31

Ein weiteres Mal ausgestreckt im Sand liegend, spähte Kurt Austin durch die hereinbrechende Dunkelheit zu einem ausgetrockneten Flussbett hinüber, das sich auf einem weitgehend ebenen Wüstenboden befand. Eine halbe Meile von ihnen entfernt parkten die beiden seltsam aussehenden Düsenjets, die kurz vorher über sie hinweggeflogen waren, sowie eine Maschine desselben Typs, von deren Anflug und Landung sie nichts mitbekommen hatten. Alle drei standen auf der rechten Seite dessen, was offenbar als Start- und Landebahn benutzt wurde.

Aus einer Brusttasche holte er das Kompaktfernglas, das er Jinns totem Wächter auf dem Grund des stillgelegten Brunnens abgenommen hatte. Er schüttelte ein paar Sandkörner von den Linsen und setzte es an die Augen.

»Du hattest recht«, sagte er. »Das ist hier nicht gerade der JFK. Eher fühle ich mich an Edwards Air Force Base draußen in Kalifornien erinnert.«

»Die haben sogar einen ganzen ausgetrockneten See als Rollbahn«, erwiderte Joe, »aber was zum Teufel treiben die da unten?«

Kurt beobachtete, wie Jinns Männer aus Erdlöchern herauskletterten, als seien sie wütende Ameisen. Völlig planlos rannten sie um die drei Flugzeuge herum. In der Nähe standen einige Lastwagen mit laufenden Motoren, aus deren Auspuffrohren dicker Dieselqualm aufstieg. Drei Gabelstapler bewegten umfangreiche Ladungen von Ausrüstungsteilen, und ein Tanklaster schob sich im Schneckentempo aus einem Tunnel in der Felswand.

Joes Vergleich mit einer Ameisenfarm erschien von Minute zu Minute treffender.

»Sie müssen überall Rampen und Tunnel angelegt haben«, sagte Kurt und verfolgte, wie einige Männer praktisch aus dem Nichts auftauchten und genauso schnell wieder verschwanden.

»Kannst du erkennen, um was es da eigentlich geht?«, fragte Joe.

Kurt sah, wie sich breite Frachtklappen an den Hecks der Flugzeuge öffneten, aber nichts kam heraus.

»Sie sind gar nicht hier, um etwas abzuladen«, sagte Kurt. »Sie laden ein. Die Piloten unterhalten sich mit einer Art Lademeister.«

»Dann ist heute der Umzugstag.«

»Oder D-Day«, sagte Kurt.

»Kannst du die Luftfahrzeugkennzeichen am Schwanzleitwerk der Maschinen erkennen?«, fragte Joe. »Die Nummern könnten uns ein gutes Stück weiterhelfen.«

Da die Sonne bereits untergegangen war und das Tageslicht schnell verblasste, richtete Kurt das Fernglas auf das nächste Flugzeug und kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können.

»Weißes Heckleitwerk«, sagte er. »Keinerlei Markierungen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass sie in Russland gebaut wurden.«

»Kannst du den Flugzeugtyp identifizieren?«

»Mir kommen sie erheblich modifiziert vor. Sie haben die sechsrädrigen Landefahrwerke einer An-70, eine große Heckrampe wie eine C-130 oder andere militärische Transporter. Aber die äußere Form ist etwas völlig anderes, sie sehen fast so aus wie …«

Und schlagartig fiel es Kurt ein. Er hatte diese seltsam geformten Flugzeuge zwei Jahre zuvor im Sommer in Portugal gesehen, wo sie zum Löschen von Waldbränden eingesetzt worden waren. »Es sind modifizierte Altairs«, sagte er. »Berijew Be-200er. Düsengetriebene Flugboote. Sie gehen aufs Wasser runter, nehmen tausend Gallonen davon auf, starten durch und lassen sie über einem Waldbrand ab.«

Diese Neuigkeit schien Joe erst recht zu verblüffen. »Was will Jinn mit einem Löschflugzeug, das auf Wasser landen kann? Hier draußen gibt es nicht viel, das in Brand geraten könnte, und ausreichend Wasser, um einen Brand zu löschen – falls es überhaupt dazu kommen sollte –, findet man hier genauso wenig.«

Während Kurt verfolgte, wie der Tanklaster dicht an das erste Flugzeug heranfuhr, glaubte er, das Prinzip zu verstehen. »So schaffen sie die Mikroroboter ins Meer«, sagte er.

