15
Kurt Austin war unterwegs zu Marchettis Hightechbüro im obersten Stockwerk der beiden fertiggestellten Gebäude Aqua-Terras. In den vierundzwanzig Stunden, seit er und Joe Zavala das Wasserflugzeug gestoppt und Matsons und Oteros Flucht vereitelt hatten, war viel geschehen.
In Washington waren Dirk Pitt und die Leitung der NUMA in die Vollen gegangen, hatten sämtliche verfügbaren Quellen angezapft und Informationen über Jinn al-Khalif zusammengetragen.
Nigel, der Pilot, hatte den Helikopter wieder startklar gemacht und auf Marchettis Bitte hin Paul und Gamay Trout abgeholt.
Marchetti selbst hatte fünfzehn Stunden damit zugebracht, das Computernetz zu durchforsten, um sicherzugehen, dass Otero keine weiteren Fallen hinterlassen hatte. Er fand nichts dergleichen, jedoch waren einige hundert Programme aktiv, um die Insel in Gang zu halten. Er gab allerdings zu bedenken, dass er nicht alle darauf überprüfen konnte, ob sie modifiziert worden seien oder nicht. Auf Kurts Drängen hin konzentrierte er sich auf die wichtigsten und deaktivierte außerdem für alle Fälle die am weiteren Ausbau der Insel beteiligten Arbeitsroboter.
Da ein Bericht aus der NUMA-Zentrale angekündigt war, versammelten sich alle in Marchettis Büro, um auf seine Übermittlung zu warten und anschließend über den nächsten Schritt zu beraten.
Kurt Austin öffnete die Tür und trat ein. Joe Zavala und die Trouts hatten sich bereits eingefunden. Ihnen gegenüber saß Marchetti, neben ihm Leilani.
»Das ist ein verdammt feines Schiff, das Sie sich hier gebaut haben«, sagte Kurt Austin zu Marchetti. »Ich habe schon in Fünfsternehotels gewohnt, die um einiges schlechter waren.«
Marchetti strahlte. »Wenn Aqua-Terra fertig ist, erwarten wir Millionäre und Milliardäre als Gäste an Bord. Auch wenn ich einige von ihnen einsperren muss, sollen sie nicht auf das spezielle Aqua-Terra-Flair verzichten.«
Kurt Austin schmunzelte.
»Haben Sie sie zum Reden bringen können?«, fragte Leilani Tanner.
»Nein, sie haben absolut dichtgemacht«, sagte Kurt, blickte kurz zu Joe Zavala hinüber und wandte sich dann wieder an Marchetti. »Sie haben nicht zufälligerweise eine hungrige Python an Bord?«
Marchetti war über die Bitte sichtlich schockiert. »Ähm … nein. Weshalb?«
»Nur so.«
Während sich Kurt einen Platz suchte und hinsetzte, begann auch schon die Satellitenübertragung. Sekunden später erschien Dirk Pitts markantes Gesicht auf dem Bildschirm.
Nach einer allgemeinen Vorstellung der Anwesenden ergriff Pitt das Wort.
»Wir haben einige Informationen über diesen Jinn für euch gesammelt. Das gesamte Dossier wird als verschlüsselte Datei übermittelt, aber vorab schon mal die wesentlichen Punkte dessen, was wir in Erfahrung gebracht haben. Vor dreißig Jahren war Jinn al-Khalif, ein Beduine, nicht mehr als ein neunzehnjähriger Kameltreiber; vor zwanzig Jahren versuchte er sich für kurze Zeit – und auch durchaus erfolgreich – als Waffenhändler, und kurz danach kaufte er sich mit dem Profit in verschiedene legitime Unternehmen ein. Schifffahrt und Bauwesen sowie Infrastrukturentwicklung. Nichts Bedeutendes, aber er hat ganz gut damit verdient. Vor fünf Jahren gründete er eine Firma namens Oasis. Dabei handelt es sich um ein eher seltsam strukturiertes internationales Konsortium, das auf dem Technologiesektor tätig ist und aus trüben Quellen finanziert wird. Interpol hat den Laden seit seiner Gründung wachsam im Auge. Was ihnen verdächtig vorkam, waren die Geldmengen und die Technologie, die scheinbar unkontrolliert in den Jemen strömten.«
»Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ausgerechnet der Jemen ausländische Kapitalgeber anziehen sollte«, sagte Kurt Austin.
