29
Kurt Austin behielt die unbequeme Haltung, in der er gelandet war, solange er konnte bei. Selbst nachdem sich die Fahrzeuge entfernt hatten und das Brummen ihrer Motoren verstummt und nur noch das Summen der Fliegen im Brunnenschacht zu hören war, verhielt er sich völlig reglos.
Sie umschwirrten seinen Kopf, setzten sich hierhin und dorthin und summten wieder herum. Sogar wenn sie auf ihm landeten und über sein Gesicht krabbelten, gab sich Kurt die größte Mühe, nicht einmal zu zucken – für den Fall, dass ihn jemand beobachtete. Aber irgendwann musste er sich doch bewegen.
Nach einem prüfenden Blick auf die kreisrunde Öffnung hoch über ihm schob er einen Arm zur Seite, rollte sich langsam herum und richtete sich dann auf. Von dort gelangte er in eine sitzende Position und rutschte zentimeterweise nach hinten, bis er an der Schachtwand lehnte. Jede Bewegung löste neue Schmerzimpulse aus, und sobald er die Wand in seinem Rücken spürte, entschied er, für ein oder zwei Minuten sitzen zu bleiben und sich auszuruhen.
Er untersuchte sein Bein, das während der Schießerei von irgendetwas getroffen worden war. Aber er fand keine Einschusswunde und tippte auf ein Stück Schachtwand, das vielleicht von einem Querschläger abgesprengt und gegen sein Bein geschleudert worden war. Seine Schulter schmerzte nahezu unerträglich, ließ sich jedoch problemlos bewegen.
Er streckte einen Arm aus und schüttelte vorsichtig seinen Schicksalsgefährten.
Joe schlug die Augen halb auf – so wie jemand, der aus tiefem Schlaf erwacht. Er rührte sich, rutschte hin und her, knurrte halblaut und machte einen verwirrten Eindruck. Eine flüchtige Überprüfung seiner Umgebung lieferte ihm offenbar keine befriedigenden Aufschlüsse.
»Wo sind wir?«, fragte er.
»Erinnerst du dich nicht?«
»Das Letzte, woran ich mich erinnere, war, dass wir von einem Lastwagen gezogen wurden«, sagte er.
»Das war der Höhepunkt unserer Reise«, sagte Kurt und schaute hoch. »Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Joe richtete sich mühsam auf, was ihm anscheinend ebenso viele Schmerzen bereitete wie Kurt.
»Sind wir tot?«, fragte Joe. »Wenn wir es nämlich nicht sind, dann habe ich mich in meinem ganzen Leben nie schlechter gefühlt.«
Kurt schüttelte den Kopf. »Wir leben, zumindest vorläufig. Nur sitzen wir auf dem Grund eines Brunnens, leider ohne Seil und ohne Leiter oder irgendeine andere Möglichkeit, in die Freiheit zu gelangen.«
»Das ist gut«, sagte Joe. »Für einen Moment dachte ich schon, wir wären in Schwierigkeiten.«
Kurt Austin schaute sich um und bemerkte die anderen menschlichen Körper im Sand. Zwei von ihnen schienen schon eine Weile dort zu liegen. Der Gestank, den sie verströmten, war entsetzlich und reichte beinahe aus, ihn krampfhaft würgen zu lassen. Der dritte Körper gehörte dem Mann, den er kurz vorher über den Brunnenrand gestoßen hatte, ehe er selbst hineingeworfen wurde. Eine tiefe Wunde furchte die Stirn des Mannes. Sein Hals war grotesk verbogen. Und er rührte sich nicht.
Kurt wunderte sich, noch am Leben zu sein. »Ich denke, dass der Sandhügel und der Sturz mit den Füßen zuerst geholfen haben. Bei diesem Kerl da sieht es aus, als wäre er auf den Kopf gefallen.«
»Außerdem sind wir aus geringerer Höhe abgestürzt«, sagte Joe. »Zumindest gilt das für mich. Was ist mit den beiden anderen?«
»Keine Ahnung«, sagte Kurt und betrachtete die beiden Leichen, deren Gesichter und Hände mit Fliegen bedeckt waren. »Wahrscheinlich haben sie ihren Boss geärgert.«
»Wenn wir jemals die NUMA verlassen sollten«, sagte Joe Zavala, »dann erinnere mich daran, niemals für einen egomanischen Diktator, einen Verrückten oder einen gewalttätigen Kriminellen zu arbeiten. Deren Methoden der Konfliktbewältigung lassen einfach zu viel zu wünschen übrig.«
Kurt lachte und zuckte zusammen, als ein Schmerz wie von einem Messerstich durch seine Brust schnitt. »Oh, das tut weh«, sagte er und versuchte, das Lachen abzubrechen. »Bitte keine Witze mehr.«
Er blickte zu der engen Öffnung über ihnen. Ein Stück kreisrunder orangefarbener Himmel wartete darüber.
