40
Es war später Nachmittag. Im Westen stand die Sonne schon tief über dem Horizont. Jinn hatte das Kommando über die schwimmende Insel übernommen, indem er dreißig Mann, schwere Maschinengewehre, RPGs und sogar ein Dutzend Flugabwehrraketen – diejenigen abgerechnet, die er auf Kurt Austin abgefeuert hatte – an Bord brachte.
Das Flugboot dümpelte aufgetankt und startbereit im Bootshafen, für den Fall, dass er schnell verschwinden musste. So fühlte er sich sicher und unangreifbar. Hier brauchte er sich wegen Xhou und den anderen Mitgliedern des Konsortiums keine Sorgen zu machen, auch musste er von den Amerikanern, die, was seine Methoden und Ziele betraf, noch immer im Dunkeln tappten, keine Gegenmaßnahmen befürchten.
Sein Erfolg hatte ihn in eine prahlerische Stimmung versetzt und ihm die Zunge gelockert. Er stand auf dem Aussichtsdeck, das sich weit hinausragend vor dem Kontrollraum Aqua-Terras erstreckte. Die lästigen Amerikaner und der italienische Milliardär standen an seinem Rand, die Hände vor ihnen ans Geländer gefesselt. Zarrina und zwei von Jinns Männern hielten sich in ihrer Nähe auf. Otero saß in der Tür des Kontrollraums, die Finger lagen auf der Tastatur eines Laptops.
»Sie fragen sich gewiss, weshalb Sie noch am Leben sind«, sagte er zu seinen drei wichtigsten Gefangenen.
»Wir leben, weil Sie uns brauchen, um die Fassade aufrechtzuerhalten«, sagte der hochgewachsene Mann, offenbar war er der Wortführer des Trios. »Um den Anschein zu erwecken, dass hier alles glattläuft, falls jemand vorbeischauen sollte. Was schon in Kürze passieren wird und wobei wir Ihnen nicht behilflich sein werden.«
Ein Grinsen erschien auf Jinns Miene. Sie waren nicht dumm, aber offenbar auch nicht ganz auf dem Laufenden. Jinn näherte sich dem hochgewachsenen Mann von hinten.
»Paul, nicht wahr?«
»Das ist richtig.«
Es störte Jinn, dass dieser Mann namens Paul so viel größer war als er. Er erinnerte sich, von Sabah gehört zu haben, dass der Thron eines Königs stets die höchste Sitzgelegenheit im Raum war und dass der Schah von Persien in einem Saal mit nur einem Sessel Hof gehalten hatte. Alle anderen mussten stehen, während er als Einziger saß und sie dabei um eine ganze Haupteslänge überragte.
Jinn holte mit dem Fuß aus, trat mit der Schuhspitze in die Kniekehlen des Amerikaners und mähte ihn nieder.
Der Mann wurde völlig überrumpelt und gab einen Schmerzenslaut von sich. Er sackte nach unten und knallte dabei mit dem Kinn auf das Geländer. Die Zähne gruben sich in seine Unterlippe, rissen einen Fetzen Fleisch aus seiner Zunge, und sein Mund füllte sich mit Blut.
»Das ist schon besser«, sagte Jinn, der den Mann jetzt überragte, da der vor ihm kniete. »Bleiben Sie ruhig da unten.«
»Bastard«, sagte die Frau.
»Ah, stets das loyale Weibchen«, spottete Jinn. »Deshalb weiß ich auch so genau, dass Sie tun werden, was ich verlange. Wenn nämlich einer von Ihnen nicht gehorcht, erwarten den anderen unerträgliche Schmerzen.«
»Sie brauchen das nicht zu tun«, bettelte Marchetti. »Ich zahle dafür, dass Sie uns und meine Leute freilassen. Ich kann Ihnen ein Vermögen geben. Ich besitze Millionen … an die einhundert Millionen, die ich sofort flüssig machen kann, Geld, an das Matson und Otero nicht herankommen. Lassen Sie uns einfach frei.«
»Vor langer Zeit habe ich einmal gehört, wie jemand ein ähnliches Angebot machte«, sagte Jinn. »Alles, was ich besitze, für ein Kind. Ich begreife, weshalb das Angebot abgelehnt wurde. Womit Sie mich locken wollen, das ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist für mich bedeutungslos.«
Jinn wandte sich zum Kontrollraum um und nahm mit Otero Augenkontakt auf. »Es ist so weit. Geben Sie dem Schwarm das Zeichen, holen Sie ihn an die Oberfläche.«
»Sind Sie sich da ganz sicher?«, fragte Zarrina.