»Das tut er auch nicht im Mindesten«, bestätigte Pitt seine Einschätzung. »Deshalb hat man bei Interpol angenommen, dass Oasis eine Tarnung für eine terroristische Organisation sei oder für Geldwäsche-Operationen benutzt wird, doch Jinn hat sich niemals politisch betätigt, noch nicht einmal in seiner von Unruhen geschüttelten Heimat. Außerdem wurden keinerlei Aktivitäten festgestellt, die auf Geldwäsche hingedeutet hätten. Es scheint, als seien der Technologietransfer und die Investitionen in der Hightech-Industrie völlig legal.«
Pitt tippte etwas auf der Tastatur vor sich ein. Ein Satellitenfoto wurde aufgerufen und zeigte die schroffe Schönheit der nördlichen Wüstenregion des Jemen. Das Bild wurde scharf und größer, als stürzten sie aus dem Weltraum darauf zu. Als die programmierte Auflösung erreicht war, konzentrierte sich der Blick auf eine Felsformation, die aus dem Sand ragte und einen langen Schatten warf. Sie erinnerte Kurt sowohl an die Ortschaft Shiprock als auch an die Felsbastion gleichen Namens in New Mexico.
Zu der Formation, die stellenweise von größeren Flecken dunkel verfärbten Sandes umgeben war, führten zahlreiche Fahrspuren.
»Was haben wir da vor uns?«, fragte Kurt.
»Laut unserer Geheimdienste konzentrieren sich Jinns Aktivitäten in dieser Wüstenregion.«
»Besonders spektakulär sieht das nicht aus«, stellte Paul Trout fest.
»Das soll es auch nicht«, erwiderte Dirk Pitt. »Seht ihr den dunklen Sand und das Erdreich? Es breitet sich über eine Fläche von mehr als vierzig Hektar aus.«
»Sieht aus, als sei es von irgendwo dorthin gespült worden«, bemerkte Gamay Trout. »Durch Erosion oder Überschwemmungen.«
»Außer dass dies der trockenste Teil der Wüste ist«, sagte Dirk, »und die Neigung des Geländes verläuft in einer völlig anderen Richtung, als man aus den dunklen Flächen schließen kann.«
»Demnach ist es eine Tarnung«, entschied Kurt. »Was verstecken sie?«
»Unsere Experten nehmen an, dass sie großräumige Erdbewegungen durchgeführt haben«, sagte Pitt, »was auf eine unterirdische Anlage erheblichen Ausmaßes schließen lässt. Infrarotmessungen haben erhöhte Wärmestrahlung über einzelnen Entlüftungsschächten im Sand ergeben. All das weist auf irgendeinen Fabrikationsprozess hin, allerdings hat bisher niemand auch nur eine vage Idee davon, was sie dort tun könnten.«
»Sie haben meine Konstruktion gestohlen«, bemerkte Marchetti, »und angefangen, sie zu produzieren.«
Pitt nickte. »So scheint es. Stellt sich nur die Frage: Wozu?«
Marchetti überlegte einen Moment. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Ich wollte die Mikroroboter als Müllvernichter einsetzen, aber soweit wir haben sehen können, ist die ursprüngliche Konstruktion modifiziert worden. Das weist auf eine andere Anwendung hin. Bisher wissen wir lediglich, dass sie Ihren Katamaran angegriffen haben. Aber falls mir nichts Derartiges entgangen ist, wurde bisher kein anderes Schiff attackiert oder eliminiert. Das lässt vermuten, dass dies nicht ihr Hauptzweck ist.«
»Warum benutzen sie sie denn dafür?«, fragte Kurt.
