3
Goldfish Point, La
Jolla,
In
der Nähe von San Diego, Kalifornien
Nachdem sie sich von King verabschiedet hatten, waren Sam und Remi nach Pulau Legundi zurückgekehrt, wo sie – wie erwartet – Professor Stan Dydell antrafen, der sich auf der Grabungsstätte umsah. Remis ehemaliger Lehrer am Boston College hatte ein Sabbatjahr genommen, um an den umfangreichen Ausgrabungen teilzunehmen. Nachdem er die Neuigkeiten von Alton gehört hatte, erklärte sich Dydell einverstanden, die Grabungen zu beaufsichtigen, bis sie zurückkehrten oder einen dauerhaften Ersatz für ihn gefunden hatten.
Sechsunddreißig Stunden und drei Flugverbindungen später landeten sie gegen Mittag Ortszeit in San Diego. Sam und Remi waren sofort zu den Altons gefahren, um Franks Ehefrau die Neuigkeiten zu überbringen. Nun, nachdem sie ihr Gepäck in der Vorhalle ihres Hauses abgestellt hatten, gingen sie gleich hinunter zu Selmas Domäne, dem Arbeitsraum.
Der einhundertachtzig Quadratmeter große Raum mit hoher Decke wurde von zwei sechs Meter langen Arbeitstischen mit Ahornplatten beherrscht, die von Halogenhängelampen erhellt wurden und mit hochlehnigen Sesseln umgeben waren. An einer Wand befanden sich ein Trio von Arbeitsnischen – jede mit einer brandneuen 12-Core Mac Pro Workstation und einem Dreißig-Zoll-Cinema-HD-Bildschirm ausgestattet –, ein Paar rundum verglaster Büros für Sam und Remi, ein klimatisierter Archiv-Tresorraum, ein kleiner Vorführraum und eine wissenschaftliche Bibliothek. Die gegenüberliegende Wand war für Selmas einziges Hobby reserviert: ein fünf Meter langes Zweitausend-Liter-Seewasseraquarium, das mit Fischen in allen Regenbogenfarben gefüllt war. Das sanfte Gurgeln seiner Pumpen und Filter verlieh dem Zimmer eine friedliche Atmosphäre.
Über dem Arbeitsraum im Erdgeschoss befand sich die Wohnung der Fargos. Es war ein dreistöckiges, elftausend Quadratmeter großes Haus im spanischen Stil mit einem offenen Grundriss, gewölbten Decken und ausreichend Fenstern und Oberlichtern, so dass sie nur selten länger als zwei Stunden am Tag elektrisches Licht brennen lassen mussten. Der elektrische Strom, den sie brauchten, wurde vorwiegend von einer leistungsstarken Batterie Solarzellen erzeugt, die auf dem Dach neu installiert worden war.
Im obersten Stockwerk war Sams und Remis Schlafzimmer untergebracht. Direkt darunter befanden sich vier Gästezimmer, ein Wohnraum, ein Speisezimmer und eine großzügig bemessene Küche, die über die Klippen hinausragte und einen weiten Blick auf das Meer gestattete. Den zweiten Stock teilten sich ein Fitnessraum mit Geräten für Aerobic und Circuit-Training, eine Sauna, ein Hydro-Worx-Swimmingpool, eine Kletterwand und einhundert Quadratmeter Hartholzfußboden für Remis Fechtübungen und Sams Judotraining.
Sam und Remi nahmen auf zwei Hockern an einem Ende des Arbeitstisches Platz. Selma kam gleich zu ihnen. Sie trug ihre traditionelle Arbeitskleidung: Khakihose, Turnschuhe, ein gebatiktes T-Shirt und eine Hornbrille mit Halskette. Pete Jeffcoat und Wendy Coren kamen ebenfalls herüber, um zuzuhören. Braungebrannt, topfit, blond und stets locker und entspannt, waren Selmas Assistenten durch und durch Kalifornier, aber alles andere als Strandläufer. Jeff hatte ein Diplom in Archäologie, Wendy in Sozialwissenschaften.