Jinn hatte lange genug gewartet. »Unsere Möglichkeiten, das Wetter zu beeinflussen, wurden bisher allein dadurch begrenzt, dass der Schwarm unterhalb der Oberfläche ausharren musste. Um unser Ziel zu erreichen, ganz zu schweigen vom Einhalten unserer Versprechen, müssen wir den Ozean schneller abkühlen lassen.«
»Was ist mit den amerikanischen Satelliten? Wenn die Wirkung aufgezeichnet wird, werden ernstere Probleme auf uns zukommen als diese Leute von der NUMA.«
»Otero hat die Bahnen, Flughöhen und Durchgänge sämtlicher Spionage- und Wettersatelliten, die diesen Bereich des Ozeans überqueren, aufgezeichnet und miteinander abgeglichen. Indem wir den Schwarm von hier aus dirigieren, können wir ihn in weitaus präziser bemessenen Intervallen auftauchen und absinken lassen, als es vom Jemen aus möglich gewesen wäre. Der Schwarm taucht auf, wenn niemand dieses Gebiet beobachtet. Und er verschwindet, ehe die Augen im Weltall wieder in seine Richtung blicken.«
»Das klingt ziemlich kompliziert«, meinte Zarrina.
»Es ist weitaus weniger kompliziert, als du glaubst«, sagte Jinn. »Wir befinden uns doch im offenen Meer. Abgesehen von einem gelegentlich hier operierenden Kriegsschiff gibt es da nicht viel zu sehen. Die Spionagesatelliten konzentrieren sich auf eine Region tausend Meilen weiter nördlich, wo sich die Armeen und die Ölvorkommen des Mittleren Ostens befinden. Sie beobachten den Iran und Syrien und den Irak, sie zählen russische Panzer und Flugzeuge in der Nähe des Kaspischen Meers oder amerikanische Kampfeinheiten im Golf von Persien.«
Er blickte fragend zu Otero. »Wie groß ist das aktuelle Zeitfenster?«
Otero sah auf den Bildschirm seines Laptops. »Wir haben dreiundfünfzig Minuten, bis der nächste Satellit in Sichtweite kommt.«
»Dann führen Sie meinen Befehl aus«, verlangte Jinn.
Otero nickte, rief den Kontrollschirm auf und tippte Jinns neunstelligen Code ein. Die Übertragung per Sichtverbindung reichte bis zum Horizont. Von dort aus würden die Roboter den Befehl untereinander weiterleiten – wie in einer Bahn fallender Dominosteine.
Er drückte die Eingabetaste. »Das Signal ist unterwegs.«
Jinn ließ den Blick über das Wasser schweifen und wartete auf den Beginn des Schauspiels. Es dauerte eine Minute, ehe die ersten Anzeichen zu erkennen waren, doch dann veränderte sich die Oberfläche des Ozeans rapide.
Im Laufe des Tages hatte kein nennenswerter Wind geweht, und das Meer ringsum war spiegelglatt gewesen. Als dann jedoch die Mikroroboter auftauchten, nahm die Oberfläche ein mattes, körniges Aussehen an: wie das Wasser in einer mit Algen zugewucherten Meeresbucht.
Jinn verfolgte, wie sich dieser Effekt in alle vier Windrichtungen ausbreitete. Schon bald erreichte die Ausdehnung die Grenzen seines Gesichtsfeldes, aber Jinn wusste, dass sich die Auswirkungen mindestens fünfzig Meilen weit in jede Richtung fortsetzten. Weniger dichte Wolken seiner Schöpfung reichten noch mindestens einhundert Meilen darüber hinaus – wie die Ausläufer einer Galaxis.
»Sie sollen ihre Flügel aufspannen.«
Otero bearbeitete wieder die Tastatur. »Befehl verschlüsselt«, meldete er. »Und … gesendet.«
Jinn holte eine teure Sonnenbrille aus der Tasche. Er rechnete damit, dass die dunklen Gläser jeden Moment ihren Zweck erfüllten. Er setzte sie auf, während auf der Meeresoberfläche die nächste Veränderung einsetzte.
