5
Kathmandu, Nepal
Wie angekündigt kamen Russell und Marjorie am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr durch die Drehtür des Hyatt. Mit leuchtenden Augen und einem Lächeln begrüßten die Zwillinge Sam und Remi erneut mit ausgiebigem Händeschütteln, dann geleiteten sie sie zu dem Mercedes. Der Himmel war strahlend blau, die Luft noch kühl und frisch.
»Wohin?«, fragte Russell, während er den Motor anließ und den Wagen die Auffahrt hinunterlenkte.
»Wie wäre es mit den Orten, an denen Frank Alton vermutlich die meiste Zeit verbracht hat?«, sagte Remi.
»Kein Problem«, erwiderte Marjorie. »Den E-Mails zufolge, die er Daddy schickte, hielt er sich einige Zeit in der Chobar-Schlucht-Region etwa fünf Meilen östlich von hier auf. Dort kommt der Bagmati River aus dem Tal.«
Ein paar Minuten lang fuhren sie schweigend.
Dann sagte Sam: »Falls es Ihr Großvater war, der in Lo Monthang fotografiert wurde …«
»Meinen Sie denn nicht, dass er es war?«, fragte Russell und blickte in den Innenspiegel. »Daddy glaubt, dass er es sein muss.«
»Ich spiele nur den Advocatus Diaboli. Wenn es Ihr Großvater war, haben Sie dann irgendeine Ahnung, weshalb er sich in dieser Gegend aufgehalten hat?«
»Dazu fällt mir absolut nichts ein«, erwiderte Marjorie flapsig.
»Ihr Vater schien von Lewis’ Arbeit wenig zu wissen. Wie sieht es mit Ihnen beiden aus?«
Russell antwortete: »Nur archäologischen Kram, nehme ich an. Wir haben ihn natürlich nie kennengelernt. Wir haben nur von Dad einige Geschichten gehört.«
»Verstehen Sie es bitte nicht falsch, aber ist Ihnen niemals in den Sinn gekommen, erfahren zu wollen, was Lewis so getrieben hat? Es wäre bei der Suche nach ihm doch sicherlich eine Hilfe gewesen.«
»Daddy hält uns ziemlich auf Trab«, sagte Marjorie. »Außerdem hat er dafür doch Experten wie Sie beide und Mr Alton engagiert.«
Sam und Remi wechselten einige Blicke. Ebenso wie ihr Vater schienen die King-Zwillinge nur mäßig an den Lebensumständen ihres Großvaters interessiert zu sein. Ihre Gleichgültigkeit hatte fast schon etwas Pathologisches.
»Wo haben Sie beide die Schule besucht?«, wechselte Remi das Thema.
»Haben wir gar nicht«, antwortete Russell. »Daddy hat Hauslehrer für uns engagiert.«
»Was ist mit Ihrem Akzent geschehen?«
Marjorie antwortete nicht sofort. »Oh, ich verstehe, was Sie meinen. Als wir vier Jahre alt waren, hat er uns zu unserer Tante nach Connecticut geschickt. Dort lebten wir dann, bis wir die Schule abgeschlossen haben, danach sind wir nach Houston zurückgekehrt, um für Daddy zu arbeiten.«
»Demnach haben Sie nicht viel von ihm gesehen, während Sie aufwuchsen, oder?«, fragte Sam.
»Er ist ein viel beschäftigter Mann.«
Marjories Antwort war ohne eine Spur des Vorwurfs, so als wäre es völlig normal, die eigenen Kinder für vierzehn Jahre in einen anderen Staat abzuschieben und von Hauslehrern und Verwandten erziehen zu lassen.
»Sie beide stellen aber viele Fragen«, bemerkte Russell.
»Wir sind von Natur aus neugierig«, erwiderte Sam. »Das gehört zu unserem Job.«
Sam und Remi erwarteten, dass bei ihrem Besuch in der Chobar-Schlucht nur wenig herauskäme, und sie wurden nicht enttäuscht. Russell und Marjorie zeigten ihnen ein paar landschaftliche Wahrzeichen und lieferten ansonsten einige weitere auswendig gelernte touristische Informationen.
