Position«, beharrte Mustafa. »Denk nur einmal darüber nach, weshalb du hier in Aden bist anstatt bei Jinn in seiner Höhle in der Wüste?«
»Weil er mich zurzeit nicht braucht.«
»Das scheint immer öfter der Fall zu sein«, sagte Mustafa. »Und was wirst du – der stets loyale Diener – tun, wenn Jinn dich eines Tages überhaupt nicht mehr braucht?«
Sabah war betroffen, doch die Frage klang logisch und nicht aus der Luft gegriffen.
Mustafa ließ nicht locker. »In seiner Jugend hast du ihn mit deiner Kraft im Zaum gehalten. Als er älter wurde, hast du ihn mit Wissen lenken können. Was ist dir jetzt geblieben? Du hast ihm alles gegeben, Sabah. Jetzt ist es auch einmal an der Zeit zu nehmen. Zu nehmen, was du dir verdient hast.«
»So etwas wie eine Palastrevolte, nicht wahr? Ist es das, was du im Sinn hast?«
»Du hast dieses Imperium aufgebaut«, flüsterte Mustafa, »du bist es viel mehr gewesen als er. Die Schlüssel dazu sollten dir gehören. Du solltest dich auf keinen Fall außerhalb seiner Mauern herumdrücken wie das minderwertige Mitglied des Clans, das du immer gewesen bist.«
Mustafas Worte trafen eine emotionale Wunde, die Sabah tief verdrängt hatte. Er gehörte nicht zu Khalifs Clan. Ganz gleich wie loyal oder aufopferungsvoll oder skrupellos er sein mochte, er wäre nie mehr als ein treuer Helfer.
Mehr noch, wenn Jinns Söhne und Töchter älter wurden, dann würde das, was früher eine Partnerschaft gewesen war, zunehmend verblassen. Der Clan und die Familienbande würden stärker werden. Sabah würde beiseitegeschoben, und seine eigenen Nachkommen könnten niemals ernten, was er gesät hatte.
In gewissem Sinne hatte dieser Prozess bereits begonnen. Während der vergangenen zwei Jahre hatte Jinn zunehmend weniger Zeit in Sabahs Gesellschaft verbracht. Er hatte seine Gewohnheiten geändert. Hatte er vorher Sabahs Ratschläge bereitwillig angenommen, so zeigte er mittlerweile immer weniger Interesse, sie sich überhaupt anzuhören.
Aber das allein war kein Grund für einen Verrat. Sabah nahm ein weiteres Blatt Khat vom Teller, faltete es und steckte es in den Mund. Vieles war zu bedenken, ehe eine solche Entscheidung getroffen werden konnte.
Während er kaute, sandte das in der Pflanze enthaltene Stimulans einen Schub frischer Energie durch seinen Körper.
Er wusste, dass Mustafa nicht von seinem Plan abrücken würde, erst recht nicht jetzt, nachdem er offen darüber gesprochen hatte. Falls Sabah ihm nicht grundsätzlich zustimmte, gäbe es hier und jetzt Probleme. Möglicherweise hatte Mustafa auch einige Männer mitgebracht, die sich in der Nähe bereithielten. Vielleicht glaubte er sogar, Sabah selbst töten zu können.
Diese Chance würde er ihm nicht bieten. »Hast du eine Strategie?«
Mustafa nickte. »Wir müssen den Schwarm in Aktion sehen, wenn auch nur in kleinem Maßstab.«
»Meinst du mit ›wir‹ auch alle anderen?«
»Ich werde zugegen sein sowie Alhrama aus Saudi-Arabien. Uns vertraut Jinn am meisten. Wir werden den anderen berichten.«
»Ich verstehe. Und wie soll ich das Ganze arrangieren?«
»Jinn muss eine Besichtigung des Kontrollraums und der Fabrikationseinrichtungen gestatten. Und er muss uns die Programmierung und die Codes zugänglich machen.«
Sabah dachte über die Forderung nach. Er strich sich durch den Bart. »Und wenn ihr alles gesehen habt?«
»Dann gebe ich dir ein Zeichen«, sagte Mustafa. »Du tötest Jinn und übernimmst die Leitung der Operation als gleichrangiger Partner und Chef des Oasis Consortium.«