54
Die Fahrstuhltüren öffneten sich und gaben den Blick auf die oberste Etage von Marchettis Pyramide und ein luxuriöses Foyer frei. Drei von Jinns Männern hielten dort Wache und drehten sich beim Klingelzeichen des Fahrstuhls um.
Es war eine natürliche Reaktion. Sie hatten keinen Grund, mit irgendwelchem Ärger zu rechnen. Tatsächlich sah es für Kurt so aus, als nähmen sie Habtachtstellung an, sobald die Klangwelle des Pain Makers sie traf und auf die Knie sacken ließ.
Ein Mann stieß ein Ächzen aus, ein anderer taumelte rückwärts und stolperte gegen einen Tisch, auf dem eine Blumenvase stand, die auf dem Boden zerschellte. Der dritte Mann fiel einfach um – wie vom Blitz getroffen.
Kurt ließ den Handgriff los, der das Gerät mit Strom versorgte, während Paul, Gamay, Tautog und Varu die Männer mit Handschellen aus dem Inselknast fesselten. Die Männer waren noch benommen und völlig verwirrt.
»Ich kenne eure Schmerzen«, tröstete Kurt sie. »Vor zehn Stunden musste ich sie selbst ertragen.«
Die Männer wurden mit Klebeband geknebelt und in einen großen Wäsche- und Putzschrank eingeschlossen.
»Hier entlang«, sagte Marchetti und bog nach rechts ab. Sie kamen an die Ecke des Korridoreingangs. Kurt warf einen vorsichtigen Blick hinein und sah schnell, dass der Korridor leer war.
»Weiter geht’s.«
Auf halbem Weg den Flur hinunter erreichten sie eine Doppeltür. Marchetti ging zu einem Tastenfeld. Während er seinen persönlichen Zugangscode eintippte, erklangen unter ihnen Schüsse. Es war ein Geknatter wie von Zündplättchenpistolen.
»Offenbar leisten einige von Jinns Männern Widerstand«, sagte Gamay Trout.
Kurt nickte. »Dann sollten wir uns beeilen.«
Marchetti hatte die Eingabe noch nicht beendet, als Paul und Tautog schon wieder dabei waren, den Pain Maker einsatzbereit zu machen.
Kurt öffnete die Tür mit einem Fußtritt und betätigte den Wandschalter. Niemand war zu sehen.
»Der falsche Raum?«, fragte Gamay.
Kurt schaltete die Maschine aus, trat ein und sah sich um. Im Bett hatte jemand geschlafen. Er nahm den Duft von Jasmin wahr. Das gleiche Parfüm, das Zarrina getragen hatte. Offenbar stand sie Jinn näher, als er angenommen hatte.
»Richtiger Raum«, sagte er. »Wir sind nur zu spät gekommen.«
Während er an Marchetti vorbeirannte, murmelte er: »Sie wollen sicher die Bettwäsche wechseln.«
»Oder das Bett verbrennen«, sagte Marchetti.
Kurt eilte durch den Korridor, während weitere Schüsse fielen. Die anderen beeilten sich, um mit ihm Schritt zu halten.
»Das erklärt auch, weshalb seine Männer stramm gestanden haben«, sagte Paul. »Sie glaubten, jemand käme zurück.«
»Wo sind sie hingegangen?«, fragte Leilani.
»Mir fällt nur ein einziger Ort ein«, sagte Kurt.
Geschockt von dem, was gerade vorgefallen war, stand Jinn im Kontrollraum von Aqua-Terra. Zarrina, Otero und Matson sowie der Radartechniker und ein weiterer seiner Männer umringten ihn. Die übrigen hatten sich seit etwa zehn Minuten verteilt und kämpften gegen Marchettis Mannschaft und Männer, die wie U. S. Marines aussahen.