»Sie macht sich Sorgen«, sagte Remi jetzt. »Hat es aber hervorragend geschafft, dies vor den Kindern zu verbergen. Wir haben ihr versprochen, sie auf dem Laufenden zu halten. Selma, wenn Sie sich täglich bei ihr melden könnten, während wir weg sind …?«
»Natürlich. Wie war die Audienz bei Ihrer Hoheit?«
Sam schilderte den Verlauf des Treffens mit Charlie King. »Rem und ich haben im Flugzeug schon darüber diskutiert. Er sagte stets die richtigen Dinge und beherrscht die Nummer des einfachen Jungen vom Lande aus dem Effeff, aber irgendetwas stimmt mit ihm nicht.«
»Sein Mädchen für alles, das ist schon mal das Erste«, sagte Remi, dann beschrieb sie Zhilan Hsu. Während die Frau, wenn King nicht in der Nähe war, eine absolut nervtötende Art an den Tag legte, hatte ihr Verhalten an Bord der Gulfstream eine völlig andere Geschichte erzählt. Kings Missfallen über die Anzahl Eiswürfel in seinem Jack Daniel’s und ihre demütige Reaktion vermittelte ihnen, dass sie nicht nur Angst vor ihrem Arbeitgeber hatte, sondern auch, dass er ein tyrannischer Kontrollfanatiker sein musste.
»Remi hat außerdem eine interessante Vermutung über Ms. Hsu«, meinte Sam.
Remi sagte: »Sie ist seine Geliebte. Sam ist sich nicht so sicher, aber ich bin davon überzeugt. Und King hat sie eisern im Griff.«
»Ich arbeite noch immer an einer Biografie der King-Familie«, berichtete Selma, »aber bisher hatte ich bei Zhilan kein Glück. Ich werde jedoch weitermachen. Mit Ihrer Erlaubnis rufe ich vielleicht Rube zu Hilfe.«
Rube Haywood, ein anderer Freund Sams, arbeitete in der CIA-Zentrale in Langley, Virginia. Sie hatten sich ausgerechnet im Trainingszentrum für verdeckte Operationen, dem berüchtigten Camp Peary, kennengelernt, als Sam bei der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) beschäftigt gewesen war und Rube als aufstrebender Sachbearbeiter am Beginn seiner Karriere gestanden hatte. Während ein Lehrgang wie »The Farm« für jemanden wie Rube eine Pflichtübung war, nahm Sam im Zuge eines Kooperativ-Experiments daran teil: Je besser Ingenieure verstanden, wie Sachbearbeiter im aktiven Einsatz funktionierten, erklärten DARPA und CIA, desto besser wären sie auch in der Lage, amerikanische Spione mit allem Nötigen auszurüsten.
»Wenn Sie das für nötig halten, nur zu. Noch eine Sache«, fügte Sam hinzu. »King beteuert, er habe keine Ahnung, in welchen Bereichen sein Vater tätig war. King erklärt, er suche schon seit fast vierzig Jahren nach ihm, und trotzdem weiß er nicht, was diesen Mann angetrieben hat. Das kaufe ich ihm nicht ab.«
Remi fügte hinzu: »Er behauptet außerdem, er habe sich nicht die Mühe gemacht, sich an die nepalesische Regierung oder an die amerikanische Botschaft zu wenden. Jemand mit Kings Macht und Einfluss würde doch sicher mit nur wenigen Telefongesprächen einiges in Gang setzen.«
»King äußerte auch, Frank habe sich nicht für das Haus seines Vaters in Monterey interessiert. Aber Frank ist viel zu gründlich, um so etwas zu ignorieren. Wenn King mit Frank darüber gesprochen hätte, wäre er ganz sicher dort gewesen.«
»Warum würde King in diesem Punkt lügen?«, fragte Pete.
