35

Kurt Austin hatte mehrere Minuten lang den Frachtraum des Flugzeugs durchstöbert. Zu Leilani Tanners nicht geringer Verwunderung hatte er Gewehre, Munition und die Gewehrgranaten, die er vorher schon gesehen hatte, unbeachtet liegen lassen.

»Was tun Sie da?«, fragte sie.

»Ein weiser General versorgt seine Truppen aus dem Nachschub des Feindes«, erwiderte Kurt.

»Noch mal«, sagte sie, »ich habe wirklich große Probleme, Ihnen zu folgen.«

»Sun Tzu«, erklärte Kurt. »Die Kunst des Krieges.«

»Oh«, sagte sie. »Von dem habe ich schon gehört.«

Er fand Kabelbinder in einer Kiste, die gewöhnlich dazu benutzt wurden, Gefangene zu fesseln.

Leilani betrachtete die dicken Plastikbänder. »Die habe ich auch schon mal gesehen.«

»Unsere Freunde haben die Absicht, weitere Geiseln zu nehmen«, sagte er und fragte sich abermals, wohin dieser Flug sie führen mochte.

Er stopfte sich eine Handvoll Kabelbinder in die Hosentasche und inspizierte die nächsten Kisten.

»Wonach suchen wir sonst noch?«

»Im Pilotenstand befinden sich aller Wahrscheinlichkeit nach zwei oder drei Männer. Zwei Piloten und ein Ingenieur, falls überhaupt einer mitfliegt. Vielleicht auch noch ein vierter Mann oben in der Koje.«

»Aber wir können sie nicht erschießen«, gab sie zu bedenken. »Wie sollen wir sie überwältigen?«

»Wir werden es gar nicht tun«, sagte er.

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Sehen Sie, genau das meine ich, das ist das Verwirrende. Ich hatte Sie gerade verstanden, wusste genau, was Sie wollten … und schon stehe ich wieder im Dunkeln.«

Gegen seinen Willen musste Kurt lächeln. Er hob einen einzelnen Finger, so wie es in seiner Erinnerung der Meister in Wiederholungen der Kung-Fu-TV-Serie zu tun pflegte, wenn er seine Schüler unterwies.

»Zu kämpfen und zu siegen ist keine besondere Leistung«, sagte er. »Aber den Widerstand des Feindes kampflos zu brechen ist das Höchste an kriegerischem Können.«

»Schon wieder Sun Tzu?«

Er nickte.

»Können Sie das für mich übersetzen?«

»Flöße ihnen so viel Angst ein, dass sie nicht wagen, sich zu rühren, und sie werden nichts Dummes versuchen«, sagte er. »Aber um das zu erreichen, brauchen wir etwas Tödlicheres als ein Messer und etwas Wirkungsvolleres als eine Pistole. Es muss etwas derart Furchteinflößendes sein, dass die Piloten unsere Anweisungen befolgen und noch nicht einmal an Widerstand zu denken wagen.«

Er nahm den Deckel von einer anderen Kiste und lächelte, als er ihren Inhalt sah. Ein ängstlicher Ausdruck huschte über Leilanis Miene.

»Ich weiß nicht, ob dies das Richtige ist«, sagte sie.

»Vertrauen Sie mir«, sagte er, »das ist genau das, was wir suchen.«

Sie hörten, wie die Landeklappen ausgefahren wurden und die Luftturbulenzen die Maschine durchschüttelten.

»Wir landen gleich«, sagte Leilani.

Kurt schaute aus dem Fenster. Der Horizont leuchtete bereits, der Himmel veränderte seine Farbe. Von Land jedoch war keine Spur. »Es kommt darauf an, was Sie unter Landen verstehen.«

»Was meinen Sie?«

»Dies ist ein Wasserflugzeug«, sagte er. »Eigentlich müsste man es als Flugboot bezeichnen. Das trifft es genauer. Es landet auf dem Wasser.«

Kurt Austin war hin- und hergerissen. Einerseits war er darauf bedacht, den entscheidenden Schritt zu tun, ehe sie sich dem Zielort, wo immer er sich befinden mochte, zu weit genähert hatten, andererseits interessierte ihn brennend, zu welchem Ziel sie unterwegs waren.