Eine Welle schien darüber hinwegzulaufen, sie erinnerte an ein Seebeben. Das bleierne Grau ging in einen matten Schimmer über, und dann hellte sich das Meer auf und nahm den silbernen Glanz eines Spiegels an. Da die Nachmittagssonne noch hoch am Himmel stand, ergab sich ein greller Schein, der trotz der polarisierten Brillengläser die Augen blendete.
Jinn sah das fassungslose Erstaunen auf den Gesichtern der Gefangenen und wandte sich dann ab, weil die gleißende Helligkeit der Meeresoberfläche unerträglich wurde.
Jinn kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und verfolgte das Schauspiel für einige weitere Sekunden mit stolzgeschwellter Brust.
Draußen an der Oberfläche des Ozeans hatten Billionen und Aberbillionen seiner winzigen Maschinen ihre verspiegelten Flügel ausgebreitet, die unter Schutzdeckeln verborgen gewesen waren wie die Flügel auf dem Rücken eines Käfers. Dieser Vorgang verdreifachte die Oberfläche jedes Mikroroboters. Infolgedessen vervierfachte die Flügeloberfläche die Menge an Sonnenlicht, das vom Ozean in die obere Atmosphäre reflektiert wurde.
Es war, als sei eine Rettungsdecke über dreizehntausend Quadratkilometer des Indischen Ozeans ausgebreitet worden.
Gamay Trout begriff als Erste das Prinzip.
»Die Temperaturschwankung«, sagte sie. »Auf diese Weise wird sie herbeigeführt.«
»Ja«, bestätigte Jinn. »Und der Prozess der Abkühlung wird sich jetzt noch beschleunigen. Diese Gewässer sind bereits um etwa zweieinhalb Grad kälter als die kälteste Temperatur, die hier jemals um diese Jahreszeit gemessen wurde. Auf Grund meiner Berechnungen wird die Oberflächentemperatur bis zum Abend um ein weiteres Grad fallen. Mit jedem Tag wird sich dieser Effekt verstärken. Schon bald wird eine gewaltige Menge abgekühlten Wassers das Zentrum dieses tropischen Meeres ausfüllen, während die Mikroroboter in einem anderen Teil des Ozeans genau das Gegenteil bewirken werden, nämlich die Temperatur des Ozeans zu steigern, indem sie Wärme absorbieren. Der Temperaturunterschied wird dann starke Winde hervorrufen. Einigen Menschen wird er sogar Stürme bescheren, für andere werden sich sämtliche Hoffnungen zerschlagen, einer ungeheuren Hungersnot zu entgehen.«
»Sie sind wahnsinnig. Sie sind im Begriff, Millionen von Menschen zu töten.«
»Die Hungersnot wird sie töten«, korrigierte er Gamay.
Sie verstummte. Keiner von ihnen sagte etwas. Alle drei hatten die Augen von der gleißend hellen Oberfläche des Ozeans abgewendet.
Jinn badete regelrecht in dem grellen Licht, als wäre es so etwas wie ein Heiligenschein. Dieses Licht war seine Rechtfertigung und der Beweis der gottgleichen Macht, die ihm in die Hände gelegt worden war und über die er nun frei verfügen konnte.
»Damit kommen Sie niemals davon«, sagte Paul Trout.