»In den Löschwassertanks«, sagte Joe.

Kurt nickte. »Eben erst wurde ein Tanklaster an eins der Flugzeuge angeschlossen, aber falls der Tankstutzen nicht bewusst an der falschen Stelle angebracht wurde, wird jetzt kein Jet A oder JP-4 eingefüllt.«

»Demnach sind sie gar nicht von hier aus ins Meer gespült worden oder durch einen unglücklichen Zufall ins Freie gelangt«, sagte Joe. »Aber was hatte dann das Staudammmodell zu bedeuten?«

Kurt reichte Joe das Fernglas. »Sieh dir mal diese Lastwagenschlange an.«

Joe setzte das Fernglas an die Augen. »Ich sehe gelbe Tonnen auf Holzpaletten«, sagte er.

»Kommen sie dir vertraut vor?«

Joe nickte. Er richtete das Fernglas wieder auf das Flugzeug. »Ich kann nicht erkennen, dass welche von ihnen in die Flugzeuge wandern. Sieht eher so aus, als ob sie Waffen und Munition in die nächste Maschine einladen, und ich glaube, ich sehe auch zwei verstärkte Zodiacs, wie die SEAL-Teams sie benutzen, um an ihren jeweiligen Einsatzort zu kommen.«

»Das klingt, als ob unsere Freunde nach irgendwo unterwegs sind, wo es ein wenig nasser ist als hier«, sagte Kurt. »Was an sich keine schlechte Idee ist.«

Joe gab Kurt das Fernglas zurück. »Sieh mal nach, ob du da unten irgendwo einen Wasserbrunnen sehen kannst.«

»Tut mir leid, Partner«, erwiderte Kurt. »Ich denke, wir sind gerade erst aus dem einzigen Wasserbrunnen in dieser Gegend entkommen. Und der ist außer Betrieb.«

»Genau wie diese Dinger in den Einkaufszentren«, sagte Joe und versuchte, seine Kehle von dem Staub und dem Sand, den sie eingeatmet hatten, frei zu räuspern. Kurt bemühte sich, nicht an den Durst zu denken, der sich mittlerweile quälend bemerkbar machte, oder an das trockene, verkrustete Gefühl in seiner Kehle.

»Ich frage mich«, sagte Kurt, »ob wir nicht die falschen Punkte miteinander verbinden. Vielleicht hat der Modelldamm, den sie zerstört haben, gar nichts mit der aktuellen Darstellung zu tun, die du im Zeichenraum gesehen hast, oder mit dem, was im Indischen Ozean abläuft.«

»Also zwei Ziele?«

Kurt nickte. »Zwei verschiedene Transportmethoden. Zwei unterschiedliche Weisen, diese Mikroroboter von Ort zu Ort zu bringen. Vielleicht haben sie da unten zwei verschiedene Operationen gestartet.«

»Haben wir möglicherweise unseren leicht wahnsinnigen kleinen Freund unterschätzt?«

»Schon möglich«, erwiderte Kurt.

»Was hast du jetzt vor?«

»Ursprünglich wollte ich eine Maschine erwischen, die uns von hier wegbringt«, sagte Kurt, »aber nun, da wir uns offensichtlich die Transportmöglichkeiten aussuchen können – was schlägst du vor, Lastwagen oder Flugzeug?«

»Lastwagen«, sagte Joe.

»Wirklich?« Kurt war überrascht. »Flugzeuge sind doch schneller. Und wir beide können fliegen.«

»Nicht diese Maschinen.«

»Die sind doch alle gleich«, meinte Kurt.

Joe schürzte die Lippen. »Hast du dir eigentlich jemals klargemacht, in welche Schwierigkeiten uns dein ewiger Optimismus schon gebracht hat und immer wieder bringt?«, fragte er. »Sie sind eben NICHT alle gleich. Und selbst wenn sie es wären, wo willst du hin, wenn du die Maschine wirklich unter deine Kontrolle bringen kannst? Wir befinden uns hier im Mittleren Osten. Flugzeugen, die ohne offizielle Erlaubnis Landesgrenzen überqueren, ist hier kein langes Leben beschieden. Die Saudis, die Israelis, die Seventh Fleet, jeder könnte uns vom Himmel holen, ehe wir auch nur ein Wort der Erklärung hervorbringen, weshalb wir ihre jeweilige Flugverbotszone verletzt haben.«

Kurt hasste es, das zugeben zu müssen, aber Joe hatte nicht ganz unrecht.