Er erinnerte sich daran, dass Jinn gemeint hatte, er müsse an einen sichereren Ort umziehen. Es wäre doch wunderbar, wenn Kurt den großen Tieren in Washington die Position dieses sicheren Ortes in seinem Bericht mitteilen könnte.

Aber dann dachte er an die Wassertanks im Bauch der Maschine und an die Ladung Mikroroboter, mit denen sie vermutlich gefüllt waren. Er entschied, dass es besser wäre, eher früher aktiv zu werden, als noch zu warten.

Also ging er zu den Sitzen, ließ sich nieder, holte sein Messer hervor und begann, damit den Gegenstand, den er aus der Kiste geholt hatte, zu bearbeiten.

»Ich wage noch nicht einmal zu fragen«, sagte Leilani und blickte demonstrativ in eine andere Richtung.

Als er sein Werk beendet hatte, verstaute er das Messer wieder in seinem Stiefel und bedeckte dessen Schaft mit dem Hosenbein. Als Nächstes nahm er eine der 9-mm-Luger-Pistolen und ließ das Magazin herausrutschen. Er entfernte sämtliche Patronen daraus inklusive der Patrone, die sich in der Kammer befand, und ließ das Magazin wieder einrasten.

Dann reichte er Leilani die Pistole im ungesicherten Zustand.

»Ich mag keine Pistolen«, sagte sie.

»Betrachten Sie das Ding einfach nicht als solche.«

»Aber es ist eine Pistole«, beharrte sie.

Er ging bereits zum vorderen Ende des Flugzeugs. »Ohne die Kugeln ist sie es nicht. Sie ist nichts anderes als ein riesiger, verrückter Bluff, und Sie sollten lieber damit herumfuchteln wie Dirty Harry persönlich« – er bemerkte einen leeren Ausdruck in ihrem jungen Gesicht und wechselte die Bezugsperson – »oder wie Angelina Jolie. Denn unsere Freunde im Cockpit sollen glauben, dass Sie damit schießen werden.«

»Aber ich werde nicht schießen«, sagte sie.

Während er sich der Leiter näherte, die zum Pilotenstand hinaufführte, hoffte Kurt, dass er den Bluff hinreichend überzeugend inszenieren konnte, da er nicht glaubte, dass Leilani seine Absicht hundertprozentig begriffen hatte.

»Bleiben Sie einfach hinter mir und halb rechts und zielen Sie mit der Pistole auf die Leute«, sagte er.

»Sonst noch etwas?«

»Ja. Versuchen Sie, böse und gemein auszusehen.«

Kurt stieg die Leiter hinauf, die seitlich gegen den Pilotenstand gelehnt war.

Die Piloten fuhren bei der Bewegung herum und entdeckten Kurt. Der Flugkapitän stieß einen lauten Ruf aus. Der Kopilot griff zum Schloss seines Sicherheitsgurts. Und Kurt zeigte ihnen, was er in der Hand hielt.

Sie erstarrten mitten in der Bewegung und blickten auf die typische Ananasform einer Handgranate. Kurt zog den Sicherungsstift mit einer übertrieben theatralischen Bewegung heraus und hielt den Sicherungshebel gedrückt.

Leilani erschien neben ihm und fuchtelte fotogen mit der Pistole herum. »Keine Bewegung!«, knurrte sie drohend.

Die Piloten waren zwar bereits vollkommen bewegungslos, aber Kurt wusste Leilanis Engagement zu schätzen.

»Genau«, sagte er. »Nehmen wir einfach an, dass die Warnlampe für die Sicherheitsgurte noch brennt und Sie nicht in der Kabine herumlaufen dürfen.«

Der Kapitän drehte sich wieder zu den Kontrollen um, der Kopilot sah die ungebetenen Gäste an. »Wovon reden Sie?«

»Hände an den Steuerknüppel«, befahl Kurt. »Augen nach vorn.«

Der Kopilot gehorchte, sagte jedoch im Flüsterton etwas auf Arabisch zu seinem Kapitän.

