22
In dem höhlenartigen Raum hallten Jinns Worte, die er an Mustafa aus Pakistan und Alhrama aus Saudi-Arabien richtete, seltsam misstönend wider. Er schaffte es, freundlich und großzügig zu erscheinen – zumindest kam es ihm selbst so vor –, obgleich er sie am liebsten mit bloßen Händen erwürgt hätte. Doch er war entschlossen, ihnen eine Botschaft zu senden. Tatsächlich waren es zwei.
Sabah beugte sich ein wenig vor. »Trenne sie voneinander«, flüsterte er, dann trat er zurück und blieb hinter Jinn, und zwar so gut wie unsichtbar.
Jinn reagierte nicht auf die Worte. Er hatte diese Show auf Sabahs Rat hin inszeniert. Aber er würde ganz allein entscheiden, wie sie ablief.
»Sie sehen in dem Becken vor sich ein Modell des Assuandamms«, sagte er. »Er wird gleich im Mittelpunkt einer Demonstration meiner Macht und meiner Möglichkeiten stehen.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Alhrama.
»General Aziz hat Sie mit seiner Weigerung, das zu zahlen, was zu zahlen er versprochen hatte, zu einer abwartenden, wenn nicht gar ablehnenden Haltung ermutigt. Dafür hat er seine Gründe, dessen wesentlichster der Staudamm ist. Solange er existiert, verfügt Ägypten über einen Wasservorrat, der für fünf Jahre ausreicht. Aziz besitzt jedoch nur eine geringe Vorstellung von meiner Macht und meinem Zorn.«
Jinn hielt ein Sprechfunkgerät hoch und drückte auf die Sendetaste. »Fangt an.«
Die Maschinen starteten wieder. Der Kran setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und fuhr mit der Tonne über das Wasserbecken und in seine endgültige Position. Ein Kabel, das an der unteren Hälfte der gelben Tonne befestigt war, wurde aufgerollt, und die Tonne kippte.
Der silberne Sand begann herauszurieseln. Millionen und Abermillionen von Jinns Mikrorobotern ergossen sich in das Wasserbecken und verteilten sich darin wie Zucker in Tee. Das Wasser wurde trüb und färbte sich grau.
»Gebt den Befehl«, sagte Jinn.
Hoch oben im Kontrollraum drückte jemand auf einen Knopf und sendete damit ein verschlüsseltes Kommando.
Das trübe Wasser geriet in Wallung. Die graue Wolke sammelte sich, nahm eine dichtere Konsistenz an und wanderte dann wie ein düsterer, drohender Geist durch das Wasser zum Rand des Staudamms.
»Was geschieht da?«, fragte Mustafa.
»Der Damm besteht zum größten Teil aus Schotter«, sagte Jinn. »Sehr einfach aufzuschütten und stabilisiert durch sein eigenes Gewicht, aber nicht vollkommen undurchlässig.«
Während er noch redete, sammelte sich der silberne Sand bereits an zwei Punkten des Damms: der eine Punkt befand sich dicht unterhalb der Krone, der andere etwa bei einem Drittel der Höhe der steil abfallenden Staumauer. Nach gut einer Minute wurde die Wirkungsweise der winzigen Maschinen im Querschnitt des Damms sichtbar.
»Erstaunlich«, sagte Alhrama, »mit welchem Tempo sie eindringen.«
»Der echte Damm ist natürlich wesentlich mächtiger«, erklärte Jinn. »Aber die Wirkung ist die gleiche, nur wird es etwas länger dauern. Einige Stunden, schätze ich.«
Innerhalb von Minuten hatten die Spitzen des Schwarms jeweils den Kern des Staudamms erreicht. Die Vorwärtsbewegung verlangsamte sich dramatisch, doch der Prozess des Eindringens setzte sich fort, bis auf der anderen Seite ein winziges Loch entstand.
Ein oder zwei weitere Minuten verstrichen, bis der silberne Sand die rechte Seite der Schotterschicht erreichte und durchbrach. Ein winziger Wasserstrahl drang heraus und wurde schnell stärker. Schon bald drückte die Masse des aufgestauten Wassers hinter dem Damm die Flüssigkeit in einem Hochdruckstrahl durch die winzige Öffnung.
»Dieser Effekt wäre in der Realität erheblich stärker«, sagte Jinn. »Das Gewicht des Nassersees geht in die Billionen Tonnen.«
Sogar bei diesem maßstabgetreuen Modell wurde die Lücke sehr schnell vergrößert. Zuerst betrug der Durchmesser der Öffnung fünf Zentimeter, dann waren es zehn. Kurz darauf brach ein Teil des oberen Dammbereichs ein und riss die kleine Straße und die Fahrzeuge darauf mit sich: Das Wasser, das von der hohen Seite des Beckens kam, strömte durch die Lücke und ergoss sich auf der anderen Seite wie ein Wasserfall in die Tiefe. Aber es war der untere Tunnel durch den Damm, der den gesamten Vorgang erst richtig interessant erscheinen ließ.
Während das Wasser durch die obere Lücke flutete, wurde ein Zustand des Gleichgewichts erreicht, so dass die Vergrößerung der Lücke durch den wasserdichten Lehmkern verhindert wurde.
»Der Staudamm bricht nicht«, stellte Mustafa fest.
»Achten Sie auf den unteren Tunnel«, riet Jinn.
