Prolog

Ein vergessenes Land

Könnte es sein, dass ich von den einhundertvierzig, die es einmal gegeben hat, vielleicht der letzte Wächter bin? Dieser düstere Gedanke wirbelte durch Dhakals Geist.

Acht Wochen zuvor hatte die Hauptmacht der Eindringlinge sein Land von Osten her in rasender Eile und mit brutaler Grausamkeit überrannt. Kavallerie und Fußsoldaten strömten die Berge herab und schwärmten in die Täler aus, machten die Dörfer dem Erdboden gleich und metzelten jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte.

Mit den Armeen kamen Trupps von Elitesoldaten, die nur eine einzige Aufgabe hatten: den heiligen Theurang zu suchen und zu ihrem König zu bringen. In weiser Voraussicht entfernten die Wächter, deren Pflicht es war, das heilige Relikt zu beschützen, dieses von seinem Ort der Verehrung und versteckten es.

Dhakal ließ sein Pferd in einen langsamen Trab fallen, verschwand von dem Weg durch eine Lücke zwischen den Bäumen und hielt auf einer kleinen schattigen Lichtung an. Er glitt aus dem Sattel und gestattete seinem Pferd, zu einem nahen Bach zu trotten und seinen Durst zu stillen. Er trat hinter das Pferd, um die Ledergurte zu überprüfen, mit denen der würfelförmige Kasten am Bauch des Reittiers befestigt war. Wie immer befand sich die Last sicher an Ort und Stelle.

Der Kasten war ein wahres Wunderding, derart solide zusammengefügt, dass er einen Sturz aus großer Höhe auf einen Felsen – oder wiederholte heftige Schläge – überstand, ohne nachher auch nur einen Kratzer aufzuweisen. Er besaß Schlösser in großer Zahl, alle so gut versteckt und genial konstruiert, dass es unmöglich war, sie aufzubrechen.

Von den zehn Wächtern in Dhakals Kader hatte keiner die Mittel oder die Fähigkeit, diesen einzigartigen Kasten zu öffnen, noch wusste einer von ihnen, ob sein Inhalt echt oder nur eine Nachbildung war. Diese Ehre, oder vielleicht auch dieser Fluch, kam allein Dhakal zu. Wie und warum er ausgewählt worden war, wurde ihm nicht offenbart. Aber er allein wusste, dass sich der verehrte Theurang in dieser heiligen Truhe befand. Schon bald würde er, wenn ihm das Glück hold war, ein sicheres Versteck für die Truhe finden.

Seit fast neun Wochen war er auf der Flucht, nachdem er mit seinem Kader nur wenige Stunden vor den Eindringlingen aus der Hauptstadt hatte entkommen können. Zwei Tage lang, während der Rauch der brennenden Häuser und Felder den Himmel hinter ihnen verdunkelte, waren sie mit hoher Geschwindigkeit nach Süden geritten. Am dritten Tag trennten sie sich, und jeder Wächter schlug eine vorher bestimmte Richtung ein, die meisten wichen von dem Weg ab, den die Eindringlinge bei ihren weiteren Vorstößen nehmen würden, doch einige wandten sich direkt zurück und den Eindringlingen entgegen. Diese tapferen Männer waren bereits tot oder wurden von ihren Feinden gefoltert. Diese, nachdem sie die von jedem Wächter als Köder mitgeführte Truhe in ihren Besitz gebracht hatten, wollten von ihnen wissen, wie die Behälter geöffnet werden konnten. Wie geplant konnte ihnen keiner diese Frage beantworten.

Was Dhakal betraf, so hatten ihn seine Befehle nach Osten – der aufgehenden Sonne entgegen – geführt, in eine Richtung, die er dann während der vergangenen einundsechzig Tage beibehalten hatte. Das Land, in dem er sich nun befand, unterschied sich grundlegend von der wüstenhaften, gebirgigen Region, in der er aufgewachsen war. Auch hier gab es Berge, doch sie waren dicht bewaldet und wurden durch Täler voneinander getrennt, die mit Seen und Teichen gefüllt waren. Unsichtbar zu bleiben, war in dieser Gegend viel einfacher, jedoch behinderte sie sein Vorankommen. Das Terrain war ein zweischneidiges Schwert: Geschickte Verfolger könnten ihn unbemerkt einholen, so dass er keine Chance mehr hätte, ihnen zu entkommen.

Bisher war es mehrmals zu heiklen Situationen gekommen, doch seine Erfahrung und sein Training hatten ihm geholfen, sie heil zu überstehen. Fünf Mal hatte er aus einem Versteck beobachtet, wie seine Verfolger nur wenige Schritte entfernt an ihm vorbeiritten. Und zweimal war er in einen offenen Schlagabtausch mit feindlichen Kavallerieeinheiten geraten. Wenn auch hoffnungslos in der Unterzahl und erschöpft, hatte er diese Männer getötet, ihre Leichen und ihre Waffen vergraben und ihre Pferde auseinandergetrieben.