»Außerdem«, fügte Joe hinzu, »könnten diese Flugzeuge an einem noch viel schlimmeren Ort landen als diesem. Lastwagen hingegen müssen sich an feste Straßen halten und in Zivilisationsnähe bleiben. Hier gibt es nun mal nur wenige Straßen, die ein Lastwagen benutzen, und wenige Orte, wo er hinfahren kann. Ich denke also, wir sollten wirklich einsteigen.«

»Hinten?«, fragte Kurt. »Wo zehn Millionen Fressmaschinen auf uns warten?«

Joe nahm Kurt das Fernglas aus der Hand und richtete es auf die Tonnen neben den aufgereihten Planenlastern. »Aus der Art und Weise, wie Jinns Männer respektvollen Abstand zu den Tonnen wahren, schließe ich, dass sie zumindest eine Ahnung von dem haben, was sich in den Behältern befindet. Das kommt uns zugute. Es hält sie fern und verringert damit die Gefahr, dass wir entdeckt und wieder in diesen Brunnen geworfen werden.«

Kurt enthielt sich eines Kommentars.

»Und«, fügte Joe hinzu, da er wahrscheinlich spürte, dass sein Sieg in greifbare Nähe gerückt war, »wenn wir in den Lastwagen entdeckt werden, können wir abspringen und flüchten. In dreißigtausend Fuß Höhe über Grund dürfte das ein wenig schwierig sein.«

Kurt konnte sich nicht erinnern, wann Joe ihm das letzte Mal so überzeugend widersprochen hatte. »Du hast mich überredet.«

»Tatsächlich?«

»Wo du recht hast, hast du recht«, sagte Kurt Austin, schnippte ein wenig Staub von seiner Uniform und strich sie glatt. »Und in diesem Fall hast du den Nagel auf den Kopf getroffen, mein Freund.«

Joe grinste selbstzufrieden und reichte Kurt das Fernglas. Dann zupfte und strich er ebenfalls an seiner Uniform herum, damit sie ein wenig präsentabler aussah.

»Können wir?«

Kurt verstaute das Fernglas in seiner Brusttasche. »Wir können.«

Während sich der Himmel weiter verdunkelte und über der Wüste eine mondlose Nacht anbrach, wurden das Beladen und die Wartung der russischen Maschinen fortgesetzt. Um für mehr Licht zu sorgen, waren einige Punktstrahler aufgestellt und die Fernlichter mehrerer Jeeps und Humvees eingeschaltet worden.

Die ungünstigen Lichtverhältnisse machten es für Kurt und Joe ziemlich einfach, sich dem Zentrum der allgemeinen Aktivität zu nähern, da die Männer in der erleuchteten Zone geblendet und daher für das, was sich aus der nachtdunklen Wüste näherte, völlig blind waren.

Während sie auf den Arbeitsbereich zumarschierten, zogen Kurt und Joe ihre Kufiyas hoch, um ihre Gesichter und Köpfe zu verhüllen. Abgesehen davon, dass sie einen schmuddeligen und ungepflegten Eindruck machten, entsprachen ihre Uniformen aber durchaus denen jener Männer, die mit dem Beladen der russischen Maschinen beschäftigt waren.

»Schnapp dir einfach irgendwas«, flüsterte Joe und hob eine kleine Kiste voller Ausrüstungsteile hoch. »Jeder macht einen offiziellen Eindruck, wenn er etwas schleppt und ein zügiges Gehtempo vorlegt.«

Kurt folgte seinem Beispiel, und die beiden stürzten sich mitten ins Gewimmel, ohne misstrauische Blicke auf sich zu ziehen. Sie wurden sicherer und bemühten sich, nicht aufzufallen.

Kurt entdeckte eine Reihe gelber Tonnen. Nur noch ein Dutzend von etwa sechzig waren übrig.

Er deutete darauf, und die beiden Männer schlugen diese Richtung ein. Während sie sich ihrem Ziel näherten, rief ihnen jemand etwas auf Arabisch zu.

Kurt wandte sich um und sah den bärtigen Mann namens Sabah in der Nähe der aufgereihten Lastwagen stehen. Kurt verstand einige Worte. Es ging um Arbeiter, die zu faul seien.

Sabah deutete in eine Richtung und rief ihnen abermals etwas zu, dann gab er ihnen mit der Hand ein Zeichen. Offenbar bezog es sich auf einen unbenutzten Gabelstapler.

Kurt winkte zur Bestätigung und ging auf das Fahrzeug zu.