»Wollen Sie sie mitnehmen?«, fragte der Kapitän. »Sie befreien? Sie sind ein Narr, Ihr Leben für diese armselige Frau zu riskieren.«

»Schnauze, Mistkerl!«, schnappte Leilani. »Oder, Gott helfe mir, ich pump dich mit Blei voll!«

Sie sah Kurt mit einem stolzen Lächeln an. »Wie war das?«

»An Ihrem Text müssen wir noch arbeiten, aber sonst war’s nicht übel.«

Kurt blickte zum Fenster. Im Osten zeichnete sich der Horizont bereits als eine helle Linie ab, aber der Himmel war immer noch dunkelviolett, und es fiel nicht leicht zu erkennen, wo er aufhörte und wo die See begann.

Er konnte die beiden anderen Düsenjets vor ihnen ausmachen, aber nur weil ihre Positionslampen eingeschaltet waren. Die Maschine, die ihnen am nächsten war, hatte einen Vorsprung von etwa einer Meile und flog ungefähr tausend Fuß tiefer als die andere. Das gesamte Geschwader befand sich im Sinkflug. Er hörte keinerlei Dialoge und vermutete, dass Funkstille angeordnet worden war.

»Wohin bringen Sie uns?«, fragte Kurt.

»Sag nichts«, befahl der Kapitän.

Kurt rechnete sich aus, dass sie in einer Sackgasse steckten. Er konnte kaum damit drohen, das Flugzeug zu sprengen, wenn sie es ihm nicht verrieten. Er warf einen Blick auf den Höhenmesser. Soeben passierten sie die Achttausend-Fuß-Marke. Noch weitere zehn Minuten in diesem Tempo, und sie lägen im Bach. Er versuchte, voraus etwas zu erkennen, aber noch immer war kein Fleckchen Land in Sicht.

Dann entschied er, dass sie lange genug gewartet hatten. »Hier ist mein Angebot«, sagte er. »Wenn ihr beiden am Leben bleiben wollt, werdet ihr tun, was ich verlange.«

»Und wenn wir uns weigern?«, fauchte der Kopilot.

»Dann sprenge ich das Flugzeug«, sagte Kurt.

»Das ist ein Bluff«, sagte der Kopilot. »Er ist ein schwacher Amerikaner. Er wird niemals den Mumm haben …«

Ehe der Mann den Satz beenden konnte, hatte Kurt ihm in einem Rückhandschlag die Faust gegen die Schläfe geschmettert. Der Kopf des Mannes ruckte zur Seite, und er musste sich an der Kabinenwand abstützen, um nicht zu Boden zu gehen.

»Ihr glaubt wohl, ich will Jinn wieder in die Hände fallen«, sagte Kurt, »oder?«

Mit einer Hand bedeckte der Mann die Gesichtshälfte und starrte Kurt an wie ein geprügelter Hund. Die beiden Piloten wechselten einen schnellen Blick. Kurt verließ sich darauf, dass beide Männer wussten, mit was für einem Irren sie es – soweit es Jinn betraf – zu tun hatten. Er vermutete, dass die Toten auf dem Grund des Brunnens nicht die einzigen Angestellten waren, derer er sich in seiner Zeit als Chef der Bande entledigt hatte.

Zwischen den Piloten begann eine hitzige Diskussion auf Arabisch.

Kurt verpasste dem Kopiloten eine zweite Ohrfeige. »Sprecht Englisch!«

Der Mann funkelte ihn wütend an und wollte wieder nach dem Verschluss seines Sicherheitsgurts greifen. »Du hast recht«, sagte er. »Wenn er dich erwischt, wird Jinn dafür sorgen, dass du um dein Leben winselst. Aber wenn wir dich laufen lassen, dann wird es für uns noch schlimmer werden.«

Der Gurtverschluss öffnete sich mit einem Klicken, und der Mann drehte sich in seinem Sitz und stand auf. Er stieß mit dem Kopf fast gegen die Decke des engen Cockpits.