Während der letzten drei Tage hatte er von seinen Verfolgern weder etwas gehört noch gesehen. Auch war er nur wenigen Einheimischen begegnet, und die, mit denen er direkt zusammengetroffen war, hatten ihm kaum Beachtung geschenkt. Dafür war er ihnen, was Gesicht und Statur betraf, zu ähnlich gewesen. Sein Instinkt riet ihm weiterzureiten, da er nicht genügend Abstand zu ihnen gewonnen hatte und …

Auf der anderen Seite des Flusses, etwa fünfzig Meter entfernt, knackte in den Bäumen ein Ast. Jedem anderen wäre es nicht aufgefallen, aber Dhakal erkannte es als das typische Geräusch eines Pferdes, das sich durch dichtes Unterholz bewegt. Sein eigenes Pferd hatte aufgehört zu trinken und den Kopf mit zuckenden Ohren wachsam erhoben.

Vom Weg drang ein weiterer Laut herüber, das Scharren eines Pferdehufs auf losem Gestein. Dhakal zog den Bogen aus seinem Futteral, das er auf dem Rücken trug, und dann einen Pfeil aus dem Köcher. Er kauerte sich ins kniehohe Wassergras. Teilweise gedeckt durch die Beine des Pferdes, lugte er unter dem Bauch seines Reittiers hervor und suchte nach Anzeichen für eine verräterische Bewegung. Als er nichts dergleichen sah, warf er einen Blick nach rechts. Zwischen den Bäumen konnte er einen Teil des schmalen Pfades überblicken. Er beobachtete und wartete.

Dann ein erneutes Hufescharren.

Dhakal legte den Pfeil auf die Sehne und spannte den Bogen.

Nur wenige Augenblicke später erschien ein Pferd in kurzem Galopp auf dem Pfad. Das Pferd hielt an. Dhakal konnte nur die Beine des Reiters und seine schwarz behandschuhten Hände erkennen, die auf dem Sattelhorn lagen. Die Finger hielten die Zügel in lockerem Griff. Die Hand bewegte sich, zog mit leichtem Ruck an den Zügeln. Das Pferd wieherte leise und stampfte mit einem Huf auf.

Eine absichtliche Bewegung, erkannte Dhakal sofort. Eine Störung.

Die Angreifer kämen vom Wald.

Dhakal spannte den Bogen bis zum Äußersten, zielte und schoss den Pfeil ab. Die Spitze bohrte sich bei dem Mann in die Beuge zwischen Oberschenkel und Hüfte. Er schrie auf, griff nach seinem Bein und stürzte vom Pferd. Dhakal wusste sofort, dass er genau getroffen hatte. Der Pfeil war in die Oberschenkelarterie des Kriegers gedrungen; der Mann war nun kampfunfähig und würde innerhalb weniger Minuten sterben.

Immer noch im Gras kauernd, drehte sich Dhakal auf den Hacken, während er gleichzeitig drei weitere Pfeile aus dem Köcher zog. Zwei rammte er vor sich ins Erdreich, den dritten legte er auf die Sehne. Dort, zehn Meter entfernt, entdeckte er drei Männer, die mit gezückten Schwertern durchs Unterholz auf ihn zukrochen. Dhakal zielte auf die hinterste Gestalt und schoss. Der Mann brach zusammen. In schneller Folge schoss er noch zweimal, traf einen Mann mitten in die Brust und den nächsten in den Hals. Ein vierter Kämpfer stieß einen Kriegsschrei aus und kam aus dem Wald hervorgestürmt. Fast hatte er das Flussufer erreicht, da fällte ihn Dhakals Pfeil.

Im Wald kehrte Stille ein.

Vier, dachte Dhakal irritiert. Sie hatten bisher niemals weniger als ein Dutzend losgeschickt.

Wie als Antwort auf seine stumme Frage erklang Hufgetrappel auf dem Weg hinter ihm. Dhakal wirbelte herum und sah mehrere Reiter in einer Linie an ihren toten Gefährten vorbeistürmen. Drei Pferde … vier … sieben … zehn Pferde, und immer mehr kamen. Die Übermacht war erdrückend. Dhakal schwang sich auf sein Pferd, legte einen Pfeil auf die Sehne und drehte sich gerade noch rechtzeitig im Sattel, um das erste Pferd der Verfolger durch die Lücke zwischen den Bäumen auf die Lichtung galoppieren zu sehen. Dhakal schoss. Der Pfeil bohrte sich in das rechte Auge des Reiters. Die Wucht des Aufpralls stieß ihn rückwärts über den Sattel, wo er vom Hinterteil des Pferdes hochgeworfen und gegen den nachfolgenden Reiter geschleudert wurde. Dessen Pferd bäumte sich auf, wich zurück und versperrte den Weg. Die nachfolgenden Pferde mitsamt ihren Reitern prallten gegeneinander. Der Angriff kam ins Stocken.

Dhakal rammte seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Das Tier sprang vom Flussufer ins Wasser. Dhakal drehte sich, trieb mit den Fersen sein Pferd an und galoppierte flussabwärts.

 

Er erkannte, dass dies kein Zufallsangriff war. Seine Verfolger waren ihm schon seit einiger Zeit dicht auf den Fersen und hatten es geschafft, ihn zu umzingeln.

Über den Planschgeräuschen der Hufe, die sein Pferd im seichten Wasser verursachte, konnte er sie jetzt hören: Reiter, die rechts von ihm durch den Wald stürmten, und Hufe auf dem Schotterweg zu seiner Linken.