»Ich glaube, er will, dass wir uns den Stapler holen.«

Joe folgte ihm. »Hast du eine Ahnung, wie man so ein Ding lenkt?«

»Ich habe ein oder zwei Mal zugesehen, wie es gemacht wird«, sagte Kurt. »Was soll daran schwierig sein?«

Joe hatte ernsthafte Bedenken, begleitete Kurt jedoch zu dem grauen und orangefarbenen Fahrzeug. Er blieb abwartend stehen, während Kurt in das vierrädrige Fahrzeug einstieg und versuchte, sich mit den Bedienelementen vertraut zu machen.

Sabah erhob wieder die Stimme.

»Du solltest wenigstens den Motor starten«, flüsterte Joe Zavala.

Kurt Austin fand den Zündschlüssel und drehte ihn. Der Motor sprang rumpelnd an.

»Steig auf«, sagte Kurt.

Joe schwang sich auf ein Trittbrett und hielt sich an einer Strebe fest, so wie ein Feuerwehrmann auf einem Leiterwagen aus alten Zeiten.

Kurt sah das Kupplungspedal und den Schalthebel. Das Fahrzeug hatte drei Gänge: langsam, schnell und rückwärts. Kurt trat auf die Kupplung, legte den langsamen Gang ein und gab behutsam Gas.

Nichts geschah.

»Wir bewegen uns nicht«, flüsterte Joe.

»Das merke ich auch.«

Kurt ließ die Kupplung ein wenig kommen und trat stärker aufs Gaspedal. Der Motor heulte auf, das Getriebe knirschte, und das schwere Fahrzeug ruckte nach vorn wie ein Fahrschulwagen, der von einem blutigen Fahranfänger gelenkt wird.

»Sacht«, sagte Joe.

»Ich dachte, das war sacht«, erwiderte Kurt.

Sabah winkte jetzt ungeduldig und deutete auf den Stapel gelber Behälter, von denen jeder auf einer separaten Palette stand.

Kurt bog dorthin ab. Vor ihm hievte einer der anderen Gabelstapler eine Palette mit einer der gelben Tonnen hoch. Gleichzeitig befestigte ein zweiter Arbeiter die Tonne mit einem Stahlkabel am Gabelträger. Offenbar wollte niemand das Risiko eingehen, dass der Inhalt dieser Fässer verschüttet wurde.

Der Gabelstapler setzte zurück und entfernte sich dann mit dem Arbeiter auf der Lastgabel.

»Das ist dein Job«, sagte Kurt Austin.

»Habe ich mir fast gedacht.«

»Besorg uns schon mal ein Stahlseil.«

Joe fand eins, das am Schutzdachrahmen des Gabelstaplers bereithing. Er hängte es ab und sprang auf den Wüstenboden hinunter.

Während Joe auf die gelben Tonnen zuging, mühte sich Kurt mit der Bedienung der schweren Maschine ab. Er reihte sich ein und rollte vorwärts. Gleichzeitig ergriff er den Kontrollhebel der Lastgabel, um sie abzusenken. Sie bewegte sich jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Die Gabelzinken stiegen hoch und drohten, die Tonne aufzuspießen.

Er trat auf die Bremse, und der Gabelstapler stoppte abrupt.

Während er die Lastgabel sinken ließ, fiel Kurts Blick auf Joe. Dessen Augen waren weit aufgerissen. Kurt konnte es ihm nicht verdenken. Als sich die Lastgabel in der richtigen Höhe und im richtigen Winkel befand, rollte Kurt mit seinem Fahrzeug zentimeterweise vorwärts und hob die Palette hoch.

Joe stieg auf die Lastgabel, sicherte die Tonne mit dem Stahlseil und gab Kurt mit dem Daumen das Okay-Zeichen.

Behutsam setzte Kurt zurück und wendete. Als er wieder in den Vorwärtsgang schaltete, stellte er fest, dass die Maschine mit Joe und dem gelben Fass auf dem Hubgeschirr viel besser ausbalanciert war.

Er rollte langsam an der Lastwagenschlange entlang und folgte dabei dem anderen Gabelstapler.

Die Warteschlange bestand aus insgesamt fünf Lastwagen. Bei allen handelte es sich um Pritschenwagen mit wasserdichter Abdeckplane, die über Metallrippen gespannt war. Es sah so aus, als sei die Ladung des ersten Lasters komplett und als würde die Plane soeben geschlossen werden. Die anderen wurden noch beladen.

