42

Das Schiffsgefängnis von Aqua-Terra befand sich in der untersten Etage oberhalb der Wasserlinie der Insel. Zurückgekehrt in ihre Luxuszelle, fühlten sich Paul, Gamay und Marchetti ausgelaugt und so niedergeschlagen wie nie zuvor. Genau dreiundfünfzig Minuten lang hatte Jinn sie an die Reling gefesselt und dem grellen, reflektierten Sonnenlicht, den heftigen Windböen und der Hitze ausgesetzt.

Paul Trout hatte in seinem gesamten bisherigen Leben noch keine Solarium-Kabine von innen gesehen, aber es fühlte sich an, als wäre das Aussichtsdeck in eine solche Einrichtung umgewandelt worden und als hätte man Hitze und blendend helles Licht als Beigabe hinzugefügt.

Es war eine unwirkliche Erfahrung gewesen, erleben zu müssen, wie Lichtreflexe in einem Schwindel erregenden, beinahe hypnotischen Rhythmus über die Oberfläche von Aqua-Terra tanzten. Da sich die winzigen Spiegel im Wasser unabhängig voneinander bewegten, mussten sich die Lichtreflexe, die sie erzeugten, ebenso unabhängig voneinander bewegen, so dass es unmöglich war, diesen Effekt eingehender zu studieren. Paul gewann nur einen vagen Eindruck davon, als befände er sich inmitten von wirbelnden Nebelschwaden, während er gleichzeitig wusste, dass dieser Nebel aus Milliarden selbstständiger Wasserdampfmoleküle bestand und keine homogene Erscheinung war.

Und so schwer es schon fiel, die Decks und die Aufbauten ringsum zu betrachten, so unmöglich war es, für längere Zeit auf den Ozean zu blicken. Um seine Augen zu schützen, hatte Paul sie für den größten Teil der dreiundfünfzig Minuten geschlossen. Infolgedessen war sein wesentlicher Eindruck von der Meeresoberfläche der einer glitzernden Masse, ähnlich einem grenzenlosen Ozean von Diamanten. Kleine Wellen liefen hindurch, erzeugt von einer leichten Dünung, die eine Stunde zuvor noch nicht existiert hatte. Windböen, die von der reflektierten Wärme hervorgerufen wurden, strichen über die schimmernde Ebene, so dass sie fast wie etwas Lebendiges erschien. Sie atmete, bewegte sich, wartete. Auf gewisse Weise war es wunderschön, und zugleich wirkte es beängstigend.

Dann schloss sich das Zeitfenster, und Jinn hatte mit einem Befehl dafür gesorgt, dass sich das Diamantenmeer wieder grau färbte. Die Mikroroboter tauchten ab, und der Ozean sah aus wie jeder andere auf der Welt.

»Ich fühle mich, als sei ich am Strand eingeschlafen«, sagte Paul und wunderte sich, wie angespannt und rot seine Haut war.

Ihm gegenüber ging Marchetti auf und ab und schaute gelegentlich durch die großen Fenster hinaus, während Gamay neben ihm saß und versuchte, seine aufgeplatzte Lippe und seine blutige Zunge mit einem Wundbalsam zu behandeln.

»Wenigstens wissen wir jetzt, wie sie es schaffen konnten, die Wassertemperatur zu beeinflussen«, sagte Elwood Marchetti.

»Bitte, halt doch mal still«, sagte Gamay.

Sie hatte einen Tupfer mit einer antibakteriellen Salbe gezückt, aber jedes Mal, wenn sie Anstalten machte, die Salbe aufzutragen, fing Paul wieder zu reden an.

»Das nützt uns jetzt auch eine ganze Menge«, sagte er mit bitterem Spott in der Stimme.

»Paul.«

»Ich halt ja schon still.«

»Aber nicht den Teil, der versorgt werden muss.«

Paul nickte und hielt den Mund offen wie ein Zahnarztpatient.

Marchetti unterbrach seinen Fußmarsch. »Die Frage ist, was wird passieren, nachdem sie die Verwirklichung ihres Plans mit Hochdruck in Gang gesetzt haben?«

Paul zögerte und wartete so lange es ging. »Das kann ich Ihnen genau erklären«, meinte er schließlich.

Gamay atmete zischend aus und lehnte sich zurück.

»Sie erzeugen eine mächtige Säule kalten Wassers mit Temperaturen, die man eher im Nordatlantik antrifft als hier, mitten in einem tropischen Gewässer. Bekanntermaßen intensivieren oder erzeugen sogar solche Temperaturunterschiede Stürme und Zyklone. Nicht nur in der Luft, sondern auch unter der Wasseroberfläche.«

»Und sobald sie die Wärme nicht mehr in die Luft abstrahlen, absorbiert das kalte Wasser wieder die Wärme aus der Luft darüber«, sagte Marchetti, »und kehrt den Prozess um.«

»Wenn dieser Vorgang fortgesetzt wird«, fügte Paul hinzu, »sinkt die Lufttemperatur rapide, jedoch nur über der Region, die sie beeinflusst haben. Über dem restlichen Ozean dominiert weiterhin warmes und feuchtes Klima. Haben Sie schon mal erlebt, was geschieht, wenn warme und feuchte Luft auf kalte Luft trifft?«

»Es kommt zu Stürmen«, sagte Marchetti.