Wieder im Wagen baten Sam und Remi darum, zum nächsten Ort gebracht zu werden, dem historischen Zentrum der Stadt, bekannt als Durbar Square, wo an die fünfzig Tempel standen.
Wie vorauszusehen war, erwies sich dieser Besuch als genauso wenig erhellend wie der erste. Mit den King-Zwillingen als hartnäckige Schatten wanderten Sam und Remi eine Stunde lang über den Platz, schossen ihren Rollen gemäß zahlreiche Fotos, schauten des Öfteren auf ihre Landkarte und machten sich eifrig Notizen. Schließlich, kurz vor Mittag, baten sie darum, zum Hyatt zurückgebracht zu werden.
»Schon fertig?«, fragte Russell. »Sind Sie ganz sicher?«
»Wir sind ganz sicher«, sagte Sam.
Marjorie sagte: »Wir bringen Sie gerne, wohin Sie wollen.«
»Wir müssen noch einige Recherchen anstellen, ehe wir weitermachen können«, erklärte Sam.
»Auch dabei können wir Ihnen helfen.«
Sam ließ ein wenig Stahl in seine Stimme einfließen. »Ins Hotel, bitte.«
Russell zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen.«
Aus der Lobby beobachteten sie, wie sich der Mercedes entfernte. Sam holte sein iPhone aus der Tasche und schaltete es an. »Eine Nachricht von Selma.« Er hörte sie ab, dann sagte er: »Sie hat etwas über die King-Familie ausgegraben.«
Zurück in ihrem Zimmer schaltete Sam die Freisprechfunktion des Telefons ein und drückte auf die Kurzwahltaste. Nach dreißig Sekunden Knistern wurde die Verbindung hergestellt. Selma meldete sich mit einem »Endlich!«.
»Wir waren mit den King-Zwillingen unterwegs.«
»Produktiv?«
»Nur insofern, dass es in uns den Wunsch und die Absicht gefestigt hat, sie so schnell wie möglich loszuwerden«, sagte Sam. »Was haben Sie für uns?«
»Zuerst einmal habe ich jemanden gefunden, der das Devanagari-Pergament übersetzen kann, das Sie in Lewis’ Haus gefunden haben.«
»Großartig«, sagte Remi.
»Es wird noch besser. Ich glaube, es ist der oder besser die ursprüngliche Übersetzerin – diese A. Kaalrami aus Princeton. Ihr Vorname ist Adala. Sie ist fast siebzig Jahre alt und Professorin an … Wollen Sie raten?«
»Nein«, sagte Sam.
»Der Universität von Kathmandu.«
»Selma, Sie wirken wahre Wunder«, sagte Remi.
»Normalerweise würde ich Ihnen darin zustimmen, Mrs Fargo, aber das war einfach Dusel. Ich schicke Ihnen Professor Kaalramis Kontaktdaten. Okay, kommen wir zum Nächsten: Nachdem ich bei meinen Recherchen über die King-Familie nirgendwo fündig geworden bin, habe ich schließlich Rube Haywood angerufen. Er schickt mir Informationen, sobald er welche hat, aber was wir bis jetzt wissen, ist auch schon interessant. Zuerst einmal ist King nicht der richtige Name der Familie. Es ist die anglisierte Form des ursprünglich deutschen Namens König. Und Lewis’ Vorname lautete vorher Lewes.«
»Warum die Änderung?«, wollte Remi wissen.
»Wir sind uns zurzeit noch nicht ganz sicher, aber was wir wissen, ist, dass Lewis 1946 nach Amerika auswanderte und eine Dozentenstelle an der Syracuse University annahm. Zwei Jahre später, als Charles vier Jahre alt war, verließ Lewis ihn und seine Mutter und begann sein Leben als Weltenbummler.«
»Was noch?«
»Ich habe herausbekommen, welche Funktion Russell und Marjorie ausüben. Einer von Kings Ölkonzernen – die SRG oder Strategic Resources Group – beantragte im vergangenen Jahr bei der nepalesischen Regierung Genehmigungen, um – ich zitiere – ›exploratorische Untersuchungen zur Ausbeutung industrieller oder seltener Erzvorkommen‹ durchführen zu dürfen.«
»Was heißt das genau?«, fragte Remi. »Das ist eine ziemlich vage Projektbeschreibung.«
»Mit Absicht vage«, sagte Sam.