»Spreng uns in die Luft«, sagte er. »Schick uns alle ins Paradies.«

Kurt erwiderte den Blick des Mannes. Dieser blinzelte nicht, und als auch Kurt nicht blinzelte, ergab sich eine Pattsituation, die er nicht zu seinem Vorteil beenden konnte.

»Dann geht es nicht anders«, sagte er.

Er holte mit der Granate aus, ließ den Sicherungshebel hochschnellen und schleuderte sie auf den Kopiloten. Sie traf ihn mitten im Gesicht, das plötzlich einen geschockten Ausdruck zeigte. Der Mann angelte nach der Granate wie jemand, der unter der Dusche ein nasses Stück Seife festhalten will. Er lenkte sie in Richtung des Kapitäns ab.

Mit Augen, die so groß wie Untertassen waren, streckte er sich danach, nur um von einer wuchtigen Rechten Kurts gestoppt zu werden.

Kurt hatte sein gesamtes Gewicht in diesen Schwinger gelegt, hatte sich in der Hüfte gedreht, sich mit dem rechten Fuß abgestoßen und unter Einsatz jeder Muskelfaser seines Körpers zugeschlagen.

Der Mann wurde schlaff und kippte nach hinten auf den Flugkapitän und den Steuerknüppel in seinen Händen, so dass die Maschine abrupt in den Sturzflug ging.

Für eine Sekunde schwerelos, kollidierte Kurt mit der Deckenwölbung des Cockpits. Als er danach zu Boden stürzte, packte er den bewusstlosen Kopiloten am Gürtel und riss ihn zurück. Während er den Kapitän von seiner Last befreite, richtete sich die Maschine ein wenig auf, aber plötzlich erschien in der Hand des Kapitäns eine Pistole.

Mit dem linken Arm stieß Kurt die Hand des Mannes zur Seite, und die Pistole ging los. Die Kugel traf den Kopiloten seitlich in der Brust. Ein zweites Projektil bohrte sich in den Sessel.

Kurt versuchte, den Arm des Kapitäns zu fixieren, aber er bekam ihn nicht richtig in den Griff. Der Kapitän zog den Arm zurück, befreite ihn und zielte abermals auf Kurt.

Kurt duckte sich, drückte mit der Handfläche gegen den Steuerknüppel und neigte ihn zur Seite. Das Flugzeug führte eine heftige Rollbewegung aus, während der Kapitän abermals feuerte.

Der Schuss ging daneben und schlug in der Kontrolltafel über ihnen ein. Sie explodierte mit einem Funkenregen. Eine ganze Batterie Warnlampen begann hektisch zu blinken, begleitet von diversen akustischen Alarmtönen.

Das Flugzeug stellte sich auf den Kopf und sackte in Richtung Ozean. Seine Insassen konnten nicht viel mehr tun, als sich festzuhalten. Kurt schaffte es, dem Kapitän noch einen Treffer zu verpassen, ehe er von der Fliehkraft des rotierenden Flugzeugs zurückgeworfen wurde.

Dann streckte Kurt die Hand nach seinem Stiefel aus. Die Pistole schwenkte in seine Richtung, während der Kapitän zielte, um den tödlichen Schuss abzufeuern.

Kurt streckte ruckartig den Arm aus, und der Kapitän verharrte mitten in der Bewegung, als sich Kurts Messer in sein Herz bohrte. Das Gesicht wurde schlaff, die kleine Pistole polterte auf den Cockpitboden, und die Augen des Piloten verdrehten sich nach hinten, so dass nur noch das Weiße zu sehen war.

