19

Über dem Indischen Ozean war Marchetti mit dem Luftschiff in einen leichten Steigflug gegangen, hatte es auf dreißig Meter gebracht und seine Reisegeschwindigkeit beträchtlich gedrosselt. Die schlanke Konstruktion erforderte einige Kompromisse. So reichte der Auftrieb des Luftfahrzeugs nicht aus, um in der Luft zu schweben, ohne sich mit einem gewissen Mindesttempo vorwärtszubewegen.

Als der Motor verstummte und sie zu treiben begannen, wurden die Passagiere nervös.

»Wir sinken noch immer«, stellte Gamay fest. Fünfundzwanzig Meter unter ihnen war das Meer ruhig und dunkel. Wenn sie mit ihrer Einschätzung recht hatte und diese dunkle Färbung auf den Schwarm Mikroroboter unter der Wasseroberfläche zurückzuführen war, hatte sie kein Interesse daran, mittendrin zu landen.

»Einen Moment«, sagte Marchetti.

Er legte einen Hebel um, und an beiden Enden des Luftschiffs sprangen Kammern auf, als hätte er Motor- und Kofferraumhaube seines Wagens gleichzeitig entriegelt. Das Zischen von Gas folgte, das unter hohem Druck stand, und zwei zusätzliche Ballons sprangen aus den Schächten. Sie stiegen auf, füllten sich mit Helium und spannten ihre Halteleinen. Während sie sich aufblähten, verlangsamte sich der Sinkvorgang und stoppte schließlich ganz.

»Ich bezeichne sie als Luftanker«, erklärte Marchetti stolz. »Wir entleeren sie wieder, sobald wir die Fahrt fortsetzen. Aber bis dahin bewahren sie uns davor, im Bach abzusaufen.«

Gamay war erleichtert, als sie das hörte. Neben ihr atmeten Leilani und Paul hörbar auf.

»Ich denke, wir sollten die Probenentnahme vorbereiten«, sagte Paul Trout.

Das Luftschiff stabilisierte sich in fünfzehn Metern Höhe. Indem er winzige Mengen Helium abließ, brachte es Marchetti bis auf knapp zwei Meter über dem Wasser herunter und versetzte es in einen neutralen Schwebezustand.

»Niedrig genug?«, fragte er.

Paul nickte, während er mit dem teleskopartig ausfahrbaren Probenkollektor zur achtern gelegenen Plattform hinabstieg.

»Nehmen Sie sich bloß in Acht«, warnte Leilani, die dem Rand der Plattform offenbar nicht zu nahe kommen wollte.

»Dem schließe ich mich an«, fügte Gamay hinzu. »Es hat mich Jahre gekostet, dich zu erziehen. Ich habe wenig Lust, damit bei einem neuen Ehemann wieder von vorn anfangen zu müssen.«

Paul lachte. »Aller Wahrscheinlichkeit nach würdest du auch nie einen finden, der genauso attraktiv und charmant ist wie ich.«

Gamay lächelte. Sie würde niemals einen finden, den sie genauso liebte wie ihn, das war auf jeden Fall sicher.

Während Paul an den Plattformrand trat, kam Gamay zu ihm. Da sie wusste, was unter ihnen lauerte, wollte sie ihn anschnallen wie den Ausguck in einem Krähennest am Mast eines Segelschiffes, aber dazu gab es keine Möglichkeit, und es war auch nicht nötig.

Sie befanden sich im Wirbel des Indischen Ozeans, also in der Nähe seines Zentrums, einem Punkt, der mit dem Auge eines Wirbelsturms vergleichbar war. Unter normalen Umständen war es so etwas wie »die Kalmen«, eine Zone ohne nennenswerte Wind- oder Wellenbewegungen.

Die See unter ihnen sah ölig und glatt aus, hinter ihnen brannte die Sonne vom Himmel herab. Es war bemerkenswert ruhig. Nur der winzige Hauch einer Brise war zu spüren, bei weitem nicht stark genug, um sich deswegen Sorgen zu machen, während sie dicht über dem Wasser schwebten.

Paul zog den Stab auseinander, tauchte den Behälter an seinem Ende ins Wasser und schöpfte eine Probe. Er zog den Behälter hoch, hielt ihn dicht über der Wasseroberfläche und ließ ihn einige Sekunden lang abtropfen, ehe er ihn einzog.

