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Zwanzig Minuten später saß Joe Zavala, an Händen und Füßen gefesselt wie ein Schwerverbrecher, in einem Patrouillenboot, das in nächtlicher Dunkelheit leise nilaufwärts fuhr. Den Befehl führte der ägyptische Major, während ein Soldat das Boot lenkte und ein dritter Mann mit Sturmgewehr das Inspektionskommando vervollständigte.

Soweit Joe wusste, betrug die Entfernung zwischen Edfu und Assuan ungefähr einhundert Kilometer, von wo aus noch gut zwölf Flusskilometer bis zum Assuan-Hochdamm bewältigt werden mussten. Außerdem mussten sie den alten Staudamm etwa sieben Kilometer vor dem Hochdamm überwinden. Bei der Geschwindigkeit, mit der sie unterwegs waren – Joe tippte auf fünfundzwanzig bis siebenundzwanzig Knoten –, und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie flussaufwärts fuhren, richtete sich Joe Zavala auf eine Fahrtdauer von zweieinhalb Stunden ein.

Die Nacht war kühl, glücklicherweise hatte es aber aufgehört zu regnen. Die Sterne waren herausgekommen, weil der Himmel aufgeklart hatte. Um diese Uhrzeit herrschte auf dem Fluss wenig Verkehr. Nächtliche Stille lag über dem Strom, und nachdem sie Edfu hinter sich gelassen hatten, wiesen nur noch vereinzelte beleuchtete Uferabschnitte darauf hin, dass dort Menschen lebten.

Assuan mit seiner berühmten Uferstraße Corniche el-Nile, einer auch um diese Zeit üppig illuminierten Promenade am Ostufer des Flusses, war schon von weitem zu erkennen. Joe Zavala wagte gar nicht, sich die katastrophalen Folgen eines Dammbruchs vorzustellen.

Sie glitten eilig an den mit Lichtgirlanden verzierten Fassaden der Hotels und Restaurants in Ufernähe vorbei und tauchten kurz hinter der Stadt wieder ins Dunkel der Nacht ein.

Nach zehn Minuten erschien vor ihnen die Lichterkette, die die Krone des alten Staudamms markiert. Das Patrouillenboot hielt auf die westliche Seite des alten Damms zu, den die Engländer während ihrer Besetzung Ägyptens gebaut und im Jahr 1902 fertiggestellt hatten.

Im Schein der Lampen auf der Deichkrone erkannte Kurt das zur Hälfte geöffnete Tor einer Schleuse, die nicht mehr in Betrieb war. Von einem Hupsignal und lauten Rufen Major Edos aufgeschreckt, erschien ein Nachtwächter auf dem Rand des Schleusenbeckens und öffnete mittels einer Handkurbel beide Tore vollständig, um dem Militärboot die Durchfahrt zu ermöglichen.

Nach weiteren zehn Minuten Fahrt tauchte vor ihnen schließlich der Hochdamm auf, dessen oberer Rand von Flutlichtscheinwerfern erhellt wurde wie ein Fußballstadion bei Nacht.

Da der Assuan-Hochdamm dem Prinzip nach ein Schwergewichtsstaudamm war und vorwiegend aus Schotter bestand, fügte er sich besser in das Landschaftsbild ein als solche Sperrwerke wie zum Beispiel der Hoover-Damm. Statt einer aufragenden grauen Mauer an einem Ende eines engen Tals sah Joe ein mächtiges, nicht allzu steil ansteigendes Bauwerk ähnlich einer gigantischen Rampe, das farblich mit der Wüste ringsum beinahe nahtlos verschmolz.

Die Außenseite des Bauwerks war mit einer dünnen Betonschicht als Erosionsschutz verkleidet. Unter dieser Schale lagen verdichtetes Felsgeröll und Sand, sowie – in der Mitte – ein wasserdichter Lehmkern, der bis zu einem sogenannten Dichtungsschleier hinabreichte.

Gegen den Damm drückte von der anderen Seite eine Wasserwand, die über einhundert Meter hoch war.

»Müssen wir unbedingt auf dieser Seite sein?«, murmelte Joe unbehaglich.

»Was meinen Sie?«, fragte der Major.

»Können wir diese Nussschale nicht verlassen und den Staudamm von der anderen Seite oder sogar von der Krone aus kontrollieren?«

Der Major schüttelte den Kopf. »Wir suchen doch nach einem Leck, nicht wahr? Wie, glauben Sie, sollen wir auf der Seeseite irgendein Problem finden? Dort befindet sich alles unter Wasser.«

»Ich hatte gehofft, Sie hätten Kameras oder ein ROV oder etwas Ähnliches dabei.«

»Wir haben nichts dergleichen«, sagte der Major.

»Ich habe ganz gute Beziehungen«, meinte Joe. »Wahrscheinlich könnte ich Ihnen relativ günstig eins besorgen.«

»Nein danke, Mr. Zavala«, lehnte der Major ab. »Wir werden die Staumauer von dieser Seite aus inspizieren, und ich werde Ihnen zeigen, dass sie intakt und sicher ist, und dann unterhalten wir uns über eine längere Freiheitsstrafe, weil Sie meine Zeit vergeudet haben.«

»Großartig«, murmelte Joe. »Sorgen Sie nur dafür, dass meine Zelle so weit wie möglich von hier entfernt ist.«

Das Patrouillenboot drosselte das Tempo und gelangte in die Sperrzone, die sich knapp einen Kilometer vom Damm flussabwärts erstreckte.