»Keine Ahnung«, erwiderte Remi.
»Und zu was addiert sich das Ganze?«, fragte Wendy.
»Zu jemandem, der etwas zu verbergen hat«, erwiderte Selma.
»Ganz genau unsere Gedanken«, sagte Sam. »Die Frage ist nur: Was? King zeigt auch einen Anflug von Paranoia. Und um fair zu sein: Jemand, der so reich ist wie er, muss sich wahrscheinlich gegen ganze Scharen von Betrügern zur Wehr setzen.«
»Letztlich ist von alledem nichts von Bedeutung«, sagte Remi. »Frank Alton wird vermisst. Darauf müssen wir unser Augenmerk richten.«
»Und wo fangen wir an?«, fragte Selma.
»In Monterey.«
Monterey, Kalifornien
Vorsichtig nahm Sam die Kurven, während die Scheinwerfer des Wagens die Nebelschwaden, die über dem Boden wallten, und das Laubwerk, das die gewundene Schotterstraße säumte, abtasteten. Unter ihnen funkelten die Lichter der Häuser auf den Klippen durch die Dunkelheit, während weiter draußen die Navigationsleuchten der Fischerboote in der Schwärze des Ozeans trieben. Remis Fenster war offen, so dass sie ab und zu den klagenden Ton einer Boje aus der Ferne hören konnten.
Wenn auch immer noch müde, waren Sam und Remi bestrebt, Franks spurlosem Verschwinden schnellstens auf den Grund zu gehen. Mit der Abendmaschine von San Diego nach Monterey geflogen, hatten sie auf dem kleinen Peninsula Airport einen Wagen gemietet.
Ohne das Gebäude schon sehen zu können, war doch schnell klar, dass Lewis »Bully« Kings Zuhause ein Millionen-Objekt sein musste. Genauer gesagt, das Land, auf dem es stand, war Millionen wert. Ein Blick auf die Monterey Bay war nicht billig zu haben. Laut Charles King hatte sein Vater das Haus in den frühen fünfziger Jahren erworben. Seitdem hatte die Wertsteigerung wahre Wunder gewirkt und sogar eine Dachpappenhütte in eine Immobilien-Goldmine verwandelt.
Der Navigationsschirm im Armaturenbrett des Wagens gab einen leisen Glockenton von sich und machte Sam auf die nächste Biegung aufmerksam. Während sie um die Kurve fuhren, glitten die Scheinwerferstrahlen über einen Briefkasten, der auf einen schief stehenden Pfosten genagelt war.
»Das ist es«, sagte Remi, als sie die Hausnummer las.
Sam lenkte in die Auffahrt, die von Krüppelkiefern und einem löchrigen, ehemals weißen Holzzaun begrenzt wurde, der anscheinend nur durch die Kletterpflanzen, die ihn teilweise überwucherten, aufrecht gehalten wurde. Sam ließ den Wagen ausrollen. Vor ihnen beleuchteten die Scheinwerfer ein einhundert Quadratmeter großes Haus im Saltbox-Stil. Zwei kleine zugenagelte Fenster flankierten eine Haustür, zu der eine Treppe aus zerbröckelndem Zement hinaufführte. Die Fassade musste ursprünglich grün gestrichen worden sein. Nun jedoch war die Farbe, wo sie nicht abgeblättert war, zu einem schmutzigen Oliv verblasst.
Am Ende der Zufahrt, teilweise vom Haus verdeckt, befand sich eine Garage für ein Fahrzeug mit herabhängenden Regenrinnen.
