53
Joe Zavala rannte um sein Leben. Mit lädiertem Knöchel und all den anderen Blessuren stürmte er quer über die nasse Rampe des Assuan-Hochdamms, um in eine höher gelegene und sicherere Position zu gelangen. Der Major blieb etwas zurück, offenbar immer noch überwältigt von dem, was vor seinen Augen ablief.
»An Ihrer Stelle würde ich mich nicht ständig umdrehen.«
Der Major verstand die Warnung, legte einen Schritt zu und holte zu Joe auf.
Joe hatte den Plan, auf die Dammkrone zu gelangen, um möglichst weit weg von der Lücke zu kommen, die sich zunehmend vergrößerte. Er wollte den Schaden überblicken und einschätzen können.
Nachdem er die Krone erreicht hatte, stand Joe auf der Straße, die auf dem Damm verlief. Ein zehn Meter tiefes V war bereits ausgewaschen worden. Wasser aus dem Nassersee strömte hindurch.
Im grellen Schein der Flutlichtanlage konnte Joe erkennen, dass das Wasser Steine und Sand wie eine Sturzflut mitriss, die durch eine enge Gebirgsschlucht tobt.
Als diese Wirkung einsetzte, breitete sich der Schaden zu beiden Seiten aus, und das V erweiterte sich.
Während die Flut den Schotter wegwusch, blieb die Asphaltdecke darüber vorläufig noch erhalten und bildete eine zerbrechliche Brücke über dem schäumenden Wasser. Doch der stützende Untergrund wurde schnell mitgerissen, und große Brocken schwarzer Straßendecke brachen ab und stürzten in die Tiefe.
Als Joe auf den See hinausblickte, fiel ihm etwas auf. »Der Wasserstand ist erstaunlich hoch.«
»Der höchste, den wir je hatten«, bestätigte der Major. »Nach zwei Jahren mit rekordverdächtigen Regenfällen.«
Joe wusste nichts von General Aziz und seinen Beziehungen zu Jinn, aber es waren gerade diese Regenfälle, die Aziz auf die Idee gebracht hatten, seinen Vertrag zu brechen. Und ebendiese Regenmengen, denen er seine vermeintlich starke Position verdankte, würden nun sein Land verwüsten.
»Wo ist der Kontrollraum?«, rief Joe.
Der Major deutete zur Ostseite des Damms und dort zu einem neuen Gebäude, das fast genau in der Mitte und damit auf gleicher Höhe mit der Halbinsel stand. »Der neue Kontrollraum … neben dem Kraftwerk.«
»Dann los.«
Joe startete wieder durch, und diesmal hielt der Major mit ihm Schritt. Hinter ihnen vergrößerte sich die Lücke in der Dammkrone alle fünfzehn Sekunden um etwa dreißig Zentimeter.
Als sie den Kontrollraum erreichten, stieß der Major ohne langwierige Formalitäten die Tür auf, und er und Joe eilten hinein. In der Kommandozentrale herrschte das vollkommene Chaos. Die Hälfte der Arbeitsplätze war verwaist. Die tapferen Frauen und Männer, die an Ort und Stelle geblieben waren – wozu einiges an Mut gehörte –, versuchten zu begreifen, was hier eigentlich geschah.
»Wurden wir angegriffen?«, fragte der Schichtführer den Major. »Wir haben keine Explosion gesehen.«
»Sie müssen sämtliche Fluttore öffnen!«, rief Joe, ohne die Antwort des Majors abzuwarten. »Auch die Notfall-Überläufe.«
»Wer sind Sie?«, fragte der Mann. In seinen Worten lag nichts Bösartiges oder Misstrauisches, nur der Schock darüber, dass sich dieser völlig verdreckte Fremdling in Begleitung des Majors erdreistete, Befehle zu geben.
»Ich bin amerikanischer Ingenieur. Ich war ein oder zwei Mal in meinem Leben an Deichbauten und Flusslauf-Projekten beteiligt, und ich rate Ihnen, sämtliche Überläufe zu öffnen, wenn Sie eine halbwegs reelle Überlebenschance haben wollen.«
»Aber …«
»Im oberen Dammbereich ist es zu einem zehn Meter breiten Durchbruch gekommen«, unterbrach Joe den Schichtführer. »Und zwar dicht unterhalb der Wasserlinie und auf halbem Weg zwischen hier und dem Westufer. Wenn der Wasserstand bis unterhalb des Durchbruchs gesenkt werden kann, überleben Sie vielleicht. Wenn nicht, wird mit Sicherheit der gesamte Damm weggespült.«
Der Schichtführer starrte Joe für einen kurzen Moment an und dann den Major. Dieser nickte bestätigend und rief: »Vertrauen Sie ihm!«
Nachdem er lange genug nachgedacht hatte, wandte sich der Schichtführer um und brüllte quer durch den Raum: »Sämtliche Überläufe öffnen! Und genauso sämtliche Fluttore! Bis zum Anschlag!«
Die Angehörigen der Bedienungsmannschaft betätigten Schalter und legten Hebel um.