Der untere Tunnel erreichte schließlich die gegenüberliegende Dammseite, und innerhalb weniger Minuten hatte das unter hohem Druck stehende Wasser aus dem tieferen Bereich des Testbeckens den unteren Tunnel bis auf mehrere Zentimeter erweitert.
Wasser drang als feine Sprühfontäne aus der Deichmauer. Nach einiger Zeit gab der Kern in der Mitte der Mauer nach und schuf eine tiefe V-förmige Kerbe, als das gesamte Füllmaterial weggeschwemmt wurde.
Eine mächtige Woge wurde hindurchgepresst und ergoss sich nun in den Kanal, der den Nil darstellen sollte. Die Wasserwand überflutete die Ufer und spülte Erdreich, Sand und kleine würfelförmige Objekte hinweg, die als künstliche Bauwerke in der Miniaturlandschaft aufgestellt worden waren.
Der Test war erfolgreich verlaufen, der Staudamm war gebrochen, der Nil über die Ufer getreten. Mustafa und Alhrama starrten entsetzt auf die Verwüstung.
Jinn lächelte still und trat einen Schritt zurück. Es war der ideale Moment. Hinter ihm hielt Sabah die Tür auf.
Mustafa wandte sich um und sah sie an. Er grinste erwartungsvoll. Und nickte Sabah zu. Sein Gesichtsausdruck erinnerte Jinn an einen Dieb, der mit gestohlenem Gut beladen war. Als Sabah nicht darauf reagierte, verwandelte sich der Gesichtsausdruck zuerst in Verwirrung, dann in Wut und Angst. Er musste in diesem Moment erkannt haben, dass Sabah seinem Herrn und Meister kein Haar krümmen würde.
Der Dieb war mit seiner Beute erwischt worden, und sein Gesicht verriet es. Er griff nach einer Waffe, aber Sabah zog Jinn zur Seite und schlug die Tür zu.
Im Handumdrehen wurde die Tür verriegelt. Und das Hämmern von Pistolenkugeln, die die Tür trafen, verursachte nicht mehr als Lärm, der in den Ohren der Schützen widerhallte.
Danach drang Mustafas Stimme gedämpft durch die Tür. »Was haben Sie vor? Was hat das zu bedeuten?«
Außerhalb des Raums schaltete Jinn eine Gegensprechanlage ein. »Das ist doch einfach zu erkennen. Sie haben versucht, meinen Diener gegen mich aufzuwiegeln, und er hat den Test bestanden. Jetzt werden Sie die Folgen zu spüren bekommen.«
Erst folgte das Geräusch von Fäusten, die gegen die Tür trommelten, dann fielen weitere Schüsse, und Jinn wunderte sich lediglich, dass die Querschläger weder Mustafa noch Alhrama trafen.
Nun meldete sich Alhrama zu Wort. »Jinn, seien Sie vernünftig! Ich habe mit alldem nichts zu tun!«
Oben im Kontrollraum drückte der leitende Techniker auf einen anderen Knopf, und die gelbe Tonne wurde weiter gekippt, so dass mehr von dem silbernen Sand ins Wasserbecken rann. Die trübe graue Farbe erschien wieder und verdunkelte sich, während sich das Wasser abermals veränderte. Von außerhalb des Beckens, wo Jinn und Sabah standen, machte es den Eindruck, als hätte das Wasser zu sieden begonnen.
Im Beobachtungsraum erschien dieser Effekt erheblich verstärkt. Mustafa starrte auf die Acrylscheibe. Eine dunkle, plastische Masse, dunkel wie Oktopustinte, wallte auf. Sie erreichte die Scheibe und breitete sich wie eine Art Beschichtung darauf aus.
Mustafa erstarrte. Alhrama drängte sich an ihm vorbei und zerrte am Türknauf. »Lassen Sie mich raus!«, rief er. »Es war Mustafa. Ich war nicht daran beteiligt!«
Ein seltsam scharrender Laut ertönte. Der dunkle Film auf der Acrylglasscheibe wurde dunkler und verdickte sich zu einem Muster aus feinen Rissen. Die Risse verzweigten sich in der Acrylmasse und gruben sich an zwei Stellen tiefer ein, wie Mustafa erkennen konnte.
Hinzu kam ein Kratzen wie von Fingernägeln auf einer Wandtafel. Der Laut schien sich in Mustafas Gehirn zu fressen. Er konnte erkennen, wie das Acrylfenster vibrierte und das Wasser dahinter in Schwingung versetzte.
Es knirschte bedrohlich. Hinter ihm riss und zerrte Alhrama immer noch am Türknauf und flehte Jinn an, ihn freizulassen. Mustafa zitterte und sank auf die Knie.
»Nein!«, jammerte er. »Nein!«
Die Acrylscheibe barst. Sie gab nach, Wasser drang in den Raum und überflutete ihn. Mustafa versuchte, schwimmend ins Testbecken zu flüchten, aber der silberne Sand umschwärmte ihn, hüllte ihn ein, drang durch seine Kleidung, bohrte sich in seine Haut und ließ ihn wie einen Schmiedeamboss auf den Grund sinken.
Eine knappe Minute lang kämpfte er wie ein harpunierter Fisch, warf sich wie in Krämpfen hin und her, aber nicht sehr lange, und kurz darauf begann sich das Wasser blutrot zu färben. Alhrama, der hinter ihm ebenfalls um sein Leben kämpfte, erging es nicht besser.