In den sechziger Jahren mit sowjetischer Hilfe erbaut, bestand der Staudamm aus zwei unterschiedlichen Teilen. Der westliche Abschnitt, rechts von Joes Position, präsentierte dem Betrachter die breite ansteigende Vorderseite. Auf der Ostseite, abgetrennt durch eine dreieckige Halbinsel aus Fels und Sand und dicht besetzt mit Hochspannungsleitungen und Transformatoranlagen, stand eine senkrechte Mauer aus Beton, die über Öffnungen für die Überläufe verfügte. Sie war zurückgesetzt und speiste den Abflusskanal, über den das unter enormem Druck stehende Wasser, das die Turbinen antrieb, in den Fluss zurückkehrte und abgebremst wurde.

Joe bemerkte, dass die Strömung im Abflusskanal relativ mäßig war. »Erzeugen Sie keinen elektrischen Strom?«

»Die Überläufe sind bis auf ein absolutes Minimum geöffnet«, erklärte der Major. »Nachts ist keine Maximalleistung erforderlich. Die Zeit des Spitzenbedarfs ist der Nachmittag mit den auf Hochtouren laufenden Klimaanlagen und der gewerblichen Beleuchtung.«

Sie nahmen Kurs auf die rechte, schräg ansteigende Seite des Bauwerks.

Je näher sie kamen, desto einfacher wurde es für Joe, die ungeheuren Ausmaße des Staudamms zu begreifen. Die gewaltige, in Terrassen aufgeteilte Rampe war breiter und flacher, als er erwartet hatte. Sie erschien ihm eher wie ein in den Fluss versetzter Berg und weniger als ein Bauwerk, das von Menschenhand geschaffen wurde.

»Wie dick ist die Mauer noch mal?«

»Neunhundertachtzig Meter an der Sohle.«

Fast ein ganzer Kilometer, dachte Joe. Über eine halbe Meile. Er begriff allmählich, weshalb der Major so selbstsicher war. Aber Joe kannte sich ein wenig in Wasserbau aus und wusste, was er in dem Testbecken im Jemen gesehen hatte.

Die Bruchstelle war im obersten Teil des Modells entstanden, der Zerfall hatte sich von dort aus fortgesetzt wie bei einem überfluteten Uferdamm am Mississippi.

»Von hier unten aus werden wir nicht allzu viel erkennen«, sagte er. »Wir müssen die Untersuchung von oben durchführen. Außerdem müssen Inspektionsteams den Staudamm selbst unter die Lupe nehmen und nach Lecks suchen.«

Offenbar entnervt schüttelte der Major den Kopf.

»Ich hatte angenommen, dass Ihnen spätestens jetzt klar werden würde, wie albern Ihre Bemühungen sind, unsere Zeit zu vergeuden«, sagte er. »Ich habe nicht die Absicht, Sie einzusperren. Ich wollte Ihnen eigentlich nur zeigen, wie unsinnig Ihre Warnung ist. Aber wenn Sie fortfahren, meine Geduld zu strapazieren, werde ich wütend und habe keine andere Wahl, als …«

Die Stimme des Majors versiegte. Er blickte an Joe vorbei auf die schräg geneigte Wand des Staudamms. Sie waren nur noch etwa zwanzig Meter von ihr entfernt.

Joe wandte sich um und folgte seinem Blick. Ein Funkeln war dort zu erkennen, wo Wasser und Damm zusammentrafen. Offenbar war dies die Folge einer Turbulenz, die an einer solchen Stelle niemals hätte auftreten dürfen. Wasser rann an der Dammwand herab in den Fluss. Das war zwar keine nennenswerte Flut, eher sah es aus, als habe jemand irgendwo oben einen Wasserhahn nicht vollständig zugedreht, aber eigentlich hätte dort überhaupt kein Wasser fließen dürfen.

»O nein«, murmelte Joe.

»Bring uns näher heran«, befahl der Major dem Steuermann und ging zur Bugspitze des Bootes.

Der Steuermann betätigte kurz die Gashebel, und das Patrouillenboot schob sich vorwärts. Wenige Sekunden später trieben sie direkt vor der Staudammwand. Zwei Suchscheinwerfer des Patrouillenbootes waren auf das strömende Wasser gerichtet.

»Es nimmt zu«, stellte Joe fest.

Er blickte an der aufsteigenden Wand hinauf, während der Major einen der Scheinwerfer nach oben richtete. Eine dunkle geschlängelte Linie verlor sich über ihnen in der Dunkelheit.

»Kann das wahr sein?«, murmelte Major Edo leise. »Ist so etwas möglich?«

»Ich schwöre Ihnen«, sagte Joe, »wir sind in Gefahr. Und nicht nur wir – das gesamte Niltal.«

Der Major starrte auf die Staudammwand, als stünde er unter Schock. »Aber so viel ist es doch gar nicht«, sagte er.