»Fluttore geöffnet!«, meldete einer von ihnen. »Blöcke Eins und Zwei füllen sich. Blöcke Drei und Vier ebenfalls.«
Auf der wandgroßen schematischen Darstellung der verschiedenen Staudammsektoren wechselten die Anzeigen von Rot zu Grün. Zwölf blaue Balken auf der Schautafel stellten die zwölf Generatorenkanäle unter dem Damm dar.
»Was ist mit den Notfall-Überläufen?«, fragte Joe.
Sämtliche größeren Staudämme sind für einen solchen Katastrophenfall mit Überläufen ausgestattet. Allerdings wurden diese Umleitungskanäle mit ihrem hohen Fassungsvermögen selten benutzt.
»Zuflüsse werden geöffnet«, meldete der Schichtführer. Er überwachte das Schaubild und zählte mit lauter Stimme: »… achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig. Alle Tore geöffnet. Ebenfalls der Toshka-Kanal. In zehn Sekunden lassen wir die maximale Wassermenge ab. Elfeinhalbtausend Kubikmeter pro Sekunde.«
Joe hörte und spürte, wie das Gebäude bis in seine Grundfesten erschüttert wurde. Dann blickte er auf den Nil hinaus. Das Wasser im Abflusskanal schäumte wie in einer riesigen Stromschnelle.
Bei weit geöffneten Toren floss durch die Überläufe genug Wasser ab, um alle fünfzehn Sekunden einen Supertanker damit zu füllen. Etwa die doppelte Menge ergoss sich bereits durch die Lücke im Staudamm. Doch Joe hatte das ungute Gefühl, dass es nicht ausreichen würde. Wenn der Nassersee bis an die Grenze seines Fassungsvermögens gefüllt war, würde es Stunden, wenn nicht gar Tage dauern, um den Wasserspiegel bis unterhalb des Durchbruchs im Damm abzusenken. In dieser Zeit würde die Lücke größer werden, und der ganze Prozess musste sich fortsetzen. Joe befürchtete, dass sie ihn niemals ein-, geschweige überholen könnten.
Während die Wassermassen gleichzeitig durch die zahlreichen Abflüsse donnerten, erzitterte das mehrere Millionen Tonnen schwere Bauwerk wie eine ganze Stadt während eines Erdbebens. Doch anstatt nachzulassen, hielten die Erschütterungen an und wurden sogar noch heftiger.
Ein weiterer großer Abschnitt des Damms brach ab und rumpelte wie eine Steinlawine die schräge Wand hinab. Nach wenigen Minuten hatte der Wasserstrom die Trümmer weggespült, und nun offenbarte der Durchbruch bereits eine Breite von siebzig Metern. Was sich an Wasser durch diese Lücke auf die Dammwand ergoss, war das Zehnfache dessen, was durch alle Überläufe zusammen abfloss. Joe fühlte sich unwillkürlich an die Niagarafälle erinnert.
Der Zufluss aus dem Nassersee ließ das Niveau des aus dem Unterlauf des Hochdamms gespeisten Flussabschnitts bis zum alten Staudamm rapide ansteigen. Ursprünglich sechsunddreißig Meter hoch und in zwei Etappen auf vierundfünfzig Meter erhöht, war der alte Staudamm zum Zeitpunkt seiner Eröffnung im Jahr 1902 die größte gemauerte Anlage dieser Art gewesen. Trotzdem konnten seine Überläufe den nunmehr enormen Zuwachs an Unterlaufwasser nicht bewältigen. Seine Krone – sie war zu einer Straße ausgebaut, die eine wichtige Verbindung zwischen Assuan und seinem Flughafen darstellte – wurde schon nach kurzer Zeit überspült.
Zum Glück herrschte dort so gut wie kein Verkehr mehr, der von den Fluten hätte in die Tiefe gerissen werden können. Die Lampen der malerischen Brückenbeleuchtung erhellten den Ablauf der Katastrophe, bis sie erloschen, als die Stromleitungen durch den Ansturm der Wassermassen gekappt wurden.