Vor ihm krümmte sich der Fluss nach rechts. Dort waren die Bäume und das Unterholz dichter, reichten fast bis ans Ufer, verdeckten die Sonne, so dass er durch einen Halbdämmer ritt. Er hörte einen lauten Ruf und warf einen Blick über die Schulter. Vier Reiter verfolgten ihn. Er sah nach rechts und gewahrte auf gleicher Höhe mit ihm dunkle Pferdeleiber zwischen den Bäumen galoppieren. Sofort erkannte er, dass sie ihn vor sich hertrieben. Aber wohin?

Die Antwort erhielt er nur wenige Sekunden später, als die Bäume sich plötzlich lichteten und er auf eine Wiese gelangte. Die Breite des Flusses vervierfachte sich; die Farbe des Wassers verriet ihm außerdem, dass auch seine Tiefe zugenommen hatte. Einer plötzlichen Regung folgend lenkte er sein Pferd nach links, dem sandigen Ufer entgegen. Unmittelbar vor ihm brachen fünf Reiter in einer Linie zwischen den Bäumen hervor. Zwei hockten tief gebückt in ihren Sätteln und hielten Lanzen vor sich, die anderen drei saßen aufrecht im Sattel und hatten Bögen in den Händen. Dhakal legte sich mit dem Oberkörper auf den Hals seines Pferdes und lenkte es mit einem Ruck an den Zügeln zurück nach rechts ins Wasser. Auf dem gegenüberliegenden Ufer waren weitere Reiter in einer Linie zwischen den Bäumen aufgetaucht, auch diese mit Lanzen und Bögen bewaffnet. Und um den Hinterhalt vollständig zu machen, galoppierte direkt hinter ihm eine weitere Formation Kavallerie durch den Fluss auf ihn zu.

Wie auf ein geheimes Zeichen hin fielen alle drei Gruppen gleichzeitig in einen langsamen Trab und blieben dann stehen. Die Lanzen auf ihn gerichtet und die Pfeile auf den Sehnen, beobachteten sie ihn.

Warum folgen sie mir nicht?, fragte er sich.

Und dann hörte er ein ohrenbetäubendes Rauschen.

Ein Wasserfall.

Ich bin gefangen. Sitze in der Falle.

Er zügelte sein Pferd und ließ es im Schritt weitergehen, bis sie an eine Flussbiegung kamen. Er hielt an. Hier war das Wasser tiefer, die Strömung nahm beträchtlich zu. In fünfzig Metern Entfernung konnte Dhakal die Dunstwolke erkennen, die sich über dem Fluss sammelte, außerdem sah er das Wasser schäumend über die Kante der Stromschnelle stürzen.

Er wandte sich im Sattel um.

Seine Verfolger hatten sich nicht gerührt – bis auf einen einzelnen Reiter. Seine Rüstung verriet Dhakal, dass er der Anführer der Gruppe war. Der Mann näherte sich ihm bis auf fünf Meter, blieb dann stehen und hob beide Hände, um ihm zu zeigen, dass er nicht bewaffnet war.

Er rief etwas. Dhakal verstand die Sprache nicht, aber die Bedeutung der Worte war unmissverständlich: beschwichtigend. Es ist aus, sagte der Mann sicherlich. Du hast gut gekämpft, hast deine Pflicht getan. Gib auf, und du wirst anständig behandelt.

Es war eine Lüge. Er würde gefoltert und am Ende getötet werden. Aber lieber wollte er kämpfend sterben, als den Theurang in die Hände der verfluchten Feinde fallen zu lassen.

 

Dhakal wendete sein Pferd, bis er seinen Verfolgern in die Augen sah. Mit einer übertrieben langsamen Geste nahm er den Bogen von seinem Rücken und warf ihn in den Fluss. Das Gleiche tat er mit dem Köcher sowie mit seinem langen und seinem kurzen Schwert. Zuletzt folgte der Dolch in seinem Gürtel.

Der Anführer nickte respektvoll, dann wandte er sich im Sattel um und rief seinen Männern etwas zu. Einer nach dem anderen richteten sie die Lanzen auf, ließen die Bögen sinken und schoben sie in ihre Lederhüllen. Der Anführer drehte sich wieder zu Dhakal um, hob eine Hand und bedeutete ihm mit einer Geste, zu ihm zu kommen.

Dhakal lächelte und schüttelte den Kopf.

Er zerrte die Zügel nach rechts und riss sein Pferd herum, dann rammte er ihm die Fersen in die Flanken. Das Pferd bäumte sich auf, spannte die Beine an und sprengte auf die Gischtwolke zu, die vom Wasserfall aufstieg.

Im Grenzland der Provinz Xizang,
Qing-Dynastie, China, 1677

Noch vor seinem Bruder sah Giuseppe die Staubwolke am östlichen Horizont. Eine Meile breit und durch die Seitenwände eines engen Tals begrenzt, kam die wirbelnde Wand aus Sand und Geröll direkt auf sie zu.

Das Spektakel im Auge behaltend, tippte Giuseppe seinem älteren Bruder auf die Schulter. Francesco Lana de Terzi aus Brescia in der Lombardei erhob sich aus seiner knienden Haltung vom Erdboden, wo er einen Stapel Konstruktionszeichnungen ausgebreitet hatte, um sie zu studieren, und blickte in die Richtung, in die Giuseppe deutete.

