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Oben auf dem Helipad wurden die unheimlichen, allgegenwärtigen Geräusche der Mikroroboter immer lauter. Sie kamen von überall gleichzeitig. Das hörte sich wie der Gesang dementer elektromagnetischer Zikaden an, die millionenfach zirpten und von Sekunde zu Sekunde näher drangen.

Das Geräusch ging Kurt Austin auf die Nerven, aber anscheinend quälte es Zarrina und Jinn noch weitaus heftiger als ihn.

Zarrina schaute über den Rand und ließ den Blick an den Gebäuden, zwischen denen das Helipad hing, auf und ab wandern. Der dunkle Schatten des angreifenden Schwarms war schon zu drei Vierteln an den Pyramiden emporgewandert und färbte ihre weißen Fassaden dunkelgrau und schwarz.

»Nenn ihm den Code«, sagte sie.

»Niemals«, erwiderte Jinn.

»Sie sollten auf sie hören, Jinn«, sagte Kurt. »Sicherlich ist sie keine gute Frau, aber sie ist auch keine Idiotin.«

»Wir verfügen über Menschen, Geld und Anwälte«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Wir müssen nicht sterben.«

»Halt den Mund!«, befahl Jinn.

Sie fasste nach seinem Arm. »Bitte, Jinn«, flehte sie.

Jinn schlug die Hand weg, packte den Kragen ihrer Bluse und raffte ihn zusammen. Er funkelte sie wütend an. »Du behinderst mich, Frau!«

Ehe sie etwas darauf erwidern konnte, stieß er sie zurück und über den Rand.

Zarrina stürzte schreiend ab. Sie schlug zehn Stockwerke tiefer auf einer nunmehr dreißig Zentimeter dicken Schicht Mikroroboter auf, die wie eine Staubwolke in alle Richtungen spritzten. Doch nur für wenige Sekunden blieb sie unbedeckt, dann rückte der Schwarm gegen sie vor, deckte sie zu und verzehrte sie.

Für einen kurzen Moment verfolgte Jinn das Schauspiel, wobei vielleicht Zorn, aber kein Mitleid in seinem Gesicht lag. Doch Kurt glaubte, auch einen Anflug von Furcht zu erkennen. Das Tempo, mit dem die Mikroroboter Dinge in ihrer Umgebung verschlangen, war beängstigend. Das wusste Jinn besser als alle anderen.

»Sehen Sie es sich gut an, Jinn. So werden Sie sterben«, sagte Kurt. »Sind Sie bereit für die letzte Reise?«

Ständig wurde es dunkler um sie herum. Die Mikroroboter waren nur noch ein kleines Stück entfernt und absorbierten sämtliches Licht, das von unten heraufdrang. Nur die wenigen Halogenlampen an der Seitenwand des Hangars und die roten Positionslichter am Rand des Helipads illuminierten sie noch.

Jinn wirkte ein wenig unsicher. »Sie werden mit mir sterben«, erinnerte er Kurt.

»Für meine Freunde. Für mein Land. Für die Menschen überall auf der Welt, die leiden würden, wenn Sie gewännen. Ich habe kein Problem damit. Wofür sterben Sie?«

Jinn starrte ihn an, das Gesicht vor Zorn gerötet, die Zähne raubtierhaft gefletscht, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Er wusste, dass sein Bluff aufgeflogen war. Zu sterben brachte ihm nichts. Keinen Reichtum, keine Macht, kein Vermächtnis. Seine Welt bestand aus ihm ganz allein, seiner eigenen Arroganz, seiner eigenen eingebildeten Größe. Wenn diese Existenz endete, dann verschaffte ihm nicht einmal das Vernichtungswerk der Mikroroboter Genugtuung.

In diesem Moment hasste er Kurt mit jeder Faser seines Seins. Hasste ihn so sehr, dass er jede Selbstkontrolle verlor.

Er stürzte sich auf Kurt wie ein Berufsringer, der entschlossen war, den Kampf ein für alle Mal zu beenden.

Anstatt auf Jinn zu schießen, drehte Kurt das Gewehr und benutzte es als Stockschwert. Er nahm Jinns Schwung auf und setzte ihn gegen ihn ein. Indem er sich nach hinten fallen ließ, versetzte Kurt Jinn einen Tritt gegen den Solarplexus und warf ihn herum. Die Aktion ließ Jinn durch die Luft fliegen und hart auftreffen.

Kurt kam rechtzeitig auf die Füße, um mitzuerleben, wie Jinn auf den Rücken krachte. Er kam langsam wieder hoch, eher benommen als verletzt.

»Sie sind wohl nicht mehr daran gewöhnt zu kämpfen, oder?«, stachelte Kurt seinen Gegner an.

Jinn packte ein Rohr, das aus einem der Luftschiffe als nutzloser Ballast entfernt worden war. Er kam auf Kurt zu und schwang es über dem Kopf wie eine Schlagwaffe.

Kurt hielt das Gewehr noch immer mit beiden Händen, blockte das Rohr damit ab und rammte den Kolben gegen Jinns Kopf. Die Haut platzte auf, und Blut quoll reichlich hervor.

