43
Der überraschende Wind, der Kurt Austin, Leilani Tanner und ihren Gefangenen, Ishmael, gezogen hatte, wehte fast zwei Stunden lang. Gelegentlich drohte er sogar, das Boot aus dem Wasser zu heben. Nach etwa der Hälfte ihrer improvisierten Segelpartie ließ der seltsame Spiegeleffekt so plötzlich nach, wie er aufgetreten war, und zwar sowohl auf der Wasseroberfläche als auch auf ihren Körpern.
»Glauben Sie, dass diese Dinger verschwunden sind?«, hatte Leilani gefragt.
»Das bezweifle ich«, meinte Kurt. »Was immer ihr Leuchten bewirkt hat, es ist offenbar nicht mehr wirksam, aber ich vermute, dass sie noch immer an uns kleben und das Meer bevölkern.«
Während der nächsten Stunde ließ der Wind nach. Ganz gleich, wodurch er entstanden war, etwa eine Stunde vor Einbruch der Dämmerung schlief er endgültig ein. Die Steuerbordseite des Bootes sackte tiefer, und den drei Insassen blieb nichts anderes übrig, als sich auf den Backbordwulst zu legen, um das Boot vor dem Kentern zu bewahren. Unter den gegebenen Umständen spülte jede kleine Welle über das schräge Deck.
Kurt holte die Fallschirme ein, wrang sie aus und verstaute sie. Er hatte diese Arbeit nahezu abgeschlossen, als ihn ein lauter Ruf Ishmaels zusammenzucken ließ.
»Land!«, brüllte Ishmael heiser. »Land in Sicht!«
Kurt schaute hoch. Am Horizont nahm er einen schmalen grünlichen Streifen wahr. Im sinkenden Licht hätte es auch eine ungewöhnliche Wolkenspiegelung sein können.
Kurt holte das Fernglas hervor, wischte die Linsen ab und schaute hindurch.
»Lieber Gott, mach, dass es Land ist«, betete Leilani und faltete die Hände. »Bitte.«
Kurt konnte das Grün von Pflanzenbewuchs und Baumwipfel erkennen. »Es ist wirklich Land«, sagte er und klopfte Ishmael auf die Schulter. »Es ist Land, ohne Zweifel.«
Er legte das Fernglas beiseite und kroch auf allen vieren zum Bootsheck. Dort öffnete er den Absperrhahn des Reservetanks und startete den Außenbordmotor. Der sprang nach einem kurzen Husten an, und Kurt gab behutsam Gas.
Als sich der Propeller wieder drehte, schob sich das nur noch teilweise mit Luft gefüllte Schlauchboot wie eine Krabbe seitlich durch das Wasser, so dass Kurt schon nach kurzer Zeit von dem erstaunlich kalten Wasser bis auf die Haut durchnässt war.
Nach zwanzig Minuten konnte er einen etwa zwanzig Meter hohen zentralen Hügel erkennen, der mit üppigem Pflanzenwuchs bedeckt war. Auf beiden Seiten des Hügels erstreckte sich flaches Land. Wellen brachen sich schäumend an einem Riff, das der Insel vorgelagert war.
»Ein Vulkanatoll«, erklärte Kurt. »Wir müssen das Riff überwinden, um zum Festland zu gelangen. Möglicherweise müssen wir schwimmen.«
Er sah erst Ishmael, dann Leilani an.
»Haben Sie seine Pistole noch?«
Sie nickte. »Ja, aber …«
»Geben Sie her.«
Sie reichte ihm die Pistole, die, wie beide wussten, leer war. Er brachte sie in Anschlag. »Sie wird dich jetzt losbinden«, sagte Kurt. »Wenn du irgendwelche Schwierigkeiten machst, hast du am Ende mehr Löcher in deinem Pelz als das Boot.«
»Keine Schwierigkeiten«, versprach Ishmael.
Kurt nickte. Leilani öffnete den Karabiner und hievte den Anker über Bord. Als Nächstes befreite sie Ishmaels gefesselte Beine und entsorgte die Schnur ebenfalls. Kurt wartete, dass er die Gelegenheit nutzte und vielleicht etwas Unvernünftiges versuchte. Ishmael tat jedoch nichts anderes, als die Beine zu strecken und erleichtert zu lächeln.
Mittlerweile näherten sie sich zügig dem Riff, das die Insel wie ein Schutzwall umgab. Die Wellen waren nicht sehr hoch, aber das Wasser war an den Stellen, wo das Riff Lücken aufwies, ziemlich turbulent.
»Sollen wir einen ruhigeren Punkt suchen?«, fragte Leilani.
»Der Tank ist so gut wie leer«, erwiderte Kurt.
Er hielt auf die erste Lücke zu, die er sah. Das vom Untergang bedrohte Boot pflügte wie ein Lastkahn durch die Wellen und schob eine kleine Bugwelle vor sich her. Die Farbe des Wassers in ihrer Umgebung wechselte von Dunkelblau zu Türkis, und die kurzen Wellen wurden heftiger und buckelten sich dort auf, wo die überspülten Bereiche des Riffs verhinderten, dass sie glatt durchliefen.
In der einen Sekunde wurden sie auf den Kamm einer knapp einen Meter hohen Welle gehoben, um von der nächsten seitlich erfasst und in ein Tal gedrückt zu werden, das sie wieder aufs Meer hinauszog. Der starre Boden des Bootes schrammte über ein solides Hindernis, und der Propeller fraß sich hinein.