Der jüngere Lana de Terzi flüsterte nervös: »Ist das ein Sturm?«

»Etwas Ähnliches«, antwortete Francesco. »Aber nicht von der Art, die du meinst.« Hinter dieser Staubwolke folgte kein weiterer windgepeitschter Sandsturm von der Art, an die sie sich während des letzten halben Jahres gewöhnt hatten, stattdessen waren es Hunderte von stampfenden Pferdehufen. Und auf den Pferden saßen Hunderte von auserlesenen und höchst gefährlichen Soldaten.

Francesco gab Giuseppe einen beruhigenden Klaps auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Bruder, ich habe sie schon erwartet – wenn ich auch zugeben muss, nicht so früh.«

»Ist er es?«, krächzte Giuseppe. »Kommt er? Das hast du mir nicht gesagt.«

»Ich wollte dich nicht ängstigen. Keine Sorge. Noch haben wir Zeit.«

Francesco hob eine Hand, um die Augen gegen die Sonne abzuschirmen, und studierte die Wolke, während sie sich weiter näherte. Entfernungen waren hier trügerisch, wie er gelernt hatte. Die Weiten des Qing-Kaiserreichs lagen hinter dem Horizont. In den zwei Jahren, die sie nun in diesem Land verbrachten, hatten Francesco und sein Bruder eine unendliche Vielfalt von Landschaften kennengelernt – von Urwäldern über Wälder bis zu Wüsten. Von allen war jedoch dieser Ort, diese Region, deren Name auf ein Dutzend verschiedene Arten ausgesprochen und geschrieben wurde, die gottverlassenste.

Vorwiegend aus Bergen bestehend, einige eher hügelig und mit runden Kuppen, andere steil und zerklüftet, war dieses Land ein Leinwandgemälde in nur zwei Farben: braun und grau. Selbst das Wasser der Flüsse, das durch die Täler schäumte, war von einem stumpfen Grau. Es machte den Eindruck, als hätte Gott diesen Ort mit einer einzigen Handbewegung verflucht. An Tagen, wenn sich die Wolken teilten, schien der strahlend blaue Himmel die Eintönigkeit der aschgrauen Landschaft noch zu vertiefen.

Und dann war da noch der Wind, dachte Francesco schaudernd. Dieser scheinbar ewige Wind, der durch die Felsschroffen pfiff und Staubwirbel über den Erdboden trieb, die so lebendig wirkten, dass die Einheimischen in diesem Naturschauspiel Geister sahen, die gekommen schienen, um sie zu holen. Noch vor einem halben Jahr hatte Francesco, Wissenschaftler von Drang und Ausbildung, über solchen Aberglauben nur gespottet. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Des Nachts hatte er einfach zu viele seltsame Geräusche gehört.

Nur noch ein paar Tage, tröstete er sich, dann haben wir die Mittel, die wir brauchen. Aber es war nicht nur eine Frage der Zeit, nicht wahr? Er hatte in einen Handel mit dem Teufel eingewilligt. Dass er es für das höhere Wohl tat, war etwas, von dem er sich erhoffte, dass Gott sich am Tag des Jüngsten Gerichts daran erinnern würde.

Er studierte ein paar weitere Sekunden lang die herannahende Wand aus Staub, ehe er die Hand sinken ließ und zu Giuseppe sagte: »Sie sind noch gut dreißig Kilometer entfernt. Wir haben also mindestens eine Stunde. Komm, lass uns fertig werden.«

Francesco wandte sich um und rief einen der Männer mit untersetzter, kräftiger Gestalt in einem schlichten Gewand und einer Hose aus grob gewebtem schwarzem Stoff. Hao, Francescos wichtigster Verbindungsmann und Dolmetscher, kam im Laufschritt herbei.

»Ja bitte, Sire!«, sagte er in einem passablen Italienisch, das jedoch mit einem starken Akzent gefärbt war.

Francesco seufzte. Auch wenn er es schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, Hao dazu zu bewegen, ihn nur mit seinem Vornamen anzusprechen, hatte er doch gehofft, dass der Mann wenigstens auf diese Förmlichkeit verzichtete.

»Sag den Männern, sie sollen sich beeilen. Unser Gast wird in Kürze eintreffen.«

Hao blickte zum Horizont und sah, worauf Giuseppe ein paar Minuten zuvor aufmerksam gemacht hatte. Seine Augen weiteten sich. Er nickte kurz und sagte: »Es wird erledigt, Sire!« Dann machte er kehrt und begann dem Dutzend einheimischer Männer, die auf dem gerodeten Gelände des Hügels herumspazierten, Befehle zuzurufen. Danach eilte er davon, um sich zu beteiligen.

Die Rodung, deren Fläche einhundert Schritte im Quadrat betrug, war eigentlich das Dach über dem Innenhof des Gompa. Auf allen Seiten der Lichtung folgten seine mit Zinnen und Wachtürmen bewehrten Mauern den Berggraten bis zum Grund des Tales hinunter wie die Stachel auf dem Rücken einer Echse.