»Wir müssen irgendeine Möglichkeit finden, aus diesem Loch rauszukommen, sonst stehen wir als Nächste auf der Speisekarte der Fliegen. Glaubst du, dass du stehen kannst?«
Joe streckte die Beine. »Mein Knöchel ist ziemlich steif«, stellte er fest. »Aber ich denke, es wird schon gehen.«
Indem er sich an der Schachtwand abstützte, schaffte es Kurt, auf die Füße zu kommen. Für einen kurzen Moment war er benommen, und alles drehte sich um ihn, doch sein Blick klärte sich schnell. Er reichte Joe eine Hand und half ihm hoch. In dem knapp anderthalb Meter breiten Brunnenschacht reckten und streckten sie sich.
Es schien, als sei der Brunnen in Etappen gegraben worden. Der obere Teil war bis in eine Tiefe von etwa sechs Metern mit Lehmziegeln ausgekleidet. Darunter bestand die Wand bis zum Grund des Brunnens aus nacktem Erdreich.
»Meinst du, wir können hinausklettern?«, fragte Joe.
Kurt legte eine Hand auf einen Stein, der ein Stück aus der Schachtwand ragte, und übte ein wenig Druck darauf aus, um seine Stabilität zu testen. Er zerbröselte zu einem Schauer aus Sand und Geröll.
»Keine Chance.«
»Vielleicht können wir uns in dem Schacht verkeilen«, sagte Joe. »Und uns dann mit Hilfe unserer Hände und Füße nach oben schieben.«
Kurt streckte die Arme aus. Er konnte kaum die Wand auf beiden Seiten berühren. »Wir schaffen es niemals, genug Reibung zu erzeugen, um auf diese Art und Weise hochzusteigen.«
Er blickte sich um. Abgesehen von den drei Leichen schien der Brunnen als Mülldeponie zu dienen. Leere Konservendosen, Plastikflaschen und sogar ein abgefahrener Autoreifen lagen herum. Dazwischen kleine Knochen. Kurt vermutete, dass sie von Tieren stammten, die in den Brunnen gestürzt waren. Oder es waren die Reste von Mahlzeiten, die man im Brunnen entsorgt hatte.
Kurt betrachtete den Autoreifen, die Schachtwand und dann die drei Toten.
»Ich habe eine Idee«, sagte er schließlich.
Er filzte die Kleidung des Mannes, den er über den Brunnenrand gestoßen hatte, und förderte ein Messer, eine Pistole, die wie eine Luger aussah, und ein kompaktes Fernglas zutage.
Am Gürtel des Mannes hing außerdem eine Feldflasche. Sie war zu drei Vierteln leer. Er trank einen Schluck, eigentlich nicht mehr als einen Mund voll, und reichte sie Joe.
»Auf dein Wohl.«
Joe trank den anderen Schluck, während Kurt den Müll beiseiteräumte und den alten Reifen aus dem Sand ausgrub.
»Räumst du hier mal auf, um uns den Aufenthalt zu verschönern?«, fragte Joe.
»Sehr lustig.«
Er ging neben den anderen Toten in die Hocke, hielt die Luft an und verscheuchte die Fliegen. Dann band er den Strick los, mit dem die Toten aneinandergefesselt waren. »Den brauchen wir.«
»Ich nehme nicht an, dass sie auch einen Enterhaken bei sich hatten?«
»Nein«, sagte Kurt. »Aber den brauchen wir auch gar nicht.«
Er stapelte die Leichen in der Mitte des Brunnens aufeinander.
»Setz dich«, sagte Kurt dann.
»Auf die Toten?«
»Ich habe den frischen nach oben gelegt«, sagte Kurt.
Joe zögerte.