»Das ist wirklich ein Haus aus den Fünfzigern«, stellte Remi fest. »Und dazu noch ohne irgendwelchen Schnickschnack.«
»Das Grundstück muss an die zwei Morgen groß sein. Ein Wunder, dass es noch nicht in die Hände von Investoren gefallen ist.«
»Eigentlich nicht, wenn man bedenkt, wer der Eigentümer ist.«
»Gutes Argument«, sagte Sam. »Ich muss zugeben, dass es ein wenig gespenstisch wirkt.«
»Ich wollte gerade sagen: sehr gespenstisch. Sollen wir?«
Sam schaltete erst die Scheinwerfer ab, dann den Motor aus, so dass das Haus nur noch von dem wenigen Mondlicht erhellt wurde, das durch den Dunst drang. Sam nahm eine kleine Ledertasche vom Rücksitz, dann stiegen sie aus und schlossen die Wagentüren. In der Stille klang das Geräusch beim Zuschlagen ungewöhnlich laut. Sam fischte seine LED-Mikroleuchte aus der Hosentasche und knipste sie an.
Nun folgten sie dem Fußweg zur Haustür. Mit dem Fuß prüfte Sam die Festigkeit der Stufen. Er nickte Remi zu, dann stiegen sie die Treppe hinauf, schoben den Schlüssel, den Zhilan ihnen gegeben hatte, ins Schloss und drehten ihn vorsichtig um. Mit einem Klicken gab der Mechanismus nach. Sam drückte leicht gegen die Tür. Die Angeln gaben das erwartete Knarren von sich. Sam trat über die Schwelle Remi folgte ihm dichtauf.
»Gib mir mal ein wenig Licht«, bat sie.
Sam drehte sich um und richtete den Lichtstrahl auf die Wand neben dem Türpfosten, wo Remi nach einem Lichtschalter suchte. Sie wurde fündig und betätigte ihn. Zhilan hatte ihnen versichert, dass das Haus nach wie vor über elektrischen Strom verfüge, und sie hatte nicht gelogen. In drei Ecken des Raums flammten Lampen auf und warfen mattgelbe Lichtkreise auf die Wände.
»Gar nicht so verwaist, wie King es dargestellt hatte«, stellte Sam fest. Nicht nur, dass die Glühbirnen funktionierten, es war nirgendwo auch nur eine Spur von Staub zu sehen. »Offenbar lässt er hier regelmäßig putzen.«
»Kommt dir das nicht merkwürdig vor?«, fragte Remi. »Er hält das Haus nicht nur fast vierzig Jahre seit dem Verschwinden seines Vaters in Schuss, sondern er hat auch nichts verändert, während der Garten draußen völlig vergammelt.«
»Charlie King selbst kommt mir merkwürdig vor, daher – nein, das überrascht mich nicht. Lass den Typen noch eine Bazillenphobie haben und seine abgeschnittenen Fingernägel sammeln, und er spielt schon fast in der Howard-Hughes-Liga.«
Remi lachte. »Also, die gute Nachricht ist, dass unser Suchgebiet überschaubar ist.«
Sie hatte recht. Von ihrem Standort aus konnten sie den größten Teil von Bullys Haus überblicken: eine sieben mal sieben Meter große Hauptfläche, zugleich Hobbyraum und Arbeitszimmer. Die östliche und westliche Wand wurden von deckenhohen Regalen beherrscht, die mit allerlei Krimskrams gefüllt waren, gerahmten Fotografien und Schaukästen, die offenbar Fossilien und Artefakte enthielten.
In der Mitte des Raums stand ein Hauklotz, der üblicherweise als Küchentisch diente, den Lewis jedoch als Arbeitstisch benutzt hatte; darauf eine alte Reiseschreibmaschine, Füllfederhalter und Bleistifte, Stenogrammblöcke und Bücherstapel. In der südlichen Wand befanden sich drei Türdurchgänge. Einer führte in eine kleine Küche, der zweite ins Bad und der dritte in ein Schlafzimmer. Unter einem Hauch von Pine-Sol-Oberflächenreiniger und Mottenkugeln roch das Haus nach Schimmel und altem Tapetenleim.