Jinn wich stolpernd zurück und schlug die Hände vor das blutende Gesicht. Kurt machte einen Schritt vorwärts und entfernte das Rohr mit einem Fußtritt von der Plattform.

Es wirbelte in die Dunkelheit und erzeugte mit seinen offenen Enden ein seltsam pfeifendes Geräusch.

Mittlerweile hatte der Schwarm den Rand des Helipads erreicht. Die ersten Ausläufer der grau-schwarzen Schicht wagten sich auf die ebene Oberfläche und näherten sich von allen Seiten.

Kurts Zeit ging zur Neige.

Mit bluttriefenden Lippen rief Jinn: »Ohne Gewehr hätte ich Sie mit bloßen Händen erwürgt!«

Kurt zielte mit dem Gewehr auf ihn und schleuderte es dann vom Deck hinunter. »Sie können mich nicht besiegen, Jinn«, brüllte er. »Ich bin besser als Sie. Ich kämpfe für etwas, das Bedeutung hat, während Sie nichts anderes tun, als Ihre persönlichen Ziele zu verfolgen. Sie wollen nicht sterben. Sie haben Angst vor dem Tod. Ich sehe es in Ihren Augen.«

Jinn griff wieder an, wobei der Zorn sein Gesicht zu einer Fratze verzerrte. Diesmal suchte sich Kurt einen sicheren Stand, senkte die Schulter und traf Jinns Bauch. Er schlang die Arme um Jinns Oberkörper, hob ihn hoch und warf ihn aufs Deck.

Plötzlich hatte Jinn ein Messer in der Hand. Es schnitt in Kurts Arm, ehe er Jinns Handgelenk abfangen konnte. Blut quoll aus der Wunde, ein Schmerz durchzuckte ihn, aber Kurts Kraft und Entschlossenheit behielten die Oberhand. Er schmetterte Jinns Hand aufs Deck und wiederholte diese Aktion drei Mal, ehe Jinn das Messer losließ.

Kurt wischte es beiseite, und es flog in die herankriechende Front der Mikroroboter.

Jetzt oder nie. Jinn versuchte aufzustehen, aber Kurt hämmerte ihm den Ellbogen ins Gesicht und schmetterte dann seinen Kopf aufs Deck. Er packte Jinns Haar, drehte das Gesicht des Mannes zur Seite und zwang Jinn, den Schwarm anzusehen, der sich unaufhaltsam näherte.

»Sieh sie dir an!«, zischte Kurt und presste Jinns Wange aufs Deck. »Sie sieh dir an!«

Mittlerweile hatte Jinn jegliche Gegenwehr aufgegeben. Er starrte auf die Mikroroboter. Die Front kam näher, der Kreis um sie wurde kleiner.

Sie erreichten eine Blutspur und schwärmten wie hungrige Ameisen darauf aus. Das Licht der Schweinwerfer brach sich auf ihren metallischen Rücken, und das Geräusch ihrer Aktionen war so durchdringend wie ein monströser Schwarm Bienen, kombiniert mit dem Kratzen von Fingernägeln auf einer Wandtafel.

»Gib mir den Code!«, verlangte Kurt.

Der Laptop war nur wenige Schritte entfernt. Der Schwarm hatte ihn bereits umzingelt. Er schwamm regelrecht auf einem Meer von Mikrorobotern.

»Was nutzt er Ihnen jetzt noch?«

»Nennen Sie ihn einfach!«

Kurt hielt ihn auf dem Deck fest, Jinn sträubte sich gegen den Griff, versuchte, sein Gesicht vor der heranrückenden Front von Mikrorobotern zurückzuziehen. Seine Lippen zitterten, während sie auf ihn zukrochen, ihn erreichten, sich zur Wunde in seiner Wange vortasteten. Er spuckte die aus, die in seinen Mund gelangt waren, aber einige drangen auch schon in seine Augen. Es brannte wie Feuer.

»Jetzt, Jinn! Ehe es zu spät ist!«

»221-798-615«, rief Jinn.

Kurt hievte Jinn auf die Füße. »Haben Sie das gehört, Marchetti?«

Eine blecherne Stimme drang aus Kurts Tasche. »Übertragung läuft!«

Das schrille Kreischen dauerte an. Kurt zog Jinn zwar zurück, aber der Kreis roboterfreien Bodens war auf die Fläche eines Küchentisches zusammengeschrumpft und wurde ständig kleiner.

»Marchetti?!«

Plötzlich hielt der Schwarm inne. Das Geräusch des Schlingens, Kriechens und Scharrens verstummte. Wie eine Welle umfallender Dominosteine breitete sich die Stille nach allen Seiten aus.

Sie stürzten von den Gebäudewänden flächenweise herab und bildeten mit ihren Körpern eine Dünenlandschaft aus grauen und schwarzen Haufen. Eine Wolke von ihnen wehte wie Staub über das Null-Deck.

Das grässliche Geräusch wurde jetzt durch normale Laute wie das Knarren und Ächzen der stählernen Insel und das leise Summen der Luftschiffe ersetzt, die sie umkreisten.

»Gut gemacht, Marchetti«, sagte er. »Und jetzt kommen Sie bitte herunter und helfen Sie mir, diesen Schlamassel hier zu beseitigen.«