»Sie sind tot«, erinnerte ihn Kurt. »Was macht es ihnen aus?«
Schließlich ließ sich Joe nieder. Kurt hob den schmalen Reifen hoch und lehnte ihn hochkant gegen Joes Rücken, als legte er einen Kranz nieder. Als Nächstes setzte er sich mit dem Rücken zum Reifen und zu Joe ebenfalls auf die makabre Sitzbank.
»Stemm die Füße gegen die Wand und drück.«
Während Joe ihm den Wunsch erfüllte, spürte Kurt, wie der Reifen gegen seinen Rücken gepresst wurde. Er stemmte auf seiner Seite ebenfalls die Füße gegen die Schachtwand und streckte die Beine. Der Reifen zwischen ihm und Joe wurde leicht zusammengestaucht. Er spürte eine Menge Druck auf seinem Rücken und auf den Füßen, Druck, mit dessen Hilfe sie sich im Brunnenschacht verkeilen und aufwärtsschieben konnten, wobei seine Knie nicht ganz gestreckt waren und er den Druck noch erheblich steigern konnte.
»Spann die Bauchmuskeln an und lass uns versuchen, ob wir es auf diese Weise schaffen können«, sagte er.
Während Joe sich streckte und den Druck erhöhte, tat Kurt das Gleiche. Er spürte den Druck in seinem Rücken, sowohl oben wie unten, wo der Reifen auflag. Mit wenig Mühe kamen sie von dem Leichenstapel hoch.
»Das könnte tatsächlich funktionieren«, stellte Joe fest.
»Erst du, dann ich«, erklärte Kurt. »Immer nur mit einem Fuß.«
Als Joe seinen Fuß das erste Mal bewegte, kippten sie zur Seite und stürzten beinahe ab. Sie fingen sich wieder, dann verstärkte Kurt den Druck auf seinem linken Fuß und stemmte sie etwa zwanzig Zentimeter höher. Schnell brachte er den rechten Fuß in eine neue Position.
Joes nächste Aktion war kontrollierter, und schon bald rutschten sie Stück für Stück höher. Dabei kamen sie zwar nicht sehr schnell, aber immerhin stetig voran.
»Ich habe völlig vergessen, dir noch etwas zu erzählen«, sagte Joe vor Anstrengung keuchend, aber offenbar von dem Drang beseelt, sich in diesem Moment mitzuteilen. »Bevor wir aus dem Verkehr gezogen wurden, konnte ich noch den Blick auf eine Karte werfen, auf der Meeresströmungen und Windrichtungen eingezeichnet waren. Sie zeigte den Persischen Golf, das Arabische Meer und den halben Indischen Ozean.«
Er und Kurt stemmten sich gleichzeitig nach oben, schafften gut fünfzehn Zentimeter und brachten ihre Füße nacheinander in die neue Position.
»War irgendetwas Ungewöhnliches auf der Karte zu sehen?«, fragte Kurt, dessen Worte wegen der Anspannung seines Zwerchfells kaum zu verstehen waren.
»Ich … hatte … zu wenig Zeit … um einen genaueren Blick darauf zu werfen«, antwortete Joe. »Aber es bringt mich … auf einen Gedanken.«
Sie schafften das nächste kleine Teilstück.
»Und auf welchen?«, fragte Kurt knapp, um Atem zu sparen.
»Wenn Jinn diese verdammten kleinen Biester benutzt … um irgendeinen Damm zu zerstören … warum haben wir sie dann im Indischen Ozean gefunden … eintausend Meilen vom Festland entfernt?«
Kurt wälzte diesen Gedanken in einem entlegenen Teil seines Gehirns hin und her, während er sich im Wesentlichen auf ihre augenblickliche Aufgabe konzentrierte. »Gute Frage«, sagte er. »Dämme stauen Flüsse auf … Flüsse münden ins Meer … Vielleicht wurden die kleinen Roboter am Ende rein zufällig in den Ozean geschwemmt.«
Er suchte nach Flüssen mit Staudämmen, die in den Indischen Ozean oder den Persischen Golf mündeten, doch ihm fiel nichts dergleichen ein.
Sie hielten in ihrer Kletterpartie für einen Moment inne.
»So oder so«, sagte Kurt, »wir müssen es schaffen, von hier zu verschwinden. Was immer dieser Irre im Schilde führt, es würde jedem schaden – außer ihm selbst.«
Mittlerweile hatten sie den oberen Abschnitt mit der Lehmziegelverkleidung erreicht. Ihre Konversation versiegte, weil das Vorankommen jetzt schwieriger wurde.