»Es wird schlimmer«, warnte Joe und blickte angestrengt nach oben. »Können Sie erkennen, wo es herkommt?«

Der Major drehte am Scheinwerfer, um den Weg des Wasserrinnsals zu verfolgen, doch es verschwand außerhalb des Lichtkreises.

»Nein«, sagte der Major ohne auch nur einen Anflug von Überlegenheit.

»Sie müssen die Bevölkerung warnen«, drängte Joe Zavala. »Dafür sorgen, dass sich die Menschen vom Fluss zurückziehen.«

»Das würde eine Panik auslösen«, sagte der Major. »Was ist, wenn Sie sich irren?«

»Ich irre mich nicht.«

Der Major war wie gelähmt. Offenbar war er nicht fähig, irgendetwas zu tun.

»Befreien Sie mich von meinen Fesseln!«, rief Joe. »Ich helfe Ihnen. Wenn wir das Leck gefunden haben, können wir vielleicht etwas tun, aber zumindest wissen Sie dann Bescheid.«

Während sie noch redeten, wurde das Rinnsal breiter. Nun entsprach es schon zwei Wasserhähnen, die weit aufgedreht waren.

»Ich bitte Sie, Major.«

Der Major schien schlagartig zu sich zu kommen. Er ließ sich von einem der Soldaten die Schlüssel geben, schloss zuerst Joes Handschellen und danach seine Fußfesseln auf.

»Kommen Sie mit«, sagte er dann und griff nach einem Walkie-Talkie.

Joe kletterte aus dem Boot und betrat die geneigte Wand des Staudamms. Er eilte neben dem Major her, während sie sich nach oben arbeiteten und dem Rinnsal folgten.

Das Gefälle des Assuan-Damms beträgt nur dreizehn Grad, ist also nicht allzu steil, solange man diese Steigung nicht im Laufschritt bewältigen muss. Nachdem sie gut zweihundert Meter horizontal und dreißig Höhenmeter überwunden hatten, war der Major völlig außer Atem, ohne dass sie den Durchbruch gefunden hatten.

»Die Wassermenge nimmt ständig zu«, sagte er und blieb neben dem nunmehr ziemlich breiten Wasserstrom stehen.

Joe entdeckte feinen Sand und andere Sedimente im Wasser. Der Prozess der Abtragung hatte bereits begonnen.

»Wir müssen höher hinauf«, sagte Joe.

Der Major nickte, und sie setzten ihren Aufstieg fort. Als sie einen Punkt knapp zwanzig Meter unterhalb der Dammkrone erreicht hatten, ergoss sich ein mittlerweile zwei Meter breiter schäumender Strom, der bereits zahlreiche Steine mit sich führte, die Dammwand hinab. Plötzlich gab ein Teil der Wand nach, der Wasserstrom verdoppelte sich augenblicklich und rauschte auf sie zu.

»Achtung!«, brüllte Joe und riss den Major zur Seite.

In letzter Sekunde konnten die Männer der Flut ausweichen. Jetzt ließ es sich nicht mehr leugnen.

Der Major schaltete sein Sprechfunkgerät ein und drückte auf die Sprechtaste.

»Hier ist Major Edo«, sagte er. »Ich melde einen Notfall mit höchster Gefahrenstufe. Lösen Sie sofort allgemeinen Alarm aus und leiten Sie eine vollständige Evakuierung der Uferzone ein. Der Hochdamm wurde Opfer eines Sabotageakts.«

Eine Flut unverständlicher Worte drang aus dem Lautsprecher des Funkgeräts, und der Major antwortete sofort. »Nein, dies ist keine Übung und kein falscher Alarm! Der Damm ist in Gefahr. Ich wiederhole: Der Damm droht jeden Moment zu bersten!«

Ein weiterer Abschnitt des oberen Randes gab gerade jetzt nach, und schäumende Wassermassen ergossen sich über die Dammwand. Falls jemand in Sichtweite des Damms die Warnung des Majors bezweifelte, brauchte er nur aus dem Fenster zu schauen, um den Beweis für ihre Richtigkeit zu erhalten.

In der Ferne hallte das Heulen von Alarmsirenen durch die Nacht. Es klang wie ein Fliegeralarm.

Unten am Fuß der Staumauer wendete das Patrouillenboot und entfernte sich in rasender Fahrt nach Süden.

»Feiglinge!«, brüllte der Major hinter seinen Männern her.

Joe konnte ihnen diese Reaktion ehrlicherweise nicht übel nehmen, allerdings brachte sie ihn und den Major in eine missliche Lage. Unter ihren Füßen erzitterte der Damm. Er mochte von gewaltigen Ausmaßen und die Lücke im Moment nur fünf Meter breit sein, aber Joe und der Major waren viel zu nahe an der Unglücksstelle, um sich auch nur andeutungsweise sicher fühlen zu können.

»Kommen Sie«, sagte Joe, packte den Major bei den Schultern und schob ihn vor sich zur Dammkrone. »Wir müssen dort hinauf. Es ist unsere einzige Chance.«