Während Francesco erklärt worden war, dass ein Gompa im Wesentlichen ein befestigtes Zentrum für Erziehung und Ausbildung war, übten die Bewohner dieser Festung anscheinend nur eine einzige Tätigkeit aus: das Kriegshandwerk. Und dafür war er dankbar. Wie die häufigen Überfälle und Scharmützel bewiesen, die unten auf den weiten Ebenen stattfanden, lebten er und seine Männer an den Grenzen des Reichs. Es war kein Zufall, dass man sie hierhergebracht hatte, um die Arbeit an der Maschine, die ihr Wohltäter Großer Drachen getauft hatte, abzuschließen.

Die Rodung hallte jetzt von den einander überlagernden Hammerschlägen auf Holz wider, als Haos Arbeiter sich beeilten, die letzten Pflöcke in den steinigen Untergrund zu treiben. Überall auf der freien, gerodeten Fläche stiegen braune Staubwolken in die Luft, wo sie vom Wind erfasst wurden und zu einem Nichts zerstoben. Nach zehn Minuten verstummten die Hammerschläge. Hao eilte dorthin zurück, wo Francesco und Giuseppe standen.

»Wir sind fertig, Sire.«

Francesco ging ein paar Schritte zurück und begutachtete das Bauwerk. Er war zufrieden. Es auf Papier zu entwerfen, war eine Sache; es dann aber tatsächlich zum Leben erwachen zu sehen, war etwas vollkommen anderes.

Mit dreizehn Metern Höhe, drei Viertel der Rodung einnehmend und aus schneeweißer Seide gefertigt, mit außen liegenden Bambusstreben, die blutrot angemalt waren, erschien das Zelt wie eine Burg aus Wolken.

»Gut gemacht«, sagte Francesco zu Hao. »Giuseppe?«

»Großartig«, murmelte der jüngere Lana de Terzi. Francesco nickte und sagte leise: »Nun lass uns hoffen, dass das Innere noch eindrucksvoller ist.«

 

Obwohl die scharfsichtigen Beobachter des Gompa die näher kommenden Besucher lange vor Giuseppe entdeckt hatten, erklangen die Alarmhörner erst, als die Entourage nur noch Minuten entfernt war. Dies beruhte ebenso wie die Richtung, aus der die Reiter kamen, und die frühe Ankunft, auf einer taktischen Entscheidung, vermutete Francesco. Die meisten feindlichen Außenposten lagen im Westen. Aber indem sie sich von Osten näherten, würde die Staubwolke der Gruppe vom Berg verdeckt sein, auf dem der Gompa stand. Auf diese Weise hätten umherstreifende Kriegertrupps keine Zeit, um die Neuankömmlinge abzufangen. So gut wie Francesco ihren Wohltäter kannte, vermutete er, dass sie den Gompa aus einem Versteck beobachtet und gewartet hatten, bis der Wind seine Richtung änderte und feindliche Patrouillen weitergezogen waren.

Ein schlauer Mann, ihr Förderer, dachte Francesco. Schlau und gefährlich.

 

Weniger als zehn Minuten später hörte Francesco das Knirschen von ledernen und gepanzerten Stiefeln auf dem Geröll des Serpentinenwegs unterhalb der Rodung. Staub wirbelte über die mit Felsen gesäumte Grenze der Lichtung. Dann – plötzlich Stille. Obwohl Francesco es erwartet hatte, erschreckte ihn, was als Nächstes geschah.

Nach einem einzelnen gebellten Befehl aus einem unsichtbaren Mund kam ein Kader von zwei Dutzend Bürgerwehrsoldaten auf die Rodung gerannt, jeder trommelnde Schritt von einem rhythmischen Knurren begleitet. Mit grimmigen Mienen, die Blicke auf den Horizont gerichtet, die Lanzen angriffsbereit nach vorn gestreckt, verteilten sich die Wächter auf der freien Fläche zur anderen Seite und außer Sicht hinter das Zelt. Danach bezogen sie entlang der Grenze der Rodung in regelmäßigem Abstand zueinander ihre Posten, die Gesichter nach außen gewandt und die Lanzen diagonal vor die Brust haltend.

Von dem Pfad unterhalb der Lichtung drang ein weiterer kehliger Befehl herauf, gefolgt vom Knirschen gepanzerter Sandalen auf Geröll. In Form einer Raute marschierte eine gestaffelte Formation königlicher Leibwächter in rot-schwarzen Bambusrüstungen auf die Rodung und kam genau auf Francesco und Giuseppe zu. Abrupt stoppte die Phalanx, und die vorne marschierenden Soldaten traten nach links und rechts und öffneten ein menschliches Tor, durch das ein einzelner Mann schritt.

Drei Handbreit größer als seine größten Soldaten, trug der Kangxi-Kaiser, Herrscher der Quing-Dynastie, Regent nach dem Willen des Himmels, eine Miene zur Schau, neben der die verbissene Strenge der Gesichter seiner Soldaten wie ein Ausdruck freudigen Überschwangs erschien.

