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Kathmandu, Nepal
Die Fahrt zur Chobar-Schlucht verlief zügig, als sie zuerst nach Westen fuhren und dann auf dem Arniko-Highway zur Stadt zurück. An der Peripherie nahmen sie die Ring Road nach Süden und folgten ihr am Südrand Kathmandus entlang in die Chobar-Region. Von dort brauchten sie sich nur noch an zwei Hinweisschilder zu halten. Eine Stunde, nachdem sie sich von Professor Kaalrami verabschiedet hatten, rollten sie gegen fünf Uhr nachmittags in den Manjushree Park oberhalb der nördlichen Seitenwand der Schlucht.
Sie stiegen aus und streckten die Beine. Wie schon mehrmals während der vorangegangenen Stunde sah Sam auf seinem iPhone nach, ob eine E-Mail eingegangen war. Er schüttelte den Kopf. »Noch nichts.«
Die Hände auf die Hüften gestützt, betrachtete Remi die Umgebung. »Wonach halten wir Ausschau?«, fragte sie.
»Eine riesige Neonschrift, die Bully war hier verkündet, wäre zwar nett, aber so viel erwarte ich gar nicht.«
In Wahrheit wusste keiner von ihnen, ob es überhaupt etwas zu finden gab. Sie waren aufgrund eines wahrscheinlich reinen Zufalls hierhergekommen: Sowohl Frank Alton als auch Lewis King hatten hier ihre letzten Stunden verbracht, ehe sie verschwanden. Doch so wie sie Alton kannten, war es äußerst zweifelhaft, dass er ohne einen triftigen Grund hergekommen war.
Abgesehen von zwei Männern, die auf einer Bank ein frühes Abendessen einnahmen, wirkte der Park – im Grunde nicht viel mehr als ein niedriger Hügel, der mit Büschen und Bambus bedeckt war und von einem in Serpentinen verlaufenden Wanderweg überquert wurde – verlassen. Sam und Remi gingen die unbefestigte Zufahrt hinunter und folgten dem gewundenen Weg zum Beginn der Chobar-Schlucht. Während die Hauptbrücke aus Beton erbaut und breit genug war, um mit Autos befahren zu werden, konnte man die tieferen Bereiche der Schlucht nur über drei mit Holzplanken belegte Hängebrücken erreichen. Sie waren in unterschiedlichen Höhen angelegt und jeweils über Wanderwege zugänglich. Auf beiden Seiten der Schlucht waren Tempel, teilweise hinter dicken Bäumen versteckt, in die Berghänge gebaut worden. Dreißig Meter weiter unten schäumte der Bagmati über mächtige Felsblöcke.
Remi ging zu einer Informationstafel, die an der Brückenfassade angebracht war. Laut las sie die englische Textversion vor: »›Chovar Guchchi ist ein enges Tal, das vom Bagmati geschaffen wurde, dem einzigen Abfluss des Kathmandu-Tals. Man nimmt an, dass das Kathmandu-Tal früher mit einem riesigen See gefüllt war. Als Manjusri zum ersten Mal das Tal erblickte, sah er eine Lotosblüte auf dem See. Er durchschnitt den Berghang auf dieser Seite, damit das Wasser des Sees ablaufen konnte und damit den Platz für die Stadt Kathmandu freigab.‹«
Sam fragte: »Wer ist Manjusri?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er ein Bodhisattva war – ein Erleuchteter.«
Sam nickte, als er abermals nach neuen E-Mails schaute. »Da ist die Mail. Professor Kaalramis Sohn ist durchgekommen.«
Er und Remi gingen zu einem nahe stehenden Baum, um aus der untergehenden Sonne zu kommen. Sam rief die Fotos auf, insgesamt waren es fünf, und blätterte sie durch. Zwar waren die Fotos sehr gut digitalisiert, aber sie hatten doch jenen typischen Polaroid-Touch: ein wenig verwaschen, die Farben leicht unnatürlich. Die ersten vier zeigten Lewis King und Adala Kaalrami in jungen Jahren. Sie lagen oder saßen auf einer Decke, umgeben von Tellern, Gläsern und weiteren Picknickutensilien.
»Auf keinem sind sie zusammen zu sehen«, sagte Remi.
»Kein Selbstauslöser«, erwiderte Sam.
Das fünfte Foto zeigte Lewis King. Diesmal stand er und war der Kamera im Dreiviertelprofil zugewandt. Auf dem Rücken trug er einen alten Tragegestell-Rucksack.
Sie studierten die Fotos ein zweites Mal. Sam atmete hörbar aus und sagte: »Wir hätten unsere Hoffnungen nicht zu hoch schrauben sollen.«
»Resignier nicht zu früh«, sagte Remi und beugte sich näher zu dem iPhone-Display. »Siehst du, was er in der rechten Hand hält?«
»Einen Eispickel.«
»Nein. Schau genauer hin.«
Sam folgte ihrem Rat. »Einen Höhlenkletterhammer.«
»Und sieh dir an, was er links neben seinem Schlafsack an den Rucksack gehängt hat. Du kannst ganz schwach die Wölbung erkennen.«
Sam starrte auf das Display. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Wie konnte ich das nur übersehen? Nicht zu fassen. Das ist ein Schutzhelm.«
Remi nickte. »Mitsamt einer Stirnlampe. Lewis King wollte auf Höhlenerkundung gehen.«
Da sie nicht ganz sicher waren, was sie suchten, aber hofften, auf der richtigen Spur zu sein, brauchten sie nur zehn Minuten, um es zu finden. In der Nähe des Brückenkopfes am gegenüberliegenden Ufer stand ein überdachter Kiosk mit Holzfächern, in denen Informationsbroschüren lagen. Sie fanden eine Touristenkarte von der Schlucht und überflogen die nummerierten Punkte und die dazugehörigen Legenden.