Zwei Wellen hinter ihnen vereinigten sich und drückten sie nach Backbord. Sie schabten über weitere Korallen und wurden gleichzeitig von der Gischt einer dritten Welle überschüttet.
Kurt drehte den Außenbordmotor hin und her, gab Gas, nahm es wieder zurück und benutzte den Motor sowohl als Antrieb wie auch als Ruder. Die Gegenströmung, die durch die Lücke im Riff schäumte, hinderte sie am Vordringen, aber schon die nächsten Brecher, die von achtern kamen, schoben sie weiter. Diesmal hatte die Backbordseite Grundberührung, und beide Luftkammern wurden aufgerissen.
»Es hat uns erwischt!«, schrie Leilani.
»Bleiben Sie so lange wie möglich im Boot«, antwortete Kurt.
Er gab noch einmal Gas. Der Motor heulte etwa zehn Sekunden lang auf und begann dann zu husten und zu spucken. Kurt nahm sofort das Gas weg, aber es war zu spät. Der Motor blieb stehen, als der Treibstoff versiegte. Eine weitere Welle traf sie von der Seite.
»Raus!«, befahl Kurt.
Ishmael wälzte sich über den Randwulst. Leilani zögerte und folgte ihm dann. Die nächste Welle erfasste das sinkende Boot, und Kurt tauchte ebenfalls kopfüber in die Brandung.
Er schwamm mit aller Kraft. Aber vierundzwanzig Stunden ohne Nahrung, mit zu wenig Wasser sowie die Strapazen der vorangegangenen beiden Tage zehrten an ihm. Die vollkommene Erschöpfung würde nicht lange auf sich warten lassen.
Der Sog der Unterströmung zog ihn zurück, und dann spülte ihn eine Welle vorwärts. Er fand mit dem Fuß eine solide Korallenformation und stieß sich mit aller Kraft davon ab. Seine Stiefel waren einerseits für Schwimmübungen denkbar schlecht geeignet, andererseits waren sie ihr Gewicht in Gold wert, wann immer seine Füße mit dem Riff in Berührung kamen.
Als die Unterströmung wieder einsetzte, verkeilte er die Füße zwischen den Korallenbäumen und hielt seine Position. Die Gischt blendete ihn, als ihn die Brandungswellen überrollten. Etwas Weiches prallte frontal gegen ihn.
Es war Leilani.
Er packte sie und schob sie mit der nächsten Welle vor sich her, und so gelangten sie in den ruhigeren Bereich innerhalb des schützenden ringförmigen Riffs.
Kurt schwamm mit aller Kraft. Leilani ebenfalls. Als seine Füße Sand berührten, grub er sie hinein und watete vorwärts, eine Hand an Leilanis Schwimmweste und sie hinter sich herzerrend.
Sie ließen die Brandung hinter sich und sanken auf den weißen Sand, hatten es jedoch nicht allzu weit den Strand hinauf geschafft, so dass sie immer noch von den Ausläufern der Brandungswellen überspült wurden.
Atmen war das Einzige, was Kurt in seinem erschöpften Zustand gerade noch fertigbrachte, aber es gelang ihm immerhin, eine kurze Frage über die Lippen zu bringen: »Alles okay?«
Sie nickte nur, während sich ihre Brust ebenso wie seine heftig hob und senkte, als sie mühsam nach Luft schnappte.
Kurt sah sich um. Sie waren allein. »Ishmael?«
Er sah nichts, erhielt keine Antwort.
»Ishmael!«
»Dort«, sagte Leilani und deutete in eine Richtung.
Ihr Gefangener lag mit dem Gesicht im Brandungsschaum, während ihn die Wellen auf den Sand schoben und wieder zurückzogen.
Kurt kämpfte sich hoch, bewegte sich stolpernd in Ishmaels Richtung und watete zurück ins Meer. Er packte Ishmael unter den Armen und schleifte ihn aufs Trockene.
Ishmael begann zu husten und zu würgen und spuckte Wasser. Ein kurzer prüfender Blick sagte Kurt, dass er überleben würde.
Ehe er diesen Erfolg feiern konnte, fielen zwei lange Schatten von hinten auf Kurt. Er erkannte in den surrealen Schattengebilden auf dem Sand die Umrisse von Gewehren und kräftigen Männern.
Er wandte sich um. Mehrere Männer standen vor ihm, die Sonne im Rücken. Offenbar trugen sie zerlumpte Uniformen und Helme und waren mit schweren Karabinern bewaffnet.
Als sie sich näherten, konnte er sie besser erkennen. Sie waren dunkelhäutig und sahen beinahe wie australische Aborigines aus, hatten jedoch polynesische Gesichtszüge. Ihre Gewehre waren alte M1-Karabiner mit fünfschüssigen Magazinen, und ihre Uniformen und Stahlhelme sahen wie die Standardausrüstung der U. S. Marines um 1945 aus. Mehrere von ihnen standen zwischen den Bäumen oberhalb des Strandes.
Kurt war zu erschöpft, um mehr zu tun, als nur tatenlos zuzusehen, wie einer dieser Männer auf ihn zukam. Der Mann hielt sein Gewehr lässig in der Armbeuge, aber seiner Miene war die Entschlossenheit anzusehen, es jederzeit zu benutzen.
»Willkommen auf Pickett’s Island«, sagte er in seltsam förmlich klingendem Englisch. »Im Namen Franklin Delano Roosevelts erkläre ich Sie hiermit zu meinen Gefangenen.«