Selma erwiderte: »Die Firma ist nicht börsennotiert, daher kommt man nur sehr schwer an Informationen. Ich habe zwei Orte gefunden, die von der SRG gepachtet wurden. Sie befinden sich nordöstlich der Stadt.«
»Ein verschlungenes Netz«, sagte Remi. »Wir haben die King-Zwillinge, die ein Ölsuchprojekt am selben Ort und zur selben Zeit leiten, da Frank verschwindet, während er nach Kings Vater sucht, der möglicherweise – oder auch nicht – während der letzten vierzig Jahre im Himalaya herumgegeistert ist. Hab ich irgendwas vergessen?«
»Das trifft es ziemlich genau«, sagte Sam.
Selma fragte: »Wollen Sie irgendwelche Einzelheiten über die SRG-Standorte?«
»Warten Sie erst noch damit«, erwiderte Sam. »Auf den ersten Blick scheint es da keine Verbindung zu geben, aber bei King Charlie weiß man nie.«
Nachdem sie den Concierge des Hyatt gebeten hatten, einen Mietwagen bereitstellen zu lassen, machten sie sich auf den Weg. Sam fuhr, und Remi navigierte mithilfe einer Straßenkarte, die sie auf das Armaturenbrett des Nissan X-Trail SUV gelegt hatte.
Eine der wenigen Lektionen, die sie bei ihrem letzten Aufenthalt in Kathmandu gut sechs Jahre zuvor gelernt – und seitdem vergessen – hatten, fiel ihnen schnell wieder ein, kurz nachdem sie das Hotel verlassen hatten.
Außer den wichtigen Durchgangsstraßen wie der Tridevi und der Ring Road trugen die Straßen Kathmandus nur selten Namen, und zwar weder auf der Karte noch auf irgendwelchen Hinweisschildern. Verbale Wegerklärungen orientierten sich an Landmarken, gewöhnlich waren dies Kreuzungen oder Plätze – chowks beziehungsweise toles genannt – und gelegentlich an Tempeln und Märkten. Jeder, der sich mit solchen Bezugspunkten nicht auskannte, hatte kaum eine andere Wahl, als sich auf einen Stadtplan oder einen Kompass zu verlassen.
Sam und Remi hatten jedoch Glück. Die Universität von Kathmandu lag vierzehn Meilen von ihrem Hotel entfernt in den Vorbergen am östlichen Ende der Stadt. Nachdem sie zwanzig frustrierende Minuten mit der Suche nach dem Arniko Highway verbracht hatten, kamen sie zügig voran und erreichten den Campus eine Stunde, nachdem sie gestartet waren.
Den in Nepali und Englisch beschrifteten Hinweisschildern folgend, bogen sie nach der Einfahrt nach links ab und fuhren dann über eine mit Bäumen gesäumte Zufahrt bis zu einem Gebäude aus Klinker und Glas mit einem ovalen Beet voller Wildblumen vor dem Eingang. Sie fanden einen Parkplatz, gingen durch die gläsernen Eingangstüren und gelangten zu einem Informationspult.
Die junge Inderin, die hinter dem Pult saß, sprach, wie der leichte Akzent verriet, ein in Oxford geschultes Englisch. »Guten Morgen, willkommen in der Kathmandu University. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir möchten zu Professor Adala Kaalrami«, sagte Remi.
»Ja, natürlich. Einen Moment.« Die Frau tippte auf einige Tasten der Tastatur unterhalb des Pults und studierte für einen Augenblick den Monitor. »Professor Kaalrami führt zurzeit in der Bibliothek ein Gespräch mit einem Doktoranden. Es dürfte noch bis drei Uhr dauern.« Die Frau holte einen Lageplan des Universitätsgeländes hervor und malte je einen kleinen Kreis um ihren augenblicklichen Standort und den der Bibliothek.