Der Kangxi-Kaiser ging drei lange Schritte auf Francesco zu und blieb dann stehen. Mit zusammengekniffenen Augen studierte er das Gesicht des Italieners mehrere Sekunden lang, ehe er etwas sagte. Francesco wollte gerade nach Hao rufen, damit er übersetze, aber der Mann stand bereits neben ihm und flüsterte in sein Ohr. »Der Kaiser sagt: ›Seid Ihr überrascht, mich zu sehen?‹«

»Überrascht, ja, aber doch auch erfreut, Euer Majestät.«

Die Frage war nicht beiläufig gestellt, wie Francesco wusste. Der Kangxi-Kaiser litt aufs Äußerste unter Verfolgungswahn; wäre Francesco über die verfrühte Ankunft des Kaisers nicht ausreichend überrascht erschienen, er wäre sofort in den Verdacht geraten, ein Spion zu sein.

»Was für ein Bauwerk ist das, was ich dort vor mir sehe?«, fragte der Kangxi-Kaiser.

»Es ist ein Zelt, Euer Majestät, nach meinem eigenen Entwurf angefertigt. Es dient nicht nur dem Schutz des Großen Drachen, sondern auch als Schirm vor neugierigen Augen.«

Der Kangxi-Kaiser nickte kurz. »Ihr werdet die Pläne meinem persönlichen Sekretär übergeben.« Mit hochgerecktem Finger befahl er dem Sekretär vorzutreten.

Francesco sagte: »Natürlich, Euer Majestät.«

»Haben die Sklaven, die ich dir geschickt hatte, hinreichend gut gearbeitet?«

Francesco krümmte sich vor innerer Qual über die Frage des Kaisers, sagte jedoch nichts. Während der letzten sechs Monate hatten er und Giuseppe mit diesen Männern unter den härtesten Bedingungen zusammengearbeitet. Sie waren zu Freunden geworden. Das tat er jedoch nicht laut kund. Eine solche emotionale Verbundenheit wäre ein mögliches Druckmittel gewesen, das zu benutzen der Kaiser nicht gezögert hätte.

»Sie haben Bewundernswertes geleistet, Euer Majestät. Leider sind in der vergangenen Woche vier von ihnen gestorben, als …«

»Der Tod – das ist der Lauf der Dinge. Wenn sie im Dienst für ihren Kaiser gestorben sind, werden ihre Ahnen sie mit Stolz empfangen.«

»Mein Vorarbeiter und Dolmetscher, Hao, ist von unschätzbarem Wert.«

Der Kangxi-Kaiser ließ den Blick zu Hao wandern, dann zurück zu Francesco. »Die Familie des Mannes wird aus dem Kerker entlassen.« Der Kaiser hob den Finger über seine Schulter; der persönliche Sekretär notierte etwas auf einer Pergamentrolle, die er in der Armbeuge trug.

Francesco machte einen tiefen, beruhigten Atemzug und lächelte. »Ich danke Euch für Eure Güte, Euer Majestät.«

»Sagt mir, wann wird der Große Drachen fertig sein?«

»Zwei weitere Tage wird es wohl noch …«

»Ihr habt Zeit bis zum nächsten Morgengrauen.«

Damit wandte sich der Kangxi-Kaiser auf dem Absatz um und schritt in die Phalanx zurück, die sich hinter ihm schloss, dann gemeinsam kehrtmachte und von der Rodung marschierte, nur wenige Augenblicke später von den Soldaten der Bürgerwehr am Rand der freien, gerodeten Fläche gefolgt. Sobald das Stampfen der Schritte und das rhythmische Knurren verstummt waren, sagte Giuseppe: »Ist er verrückt? Morgen früh. Wie sollen wir …«

»Wir werden es schaffen«, erwiderte Francesco. »Und sogar noch Zeit übrig haben.«

»Wie?«

»Wir haben nur noch ein paar Stunden Arbeit vor uns. Ich habe dem Kaiser zwei Tage genannt, weil ich wusste, dass er Unmögliches verlangen würde. Auf diese Weise kann ich seinen Befehl ausführen.«

Giuseppe lächelte. »Du bist ein ganz Gewiefter, Bruderherz. Gut gemacht.«

»Komm, lass uns letzte Hand an den Großen Drachen legen.«

 

Im Schein auf hohen Pfählen befestigter Fackeln und unter dem wachsamen Blick des persönlichen Sekretärs des Kaisers, der dicht am Eingang des Zeltes stand, die Arme verschränkt und die Hände in den Ärmeln versteckt, arbeiteten sie die ganze Nacht hindurch, wobei Hao, der allzeit zuverlässige Vorarbeiter, seine Rolle vollendet spielte, die Männer anzutreiben, schnell, schnell, schnell. Francesco und Giuseppe taten es ihm gleich und wanderten durch das Zelt, stellten Fragen, bückten sich hier und da, um dies oder jenes zu inspizieren …

Abspannleinen aus Ochsensehnen wurden gelöst, neu verknotet, dann auf ihre Spannung überprüft; Bambusstangen und -streben wurden mit Hämmern zum Schwingen gebracht, um darin nach Rissen zu suchen; Seide wurde auf winzigste Fehler hin geprüft; das aus Rattan geflochtene Fahrgestell wurde mit angespitzten Stöcken einem Scheinangriff unterzogen, um seine Kampfbereitschaft zu überprüfen (da er sie nicht ausreichend fand, befahl Francesco, eine weitere schwarze Lackschicht auf den Seiten und dem Schanzkleid aufzutragen); und schließlich beendete der Künstler, den Giuseppe eingestellt hatte, die Bemalung des Bugs: ein Drachenmaul, komplett mit wulstigen Augen, entblößten Zähnen und einer herausragenden gespaltenen Zunge.