Neben dem Sirenenalarm war dies eine zusätzliche visuelle Warnung vor dem Kommenden, doch auch diese Warnung kam zu spät. Die Flut deckte die Felsformationen des ersten Katarakts zu und wälzte sich mit unwiderstehlicher Gewalt durch das für die schlagartig angewachsenen Wassermassen viel zu enge Flussbett.
Die Welle riss alles mit, was sich auf ihrem Weg befand. Ein wenig abgebremst wurde sie durch die Felsen des ersten Katarakts, doch dann erreichte sie den Flussabschnitt Assuans und fand reiche Beute. Leichte Segelboote aus Holz, mit denen Einheimische die zahlreichen Touristen zu den vielfältigen Sehenswürdigkeiten des Stroms transportierten, und Flussschiffe, die teilweise wie antike Paläste hergerichtet waren und ihren Passagieren das Gefühl gaben, Angehörige lange versunkener Pharaonengeschlechter zu sein, wurden von ihren Anlegeplätzen losgerissen und wie Gummienten in einer Kinderbadewanne durcheinandergewirbelt.
Die Wasserwalze fraß sich ins teilweise marode Mauerwerk der Uferbefestigungen, unterspülte Fels und Sandstein und ließ ganze Abschnitte der Kaianlagen abstürzen. Gischtwolken wurden in einem Ausmaß hochgeschleudert, wie man es gewöhnlich nur bei kalbenden Gletschern in arktischen Regionen beobachten kann.
Die Fluten ergossen sich über die berühmte Uferpromenade und brandeten gegen Hotels und andere Gebäude. Die Buden der fliegenden Händler und kleinere Bauwerke, die Schnellrestaurants und Souvenirläden beherbergten, wurden ebenso weggeschwemmt wie der Abfall in einem Rinnstein von den Wasserstrahlen der Reinigungswagen. Unterstützt wurde das Vernichtungswerk der Wasserfluten durch die oft sträflich leichte Bauweise der Behausungen. Aber das war erst der Anfang.
Der Schichtführer schwieg. Der Major schwieg. Sogar Joe Zavala sagte nichts. Sie waren völlig machtlos und konnten nichts anderes tun, als das Geschehen wie gebannt zu beobachten.
Neunzig Prozent der Bevölkerung Ägyptens lebten innerhalb einer rund zwanzig Kilometer breiten Zone rechts und links des Nils. Wenn der gesamte Hochdamm zerfiel, sah Joe vor seinem geistigen Auge eine Katastrophe heraufziehen, die Millionen Opfer kosten würde. Selbst wenn sich die Wassermassen im gesamten Tal ausbreiteten und die weiter flussabwärts liegenden Bereiche vor seiner zerstörerischen Kraft verschont blieben, wären die Nachwirkungen schlimmer als die eigentliche Überflutung.
Millionen würden ihr Zuhause verlieren. Die Hälfte des ägyptischen Ackerlands würde überflutet werden und wäre zumindest vorübergehend zerstört. Ruhr, Cholera und alle Krankheiten, die mit unhygienischen Verhältnissen einhergehen oder von Moskitos und anderen Insekten verbreitet werden, würden in epidemischen Ausmaßen ausbrechen.
Dass der Damm fünfzig Prozent des elektrischen Stroms des Landes lieferte, die plötzlich fehlen würden, machte das Ganze nur noch schlimmer. Angesichts dessen und all der anderen Probleme der Nation und ihres unsicheren politischen Status befürchtete Joe am Ende sogar einen Zusammenbruch der Regierung. Eine Nation von achtzig Millionen Menschen würde mit einem Schlag in Anarchie versinken.
»Wie lange würde es bis zum totalen Zerfall dauern?«, fragte er.
»Schwer zu sagen«, erwiderte der Schichtführer. »Das hängt davon ab, ob der Kern hält.«
Joe konnte beobachten, dass sich der Durchbruch an der oberen Kante zwar verbreitert, jedoch nicht vertieft hatte. Die V-Form ging allmählich in ein U mit extrem breiter Basis über.
»Woraus besteht der Kern?«, fragte er, da er sich erinnern konnte, in der Mitte des Querschnitts des Dammmodells ein anderes Material gesehen zu haben.