»Vielen Dank«, sagte Sam.
Der Campus von Kathmandu war bescheiden, mit nur ungefähr einem Dutzend Hauptgebäuden, die sich auf einer Anhöhe gruppierten. Darunter erstreckten sich meilenweit grüne Terrassenfelder und dichte Wälder. In der Ferne konnten sie den Tribhuvan International Airport sehen. Nördlich davon, so eben noch zu erkennen, befanden sich die Pagodendächer des Hyatt Regency.
Sie gingen einhundert Meter weit nach Osten über einen von Hecken eingefassten Gehweg, wandten sich dann nach links und standen vor dem Eingang der Bibliothek. Sobald sie eingetreten waren, erklärte ihnen ein Angehöriger des Personals den Weg zu einem Konferenzraum im zweiten Stock. Dort trafen sie ein, als ein einzelner Student herauskam. Im Raum saß eine rundliche ältere Inderin in einem hellen rot-grünen Sari an einem runden Konferenztisch.
Remi sprach sie an: »Entschuldigen Sie, sind Sie Professor Adala Kaalrami?«
Die Frau sah auf und musterte sie durch eine dunkel geränderte Brille. »Ja, die bin ich.« Ihr Englisch hatte einen starken Akzent mit leicht singendem Charakter, wie er bei vielen Englisch sprechenden Indern verbreitet ist.
Remi stellte sich und Sam vor und fragte dann, ob sie sich setzen dürften. Kaalrami deutete mit einem Kopfnicken auf zwei Stühle ihr gegenüber. Sam sagte: »Hat der Name Lewis King irgendeine Bedeutung für Sie?«
»Bully?«, erwiderte sie ohne zu zögern.
»Ja.«
Sie lächelte breit; zwischen ihren Vorderzähnen hatte sie eine Lücke. »O ja, ich erinnere mich an Bully. Wir waren … Freunde.« Das Glitzern in den Augen verriet den Fargos, dass die Beziehung mehr gewesen war als reine Freundschaft. »Ich stand zwar in Princeton auf der Lohnliste, war jedoch sozusagen leihweise zur Tribhuvan University gekommen. Das war lange bevor die Kathmandu University gegründet wurde. Bully und ich lernten uns bei irgendeinem gesellschaftlichen Anlass kennen. Warum fragen Sie?«
»Wir suchen Lewis King.«
»Ah … Sie sind Geisterjäger, nicht wahr?«
»Ich verstehe das so, dass Sie glauben, er sei tot«, sagte Remi.
»Oh, das weiß ich nicht. Natürlich habe ich die Geschichten über seine … sein gelegentliches Auftauchen gehört, aber ich habe ihn nie gesehen und kenne auch keine authentischen Bilder. Zumindest nicht aus den letzten vierzig Jahren oder so. Ich rede mir ein, wenn er noch lebte, hätte er mich sicherlich besucht.«
Sam holte einen Schnellhefter aus seiner Ledertasche, zog eine Kopie des Devanagari-Pergaments heraus und schob es über den Tisch zu Kaalrami. »Erkennen Sie das?«
Sie studierte es einen Moment lang. »Ja, das tue ich. Das ist meine Unterschrift. Ich habe es für Bully übersetzt und zwar im Jahr …« Kaalrami schürzte die Lippen und überlegte. »Neunzehnhundertzweiundsiebzig.«
»Was können Sie uns darüber erzählen?«, fragte Sam. »Hat Lewis Ihnen beschrieben, wo er es gefunden hat?«
»Das hat er nicht.«
Remi sagte: »In meinen Augen sieht das wie Devanagari aus.«
»Seht gut, meine Liebe. Nah dran, aber falsch. Es ist in Lowa geschrieben. Das ist zwar noch keine tote Sprache, aber doch sehr selten. Laut der letzten Schätzung gibt es heute nur noch viertausend Menschen, die Lowa als Muttersprache beherrschen. Man findet sie vorwiegend im Norden des Landes an der chinesischen Grenze, im früheren …«
»Mustang«, riet Sam.