»Wie? Wie ist das möglich?«, fragte er. »Hier wurden doch keine Patrouillenboote oder Hubschrauber gesichtet. Woher kommen diese Leute?«
»Wir haben ein Video vom Gefängnisdeck«, meldete Otero, während er einen Laptop studierte. »Ich sage es nur ungern, aber es ist Austin.«
»Das kann nicht sein«, widersprach Jinn. »Er ist tot. Ich habe ihn zweimal umgebracht.«
»Dann ist er von den Toten auferstanden«, entgegnete Otero und drehte den Laptop zu Jinn herum. »Sehen Sie.«
Es war tatsächlich Austin. Jinn konnte es nicht fassen. Es schien geradezu, als sei Kurt Austin wie ein Geist zwischen ihnen erschienen. Ein durchaus angemessener Vergleich, denn Jinn war sich vollkommen sicher, ihn ins Jenseits geschickt zu haben.
Die Schüsse kamen näher. Vom Beobachtungsdeck aus waren einige von Jinns Männern zu sehen, die in Richtung von Marchettis Park rannten. Sie schafften es nicht.
»Wir müssen von hier verschwinden«, drängte Zarrina. »Der Kampf ist verloren.«
Jinn überprüfte ihre Lage. Sie würden es niemals bis zum Dock schaffen, wo das Wasserflugzeug vertäut war. Und selbst wenn sie das doch schaffen sollten, würden ein paar gezielte Schüsse oder Raketen, die er mitgebracht hatte, sie vom Himmel holen.
»Wir können nicht fliehen«, entschied er.
»Und diesen Kampf können wir auch nicht gewinnen«, erwiderte Zarrina schneidend. »Wir sind nur zu fünft.«
»Ruhe!«, schnappte Jinn.
Er versuchte nachzudenken, suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Blatt doch noch zu wenden. Er sah zu Otero hinüber. »Schaffen Sie eine Verbindung zum Schwarm und aktivieren Sie den Transmitter.«
Otero drückte einige Tasten seines Laptops und schob diesen dann auf dem Tisch zu Jinn hinüber.
»Der Kontakt ist hergestellt.«
»Was wollen Sie tun?«, fragte Matson.
Jinn ignorierte ihn. Er tippte etwas. Anfangs langsam und dann schneller, nachdem er sich vergewissert hatte, dass er sich im richtigen Bereich des Systems befand.
Das Pistolen- und Gewehrfeuer draußen im Korridor trieb ihn zur Eile an.
Er zog den Cursor auf einen Befehl im Menü und drückte auf ENTER.
Die Tür zum Kontrollraum flog auf, und Schüsse fielen, so dass Querschläger durch den Raum sirrten.
Jinn übernahm, als Matson und der Radartechniker getroffen wurden und ausfielen. Sekunden später wurde Jinns anderer Wächter getötet, als er das Feuer der Eindringlinge erwidern wollte.
»Geben Sie auf, Jinn!«, erklang Austins Stimme.
Jinn war hinter einer Armatureninsel in der Mitte des Raums in Deckung gegangen, auf deren Tafel sich zahlreiche der lebenswichtigen Kontrollen von Aqua-Terra befanden. Otero und Zarrina drängten sich hinter ihn. »Und wenn wir das tun?«
»Dann lege ich Sie in Ketten und liefere Sie den zuständigen Behörden aus.«
»Ich soll Ihnen glauben, dass Sie uns nicht töten?«
»So gern ich das täte«, erwiderte Austin, »aber das habe nicht ich zu entscheiden. Rechnen Sie allerdings nicht damit, in den Jemen zurückzukehren. Ich denke eher an einen internationalen Gerichtshof oder eine amerikanische Militärbasis.«
»In deren Hände werde ich mich niemals begeben!«, rief Jinn.
»Dann zeigen Sie sich und lassen Sie uns die Geschichte wie Männer beenden.«
Jinn konnte Austins Spiegelbild auf einer Fensterscheibe sehen. Er versteckte sich hinter dem stählernen Türschott. Wenn Jinn sich jetzt aufrichtete, würde Austin ihn niederstrecken. Wenn er in seinem Versteck blieb, würden Austin oder jemand von Austins Team ihn in Kürze von der Seite aus angreifen.
»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Jinn. »Ich werde Ihnen jetzt eine Lektion über Macht und ihren angemessenen Gebrauch erteilen.«
Er warf einen Blick zum Laptop. Ein blinkendes grünes Fenster auf dem Bildschirm informierte ihn, dass die Befehle gesendet und empfangen worden waren. Er konnte jetzt aktiv werden.