»Aus teilplastischem wasserdichtem Lehm«, sagte der Schichtführer. »Darunter folgt eine Schicht aus Beton.«
Wenn Joe mit seiner Vermutung nicht vollkommen schieflag, hatte sich das Wasser durch den Schotter gearbeitet und den Kern erreicht. Die Erosionsrate war auf nahe null herabgesunken. »Erstreckt sich der Kern über die gesamte Breite des Damms?«
Der Schichtführer nickte. »Er ist auf beiden Seiten im natürlichen Fels verankert.«
»Könnte er den See zurückhalten?«
Der Schichtführer überlegte. »Der Kern dürfte nicht auf gleiche Weise erodieren wie die Schotterfüllung, aber da die Rückseite des Staudamms weggewaschen wird, verringert sich die Masse aus natürlichem Fels und aufgeschüttetem Gestein, die den Kern stützt, ständig. Irgendwann wird das Gewicht beziehungsweise der Druck des Nassersees den Kern einfach beiseiteschieben, so wie es ein schwerer Reisebus mit einem Kleinwagen tun würde.«
Joe schaute zum Durchbruch hinaus. Das Wasser quoll über die Kante, stürzte in die Tiefe und verteilte sich. Aber die geringe Neigung und die Verkleidung hatten auch ihr Gutes. Letztere blieb zumindest vorerst unversehrt und an Ort und Stelle.
»Ich glaube, dass die Deckplatten den Damm einigermaßen stabilisieren«, sagte er. »Wenn der Wasserspiegel weit genug sinkt, könnte am Ende der Kern die Rettung sein. Und bei den jetzigen Ausmaßen der Lücke sollte es bis dahin nicht mehr als ein paar Stunden dauern.«
Der Schichtführer nickte. »Möglich wäre es«, sagte er und klang, als zweifelte er eher daran.
Major Edo deutete auf etwas anderes, das Joe bisher noch nicht aufgefallen war. Es war ein kleiner Geysir, der tief unten aus der Staudammwand aufstieg. In der von der Dammkrone herabrauschenden Flut nicht vollständig untergegangen, erschien er wie die Fontäne eines Springbrunnens in einem Ziergarten. Der Wasserstrahl stieg mit erheblicher Kraft in die Luft und fächerte sich zu einer Wolke aus feinem Dunst auf, in der sich das Licht der Flutlichtanlage auf der Dammkrone fing.
»Was ist damit?«, fragte Major Edo.
Joe erschrak. Ihm fielen das Modell und der Test im Jemen wieder ein. Der obere Durchbruch hatte zuerst stattgefunden, doch erst der untere Tunnel hatte dazu geführt, dass der Kern erst durchweichte, dann nachgab und damit den Zusammenbruch der gesamten Staumauer auslöste.
»Das ist das größere Problem«, sagte Joe.
»Wie konnte das passieren?«, wollte der Schichtführer wissen.
Joe versuchte, das Prinzip der Mikroroboter zu erklären und wie sie sich durch alle möglichen Materialien, darunter auch Beton und Lehm, fraßen. Diesmal äußerte niemand auch nur den geringsten Zweifel an seinen Ausführungen.
»Könnten sie noch immer da unten … tätig sein?«
»Möglich«, sagte Joe. »Vielleicht wühlen sie sich in die Tonschicht, um einen Tunnel zu graben, wozu das Wasser aus eigener Kraft nicht fähig ist.«
»Wenn der Tunnel zu breit wird …«, begann der Schichtführer. Er brauchte seinen Satz nicht zu beenden.
»Sehen Sie irgendeine Möglichkeit, ein solches Leck zu verschließen?«, fragte Joe.
Der Schichtführer massierte sich das Kinn. »Es gibt vielleicht einen Weg«, sagte er. »Wir verfügen über ein Material namens Ultra-Set. Es ist ein Polymer, das sich mit Lehm verbindet, sich im Verlauf dieses Prozesses ausdehnt und bis in die winzigsten Spalten und Winkel eindringen kann. Dabei wird es innerhalb von Sekunden wasserdicht. Wenn wir es in den Tunnel pumpen, den diese seltsamen Dinger, die Sie vorhin beschrieben haben, bohren, könnte es ihn verstopfen und abdichten. Wenn die Staumauer darüber hält und der Wasserspiegel schnell genug sinkt, lässt sich ein vollständiger Zusammenbruch vielleicht noch vermeiden.«
Weitere Erschütterungen liefen durch das Gebäude.
»Und wo ist der Pferdefuß?«, fragte Joe.
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das Ultra-Set in den Tunnel zu bekommen«, sagte der Schichtführer. »Wir müssen es unter hohem Druck hineinpumpen. Und zu diesem Zweck muss jemand die Öffnung auf der Seeseite des Damms suchen.«
Joe ließ einen prüfenden Blick vom Schichtführer über die anderen Anwesenden im Raum, die auf ihren Posten ausgeharrt hatten, wandern. »Sie brauchen einen Taucher«, vermutete er und haderte mit seinem Schicksal. Ihm blieb auch nichts erspart. Dennoch lächelte er. »Wie schön für mich.«