Sabah deutete auf den letzten Wagen in der Schlange, und Kurt lenkte den Gabelstapler dorthin. Er bugsierte die Maschine vor die hintere Stoßstange und ließ die Lastgabel hochsteigen. Als sie sich in Höhe der Ladefläche des Lasters befand, löste Joe die Sicherung der Tonne und schob sie vorsichtig nach vorn, bis die gesamte Palette auf einem Satz Rollen stand, die sich in Schienen auf der Ladefläche des Lasters vor und zurück bewegen ließen.

Er schob die Tonne in ihre vorgesehene Position und sicherte sie ebenso, wie die anderen Tonnen gesichert worden waren. Danach kehrte Joe auf seinen Platz auf der Lastgabel zurück.

»Dir ist doch sicher klar, dass man dies als Beihilfe betrachten kann«, sagte er, während Kurt Austin den Gabelstapler zum Sammelplatz zurücklenkte.

»Wir brauchen es ja nicht in unserem Bericht zu erwähnen«, sagte Kurt, »und lassen es einfach aus Schlampigkeit weg.«

»Gute Idee. So was kann jedem passieren.«

»Genau«, sagte Kurt. »Wenn wir die letzte Tonne aufgeladen haben, bleibst du auf der Ladefläche. Ich parke dieses Ding irgendwo und komme zu dir, wenn gerade niemand hinschaut.«

Es klang wie ein guter Plan und schien auch zu funktionieren. Bis zu dem Moment jedenfalls, als sie bereit waren, ihn in die Tat umzusetzen.

Während sie darauf warteten, die letzte Tonne auf die Gabel zu nehmen, kamen Jinn und mehrere seiner Männer aus dem Felsentunnel.

Wie ein Verkehrspolizist hob Sabah eine Hand, und sämtliche Aktivitäten stoppten, während er hinüberging, um mit seinem Herrn und Meister zu reden.

In der Hoffnung, einige Gesprächsfetzen auffangen zu können, schaltete Kurt den Motor aus.

Eine weitere Gruppe folgte Jinn. Zu ihr gehörte auch die junge Frau, von der Kurt Austin annahm, dass sie die echte Leilani Tanner war.

»Willst du sie mitnehmen?«, fragte Sabah.

»Das will ich«, sagte Jinn. »Dieser Komplex ist nicht mehr sicher.«

»Ich werde mich mit Xhou in Verbindung setzen«, sagte Sabah. »Die Chinesen sind zwar hinterhältig und verlogen, aber immer bemüht, das Gesicht zu wahren. Deshalb haben sie Mustafa vorgeschickt. Xhou wird seine Bemühungen verdoppeln und weitere Gelder lockermachen. Solange die Erinnerung an den Fehlschlag seiner Intrige noch frisch ist, dürfte er keine Probleme machen. Und das verschafft uns genug Zeit, um die volle Kontrolle über das Projekt zu gewinnen.«

»Der Chinese bereitet mir keine Sorgen«, sagte Jinn. »Dieser Amerikaner hatte recht. Seine Regierung wird nicht lange fackeln. Die kümmern sich nicht mehr um Landesgrenzen. Wir sind hier nicht sicher.«

»Wir werden sehen«, sagte Sabah.

»Ich brauche eine neue Aktionsbasis«, sagte Jinn, »an einem Ort, wo sie niemand vermuten würde. Und ich habe noch viel zu tun, um zu gewährleisten, dass unser Plan die gewünschte Wirkung entfaltet. Aber das schaffe ich nicht von hier aus.«

Er deutete auf die Frau. »Sorg dafür, dass sie nicht im Weg ist, bis alles verladen wurde. Dann setz sie in die dritte Maschine separat von den Männern. Ich will sie nicht in ihrer Nähe haben.«

»Sie sollte bewacht werden«, riet Sabah.

»Ihr Wille ist gebrochen«, sagte Jinn. »Sie wird schon bald alles tun, was ich von ihr verlange. Aber wenn sie bewacht werden muss, dann gib ihr zwei Wächter mit, mehr allerdings nicht. Und warne sie, Sabah, wenn sie sie auch nur berühren, nagle ich sie auf der Erde fest und zünde sie an.«

Sabah nickte. Er bestimmte zwei Männer, die Leilani zu einem der wartenden Frachtflugzeuge brachten. Während sie dorthin geschafft wurde, wechselten Kurt und Joe vielsagende Blicke.

