38
Kurt Austin hielt das Boot auf westlichem Kurs, während Leilani das Leck suchte und überlegte, wie es geflickt werden könnte.
»Sehen Sie etwas?«
»Ein halbes Dutzend winzige Löcher … wie Nadelstiche«, sagte sie. »Ich kann die Luft spüren, die dort herausdringt.«
Er winkte Leilani zu sich ans Heck. »Lenken Sie das Boot einen Moment lang.«
Sie kam zum Heckspiegel, und Kurt inspizierte, was sie gefunden hatte. Acht winzig kleine Löcher, von denen einige so klein waren, dass keine Luft mehr herausströmte, wenn er an dieser Stelle die Gummihülle nur ein wenig zusammendrückte.
»Was meinen Sie, wie das passiert ist?«, fragte Leilani.
Die Löcher bildeten ein seltsames Muster, fast als wären sie durch eine Patrone mit besonders feinem Schrot erzeugt worden. »Durch winzige Splitter des explodierenden Flugzeugs«, vermutete er, »oder durch winzige Tropfen brennenden Kerosins. Das Gummimaterial sieht an ein oder zwei Stellen aus, als sei es versengt.«
Kurt strich mit den Händen über die Luftkammern, die im Grunde nichts anderes waren als knapp drei Meter lange aufgeblasene Gummischläuche mit einem Durchmesser von etwa vierzig Zentimetern. Das Boot besaß insgesamt vier dieser Wülste, zwei vorn, die gerade verliefen, ganz vorn zusammenstießen und den stumpfen Bug des Bootes bildeten, und zwei im hinteren Teil des Bootes, je einer rechts und links. Das Heck des Bootes bestand aus einer Stahlplatte, an welcher der Außenbordmotor befestigt war.
Er fand zwei weitere Einstichlöcher, beide in der Luftkammer vorn rechts. Schlimmer noch, hier und da konnte er kleine Punkte erkennen, die möglicherweise auf den Beschuss mit weiteren Trümmerteilen oder Kerosinspritzern hinwiesen. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, dass auch diese Stellen undicht wurden.
»Wie sieht es aus?«, erkundigte sich Leilani.
Der Gefangene schien sich ebenso brennend dafür zu interessieren. Zwar war er geknebelt, aber seine Ohren waren nicht verstopft und konnten alles mithören.
»Die Backbordseite ist anscheinend okay«, sagte Kurt. »Aber das dürfte uns keine Hilfe sein, wenn die gesamte Steuerbordseite schlaff wird.«
Zwei kleine Kisten standen unweit des Bugs auf dem starren Deck des Schlauchboots. Er öffnete beide, fand jedoch nur eine einzige Schwimmweste, zwei Leuchtpatronen, einen kleinen Anker und ein kurzes Seil.
»Ein Schlauchboot ohne Pumpe und Flickzeug«, murmelte er. »Da wird aber jemand einiges von meinem Anwalt zu hören bekommen.«
»Vielleicht sollten wir kehrtmachen«, sagte Leilani, »und zusehen, dass wir diese schwimmende Insel erreichen und kapitulieren.«
»Das tun wir nur, wenn Sie so gern wieder gefangen genommen werden wollen«, sagte er.
»Nein«, erwiderte sie, »aber ich habe auch keine Lust zu ertrinken.«
»Wir ertrinken nicht, selbst wenn beiden Wülsten die Luft ausgeht.«
»Aber dann hängen wir wie Schiffbrüchige an der anderen Seite«, sagte sie.
»Das ist immer noch besser, als darauf zu warten, dass Jinn uns erschießt«, hielt er ihr entgegen. »Außerdem muss ich eine Wette gewinnen. Wir brauchen nichts anderes zu tun, als unseren Weg fortzusetzen, bis wir Hilfe finden.«
»Und wenn wir keine Hilfe finden?«
»Die finden wir schon«, versicherte Kurt zuversichtlich.
Er griff in die Kiste, holte die beiden Leuchtkugeln heraus und verstaute sie neben dem Fernglas in seiner Brusttasche. Die Schwimmweste reichte er Leilani.
»Ziehen Sie die an«, sagte er. »Keine Sorge, es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.«
Als Nächstes holte er den Anker hervor – es war ein fünfzehn Pfund schwerer Plattenanker, der mit einem Karabinerhaken an einer Ankerleine befestigt war. Kurt löste den Anker von der Leine und befestigte ihn an der Schnur, mit der die Füße des Gefangenen gefesselt waren. Der Mann starrte Kurt mit einem Ausdruck namenlosen Entsetzens an.
»Ebenfalls nur eine Vorsichtsmaßnahme«, tröstete ihn Kurt.
Der Miene des Mannes nach zu urteilen, schenkte er dieser Erklärung allerdings nur wenig Glauben.