Das Flugzeug vollführte eine weitere Trudelbewegung, Kurt schnappte sich den Steuerknüppel und versuchte gegenzusteuern. Langsam richteten sich die Tragflächen der Maschine in der Horizontalen aus. Nun erklang jedoch das Warnsignal des Höhenmessers, und eine Computerstimme näselte Pull up. Pull up. Pull up.

Kurt zog hoch, wollte jedoch nicht die Tragflächen abbrechen. Die Nase stieg träge nach oben, während der Höhenmesser weiterhin rückwärtszählte. Schließlich konnte Kurt den Horizont wieder sehen, und eine oder zwei Sekunden später zeigte die Nase des Flugzeugs auf einen Punkt am Himmel darüber.

Während die Geschwindigkeit rapide abnahm und sie wieder zu steigen begannen, erloschen einige Warnlampen, und nach und nach verstummten auch die Alarmsignale. Ab tausend Fuß Flughöhe verzichtete der Computer darauf, Kurt zu befehlen, was er tun solle.

Mit dem Flugzeug wieder in stabiler Lage, blickte sich Kurt im Cockpit um. Er teilte sich einen Sitz mit dem toten Kapitän. Der Kopilot lag zwischen den beiden Sitzen auf dem Boden und sah genauso tot aus. Aber – jemand fehlte.

»Leilani?«, rief Kurt.

»Ich bin hier«, sagte sie und streckte von unten den Kopf in den Pilotenstand.

»Was ist passiert?«

»Ich bin die Leiter runtergefallen«, sagte sie, stieg vollends nach oben, wobei sie einen leicht benommenen Eindruck machte. Sie bückte sich und hob etwas vom Boden auf. Es war die Granate. »Warum sind wir nicht in die Luft geflogen?«

»Ich habe den Zünder ausgebaut«, erwiderte Kurt. »Der Sprengstoff steckt noch drin, aber ohne den Zünder kann er nicht explodieren.«

Sie legte ihren Fund behutsam in einen Becherhalter.

»Soll ich die Kerle fesseln?«

»Dafür ist es ein wenig spät«, sagte er. »Holen wir diesen Knaben hier erst mal aus meinem Sessel.«

Er stand auf, und Leilani schnallte den toten Flugkapitän los und zog ihn von Kurts Platz, während er den Steuerknüppel festhielt.

»Sie fliegen ja die Maschine«, sagte sie, als hätte sie es soeben erst bemerkt.

»Irgendwie schon.«

»Ich dachte, Sie hätten gemeint, Sie wüssten nicht, wie das geht.«

»Ich hätte mich ein wenig präziser ausdrücken sollen«, sagte er. »Ich kann die Maschine nach rechts und links, nach oben und unten lenken und kann sie auch langsam oder schnell fliegen lassen. Ich kann sicher auch einen Kurs halten. Um einiges schwieriger wird es allerdings, mit diesem Ding zu landen, ohne einen qualmenden Krater im Boden zu hinterlassen, oder sie nicht in tausend Stücke zu zertrümmern, wenn sie auf dem Wasser aufsetzt.«

»Oh«, sagte Leilani nur und wurde schlagartig blass.

»Aber ich lerne schnell«, versuchte er, ihr Mut zu machen. »Und mit den beiden Toten hier habe ich kaum eine andere Wahl.«

Kurt hatte schon früher kleine Flugzeuge gelenkt, zwar niemals lange genug, um eine Lizenz oder wenigstens eine eingeschränkte Genehmigung zu erwerben, aber er beherrschte immerhin die Grundlagen. Ansonsten verließ er sich auf seinen ausgeprägten Instinkt. Im Gegensatz zu hoch entwickelten Kampfjets flogen Flugzeuge im Allgemeinen ganz von selbst. Sie waren entsprechend konstruiert, um sich stabil zu verhalten und Fehler des Piloten zu korrigieren, obgleich er feststellte, dass dieses russische Flugboot so kopflastig war wie ein Schiff mit Ballastproblemen.