Nachdem sie sich Plastikhandschuhe übergestreift hatte, übernahm Gamay die Wasserprobe und wischte den Behälter mit einem elektrostatisch geladenen Mikrofasertuch ab, das, wie Marchetti erklärte, Mikroroboter, die möglicherweise noch an der Außenseite des Schöpfbechers klebten, anzog und in seinem Gewebe festhielt.

Gamay sah keinerlei Überreste, aber diese kleinen Viecher waren ja auch äußerst winzig. Einhundert davon fanden in einem Stecknadelkopf Platz.

Sie betrachtete das Wasser im Behälter.

»Sieht völlig klar aus«, sagte sie.

Sie verschloss den Becher mit einem Deckel und stellte ihn in eine stählerne Box mit Gummidichtung, die sie fest verschloss. Das Tuch deponierte sie in einem identischen Behälter.

Gamay und Paul blickten in die Fluten unter sich, wie Schaulustige, die sich über die Kante eines Hafenkais beugten. Ein paar Meter weiter draußen sah das Wasser völlig normal aus. Aber sie flogen, seit die Tümmler abgebogen waren, nun schon seit zwei Meilen über verfärbtem Ozean. Das ergab keinen Sinn.

»Sie sind nicht an der Oberfläche«, sagte Gamay, als sie den wahren Sachverhalt erkannte. »Wir können sie sehen, wenn wir von oben direkt auf sie hinabschauen, aber sobald sich der Blickwinkel verändert, erkennen wir nur noch Meerwasser.«

Marchetti bestätigte aus dem Cockpit ihre Schlussfolgerung. »Sie treiben dicht unter der Wasseroberfläche. Sie müssen sich eine Probe aus einer tieferen Wasserschicht holen. Wenn Sie wollen, kann ich uns noch weiter hinunter bis zur …«

»Das sollten wir lieber nicht tun«, unterbrach ihn Leilani. »Bitte. Was ist, wenn wir ins Wasser eintauchen oder irgendetwas schiefgeht?«

Sie befand sich im Hauptteil der Kabine, blickte hinaus auf den Ozean, war jedoch durch die Seitenwand geschützt. Trotzdem war sie ziemlich grün um die Nasenspitze.

»Ich denke, ich schaffe das mit einer neuen Probe auch von hier aus«, sagte Paul auf seine gewohnte entgegenkommende Art.

Er legte sich auf das Deck, so dass Kopf und Schultern über die Kante hinausragten. Dann streckte er sich, um den Vorteil seiner langen Arme zu nutzen, und tauchte einen zweiten Sammelbehälter so tief er konnte ins Meer.

Marchetti kam näher, Gamay ebenfalls.

Paul holte die Probe nach oben. Sie sah ebenfalls vollkommen klar aus. Er entleerte den Behälter und streckte sich noch weiter.

Leilani konnte es nicht mit ansehen. »Ich will es gar nicht so genau wissen«, sagte sie und machte kein Hehl aus ihrer Angst. »Müssen wir diese Dinger wirklich unbedingt an Bord holen?«

Kurt hatte bereits angedeutet, dass sie sich in einem labilen Zustand befand. Gamay erkannte jetzt, was er damit meinte. Zuerst konnte sie es kaum erwarten, sie zu begleiten, und plötzlich war sie wie gelähmt vor Angst.

»Jemand muss es tun«, sagte Gamay.

»Vielleicht können wir die Navy oder die Küstenwache um Hilfe bitten.«

»Halt meine Beine fest«, bat Paul. »Ich muss eine tiefere Probe holen.«

Gamay ging in die Hocke und stützte sich mit ihrem gesamten Gewicht auf Pauls Unterschenkel. Sie hörte, wie Leilani irgendetwas murmelte und sich noch weiter zurückzog, als könnten die Mikroroboter jeden Moment wie Krokodile aus dem Wasser hechten und Paul verschlingen.

Paul zog den Teleskoparm aus und tauchte ihn etwa zwei bis zweieinhalb Meter tief in die Fluten. Als er den Sammelbecher wieder hochhievte, spürte Gamay, wie sich sein Körper spannte. Die Probe wies einen dunklen Schimmer auf.

»Ich glaube, du bist fündig geworden.«

Während Paul den Stab zusammenschob, zitterte Leilani. Sie machte einen weiteren Schritt rückwärts.

»Alles ist okay«, versuchte Marchetti sie zu beruhigen.

In diesem Moment ertönte ein lauter Knall, und das Schiff wurde durchgeschüttelt. Es kippte zur Seite, und das Heck sackte ab wie ein Pferdewagen, der ein Hinterrad verloren hatte.

