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Unermüdlich prasselte der Regen auf Jinns Lastwagenkonvoi herab, während er auf der Schnellstraße von Marsa Alam nach Westen rollte. Bei der Nässe, der eisigen Kälte der Wüstennacht und der heftig wirbelnden Fahrtwindschleppe hinter dem durch die Nacht donnernden Truck begann Joe allmählich zu frieren.

Anfangs empfand er die niedrigen Temperaturen noch als willkommene Abwechslung nach seinem Aufenthalt im Jemen und in der heißen Wagenhalle der Fähre, doch mit fortschreitender Nacht fraß sich die Kälte nach und nach in seine Knochen, und Joe zog die Plane zu, um den Wind und den Regendunst von der Ladefläche fernzuhalten.

Die Fahrt von Marsa Alam nach Assuan dauerte gewöhnlich vier Stunden, aber schon nach drei Stunden drosselte der Konvoi seine Geschwindigkeit, als die Wagen die offene Wüste verließen und in die besiedelte Region gelangten, die das Nilufer säumt.

Die Trucks überquerten den Nil auf einer modernen Brücke und erreichten die Stadt Edfu am Westufer des Nils. Als Joe sich vorsichtig einen flüchtigen Überblick verschaffte, sah er rechts und links der Straßen mehrstöckige Apartmenthäuser, Ladenfronten und Regierungsbauten, in denen die Dienststellen des Verwaltungsbezirks Assuan residierten, zu dem Edfu gehörte. Es war nicht unbedingt der Beltway, wie die Ringstraße um das Washingtoner Regierungsviertel von Eingeweihten genannt wurde, sondern eher eine staubige Version Ostberlins in der Wüste. Aber immerhin war es die lange entbehrte Zivilisation.

Der Truck wurde noch langsamer, und Joe hoffte, dass sie vor dem roten Signal einer Verkehrsampel anhalten mussten, doch stattdessen kamen sie zu einem Verkehrskreisel, den sie zu drei Vierteln umrundeten, ehe sie auf eine andere Straße abbogen, die geradewegs nach Norden führte.

»Es musste unbedingt ein Kreisel sein«, murmelte Joe enttäuscht.

Er schätzte, dass sie jeden Moment auf die nächste Autobahn auffahren würden und er Assuan erreichte, ehe er sich von dem Konvoi absetzen konnte. Als der Motor in einem der unteren Gänge aufheulte und der Lastwagen beschleunigte, entschied Joe, dass es nun an der Zeit war, von Bord zu gehen.

Er schlängelte sich unter der Plane hervor und stellte sich auf die hintere Stoßstange. Dann lugte er um die Kante der Ladefläche, um zu sehen, was vor ihm lag. Keine Telefonmasten oder Straßenlampen und Hinweisschilder. Die Luft war rein, und Joe sprang vom Lastwagen hinunter.

Er landete auf dem nassen Asphalt, rollte sich ab und rutschte durch eine ausgedehnte Schlammpfütze, wo sich der Regen in einer Unebenheit der Fahrbahn gesammelt hatte. Für einen kurzen Moment blieb er in seinem nassen Bett liegen, schaute den Trucks nach und wartete auf irgendeinen Hinweis, dass die Fahrer seine Aktion beobachtet hatten.

Sie rumpelten nach Norden, verschwanden in der Dunkelheit, ohne die Geschwindigkeit zu verändern oder zu bremsen.

Durchnässt und vollkommen verdreckt, befreite sich Joe aus dem Matsch und orientierte sich. Er befand sich auf einem weitgehend offenen Straßenabschnitt. Durch den Regen konnte er zu seiner Linken ein größeres Bauwerk erkennen, das von Scheinwerfern angestrahlt wurde.

Indem er die neuen Schmerzen in Schulter und Hüfte ignorierte und sich alle Mühe gab, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass er sich an seinem ohnehin ramponierten Knöchel offensichtlich eine neue Verletzung zugezogen hatte, humpelte er in Richtung des lichtdurchfluteten Areals. Es sah wie eine Kreuzung aus Baustelle und antiker Tempelanlage aus, und erst als Joe näher herangekommen war, erkannte er, dass er vor dem Horus-Tempel stand, einer der besterhaltenen antiken Ausgrabungsstätten in ganz Ägypten.

Die vordere Wand bestand aus zwei mächtigen Gebäudeflügeln, die über dreißig Meter hoch in den Nachthimmel ragten. In die Wand eingravierte menschliche Gestalten waren zwanzig Meter hoch, und Öffnungen, durch die das Tageslicht in den Tempel eindringen konnte, verteilten sich gleichmäßig über die Wand.

Tagsüber war die Ausgrabungsstätte gewöhnlich mit Touristen bevölkert. Aber bei Nacht, dazu noch bei strömendem Regen, erschien sie vollkommen verwaist. Bis auf – wie Joe feststellte – zwei Nachtwächter in einer erleuchteten Hütte.

Er rannte darauf zu und klopfte gegen das Fenster. Die Wächter erlitten geradezu einen Schock, wobei einer von ihnen regelrecht von seinem Stuhl hochschoss.

Joe klopfte abermals gegen das Fenster, und schließlich bequemte sich einer der Wächter, es zu öffnen.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Joe Zavala.

Der immer noch erschrockene Wächter war sichtlich verwirrt, erholte sich jedoch schnell. »Ah … natürlich«, sagte er, »kommen Sie herein. Ja, kommen Sie rein.«

Joe ging zur Tür. Zu seinem Glück wurden die Wächter solcher Ausgrabungsstätten nach ihren Englischkenntnissen ausgewählt, da viele Touristen Amerikaner und Europäer waren.

Joe betrat die erleuchtete Hütte, sobald die Tür aufschwang. Er war triefnass und besudelte den Fußboden über und über mit lehmigen Wassertropfen. Einer der Wächter reichte Joe ein Handtuch, mit dem er sein Gesicht abtrocknete.

»Vielen Dank«, sagte Joe.

»Was haben Sie da draußen im Regen zu suchen?«, fragte ein Nachtwächter.

»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Joe. »Ich bin Amerikaner. Ich war so etwas wie ein Gefangener, bis ich von einem fahrenden Lastwagen absprang, und ich muss unbedingt Ihr Telefon benutzen.«

»Amerikaner«, wiederholte der Wächter. »Ein Tourist? Sollen wir Ihr Hotel anrufen?«

»Nein«, wehrte Joe ab. »Ich bin kein Tourist. Ich muss mit der Polizei sprechen. Genau genommen mit dem Militär. Wir sind hier in Gefahr. Und zwar alle, die hier wohnen.«

»In was für einer Gefahr?«, fragte der Wächter misstrauisch.

Joe Zavala blickte ihm beschwörend in die Augen. »Terroristen sind im Begriff, den Staudamm zu zerstören.«