Kurts Rücken schmerzte, und seine Bauch- und Beinmuskeln begannen zu brennen. Er biss die Zähne zusammen und kletterte weiter.
»Kannst du noch?«
»Klar«, knurrte Joe. »Aber ich möchte nicht noch einmal von vorn anfangen.«
Kurt blickte nach unten. Sein Fuß rutschte ein paar Zentimeter ab, doch er hielt ihn auf, indem er das Bein streckte. Er konnte sehen, wie es zu zittern begann, als sich ein Wadenkrampf ankündigte.
»Noch anderthalb Meter«, sagte er keuchend. »Dann kann Teil zwei des Plans … in Angriff genommen werden.«
»Was ist, wenn unsere Freunde immer noch da oben lauern?«, fragte Joe.
»Seit die Wagen verschwunden sind, habe ich kein verdächtiges Geräusch mehr gehört.«
»Und wenn sie einen Wächter zurückgelassen haben?«
»Dafür habe ich die Pistole.«
Sie schafften weitere dreißig Zentimeter, und Kurts Gesicht tauchte ins Licht der Spätnachmittagssonne.
Dreißig Zentimeter unterhalb der Brunnenöffnung war plötzlich ein seltsamer Laut zu hören: ein schrilles Pfeifen, das von den Lehmziegeln widerhallte.
»Hörst du das?«, fragte Joe.
»Ich überlege, was das sein könnte«, sagte Kurt.
Das Pfeifen wurde von Sekunde zu Sekunde lauter, und dann glitt genau über ihnen ein riesiger Schatten vorbei. Kurt sah den Bauch eines großen grau-weißen Flugzeugs vorbeirasen, Landeklappen und Vorflügel gespreizt wie das Gefieder von Vogelschwingen, das sechsrädrige Fahrwerk ausgefahren und vorgestreckt wie die Klauen eines Adlers, der im Begriff war, auf einem Ast zu landen.
»Was war das?« Joe reckte den Hals.
»Irgendein Düsenjet«, sagte Kurt.
Er konnte nicht mehr als dreißig Meter hoch gewesen sein, als er über die Brunnenöffnung hinweggerast war – und dürfte nicht länger als ein, höchstens zwei Sekunden zu sehen gewesen sein. Aber in diesem kurzen Moment waren Kurt seine seltsamen Umrisse aufgefallen.
»Ich hatte keine Ahnung, dass wir uns am Ende einer Rollbahn befinden«, sagte Joe. »Ich würde es hassen, im falschen Moment herauszuspringen und von einer 747 niedergewalzt zu werden.«
Während er das Lachen unterdrückte, das in ihm aufwallte, stemmte sich Kurt weiter hoch, bis sich ihre Köpfe mit dem Brunnenrand fast in gleicher Höhe befanden.
Er konnte deutlich spüren, wie der Milchsäureanteil in seinen Waden und Oberschenkeln rapide zunahm, und obgleich nur eine geringe Gefahr bestand, dass sich seine Muskeln verkrampften oder den Dienst quittierten, hatte er doch das Gefühl, dass sie sich beeilen müssten. Seine Bauchmuskeln glühten von der Anstrengung, den Rücken gegen den Reifen zu pressen. Er kam sich vor, als hätte er einhundert Rückenpressen mit einem fünfzehn Pfund schweren Medizinball vor der Brust ausgeführt.
Er zog die 9-mm-Pistole aus der Tasche und entsicherte sie.
»Jetzt ganz langsam«, flüsterte er.
Joe setzte die Füße um, dann Kurt, und sie überwanden die letzten fünfzehn Zentimeter. Kurt hob die Pistole und streckte den Hals, damit er über den Brunnenrand schauen konnte. Von einem Wächter war keine Spur zu sehen.
»Alles klar«, meldete er.
»Auf meiner Seite ebenfalls«, sagte Joe. »Was nun?«
Kurt warf die Pistole über den Rand der Brunnenmauer und zog den Strick unter seinem Hemd hervor. Er ließ ihn durch seine Hände wandern, bis er die Länge hatte, die er brauchte.