»Ja, das ist richtig. Und Sie haben es sogar richtig ausgesprochen. Sie sind ja richtig gut. Die meisten Lowa-Sprechenden leben in Lo Monthang und seiner Umgebung. Wussten Sie das über Mustang, oder haben Sie nur gut geraten?«
»Ich habe geraten. Der einzige derzeitige Hinweis auf Lewis Kings Aufenthaltsort ist eine Fotografie, auf der er angeblich zu sehen ist. Sie wurde vor einem Jahr in Lo Monthang gemacht. Das Pergament haben wir in Lewis’ Haus gefunden.«
»Haben Sie dieses Bild bei sich?«
»Nein«, sagte Remi und blickte zu Sam. Beide Mienen fragten: Warum haben wir nicht um eine Kopie des Fotos gebeten? Anfängerfehler. »Wir können aber ganz gewiss eins beschaffen.«
»Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht. Ich denke, ich würde Bully erkennen, wenn er es wirklich ist.«
»Hat irgendjemand anders Sie in letzter Zeit wegen King aufgesucht?«
Kaalrami zögerte wieder und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Oberlippe. »Vor einem Jahr, vielleicht ist es auch schon länger her, waren zwei junge Leute hier. Ein seltsames Paar …«
»Zwillinge? Blondes Haar, blaue Augen, asiatische Gesichtszüge?«
»Ja! Ich mochte sie überhaupt nicht. Ich weiß, es ist nicht sehr freundlich, so etwas zu sagen, aber ich muss ehrlich sein. Sie hatten etwas an sich …« Kaalrami zuckte die Achseln.
»Erinnern Sie sich noch, was sie von Ihnen wissen wollten?«
»Sie haben nur allgemeine Fragen über Bully gestellt, ob ich irgendwelche alten Briefe von ihm besäße oder mich daran erinnern könne, mit ihm über seine Arbeit in der Region gesprochen zu haben. Ich konnte ihnen aber nicht weiterhelfen.«
»Hatten sie keine Kopie von diesem Pergament?«
»Nein.«
Sam fragte: »Wir haben die ursprüngliche Übersetzung bisher nicht finden können. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn …?«
»Ich kann Ihnen den Inhalt in gedrängter Form wiedergeben, aber eine schriftliche Übersetzung würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich könnte es heute Nacht tun, wenn Sie wollen.«
»Das wäre schön«, sagte Remi. »Wir wären Ihnen sehr dankbar.«
Professor Kaalrami rückte ihre Brille zurecht und schob das Pergament genau vor sich. Sie begann, langsam mit den Fingern an den Textzeilen entlangzufahren, wobei sich ihre Lippen lautlos bewegten.
Nach fünf Minuten blickte sie hoch. Dann räusperte sie sich.
»Es ist eine Art königlicher Erlass. Die Formulierungen des Lowa lassen sich nicht so leicht ins Englische übertragen, aber es ist eine offizielle Anordnung. Dessen bin ich mir sicher.«
»Ist ein Datum vermerkt?«
»Nein, aber wenn Sie genau hinsehen, dort an der linken oberen Ecke fehlt ein Stück Text. Befand er sich auf dem Originalpergament?«
»Nein. Ich habe es genauso fotografiert, wie es aussah. Erinnern Sie sich noch, ob sich das Datum auf dem Original befunden hat?«
»Ich fürchte nein.«
»Würden Sie eine Schätzung abgeben?«
»Nageln Sie mich nicht darauf fest, aber ich würde meinen, dass es zwischen sechs-und siebenhundert Jahre alt ist.«
»Machen Sie bitte weiter.«
»Nochmals, Sie müssen auf die schriftliche Version warten …«
»Wir haben verstanden.«
»Es ist ein Befehl an eine Gruppe von Soldaten … besondere Soldaten, die Wächter genannt werden. Sie werden instruiert, irgendeinen Plan auszuführen – etwas, das in einem anderen Dokument genauer beschrieben wird, vermute ich. Der Plan besteht darin, etwas namens Theurang aus seinem Versteck zu holen und in Sicherheit zu bringen.«