»Ich denke, der Ball liegt jetzt in deinem Feld, Remi. Du und Bully, ihr wart – oder seid – verwandte Geister. Ich sehe in den anderen Räumen nach. Schrei, wenn du eine Fledermaus siehst.«
»Das finde ich nicht lustig, Fargo.«
Remi war durch und durch Kämpferin und scheute sich niemals, sich die Hände schmutzig zu machen oder sich kopfüber in Gefahr zu begeben, aber sie hasste Fledermäuse. Ihre lederartigen Flügel, die winzigen Klauenhände und verkniffenen Schweinemienen weckten verschüttete Urängste in ihr. Halloween war im Fargo-Haushalt eine heikle Zeit, und alte Vampirfilme galten als absolut verboten.
Sam kam zu ihr zurück, hob ihr Kinn mit dem Zeigefinger an und küsste sie. »Entschuldige.«
»Angenommen.«
Während Sam die kleine Küche betrat, überflog Remi die Bücherregale. Wie zu erwarten, waren anscheinend alle Bücher vor den siebziger Jahren erschienen. Sie sah, dass Lewis Kings Interessen breit gefächert waren. Während sich die meisten Bücher mit Archäologie und ihren Hilfswissenschaften – Anthropologie, Paläontologie, Geologie und so weiter – beschäftigten, gab es auch Werke über Philosophie, Kosmologie, Soziologie, klassische Literatur und Geschichte.
Sam kehrte in den Hauptraum zurück. »Nichts von Interesse in den anderen Zimmern. Wie sieht es hier aus?«
»Ich vermute, er war …« Sie hielt inne und wandte sich um. »Ich denke, wir sollten uns auf eine Zeitform einigen. Betrachten wir ihn als tot oder lebend?«
»Gehen wir von Letzterem aus. Frank hat es jedenfalls so formuliert.«
Remi nickte. »Ich vermute, Lewis ist eine faszinierende Persönlichkeit. Ich wette, dass er die meisten dieser Bücher gelesen hat, wenn nicht alle.«
»Wenn er so viel unterwegs war, wie King sagte, frage ich mich, wann er die Zeit dazu gehabt haben soll?«
»Schnellleser?«, überlegte Remi.
»Möglich. Was ist in den Schaukästen?«
Sam richtete den Lichtstrahl seiner Lampe auf den nächsten Kasten neben Remis Schulter. Sie sah hinein. »Clovis-Spitzen«, sagte sie und benutzte den gegenwärtigen Universalnamen für Speer-und Pfeilspitzen aus Feuerstein, Elfenbein und Knochen. »Eine ansehnliche Sammlung.«
Sie fingen an, die restlichen Schaukästen nacheinander zu begutachten. Lewis’ Sammlung war genauso breit gefächert wie seine Bibliothek. Während sie eine Menge archäologischer Artefakte enthielt – Tonscherben, geschnitzte Tiergeweihe, Steinwerkzeuge, versteinerte Holzsplitter –, waren auch Objekte darunter, die in den Bereich der Geschichtswissenschaften gehörten: Fossilien, Steine, Zeichnungen von ausgestorbenen Pflanzen und Insekten und Fragmente alter Manuskripte.
Remi tippte auf die Glasscheibe eines Schaukastens, der ein Pergament mit einer Inschrift enthielt, die wie Devanagari aussah, das Alphabet, von dem das Nepali abstammte. »Das ist interessant. Ich glaube, es ist eine Reproduktion. Ein Übersetzer ist ebenfalls vermerkt: ›A. Kaalrami, Princeton University‹. Aber da ist keine Übersetzung.«
»Ich überprüfe das«, sagte Sam und holte sein iPhone aus der Tasche. Er rief Safari auf und wartete darauf, dass das 4G-Netz-Symbol auf der Menüleiste des Telefons erschien. Stattdessen war auf dem Display jedoch eine Nachricht zu lesen:
Select a Wi-Fi Network
651FPR
Stirnrunzelnd studierte Sam die Nachricht einen Augenblick lang, dann schloss er den Webbrowser und rief eine Notiz-Applikation auf.