Mit je einem Ende des Stricks in den Händen erhielt er eine halbe Schlinge von etwa anderthalb Metern Umfang. Mit einer knappen Handbewegung – und indem er den Arm gleichzeitig streckte – versetzte er den Strick in Schwingung. Der mittlere Teil der Schlinge bildete ein großes U und legte sich elegant über den Eisenbügel in der Brunnenmauer.
Kurt zog die Enden des Stricks nach unten, damit die Schlinge nicht von dem Eisenbügel abrutschte.
Indem er darauf achtete, dass er sich nicht verdrehte, reichte er Joe ein Ende des Stricks. »Nimm es in beide Hände und halt es fest.«
Kurt zog seinen Teil stramm, zog ihn dann unter den Armen hindurch, legte ihn um seinen Trizeps und danach zwei Mal um die Hand. Joe folgte seinem Beispiel.
»Hast du den Strick sicher in der Hand?«
»Als sei es ein Lotterielos mit dem Hauptgewinn«, versicherte ihm Joe.
»Gut«, erwiderte Kurt, »denn du weißt ja, was geschehen wird, wenn wir unseren Armen eine Pause gönnen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Joe. »Wie alles andere, woran du beteiligt bist, wird es schmerzhaft.«
»Wer gewinnen will, muss leiden«, sagte Kurt. »Diesmal ist die Freiheit unser Siegespreis. Bereit?«
»Bereit.«
Kurt spannte die Arme.
»Drei … zwei … eins … los!«
Nahezu gleichzeitig zogen beide Männer am Strick und entspannten Beine und Bauchmuskeln. Der Strick straffte sich um den Eisenbügel. Der Reifen rutschte zwischen ihnen abwärts, und sie schwangen nach vorn, prallten gegen die Wand des Brunnenschachts und baumelten knapp einen Meter unter dem Brunnenrand.
Der Reifen schlug geräuschvoll auf dem Grund des Brunnens auf, während Kurt und Joe unter der Brunnenöffnung hingen.
»Wir müssen alles, was nun kommt, absolut gleichzeitig in Angriff nehmen«, sagte Kurt, »sonst landet einer von uns gleich wieder im Keller.«
Seite an Seite zogen sie sich Arm über Arm hoch, bis sie den Eisenbügel ergreifen konnten. Er versengte beinahe ihre Hände, wie Kurt es schon vorher hatte ertragen müssen, aber sie hielten sich tapfer fest, zogen sich hoch und kletterten über die niedrige Brunnenmauer.
Kurt schlug mit dem Gesicht zuerst im Sand auf und war verdammt froh darüber. Joe landete neben ihm.
Heftig atmend und einen kurzen Moment der Ruhe auskostend, spürte Kurt, wie seine Beine zitterten. Es schien, als wären sie tagelang in dem Brunnen gefangen gewesen. Er warf einen Blick auf sein Handgelenk. Seine Uhr befand sich noch immer bei dem Wächter in Malé.
Er streckte der untergehenden Sonne eine Hand entgegen.
»Was tust du?«, wollte Joe wissen.
»Ich versuche, eine Sonnenuhr zu kopieren.« Doch er gab auf. »Wie spät ist es?«
»Viertel vor sieben«, sagte Joe. »Das muss ein neuer Rekord sein. Zum Sterben verurteilt und wieder voll einsatzbereit in weniger als einer Stunde.«
Ein weiterer Düsenjet kam mit schrillem Pfeifen über die Wüste auf sie zu, während sie im Sand saßen und nach Luft rangen. Er war mit gleichem Kurs unterwegs, befand sich im Sinkflug und wurde immer lauter, je näher er kam.
Auf Grund eines natürlichen Fluchtinstinkts duckten sich beide Männer und pressten sich gegen die niedrige Begrenzungsmauer des Brunnens.
Die Mühe hätten sie sich sparen können. Ein Düsenjet, der sich mit einhundertfünfzig Knoten im Landeanflug befand, erforderte die ungeteilte Aufmerksamkeit des Piloten, der sich ausschließlich auf die Landebahn und den Aufsetzpunkt vor der Maschine konzentrierte. Die Chance, dass sich dieser Pilot von irgendwelchen unwichtigen Objekten auf dem Boden ablenken ließ, war gleich null.
Andererseits durfte man nicht vergessen, dass es gelegentlich ungewöhnlich aufmerksame Passagiere gab.