Als sich der obere Rand der Sonne im Osten über den Bergen erhob, gab Francesco den Befehl, dass sämtliche Arbeiten schnellstens abgeschlossen wurden. Sobald dies erledigt war, ging er langsam vom Bug bis zum Heck um die Maschine herum. Die Hände in den Hüften und den Kopf hierhin und dorthin reckend, untersuchte Francesco die Außenhaut des Schiffes, überprüfte jedes Detail und hielt nach dem kleinsten Mangel Ausschau. Er fand keinen. Dann drehte er sich um, verbeugte sich und nickte dem Sekretär des Kaisers zu.

Der Mann tauchte unter der Zeltklappe weg und verschwand.

 

Eine Stunde später erklang das mittlerweile vertraute Stampfen und Knurren der Entourage des Kaisers. Es füllte die Rodung, ehe es jäh verstummte. Der Kangxi-Kaiser, mittlerweile mit einem schlichten grauen Seidenmantel bekleidet, trat durch den Zelteingang. In seinem Gefolge befanden sich der persönliche Sekretär und der Kommandant seiner Leibwache.

Ganz plötzlich blieb der Kaiser stehen. Seine Augen weiteten sich.

In den zwei Jahren, die er den Kaiser bereits kannte, war dies das erste Mal, dass Francesco erlebte, dass der Potentat überrascht reagierte.

Das rotorangefarbene Licht der Sonne, das durch die weiße Seide der Zeltwände und des Zeltdachs gefiltert wurde, erfüllte das Innere mit einem unwirklichen Leuchten. Der graue Erdboden war mit schwarzen Teppichen bedeckt worden, so dass die Besucher das Gefühl hatten, am Rand eines Abgrunds zu stehen.

Einerseits mit Leib und Seele Wissenschaftler, wusste Francesco Lana de Terzi jedoch auch optische Effekte für seine Zwecke einzusetzen.

Der Kangxi-Kaiser trat vor – wobei er unbewusst zögerte, als sein Fuß den Rand des schwarzen Teppichs berührte – und trat dann zum Bug hinüber, wo er dem Drachen ins Gesicht blickte. Nun lächelte er.

Auch dies war für Francesco ein erstes Mal. Noch nie zuvor hatte er den Kaiser anders als mit mürrischer Miene gesehen.

Der Kaiser drehte sich zu Francesco um. »Es ist großartig!«, lautete Haos Übersetzung. »Bindet es los!«

»Wie Ihr befehlt, Majestät.«

 

Francescos Männer begaben sich nach draußen auf ihre Positionen rund um das Zelt. Auf seinen Befehl hin wurden die Spannseile gekappt. Da die Säume, Francescos Konstruktion zufolge, in ihrem oberen Bereich mit Gewichten beschwert waren, sanken die Seidenwände senkrecht nach unten. Gleichzeitig zog ein Dutzend Männer auf der hinteren Seite des Zeltes das Dach zurück. Es richtete sich auf und blähte sich wie ein großes Segel, ehe es ganz nach unten und außer Sicht gezogen wurde.

Dies geschah in völliger Stille, die nur vom Rauschen und Pfeifen der Windböen gestört wurde, die sich in den Fenstern und den mit kleinen Türmen bewehrten Mauern des Gompa fingen.

In der Mitte der freien Fläche stand ganz allein die Flugmaschine des Kangxi-Kaisers, der Große Drachen. Für Francesco war dieser Name zwar bedeutungslos, aber er hielt seinen Gönner doch damit bei Laune. Für Francesco, den Wissenschaftler, war die Maschine lediglich der Prototyp seines Traums: ein Vakuum-Schiff, leichter als Luft.

Der Oberbau war sechzehn Meter lang, vier Meter breit und zehn Meter hoch. Er bestand aus vier Ballons aus dicker Seide, die über ein Innengerüst aus fingerdünnen Bambusstreben und Tiersehnen gespannt war. Die Ballons waren vom Bug bis zum Heck in einer Linie angeordnet, hatten jeweils einen Durchmesser von vier Metern und waren an der Unterseite mit einer Ventilöffnung versehen. Jedes dieser Ventile war mit einem kupfernen Ofenrohr verbunden, das von einem eigenen Käfig aus Bambus und Tiersehnen umhüllt wurde. Von der Ventilöffnung verlief jedes Ofenrohr anderthalb Meter abwärts zu einem dünnen Bambusbalken, unter dem ein windgeschützter Kohlenbrenner befestigt war. Und schließlich durch Sehnen mit den Ballons verknüpft, folgte die schwarz lackierte Rattangondel, die lang genug war, um zehn Soldaten mitsamt Proviant, Rüstung und Waffen sowie einem Piloten und einem Navigator aufzunehmen.

Der Kangxi-Kaiser schritt alleine vorwärts, bis er unter dem vordersten Ballon und unmittelbar vor dem Drachenmaul stand. Er hob die Hände, als begutachte er, wie Francesco dachte, seine eigene Schöpfung.