Kurt ließ den Motor wieder an und fuhr schweigend zur letzten gelben Tonne. Mittlerweile ein alter Hase in der Bedienung des Gabelstaplers, nahm er die Tonne geschickt auf. Joe sicherte sie wie zuvor und kehrte wieder auf seinen Stehplatz an Bord des Gabelstaplers zurück.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Joe Zavala.

»Versuch nicht, es mir auszureden.«

»Das würde ich nie tun, selbst wenn ich es könnte«, erwiderte Joe. »Brauchst du Hilfe?«

»Ein wenig Hilfe könnte ich immer brauchen«, erwiderte Kurt Austin. »Aber jemand muss rauskriegen, wohin diese Tonnen gehen, und den- oder diejenigen warnen, für die sie bestimmt sind. Auf diese Weise setzen wir nicht nur auf ein Pferd.«

Sie hatten den Lastwagen erreicht. Kurt griff nach dem Bedienungshebel der Lastgabel und ließ die Tonne hochfahren.

»Ruf Dirk an, sobald du in die Zivilisation zurückgekehrt bist. Wir müssen Paul und Gamay warnen, dass in ihrer Mitte ein Maulwurf lauert.«

Joe nickte. »Sieh zu, dass du dich aus dem Wespennest verdrückst, sobald du das Girl befreit hast. Aber denk an eure Sicherheit und übernimm dich nicht.«

Die Tonne befand sich jetzt mit der Ladefläche des Lastwagens und den Rollen auf einer Höhe. »Wespennest? Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass es eine Löwengrube ist.«

»Löwen fliegen nicht«, sagte Joe. »Sobald man in der Luft ist, spricht man von einem Wespennest.«

»Du findest offenbar Gefallen an diesen Vergleichen.«

Für einen Moment sahen sich die Männer in die Augen, Freunde, die sich aus unzähligen schwierigen Situationen herausgekämpft hatten. Sich zu trennen ging ihnen in jeder Hinsicht gegen den Strich. Gemeinsam kämpfen, gemeinsam überleben, lautete ihr Motto. Aber in diesem Fall bedeutete es, eine junge Frau ihrem schrecklichen Schicksal zu überlassen oder ihre Chancen zu halbieren, die Welt und ihre Freunde vor einer drohenden Gefahr zu warnen. Dafür waren die Risiken einfach zu hoch.

»Bist du dir ganz sicher, dass das richtig ist?«, fragte Joe.

»Versuch du dein Glück zu ebener Erde, ich nehme den Luftweg«, sagte Kurt, »und werde sicherlich noch vor dir in der Zivilisation ankommen.«

»Was verstehst du unter Zivilisation?«, fragte Joe, löste die Sicherung der Tonne und schob sie vorwärts.

»Jeden Ort, an dem einem niemand nach dem Leben trachtet und wo man eine eisgekühlte Coca-Cola bekommt, wenn man Durst hat. Wer als Letzter ankommt, spendiert dem Team ein Dinner bei Citronelle.«

Joe nickte und dachte wahrscheinlich in diesem Moment an die Speisekarte und das gepflegte Ambiente dieses vor allem bei Kennern beliebten Restaurants in D. C.

»Abgemacht«, sagte er und verankerte die Tonne auf ihrem neuen Standplatz.

Während Kurt ihm zusah, tat er das mit einer Mischung aus Sorge und Erleichterung. Die Lastwagen waren nicht für Querfeldein- oder Wüstenfahrten geschaffen, sie waren an das Straßennetz gebunden. Und sogar in einem Land wie dem Jemen führte es recht bald in zivilisierte Regionen. Mit ein wenig Glück würde Joe noch vor Tagesanbruch seinen Durst stillen und mit der NUMA telefonieren. Kurt wusste, dass seine eigenen Aussichten weniger rosig und sicher waren.

Joe ergriff die Plane, die die Ladefläche des Trucks verdecken würde. Er warf Kurt einen kurzen Blick zu. »Vaya con Dios, mein Freund.«

»Danke, dito«, sagte Kurt.

Die Plane fiel herab, Joe verschwand, und Kurt setzte mit dem Gabelstapler zurück und lenkte ihn zu dem Sammelplatz, ohne sich noch einmal umzudrehen und zurückzuschauen.

Alles, was er jetzt nur noch tun musste, war, in Erfahrung zu bringen, in welchem Flugzeug sich Leilani befand, und sich dann unbemerkt an Bord dieser Maschine zu schleichen.