»Was ist denn mit dieser LAPES-Vorrichtung?«, fragte sie. »Können wir nicht einfach hinten rausspringen?«

»Das können wir versuchen, wenn wir am Ziel sind, wo immer das sein mag«, gab er zu.

Er studierte die Instrumententafel und fand die Kontrollen für die hintere Frachtklappe und die Heckrampe. Ihre Position prägte er sich ein.

Mittlerweile waren sie bis auf fünftausend Fuß aufgestiegen und befanden sich wieder auf ihrem ursprünglichen Kurs. Mehrere Meilen voraus zeichneten sich die beiden anderen Maschinen als winzige Silhouetten vor dem sich aufhellenden Himmel ab. Sie befanden sich noch immer im Sinkflug, aber der Sturzflug und das Trudeln hatten Kurt und Leilani erheblich tiefer absacken lassen.

»Sie haben keine Ahnung, was passiert ist«, sagte Leilani.

»Nein«, bestätigte Kurt. »Bei Funkstille und ohne Rückspiegel oder Achterradar zu fliegen bedeutet, dass sie nichts mitbekommen haben. Noch wichtiger ist aber, dass sie nicht sehen, wie wir abdrehen und Kurs auf die Seychellen nehmen.«

»Fliegen wir dorthin?«

Kurt hatte auf einem kleinen Computerbildschirm eine Navigationsanzeige gefunden. Sie befanden sich fast genau über dem Mittelpunkt des Indischen Ozeans. Die Seychellen lagen vierhundert Meilen weiter im Südwesten, Flugzeit etwa eine Stunde.

Kurt lächelte. »Das ist der nächste Ort mit nennenswerter Zivilisation«, sagte er. »Und mit Zivilisation meine ich, dass es dort ein Telefon und einen Cola-Automaten gibt und Menschen, die uns nicht nach dem Leben trachten.«

Leilani lächelte. »Das klingt richtig gut.«

Kurt fand ihr Lächeln einfach nur reizend. Es war freundlich und offen und unkompliziert. Irgendwie schien ihm unkompliziert genau das zu sein, was in diesem Moment angesagt war.

Er brachte den russischen Düsenjet auf westlichen Kurs und rechnete sich aus, dass sie sicherlich mindestens einhundert Meilen zurückgelegt hätten, ehe jemand auf die Idee käme, sich einmal umzudrehen und einen Blick zurückzuwerfen. Aber ehe er zu weit vom ursprünglichen Kurs abgewichen war, fiel ihm etwas ins Auge. Ein schwarzer Punkt auf dem silbern schimmernden Ozean.

Offenbar sah Leilani diesen Punkt ebenfalls. »Meinen Sie, sie wollen zu dieser Insel?«

»Hier gibt es weit und breit keine Insel«, sagte er.

»Na ja, für ein Schiff ist es aber zu groß«, erwiderte Leilani.

Kurt starrte gebannt auf die Erscheinung. Die Erkenntnis traf ihn in dem Moment, als sich die Strahlen der aufgehenden Sonne an einer Reihe hoher dreieckiger Gebilde brachen, die am Rand der schwimmenden Monstrosität aufragten.

»Weil es gar kein Schiff ist«, sagte er. »Es ist ein schwimmender Klotz aus Stahl … namens Aqua-Terra.«

Ein Adrenalinstoß ging durch Kurts geschundenen Körper. Drei Amphibienflugzeuge, beladen mit Waffen, aufblasbaren Motorbooten und Jinns Verbrechertruppe, ließen keinen nennenswerten Raum für berechtigte Zweifel an ihren wahren Absichten. Sie kamen nicht zu einer Besichtigungstour. Sie waren ein Angriffskommando, operierten bei totaler Funkstille und schickten sich an, die Insel bei Tagesanbruch zu überfallen und in Besitz zu nehmen.

»Schnallen Sie sich an«, befahl Kurt.

»Weshalb?«, fragte Leilani. »Was tun wir?«

Kurt streckte die Hand aus und legte sie entschlossen auf die Gashebel. »Wir machen uns nachhaltig bemerkbar.«