Der zweite Jet raste genauso über ihre Köpfe hinweg wie der erste, nur diesmal ein wenig höher. Kurt bemerkte die gleichen seltsamen Merkmale: ein ungewöhnlich geformter Rumpf, zwei große Jetmotoren weit oberhalb des Rumpfs dicht vor dem Schwanzleitwerk, ein kantiger Tragflächenabschnitt. Die Maschine sah aus wie eine DC-9 oder eine Super 80 oder eine Gulfstream G5 auf Stereoiden, nach einer falschen Montageanleitung und mit einigen nicht serienmäßigen Zusatzteilen zusammengebaut.
»Der gleiche Typ«, sagte Kurt. »Ich finde, die Maschine sieht russisch aus.«
»Stimmt«, gab Joe ihm recht. »Vielleicht war es sogar dieselbe Maschine bei einem zweiten Überflug.«
Der grau-weiße Jet sank tiefer und tiefer, als wollte er landen. Hinter einer Sanddüne geriet er außer Sicht, dann hörten sie, wie er aufsetzte.
Der Lärm der Motoren wurde für einen Moment leiser, danach heulten sie auf, dröhnten für etwa fünfzehn Sekunden über die Wüste, ehe sie verstummten.
»Klingt das in deinen Ohren wie Schubumkehr?«
»Genau«, bestätigte Joe. »Ich denke, der Adler ist gelandet.«
»Und ich denke, dass wir soeben unsere Fluchtmöglichkeit gefunden haben«, sagte Kurt.
Joe musterte ihn von der Seite.
»Auf keinem der Satellitenfotos war etwas von irgendeinem Flugzeug zu sehen, das hier draußen parkt«, erklärte Kurt, »das bedeutet, dass diese Maschine nicht den ganzen Tag hier herumstehen wird, um in der Sonne zu braten. Sie wird ihre Fracht abladen und dann kehrtmachen und noch vor Sonnenaufgang irgendein Ziel anfliegen.«
»Klar«, sagte Joe. »Aber da drüben ist nicht Terminal One auf dem Dulles Airport. Wir können kaum zu irgendeinem Schalter gehen und ein Ticket lösen.«
»Nein«, sagte Kurt, »aber wir können uns im Schutz der Dunkelheit hineinschleichen. Uns werden sie ganz sicher nicht erwarten.«
»Aber nur, weil wir verrückt wären, wenn wir versuchen würden, was du vorschlägst.«
»Wir haben kein Wasser«, sagte Kurt. »Kein GPS. Und keine Ahnung, wie wir den VV ohne GPS finden sollen. Daher bleibt nur eine Möglichkeit: Wenn wir nicht durch die Wüste irren und auf unser höchst unsicheres Glück vertrauen wollen, müssen wir uns wieder in die Höhle des Löwen wagen.«
Joe schien hin- und hergerissen zu sein, gab aber schließlich nach. »Du verwirrst mich mit diesen tierischen Metaphern«, sagte er. »Ich hatte gedacht, es sei ein Kaninchenbau.«
»Er hat sich verändert, als wir geschnappt wurden«, sagte Kurt. »Diese Typen sind um einiges gefährlicher als jedes Kaninchen.«
»Bis auf das in dem Monty-Python-Film«, sagte Joe.
»Du meinst Die Ritter der Kokosnuss?«
»Genau den.«
»Richtig«, sagte Kurt, rief sich den Film ins Gedächtnis und bemühte sich, nicht zu lachen, da es seinen ramponierten Rippen und seiner ausgetrockneten Kehle nicht guttun würde.
»So wie ich es sehe, können wir es uns aussuchen«, sagte er. »Wir können entweder wegrennen wie Sir Robin. Oder wir schleichen uns zurück in ihre Basis, verstecken uns in einem dieser Jets und verlassen diese Gegend, ehe wir verdursten und zu einem Haufen Staub und Knochen austrocknen.«
Joe räusperte sich. »Ich bin wirklich verdammt durstig.«
»Das bin ich auch«, bekannte Kurt.
Joe atmete tief durch. Er streckte die Hand aus, grub die Pistole aus dem Sand und reichte sie Kurt. »Dann nichts wie los, edler Ritter«, sagte er. »Ich bezweifle zwar, dass wir da unten den Heiligen Gral finden werden, aber von hier wegzukommen – oder mindestens ein gut bestückter Getränkestand – würde mir schon reichen.«