Marchetti musterte Leilani prüfend, dann meinte er: »Unter normalen Umständen wäre das Boot umfassend gesäubert worden. Nicht ein Krümel organischer Materie wäre darauf zurückgeblieben. Und die Mikroroboter wären ins Meer zurückgekehrt.«
Kurt Austin verstand, was er meinte. »Keine Spuren. Keine Zeugen. Das Boot wäre in voll funktionsfähigem Zustand gefunden worden, so wie die Mary Celeste. Nur haben sie nicht damit gerechnet, dass die Mannschaft es in Brand setzen würde, um die Angreifer abzuwehren.«
»Genau.« Marchetti nickte heftig. »Ohne die Rückstände, die Sie gefunden haben, wäre nichts mehr vorhanden gewesen, das uns einen Hinweis darauf hätte liefern können, was dort passiert ist. Selbst wenn das Geschehen von einem anderen Schiff aus einiger Entfernung beobachtet worden wäre, hätte man nichts Verdächtiges gesehen.«
Pitt kehrte wieder zu der ursprünglichen Frage zurück. »Demnach können diese Dinger die Schifffahrt gefährden«, stellte er fest, »aber wenn das nicht ihre eigentliche Aufgabe ist, was ist es dann? Könnten sie die Ursache für die ungewöhnlichen Temperaturschwankungen sein, auf die unser Team gestoßen ist?«
»Möglich«, sagte Marchetti. »Ich bin mir nicht sicher wie, aber bis zu einem gewissen Punkt hängen ihre Fähigkeiten davon ab, in welcher Anzahl sie sich da draußen herumtreiben.«
»Können Sie das näher erläutern?«, fragte Pitt.
»Betrachten Sie sie als Insekten. Eines davon stellt kein Problem dar – eine Wespe, eine Ameise, eine Termite – kaum bedrohlich. Aber wenn sich genug von ihnen am selben Ort versammeln, können sie jede Menge … Verdruss bereiten. Meine Konstruktion war in der Lage, sich autonom zu vermehren und sich ad infinitum auszubreiten. Das war die einzige Möglichkeit, ihnen zu einiger Effektivität zu verhelfen. Es besteht kein Grund anzunehmen, dass diese Version nicht das Gleiche tut. Millionen von ihnen können einem kleinen Schiff Probleme bereiten, Milliarden könnten eine Bedrohung für ein großes Schiff oder eine Ölplattform oder sogar etwas von der Größe Aqua-Terras sein, Billionen – oder sogar Aberbillionen – könnten die Weltmeere in Gefahr bringen.«
»Die Weltmeere?«, fragte Joe Zavala ungläubig.
Marchetti nickte. »In gewisser Hinsicht sind die Mikroroboter ebenfalls so etwas wie ein Schadstoff. Fast wie ein Gift. Aber da sie aktiv Nahrung zu sich nehmen, sich vermehren und selbst beschützen, sollte man sie lieber als eine fremde Spezies betrachten, die in ein neues Habitat eindringt. Ihre Existenz verläuft nach dem gleichen Muster. Ohne natürliche Feinde sind sie anfangs eine seltsame Erscheinung, aus der schnell eine Plage wird. Und kurz darauf wird eine Seuche daraus, die das gesamte Ökosystem bedroht. Ohne genaue Überwachung könnte die Entwicklung der Mikroroboter genauso verlaufen.«
»Ich erinnere mich noch, als der Schwammspinner nach New England kam«, sagte Paul. »Nicht einheimisch, sondern aus China zugewandert und ohne natürliche Feinde. Im ersten Jahr fand man nur ein paar pelzige Raupen. Im nächsten Jahr gab es sie bereits im Überfluss, und im dritten Jahr fand man sie überall, milliardenfach. Sie bevölkerten praktisch jeden Baum, fraßen ihn kahl und dezimierten ganze Wälder. Ist das die Wirkung, von der Sie sprechen?«
Marchetti nickte mit düsterer Miene.
Stille setzte ein, in der sich die Versammelten durch den Kopf gehen ließen, was Marchetti soeben gesagt hatte. Kurt stellte sich vor, wie sich die Mikroroboter nach und nach im Indischen Ozean und danach auf der ganzen Welt ausbreiteten. Er fragte sich, ob dieser Gedanke von Vernunft getragen oder nur paranoid war und weshalb jemand ein solches Szenario anstrebte und welchen Vorteil er sich in diesem Fall davon versprach.