Paul geriet ins Rutschen, prallte gegen die Seitenwand der Aussichtsplattform und ging beinahe über Bord. Gamay rutschte mit ihm, packte seinen Gürtel und schlang den anderen Arm um eine Strebe, die aus dem Deck ragte.

Leilani stieß einen Schrei aus und stürzte, hielt sich jedoch an der Kabinentür fest, während Marchetti die Steuersäule umklammerte.

»Halt dich fest!«, rief Gamay.

»Halt du lieber fest«, antwortete Paul ebenso laut. »Ich hänge hier völlig in der Luft!«

Ein weiterer Knall, und das Luftschiff kehrte in die Horizontale zurück. Nun sank das Heck jedoch noch tiefer: wie die Ladefläche eines Kipplasters beim Abschütten des Inhalts. Gamay ließ nicht locker. Sie verfügte über einiges an Kraft, aber Pauls eins neunzig große und zweihundertvierzig Pfund schwere Gestalt daran zu hindern, von der Plattform zu rutschen und ins Wasser zu stürzen, forderte bald seinen Tribut. Sie spürte, wie der Gürtel schmerzhaft in ihre Finger schnitt.

Hinter ihr versuchten Leilani und Marchetti zu helfen.

»Der Ballon!«, rief Leilani und deutete zum Himmel.

Gamay folgte mit dem Blick ihrem ausgestreckten Finger. Der hintere Luftanker hatte sich gelöst und stieg wie der Luftballon eines Kindes auf einer Kirmes in den Himmel. Infolgedessen sank das Luftschiff achtern voraus dem Ozean entgegen.

»Bringen Sie uns hoch!«, verlangte Gamay.

»Schon dabei«, antwortete Marchetti und eilte zum Cockpit.

»Leilani, helfen Sie mir!«

Während Marchetti in der Kabine verschwand, kauerte sich Leilani neben Gamay und hielt Pauls Bein fest. Die Propeller begannen zu rotieren, und das Luftschiff setzte sich träge in Bewegung. Gleichzeitig wurde es zunehmend schwieriger, Paul zu fixieren.

Gamay hatte das Gefühl, er werde von ihr weggerissen. Sie sah, wie Leilani versuchte, ihn besser in den Griff zu bekommen.

Das Luftschiff nahm zwar Fahrt auf, aber es sank noch immer. Mittlerweile war der Rand der Heckplattform keinen halben Meter mehr von der Wasseroberfläche entfernt. Paul bog den Oberkörper so weit wie möglich nach hinten, um nicht mit dem Gesicht ins Meer einzutauchen.

Mit zunehmender Geschwindigkeit kehrte das Luftschiff in seine normale Lage zurück.

»Jetzt!«, rief Gamay. Sie zog mit aller Kraft und schaffte es mit Leilanis Hilfe, Paul so weit zurückzuziehen, dass er nur noch mit Kopf und Schultern ins Freie ragte. Dabei bemerkte sie den Stab mit dem Probenkollektor in seinen Händen.

»Lass das Ding fallen!«, schrie sie.

»Nach all diesen Mühen?«, fragte Paul. »Niemals.«

Mittlerweile erzeugte das Flugtempo genug Auftrieb, so dass Marchetti das Heck weiter hochziehen konnte.

Während das Schiff in den Steigflug überging und sich dann horizontal ausbalancierte, zerrte Gamay ihren Mann weiter auf die Plattform und hielt ihn fest.

»Paul Trout, wenn du so etwas noch einmal tust, dann ist das mein sicherer Tod«, sagte sie.

»Meiner ebenfalls«, erwiderte er.

»Was ist passiert?«, fragte er in Marchettis Richtung.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete dieser. »Irgendwie hat sich der Anker verabschiedet. Vielleicht ein Defekt oder eine Fehlfunktion.«

Gamay sah Paul an, dankbar, dass er bei ihr war und nicht im Wasser bei diesem Zeug. Es schien, als hätten sie eine schreckliche Pechsträhne erwischt. Aber hatten sie das wirklich?

Sie fragte sich, wie weit Marchettis Mannschaft zu trauen war. Otero und Matson waren gekauft worden. Was hielt eigentlich die anderen davon ab, ihren Arbeitgeber ebenfalls zu verraten? Sie behielt diesen Gedanken für sich, betrachtete die dunkle Probe, die sie gerettet hatten, und machte sich klar, dass es außer Paul niemanden gab, dem sie bedingungslos vertrauen konnte.