Paul nickte. »Vor mehreren Jahren bin ich in Oklahoma gewesen, als nach drei Tagen heftiger Schwüle eine Kaltfront heranzog. Danach wurden in einem Zeitraum von drei Tagen an die einhundert Tornados gezählt. Ich vermute, dass wir auch hier einen schweren Sturm erleben werden: ein tropisches Tiefdruckgebiet oder einen Zyklon. Möglich, dass wir miterleben, wie um uns herum ein Hurrikan entsteht.«

Gamay hatte alle Versuche aufgegeben, Pauls verletzte Lippe zu behandeln. »Aber dies ist die Windstille, die tote Zone«, sagte sie. »Hier entstehen gewöhnlich keine Stürme. Sie bilden sich im Norden und im Osten und ziehen dann in Richtung Indien. Es ist sozusagen die Geburtsstätte der Monsune.«

Paul überlegte, welche weiteren Folgen sich daraus ergaben. »Wir befinden uns fast am Äquator. Ein Unwetter, das hier entsteht, wird nach Westen ziehen in Richtung Somalia, Äthiopien und Ägypten«, vermutete er.

»Das geschieht bereits«, sagte Marchetti. »Ich habe irgendwo Meldungen von rekordverdächtigen Regenfällen im sudanesischen Hochland und in Süd-Ägypten gelesen. In einem Artikel stand, dass der Nassersee seinen höchsten Wasserstand seit dreißig Jahren erreicht habe.«

Paul konnte sich erinnern, Ähnliches gehört zu haben. »Und das ist wahrscheinlich nur der Anfang.«

Marchetti nahm seinen Marsch wieder auf, massierte sich das Kinn und machte einen ziemlich erschütterten Eindruck. »Und was geschieht, wenn die Luftmassen erst in Unordnung geraten und ein solcher Sturm entsteht?«

Paul schaute aus dem Fenster nach Südwesten. Er rief sich Vorlesungen aus seiner Studentenzeit ins Gedächtnis, über die Erzeugung von Unwettern und die Faktoren, die für ihre Entstehung von Bedeutung sind. »Hurrikane im Golf von Persien kommen gehäuft über warmen Zonen vor. Jinns Stürme werden über nichts anderes hinwegziehen. Sie nehmen die Wärme, die Luftfeuchtigkeit und die Energie mit, die gewöhnlich für die Monsune charakteristisch sind. Sie stehlen sie ihnen regelrecht wie Diebe.«

»Und bescheren Indien und Südostasien eine für diese Jahreszeit ungewöhnliche Trockenperiode«, sagte Gamay. »Dieser Irre hat geschafft, wovon die Menschheit seit Ewigkeiten träumt: Er kontrolliert das Wetter und stört seine normale und vertraute Verteilung.«

Marchetti ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er machte den Eindruck, als werde er jeden Moment zusammenbrechen. »Und dazu benutzt er meine Konstruktion«, sagte er.

Dann sah er zu ihnen hinüber. Der Milliardär mit dem überschäumenden Selbstvertrauen war verschwunden, desgleichen der stolze Konstrukteur mit den kühnen Ideen und sogar der nüchterne Techniker. All diese Persönlichkeiten verflüchtigten sich vor ihren Augen und ließen lediglich einen gebrochenen Mann zurück.

»Die vielen Leute«, flüsterte er. »Eine Milliarde Menschen wartet auf einen Monsun, der niemals kommen wird. Ich werde zum schlimmsten Massenmörder der Menschheitsgeschichte.«

Gamay erweckte den Eindruck, als wollte sie das Wort ergreifen und etwas sagen, um Marchetti moralisch aufzurichten. Dies war ein Moment, in dem sie so etwas zu tun pflegte, aber sie konnte keine passenden Worte finden.

Dafür versuchte Paul sein Glück. »Noch wurde Ihr Nachruf nicht geschrieben, und Sie haben kein Erbe hinterlassen. Alfred Nobel erfand das Dynamit und gründete eine Firma, die Waffen und Rüstungsgüter herstellte, aber nicht deshalb ist er in Erinnerung geblieben. Und Sie haben noch immer die Chance, die Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken.«

»Aber wir sind allein«, sagte Marchetti. »Ihre Freunde sind verschwunden. Niemand hat auch nur die geringste Ahnung, was hier draußen vor sich geht.«

Paul sah zu Gamay hinüber, denn er teilte ihre Trauer um ihre Freunde, aber auch weil er sie liebte und sich wünschte, dass sie mehr empfand als hilflose Verzweiflung. Er drückte ihre Hand und blickte ihr in die Augen. »Ich weiß das alles«, sagte er zu Marchetti. »Aber wir werden einen Weg finden. Zuerst müssen wir sehen, dass wir von hier wegkommen.«

Gamay brachte ein Lächeln zustande. Immerhin war es ein hoffnungsvoller Ausdruck, zwar nicht genug, um all die Zweifel und die Sorge zu verdrängen, aber doch wenigstens ein Anfang.

»Haben Sie irgendeine Vorstellung, wie das gehen soll?«, fragte Marchetti.

Paul schaute sich um. »Ich habe eine Idee«, sagte er. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie Ihnen gefallen wird.«

»Zu diesem Zeitpunkt«, erwiderte Marchetti, »können wir es uns nicht leisten, wählerisch zu sein.«