»Ganz gleich, was sie tun, ich denke, wir können davon ausgehen, dass es nichts Gutes ist«, sagte Pitt. »Deshalb müssen wir in Erfahrung bringen, worum es sich handelt, und zusehen, dass wir es unter Kontrolle bekommen. Irgendwelche Vorschläge, wie das zu bewerkstelligen sein könnte?«
Alle Blicke richteten sich wieder auf Marchetti.
»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Entweder wir erwischen die Mikroroboter in ihrer aktiven Phase, wofür ich meine Dienste und die Insel anbiete, oder man begibt sich direkt zur Quelle und bringt in Erfahrung, worauf sie programmiert sind.«
»Also in den Jemen«, präzisierte Dirk Pitt.
Marchetti nickte. »Ich sage es nur höchst ungern, und ich möchte Sie ganz gewiss nicht begleiten, aber wenn solche Dinger in dieser unterirdischen Fabrik im Jemen hergestellt werden, dann werden wir am ehesten in Erfahrung bringen, zu welchem Zweck sie hergestellt wurden, wenn wir diese Fabrik aufsuchen und genau in Augenschein nehmen.«
Pitt nickte nachdenklich, schwieg jedoch vorläufig noch. Er sah jeden Teilnehmer der Versammlung einzeln an.
»Na schön.« Er gab sich einen Ruck. »Ursprünglich wollten wir herausfinden, was mit der Mannschaft passiert ist, aber ich denke, uns allen ist jetzt klar, dass wir es mit einer wesentlich größeren Bedrohung zu tun haben. Einer Bedrohung, die wahrscheinlich für ihren Tod verantwortlich ist. Wir müssen von zwei Seiten an diese Sache herangehen. Paul und Gamay werden Mr. Marchettis Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, die Ermittlungen von Seeseite aus aufnehmen und Aqua-Terra als Operationsbasis benutzen. Kurt und Joe, ihr haltet euch bereit. Falls ihr keine Einwände habt, sorge ich für eine Möglichkeit, euch unbemerkt in den Jemen zu schleusen.«
Kurt sah Joe fragend an, der zustimmend nickte. »Wir können jederzeit starten.«
Pitt meldete sich ab. Die Versammlung vertagte sich, und der Raum war bald leer.
Leilani trat zu Kurt. »Ich möchte Sie begleiten«, sagte sie.
Kurt ließ sich beim Einsammeln seiner Siebensachen nicht stören. »Keine Chance.«
»Warum?«, fragte sie. »Wenn dieser Jinn all das in Gang gesetzt hat, möchte ich dabei sein, wenn Sie ihn zur Strecke bringen.«
Kurt sah sie an. »Sie haben uns schon einmal in Gefahr gebracht, und dazu lasse ich es kein zweites Mal kommen. Außerdem möchte ich auch Sie nicht in Gefahr bringen. Ebenso wenig bringen wir diesen Kerl zur Strecke, wie Sie es ausdrücken. Im Gegensatz zu Ihnen sind wir kein Vollstreckerteam. Wir wollen wissen, was der Mann vorhat und warum, mehr nicht. Das Beste, was Sie jetzt tun können, ist, nach Hawaii zurückzukehren.«
»Ich habe niemanden, der zu Hause auf mich wartet«, sagte sie.
»Das tut mir leid«, sagte Kurt, »aber diesmal verfängt diese Tour bei mir nicht.«
Gamay kam herüber, um zu vermitteln. »Wir könnten eine Meeresbiologin brauchen, wenn wir die Nahrungskette genauer untersuchen. Warum bleiben Sie nicht hier bei uns?«
Leilani schien diese Idee nicht sonderlich zu gefallen, aber es war offensichtlich, dass sie keine andere Wahl hatte. Schließlich nickte sie.
Kurt Austin ging ohne einen weiteren Kommentar hinaus. Sie tat ihm zwar aufrichtig leid, aber er hatte nun mal einen Job zu erledigen.