»Und wer soll mich aufhalten?«
»Meine Regierung, zum Beispiel«, sagte Paul. »Die indische Regierung, die NATO, die UN. Niemand lässt zu, dass Sie einen halben Kontinent verhungern lassen. Ihre kleine Truppe hier wird sich nicht sehr lange gegen ein Geschwader F-18er halten können.«
Dafür hatte Jinn nur ein herablassendes Lächeln übrig. »Sie haben offenbar keine Ahnung von den grundlegenden Mechanismen der Macht«, sagte er. »Selbstverständlich, ich und meine Leute sind im globalen Rahmen nicht von Bedeutung. Aber die Macht liegt nicht nur bei Ihren Nationen. Sie existiert auf der ganzen Welt und sorgt für Gleichgewicht. Sobald der Regen den Teil der chinesischen Bevölkerung, der unter Hunger leidet, sättigt, werden die Chinesen nicht zulassen, dass die UN oder Ihre Regierung oder die Herrscher in Neu-Delhi ihnen ihre neu erworbenen Vorteile so schnell wieder wegnehmen. Sie werden gegen jeden Beschluss zum Handeln ihr Veto einlegen und Ihre Wünsche vereiteln, aktiv zu werden und die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Den Chinesen werden sich die Länder des Mittleren Ostens sowie Pakistan und die Russen anschließen, die allesamt von dem, was ich hier in Gang gesetzt habe, profitieren können, und mich dafür bezahlen und beschützen. Es dürfte nicht allzu schwierig sein, sie dazu zu bringen, sich gegen Ihre Nation zu verbünden. Wenn Sie etwas anderes annehmen, sind Sie hoffnungslos naiv.«
»Sie riskieren einen Krieg«, sagte Gamay, »einen Krieg, der die ganze Welt erfasst, Sie eingeschlossen.«
»Es dürfte wohl eher ein Krieg unter den Meistbietenden sein.«
Er genoss diesen Moment. In wenig mehr als vierundzwanzig Stunden hätte er seine Feinde zerquetscht, die inneren wie die äußeren. Er hatte seinen Scharfsinn bewiesen und würde nun den Lohn dafür ernten. Geld würde von Seiten Chinas und der neuen Partner in Pakistan und Saudi-Arabien fließen. Gegengebote aus Indien und anderen Ländern würden folgen, und die Auktion wäre im Gange, und die Gebote würden kontinuierlich steigen.
»Trotzdem werden sie weiterhin Jagd auf Sie und Ihre abscheuliche Schöpfung machen«, prophezeite Paul.
»Natürlich werden sie das«, erwiderte Jinn. »Aber sie werden mich nicht finden, und sie werden feststellen, dass sie das, was ich erschaffen habe, ebenso wenig auslöschen können, wie sie die Welt nicht von schädlichen Insekten oder Bakterien befreien werden. Sie können die Roboter millionenfach vernichten. Die Milliarden, die übrig bleiben, vermehren sich. Sie nutzen die Überreste ihrer toten Gefährten, um daraus neue entstehen zu lassen. Es ist wie ein Urtrieb. So hat Marchetti sie konstruiert und erschaffen.«
Marchetti senkte den Blick und schüttelte schuldbewusst den Kopf.
»Und es wird Folgen haben, wenn jemand versucht, mich herauszufordern«, fügte Jinn hinzu. »Der Schwarm wird sich bis in die fernsten Winkel der Welt ausbreiten. Schon bald werde ich die sieben Weltmeere beherrschen. Jede Nation, die töricht genug ist, sich mir zu widersetzen, oder die sich einfach weigert, mir den Tribut zu zahlen, den ich verlange, wird es bitter zu spüren bekommen. Ihre Fischgründe werden zerstört, ihre Nahrungsquellen werden vor ihren Augen verschlungen, ihre Häfen werden verstopft und unzugänglich gemacht, ihre Schiffe werden auf offener See angegriffen.«
»Man wird Sie weltweit zur Fahndung ausschreiben und Sie jagen«, versprach Paul Trout. »Sie sind nicht mehr als eine Schlange, der man nur den Kopf abschlagen muss, um sie unschädlich zu machen.«
»Sie wären gut beraten, die Schlange in Ruhe zu lassen«, entgegnete Jinn. »Ich habe nämlich den Schwarm schon längst auf totale Vernichtung programmiert. Sollte ich sterben oder aus anderen Gründen gezwungen sein, das Programm zu aktivieren, verwandelt sich der Schwarm von einer Waffe, die mit chirurgischer Präzision eingesetzt werden kann, in eine Plage von unvorstellbarem Ausmaß, die alles verschlingt und gleichzeitig wächst und alles attackiert, was ihr in die Quere kommt. Wie ein Heuschreckenschwarm in der Wüste wird sie nichts als Tod und Verderben zurücklassen.«
Die beiden Amerikaner sahen sich an. Wenn Jinn diesen Blick richtig deutete, dann gestanden sie damit ihre Niederlage ein. Das Schweigen, das danach einsetzte, war für ihn nicht mehr als eine Bestätigung seiner Einschätzung.
Er wischte sich die Stirn ab. Sie war schweißnass, da die Temperatur rund um die Insel auf Grund der reflektierten Wärme rapide anstieg. Eine Brise regte sich und strich über das Deck, seit Tagen war dies die erste nennenswerte Luftbewegung, aber sie war nicht kühl und erfrischend. Es war ein heißer Wind, erzeugt durch die unterschiedliche Erwärmung. Er kündigte den aufkommenden Sturm an.