Kurt nahm dem Mann den Knebel aus dem Mund. »Ich weiß, dass du uns verstehst«, sagte er. »Sprichst du auch genauso gut?«
Der Mann nickte. »Ich spreche Englisch … ein wenig.«
»Ich nehme nicht an, dass du die Geschichte von dem kleinen holländischen Jungen kennst.«
Der Mann starrte ihn verständnislos an.
»Dieses Boot sinkt«, erklärte Kurt, »weil es Luft verliert. Ich kann dich entweder über Bord werfen, um den Ballast zu verringern, oder du kannst uns helfen.«
»Ich helfe«, sagte der Mann. »Ja, ja, ich werde helfen.«
»Der Anker an deinen Füßen soll nur verhindern, dass du irgendwas Dummes tust«, erklärte Kurt, und dann deutete er zum vorderen Ende des Bootes. »Du musst mit den Fingern diese beiden Löcher verschließen, damit die Luft drinbleibt.«
Der Mann nickte. »Das kann ich. Ganz bestimmt, solange Sie wollen.«
»Gut«, sagte Kurt. »Denn wenn du das nicht schaffst, dann liegst du von uns allen als Erster auf dem Meeresgrund.«
Kurt lockerte den Strick, der um die Hände des Mannes geschlungen war. »Wie heißt du?«
»Ich heiße Ishmael«, antwortete der Mann.
»Super«, murmelte Kurt. »Als hätten wir nicht schon genug Sorgen. Hoffen wir nur, dass uns nicht auch noch der böse weiße Wal in die Quere kommt.«
Die Beine gefesselt und mit dem Anker verbunden, rutschte Ishmael einen knappen halben Meter durch das Boot, bis er im Bug kniete. Dann legte er die Hände auf die beiden Lecks, die Kurt ihm gezeigt hatte.
»Draufdrücken und die Hände liegen lassen«, befahl Kurt.
Ishmael bedeckte die Löcher mit den Fingern und bewegte sie keinen Millimeter mehr. Nach ein paar Sekunden drehte er sich halb um und lächelte stolz.
»Perfekt.«
»Was ist mit den anderen Lecks?«, fragte Leilani.
»Ich übernehme die erste Schicht«, meinte Kurt und versuchte die Finger zu spreizen wie ein Pianist, »und Sie halten uns auf Kurs nach Westen.«
Während der nächsten drei Stunden wechselten Kurt Austin und Leilani Tanner zwei Mal die Positionen, aber die hintere Kammer leerte sich unaufhaltsam, und das Boot bekam Schlagseite nach Steuerbord, während das Heck tiefer eintauchte. Von Zeit zu Zeit schwappte Meerwasser über den Randwulst und durchnässte denjenigen, der sich gerade bemühte, das Leck abzudichten – und erhöhte auch noch zusätzlich das Gewicht des Bootes.
Glücklicherweise ist der Indische Ozean eines der ruhigsten Weltmeere, und die Dünung war höchstens dreißig Zentimeter hoch. Kurt stellte fest, dass ein geringes Tempo die Wellen, die ins Boot schlugen, auf ein Minimum reduzierte, und nahm das Gas noch weiter zurück.
Gegen Mittag hatten sie nichts gesichtet, wovon sie irgendwelche Hilfe hätten erwarten können, noch nicht einmal eine Rauchfahne am Horizont. Als die Sonne im Zenit über ihnen stand, begann der Motor zu husten und zu spucken, und Kurt hatte keine andere Wahl, als ihn auszuschalten.
»Kein Sprit mehr da«, vermutete Leilani.
»Wir haben noch ungefähr eine Gallone im Reservetank«, erwiderte Kurt und deutete auf einen Absperrhahn in der Benzinleitung, mit dessen Hilfe der Reservetank angezapft werden konnte. »Aber das müssen wir sparen.«
»Wofür?«
»Angenommen wir sichten am Horizont ein Schiff«, sagte er. »Dann müssen wir uns bemerkbar machen, indem wir seinen Kurs kreuzen oder längsseits gehen.«
Leilani nickte. »Tut mir leid. Daran hatte ich nicht gedacht.«
Er lächelte. »Ist schon okay.«
Nachdem der Motor verstummt war, erschien die Stille so bedrückend und unheilvoll, als kündigte sie den unmittelbar bevorstehenden Untergang an. Kein Wind regte sich. Das einzige Geräusch, das sie hören konnten, war das leise Plätschern der Wellen, wenn sie gegen die Randwülste schlugen.
Eingehüllt in diese Stille, tanzten sie in der sanften Dünung auf und nieder, drei Menschen an Bord eines fünf Meter langen Schlauchboots inmitten von zweieinhalb Millionen Quadratkilometer Ozean.
»Was jetzt?«, fragte Leilani.
»Jetzt warten wir«, sagte Kurt geduldig. »Und sehen, was das Schicksal für uns bereithält.«