»Weshalb?«
»Es hat irgendetwas mit einer Invasion zu tun.«
»Wird erklärt, was dieser oder dieses Theurang ist?«
»Ich glaube nicht. Es tut mir leid, das meiste ist mir nur vage vertraut. Es ist schließlich vierzig Jahre her. Ich erinnere mich an das Wort, weil es ungewöhnlich war, aber ich glaube nicht, dass ich es damals weiterverfolgt habe. Ich lehre alte Sprachen. Ich habe keinen Zweifel, dass es hier im Lehrkörper jemanden gibt, der Ihnen bei dem Wort weiterhelfen kann. Ich will mich gern erkundigen.«
»Das wäre sehr nett von Ihnen«, erwiderte Sam. »Erinnern Sie sich noch an Lewis’ Reaktion, als Sie ihm die Übersetzung gaben?«
Kaalrami lächelte. »Er war freudig erregt, soweit ich mich entsinne. Aber andererseits hat es Bully nie an Begeisterung gefehlt. Dieser Mann kostete sein Leben in vollen Zügen aus.«
»Hat er verlauten lassen, wo er das Pergament fand?«
»Wenn ja, dann erinnere ich mich nicht mehr daran. Vielleicht fällt mir heute Nacht, wenn ich an der Übersetzung arbeite, noch einiges ein.«
»Eine letzte Frage«, sagte Remi. »An was können Sie sich aus der Zeit erinnern, in der Lewis verschwunden ist?«
»Oh, an einiges. Wir verbrachten den Vormittag zusammen. Wir waren zu einem Brunch-Picknick an einem Fluss. Am Bagmati, auf der südwestlichen Seite der Stadt.«
Gleichzeitig lehnten sich Sam und Remi vor. Sam fragte: »Chobar-Schlucht?«
Professor Kaalrami lächelte und sah Sam erstaunt an. »Ja. Woher wissen Sie das?«
»Ein Zufallstreffer. Und nach dem Picknick?«
»Lewis hatte seinen Rucksack bei sich – er war fast so etwas wie sein Markenzeichen. Lewis war ständig in Bewegung. Es war ein wunderschöner Tag, warm, nicht ein Wölkchen am Himmel. Soweit ich mich erinnere, habe ich Fotos gemacht. Ich hatte eine neue Kamera, eines dieser ersten Polaroid-Modelle, die man zusammenklappen kann. Damals war es ein technisches Kleinod.«
»Bitte sagen Sie uns, dass Sie diese Bilder noch besitzen.«
»Das ist möglich. Es hängt von den technischen Fähigkeiten meines Sohnes ab. Wenn Sie mich entschuldigen.« Professor Kaalrami stand auf, ging zu einem Beistelltisch, griff nach einem Telefon und wählte eine Nummer. Danach sprach sie ein paar Minuten lang Nepali, schaute schließlich zu Sam und Remi hinüber und legte eine Hand auf die Sprechmuschel des Telefonhörers. »Haben Sie Mobiltelefone mit E-Mail-Empfang?«
Sam nannte ihr seine Adresse.
Kaalrami sprach weitere dreißig Sekunden ins Telefon, dann kehrte sie zum Konferenztisch zurück – und seufzte. »Mein Sohn. Er sagt mir immer, ich solle endlich mal im digitalen Zeitalter ankommen. Im letzten Monat hat er angefangen, meine alten Fotoalben zu scannen – ist das das richtige Wort? Die mit den Bildern vom Picknick hat er erst in der vergangenen Woche fertig gestellt. Er schickt Ihnen die Fotos.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Sam, »und Ihrem Sohn.«
Remi meldete sich wieder zu Wort. »Sie wollten gerade von dem Picknick erzählen …«
»Wir aßen, genossen es, zusammen zu sein, unterhielten uns, dann – am frühen Nachmittag, glaube ich – trennten wir uns. Ich stieg in meinen Wagen und fuhr davon. Das Letzte, was ich gesehen habe, war, wie er die Chobar-Schlucht-Brücke überquerte.«