Remi wandte sich zu ihm um. »Was ist?«
Er zwinkerte. »Sieh es dir an.«
Sie kam herüber und schaute auf das Display von Sams iPhone. Darauf war zu lesen:
Follow my lead.
Remi zog sofort den richtigen Schluss. »Dass du kein Signal empfängst, überrascht mich nicht«, sagte sie. »Wir sind hier am Gesäß der Welt, um es gewählt auszudrücken.«
»Was meinst du? Haben wir alles gesehen?«
»Ich denke ja. Suchen wir uns ein Hotel.«
Sie knipsten das Licht aus, gingen hinaus und schlossen die Haustür hinter sich ab. Remi sagte: »Was ist los, Sam?«
»Ich habe ein Drahtlosnetzwerk empfangen. Es ist nach dieser Adresse benannt: 1651 False Pass Road.« Sam rief noch einmal die Nachrichtenbox auf und zeigte Remi das Display.
»Könnte das ein Nachbar sein?«, fragte sie.
»Nein, ein normales privates Signal reicht höchstens fünfzig Meter weit.«
»Das wird immer seltsamer«, wunderte sich Remi. »Ich habe keine Modems oder Router gesehen. Warum sollte ein angeblich verlassenes Haus ein Drahtlosnetzwerk brauchen?«
»Ich kann mir nur einen einzigen Grund denken, und angesichts dessen, mit wem wir es zu tun haben, ist das gar nicht so verrückt, wie es klingt: zur Überwachung.«
»Etwa mit Kameras?«
»Und/oder Abhöreinrichtungen.«
»King überwacht uns? Warum?«
»Wer weiß. Aber jetzt ist meine Neugier geweckt. Wir müssen noch mal zurück. Komm, sehen wir uns um.«
»Und wenn er Außenkameras angebracht hat?«
»Die wären zu schwierig zu verstecken. Wir halten aber die Augen offen.«
Während er mit seiner Taschenlampe die Hausfront und den Dachüberstand inspizierte, ging er über die Auffahrt zur Garage. Vorsichtig warf er einen Blick um die Hausecke, drehte sich halb um und sagte: »Nichts.« Dann ging er weiter zur Seitentür der Garage und rüttelte am Türknauf. Sie war abgeschlossen. Sam zog seine Windjacke aus, wickelte sie um die rechte Hand und drückte mit der Faust gegen die Glasscheibe über dem Knauf, bis das Glas mit einem gedämpften Klirren zerbrach. Er entfernte die restlichen Glasscherben aus dem Rahmen, griff dann hindurch und entriegelte die Tür.
In der Garage brauchte er eine Minute, um den Sicherungskasten zu finden. Sam öffnete die Verkleidung und studierte die Anschlüsse. Es war eine altmodische Installation. Einige Sicherungen erschienen aber relativ neu.
»Was jetzt?«, fragte Remi.
»An den Sicherungen spiele ich nicht herum.«
Er wanderte mit dem Lichtstrahl von der Schalttafel abwärts zum Holzsockel, von dort nach links zum nächsten Wandpfosten, wo sich der Stromzähler befand. Mit dem Taschenmesser durchtrennte er die Plombe und legte den Hauptschalter um.
»Vorausgesetzt King hat keinen Generator oder Notbatterien versteckt, sollte das eigentlich ausreichen«, sagte Sam.
Sie kehrten zum Hauseingang zurück. Remi holte ihr iPhone heraus und startete die Suche nach dem Drahtlosnetzwerk. Es war verschwunden. »Alles klar«, sagte sie.