Es war genau dieser Moment, da ihm die Bedeutung dessen, was er getan hatte, klar wurde. Trauer und Scham erfüllten ihn. Wahrlich, er hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Dieser Mann, dieser grausame Monarch, würde seinen Großen Drachen benutzen, um andere Menschen, Soldaten wie harmlose Bürger, zu töten.

Bewaffnet mit huǒ yào oder Schießpulver, einer Substanz, die in Europa erst jetzt mit bescheidenem Erfolg verwendet wurde und die China schon seit langem beherrschte, wäre der Kangxi-Kaiser in der Lage, mit Hilfe von Luntenschlossmusketen, Bomben und flammenspeienden Vorrichtungen Feuer auf seine Feinde herabregnen zu lassen. Er konnte es tun, während er sich außer Reichweite am Himmel fortbewegte, schneller als das schnellste Pferd.

Die Erkenntnis kam zu spät, begriff Francesco. Die Todesmaschine befand sich jetzt in den Händen des Kangxi-Kaisers. Daran war nichts mehr zu ändern. Vielleicht, wenn er mit seinem echten Vakuum-Schiff Erfolg hätte, könnte Francesco für all das Böse, das kommen würde, einen Ausgleich schaffen. Natürlich würde er das erst am Tag des Jüngsten Gerichts erfahren.

Francesco wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als er bemerkte, dass der Kangxi-Kaiser vor ihm stand. »Ich bin zufrieden«, teilte ihm der Kaiser mit. »Sobald Ihr meinen Generälen gezeigt habt, wie man noch mehr von diesen Maschinen baut, werdet Ihr alles bekommen, was Ihr verlangt, um Eure eigenen Pläne weiter zu verfolgen.«

»Majestät.«

»Ist es flugbereit?«

»Gebt den Befehl, und es wird geschehen.«

»Hiermit ist er erteilt. Aber zuvor eine Änderung. Wie vorgesehen, Meister Lana de Terzi, werdet Ihr den Großen Drachen bei seinem ersten Probeflug lenken. Euer Bruder wird hierbleiben.«

»Verzeiht, Majestät. Weshalb dies?«

»Weshalb? Nun, um Eure Rückkehr sicherzustellen, natürlich. Und um Euch zu retten, falls Ihr in Versuchung geratet, den Großen Drachen meinen Feinden zu übergeben.«

»Majestät, ich würde niemals …«

»Dann sind wir sicher, dass Ihr es nicht tun werdet.«

»Majestät, Giuseppe ist mein Hilfslenker und Navigator. Ich brauche ihn …«

»Ich habe meine Augen und Ohren überall, Meister Lana de Terzi. Euer viel gepriesener Vorarbeiter, Hao, ist gewiss ebenso kundig und erfahren wie Euer Bruder. Hao wird Euch begleiten – sowie sechs weitere Männer meiner Bürgerwehr, falls Ihr … noch mehr Unterstützung braucht.«

»Dagegen muss ich protestieren, Majestät.«

»Das müsst Ihr nicht, Meister Lana de Terzi«, erwiderte der Kangxi-Kaiser eisig. Die Warnung war deutlich.

Francesco atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Wohin wollt Ihr, dass uns dieser Probeflug führt?«

»Seht Ihr die Berge dort im Süden, die hohen, die den Himmel berühren?«

»Ich sehe sie.«

»Dorthin werdet Ihr fliegen.«

»Euer Majestät, dort ist feindliches Gebiet!«

»Welchen besseren Test könnte es für eine Kriegswaffe geben?« Francesco setzte an, um zu protestieren, aber der Kangxi-Kaiser fuhr fort: »In den Vorbergen, an den Ufern der Flüsse, werdet Ihr eine goldene Blume finden – Hao weiß, welche ich meine. Bringt mir diese Blume, ehe sie verwelkt ist, und Ihr werdet belohnt.«

»Euer Majestät, diese Berge sind« – vierzig Meilen weit weg, dachte Francesco, vielleicht sogar fünfzig – »zu weit entfernt für einen Jungfernflug. Vielleicht …«

»Ihr werdet mir diese Blume bringen, bevor sie verwelkt, oder ich werde den Kopf Eures Bruders auf eine Lanze spießen. Habt Ihr verstanden?«

»Ich habe verstanden.«

Francesco wandte sich zu seinem Bruder um. Da er die Unterhaltung mitverfolgt hatte, wurde Giuseppes Gesicht kreidebleich. Sein Kinn zitterte. »Bruder, ich … ich habe Angst.«

»Das ist nicht nötig. Ich werde zurück sein, ehe du dich versiehst.«

Giuseppe atmete schwer, schob das Kinn vor und straffte die Schultern. »Ja, ich weiß, du hast recht. Das Schiff ist ein Wunder, und es gibt niemand Besseren, es zu lenken. Mit ein wenig Glück werden wir heute noch gemeinsam zu Abend speisen.«

»Mutig gesprochen.«

Sie umarmten sich einige Sekunden lang, ehe Francesco sich umwandte. Er sah Hao an und sagte: »Veranlasse, dass die Kohlenpfannen angefacht werden. Wir starten in zehn Minuten.«

Das Geheimnis von Shangri La
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