Eine Meile flussaufwärts von der Brücke am nördlichen Ufer befand sich ein Punkt mit der Beschreibung, »Chobar Höhlen. Für die Öffentlichkeit gesperrt. Unbefugter Zutritt verboten.«
»Es ist reine Spekulation«, sagte Remi. »Soweit wir wissen wollte Lewis in die Berge, und Frank ging einfach verloren.«
»Spekulationen sind aber unsere Spezialität«, erinnerte Sam seine Frau. »Außerdem, entweder wagen wir einen Versuch, oder wir verbringen einen weiteren Tag mit Russell und Marjorie.«
Das gab den Ausschlag. Remi sagte: »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in Kathmandu eine REI-Filiale gibt?«
Wie erwartet waren die Chancen gleich null, aber sie fanden einen Surplus-Laden der nepalesischen Armee ein paar Blocks weiter nach Westen, am Durban Square. Die Ausrüstung, die sie erwarben, war zwar alles andere als modern, aber von ordentlicher Qualität. Obwohl keiner der beiden auch nur halbwegs überzeugt war, dass ihnen eine Erforschung der Chobar-Höhlen bei der Erfüllung ihres Auftrags weiterhelfen würde, war es trotzdem ein gutes Gefühl, aktiv zu werden. Dies war zu einem ihrer Leitsätze geworden: Im Zweifelsfall tu etwas. Irgendwas.
Kurz vor sieben bogen sie wieder auf den Parkplatz des Hyatt ein. Während Sam ausstieg, entdeckte er Russell und Marjorie, die unter der Markise der Drehtür standen.
Sam murmelte: »Banditen bei drei Uhr.«
»Oh, igitt.«
»Öffne bloß nicht die Heckklappe. Sie wollen uns sicher begleiten.«
Russel und Marjorie kamen angetrabt. »Hey«, sagte Russell, »wir hatten uns schon Sorgen gemacht. Also sind wir vorbeigekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht. Und der Concierge meinte, Sie hätten einen Wagen gemietet und seien unterwegs.«
Marjorie fragte: »Ist alles okay?«
»Wir wurden zweimal ausgeraubt«, erklärte Remi mit todernster Miene.
»Und ich bin ausgetrickst und überredet worden, eine Ziege zu heiraten«, fügte Sam hinzu.
Nach ein paar Sekunden erschien ein Lächeln auf den Mienen der King-Sprösslinge. »Oh, Sie machen Witze«, sagte Russell. »Wir haben das verstanden. Aber ernsthaft, Sie sollten nicht so einfach losziehen …«
Sam unterbrach ihn. »Russell, Marjorie, ich möchte um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Hören Sie mir zu?«
Als Antwort erhielt er ein doppeltes Kopfnicken.
»Remi und ich haben mehr Länder bereist, als Sie wahrscheinlich nennen können – und zwar Sie beide zusammen. Wir wissen Ihre Hilfe und Ihren … Enthusiasmus zu schätzen, aber von diesem Moment an melden wir uns einfach, wenn wir Sie brauchen. Ansonsten lassen Sie uns in Ruhe und das tun, weshalb wir hierhergekommen sind.«
Die Münder halboffen, starrten ihn Russell und Marjorie an. Sie schauten zu Remi hinüber, die mit einem Achselzucken reagierte. »Was er sagt, das meint er auch so.«
»Ist das klar?«, fragte Sam.
»Nun, Sir, unser Vater hat uns gebeten …«
»Das ist Ihr Problem. Wenn Ihr Vater mit uns reden will, dann weiß er, wie er uns erreichen kann. Sonst noch Fragen?«
»Das gefällt mir nicht«, sagte Russell.
Marjorie fügte hinzu: »Wir wollen doch nur helfen.«
»Und wir haben uns dafür bedankt. Und nun stellen Sie unsere Höflichkeit auf eine harte Probe. Warum trollen Sie sich nicht einfach? Wir rufen Sie, wenn wir in Schwierigkeiten geraten, mit denen wir nicht fertig werden.«
Nach kurzem Zögern machten die King-Zwillinge kehrt und gingen zu ihrem Mercedes. Sie starteten und fuhren langsam an Sam und Remi vorbei, wobei sie ihnen durch Russells heruntergedrehtes Fenster wütende Blicke zuwarfen, ehe sie Gas gaben und sich entfernten.
»Wenn Blicke töten könnten«, sagte Remi.
Sam nickte. »Ich denke, wir haben vielleicht gerade die wahren Gesichter der King-Zwillinge gesehen.«