Er zog die Pistole aus seinem Holster, legte den Sicherungsflügel mit dem Daumen um und drückte die Waffe gegen seine Brust.
»Die Zeit ist abgelaufen«, informierte ihn Austin.
Jinn wusste es.
Er drückte die Mündung der Pistole gegen Oteros Hinterkopf und drückte ab. Die gedämpfte Explosion schleuderte den Computerprogrammierer und was von seinem Kopf noch übrig war aus der Deckung und auf die freie Fußbodenfläche. Jinns zweiter Schuss zerschmetterte den Laptop zu einer Wolke aus Plastiktrümmern und Mikrochips. Er feuerte zur Sicherheit ein weiteres Mal und zerstörte damit auch den Bildschirm des Computers.
Dann warf er die Waffe auf den Boden. »Ich ergebe mich«, sagte er und streckte die Hände hoch.
Im Schutz des Türschotts konnte Kurt seinen Widersacher mit Hilfe des gleichen reflektierenden Fensters beobachten, in dem Jinn ihn zuvor entdeckt hatte. Irgendetwas kam ihm seltsam vor. Er hatte gesehen, wie Jinn seine Waffe gezückt hatte, und erwartet, dass er sich herausgewagt hätte und wild um sich schießend ausgeschaltet worden wäre, aber Otero zu erschießen und sich von seiner Waffe zu trennen, das war, gelinde gesagt, äußerst befremdlich.
Zarrina warf ebenfalls ihre Waffe weg und hob die Hände. Sie und Jinn erhoben sich langsam, und Kurt richtete den M1-Karabiner auf Jinns Brust.
»Eine falsche Bewegung, und Sie sind ein toter Mann.«
Kurt trat über die Schwelle in den Raum. Paul Trout und Tautog folgten ihm. Sie schwärmten aus.
Kurt witterte eine Falle. Jinn mit dem Gewehr weiterhin in Schach haltend, überprüfte er die Toten: Jinns Wächter, Matson, dann das, was von Otero übrig war, und den Radartechniker.
Er fand nichts Verdächtiges, aber der selbstzufriedene Ausdruck wollte nicht aus Jinns Gesicht weichen. Als hätte er soeben ein Ass im Ärmel versteckt oder mit irgendeiner List Erfolg gehabt.
»Was haben Sie getan?«, flüsterte Kurt und wartete darauf, dass irgendeine Falle zuschnappte oder eine Explosion stattfand. »Was haben Sie getan?«
Jinn sagte nichts. Kurt bemerkte den zertrümmerten Laptop. Er begriff, dass Jinn soeben Otero, den Programmierer, exekutiert hatte. Zwischen beiden »Opfern« musste eine Verbindung bestehen.
Rufe von unten drangen durch die offene Tür. Sie kamen von Tautogs Männern auf dem Null-Deck.
»Hier geschieht irgendwas«, rief einer von ihnen. »Der Ozean lebt plötzlich.«
Kurt trat hinaus. Durch den nächtlichen Nebel konnte er erkennen, dass das Wasser zu wogen und zu schäumen begann.
»Marchetti, schalten Sie die Beleuchtung ein!«
Marchetti eilte zur Kontrolltafel und legte eine ganze Reihe Schalter um. Rund um die Insel erstrahlte der Ozean, als Marchetti die Flutlichtanlage sowohl über als auch unter Wasser aktivierte. Kurt erkannte sofort, was hier los war.
Das Wasser wallte, als hätte es plötzlich zu sieden begonnen. Der Schwarm Mikroroboter, der sie umgab, war zur Oberfläche aufgestiegen und hatte Kurs auf die Insel genommen.
»Er hat sie geweckt«, flüsterte Marchetti mit vor Angst bebender Stimme. »Und sie nach Hause zurückgerufen.«
Jinn lachte. Es war ein kehliges Lachen, bösartig, drohend, sadistisch und von perversem, egomanischem Stolz triefend.
»Ich denke, jetzt begreifen Sie, was ich unter wahrer Macht verstehe«, sagte er. »Wenn Sie mich nicht freilassen, wird der Schwarm Sie alle verschlingen.«