»Dann wollen wir mal nachsehen, was Charlie King zu verstecken hat.«
Zurück im Haus, ging Remi sofort zu dem Schaukasten, in dem sich das Devanagari-Pergament befand. »Sam, kannst du mir meine Kamera geben?«
Sam öffnete die Ledertasche, die er auf einen Sessel in der Nähe gelegt hatte, holte Remis Canon G10 heraus und reichte sie ihr. Sie begann den Schaukasten zu fotografieren. Danach ging sie zum nächsten. »Ich kann ebenso gut auch gleich alles dokumentieren.«
Sam nickte. Die Hände auf die Hüften gestützt, betrachtete er die Bücherregale und stellte eine schnelle Überschlagsrechnung an: Er schätzte, dass er fünf-bis sechshundert Bände vor sich hatte. »Ich blättere mal ein wenig.«
Schnell wurde offensichtlich, dass, wer immer von King zur Reinigung des Hauses engagiert worden war, er den Bücherregalen nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Während die Buchrücken sauber waren, bedeckte eine dicke Staubschicht die oberen Ränder. Ehe er ein Buch herausholte, untersuchte Sam es mit der Taschenlampe auf Fingerabdrücke. Die Bücher waren sicher seit zehn oder mehr Jahren nicht mehr berührt worden.
Zwei Stunden und hundert Mal Niesen später, stellten sie das letzte Buch auf seinen Platz zurück. Remi, die schon eine Stunde vorher das Fotografieren der Schaukästen abgeschlossen hatte, war bei den letzten einhundert Bänden behilflich gewesen.
»Nichts«, sagte Sam, trat von einem Bücherregal zurück und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. »Und du?«
»Auch nichts. Ich habe allerdings in einem der Schaukästen etwas Interessantes gefunden.«
Sie schaltete ihre Kamera ein, rief das entsprechende Foto auf und zeigte Sam das Display. Er betrachtete es eingehend. »Was ist das?«
»Nagle mich nicht fest, aber ich glaube, dass es Fragmente von Straußeneiern sind.«
»Und die Gravierung? Ist das eine Sprache? Oder Kunst?«
»Keine Ahnung. Ich habe sie aus dem Kasten genommen und jede einzeln fotografiert.«
»Was haben sie zu bedeuten?«
»Für uns speziell wahrscheinlich gar nichts. In einem größeren Zusammenhang …« Remi zuckte die Achseln. »Vielleicht sehr viel.«
Im Jahr 1999, erklärte Remi, entdeckte ein Team französischer Archäologen in der Diepkloof-Felsenhöhle in Südafrika einen geheimen Schatz von zweihundertsiebzig gravierten Straußeneifragmenten. Die Scherben waren mit geometrischen Mustern versehen, die zwischen fünfundfünfzig-und fünfundsechzigtausend Jahre zurückzudatieren waren und zu der sogenannten Howiesons-Poort-Steingeräteindustrie gehörten.
»Die Fachleute sind sich über die Bedeutung der Gravierungen noch nicht im Klaren«, fuhr Remi fort. »Einige meinen, es sei Kunst; andere halten es für Landkarten, und wieder andere meinen darin eine Art Schriftsprache zu erkennen.«
»Sehen die hier genauso aus?«
»Aus dem Stand kann ich mich nicht erinnern. Aber wenn sie von der gleichen Art sind wie die südafrikanischen Scherben«, schloss Remi, »dann sind sie um mindestens fünfunddreißigtausend Jahre älter als der Diepkloof-Fund.«
»Vielleicht hatte Lewis gar keine Ahnung, was er besaß.«
»Das bezweifle ich. Jeder Archäologe, der halbwegs etwas taugt, würde sie sofort als etwas Bedeutendes erkennen. Sobald wir Frank gefunden haben und die Dinge wieder normal laufen« – Sam wollte etwas einwenden, doch Remi korrigierte sich – »normal für uns, meine ich, gehe ich der Sache auf den Grund.«
Sam seufzte. »Demnach haben wir als Einziges, was auch nur entfernt mit Nepal in Verbindung steht, dieses Devarangi-Pergament.«