7

Chobar-Schlucht, Nepal

Sie brachen kurz vor vier Uhr am nächsten Morgen auf und hofften, die Schlucht noch vor Sonnenaufgang zu erreichen. Zwar wussten sie nicht, wie streng auf die Einhaltung des Zutrittsverbots der Chobar-Höhlen geachtet wurde oder ob die Gegend von Polizeipatrouillen überwacht wurde, aber sie wollten auf keinen Fall ein Risiko eingehen.

Um fünf Uhr erreichten sie den Manjushree-Park und fanden unter einem Baum, der von der Hauptstraße aus nicht zu sehen war, einen Abstellplatz. Bei ausgeschalteten Scheinwerfern blieben sie zwei Minuten lang sitzen und lauschten dem leisen Ticken des abkühlenden Nissanmotors, bevor sie ausstiegen, die Heckklappe öffneten und ihre Ausrüstung herausholten.

»Hast du wirklich gedacht, dass sie uns verfolgen?«, fragte Remi und schwang sich ihren Rucksack auf die Schultern.

»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Mein Bauch sagt mir, dass sie bis auf die Knochen schlecht sind, und ich weiß ohne jeden Zweifel, dass King sie nicht gebeten hat, uns zu helfen. Er wird ihnen höchstens befohlen haben, uns im Auge zu behalten.«

»Dem stimme ich zu. Hoffentlich hat deine Standpauke bei ihnen gewirkt.«

»Da habe ich meine Zweifel«, sagte Sam und schlug die Heckklappe zu.

 

Vom Schein der aufgehenden Sonne geleitet, gingen sie zum Brückenkopf hinunter. Wie auf der Karte angezeigt, fanden sie zwanzig Meter östlich der Brücke, hinter einem Bambuswäldchen, den Weg. Mit Sam als Spitze wanderten sie flussaufwärts.

Die erste Viertelmeile war es ein angenehmes Marschieren. Der Weg war einen Meter breit und mit gleichmäßig verteiltem Schotter bedeckt. Doch das änderte sich bald, als das Gelände steiler wurde. Der Weg wurde schmaler und ging in eine Serie von Serpentinen über. Das Laubwerk wurde dichter und bildete über ihren Köpfen einen Baldachin. Zu ihrer Rechten und tief unter ihnen konnten sie den Fluss leise rauschen hören.

Sie gelangten zu einer Gabelung. Zur Linken verlief der Weg nach Osten und entfernte sich vom Fluss; der rechte Weg führte zum Fluss hinunter. Sie hielten nur für einen kurzen Moment inne, um ihre Karte und Sams iPhone-Kompass noch einmal zu Rate zu ziehen, dann entschieden sie sich für den rechten Weg. Nach weiteren fünf Minuten standen sie vor einem Abhang von fünfundvierzig Grad, in den rohe Stufen gegraben worden waren. Am Fuß des Abgangs erwartete sie kein Weg, sondern eine wacklige Hängebrücke, deren linke Seite am Felsen mit Schlüsselschrauben verankert war. Schlingpflanzen hatten die Brücke überwuchert und sich so fest um die Auflager und die Seile gewickelt, dass die Konstruktion halb von Menschenhand geschaffen, halb von der Natur hervorgebracht erschien.

»Ich habe das ausgeprägte Gefühl, dass wir in ein Kaninchenloch blicken«, murmelte Remi.

»Komm weiter«, sagte Sam. »Es ist richtig malerisch.«

»Durch dich bin ich dazugekommen, dieses Wort mit halsbrecherisch gleichzusetzen.«

»Das tut mir wirklich leid.«

»Kannst du erkennen, wie weit sie geht?«

»Nein. Halt dich am Felsen fest. Wenn das Seil nachgibt, werden die Pflanzen wahrscheinlich halten.«

»Noch so ein schönes Wort – wahrscheinlich.«

Sam machte einen Schritt vorwärts und verlagerte sein Gewicht vorsichtig auf die erste Planke. Abgesehen von einem leisen Knarren hielt das Holz die Last. Er machte einen weiteren vorsichtigen Schritt, dann einen dritten und einen vierten, bis er drei Meter überwunden hatte.

»So weit, so gut«, rief er über die Schulter.

»Bin unterwegs.«

Es stellte sich heraus, dass die Brücke lediglich fünfunddreißig Meter lang war. Auf der anderen Seite setzte sich der Weg fort, verlief zuerst in Serpentinen den Berghang hinab und dann wieder hinauf. Vor ihnen wurden die Bäume spärlicher.

»Runde zwei«, sagte Sam zu Remi.

»Was?«, erwiderte sie, dann blieb sie ganz plötzlich hinter ihm stehen. »O nein.«

Eine weitere Hängebrücke.

»Ich erkenne einen Trend«, sagte Remi.

 

Sie hatte recht. Auf der anderen Seite der Brücke erwartete sie ein weiterer Abschnitt des Fußwegs, gefolgt von der nächsten Brücke. Während der nächsten vierzig Minuten setzte sich dieses Muster fort: Weg, Brücke, Weg, Brücke. Schließlich, auf dem fünften Abschnitt des Weges, verlangte Sam eine kurze Pause und überprüfte Karte und Kompass. »Wir sind nah dran«, murmelte er. »Der Höhleneingang muss hier irgendwo unter uns sein.«

Sie trennten sich und suchten ein Stück den Weg aufwärts und abwärts.

Remi wurde fündig. Auf der Flussseite des Weges baumelte eine verrostete Kabelleiter, die an einem Baumstumpf befestigt war, ins Leere, Sam ging auf den Bauch hinunter und kroch, während ihn Remis Hände an seinem Gürtel festhielten, durchs Unterholz. Er schlängelte sich wieder zurück.

»Da ist ein Felsabsatz«, berichtete er. »Die Leiter endet in zwei Metern Höhe darüber. Wir werden springen müssen.«

»Natürlich werden wir das«, erwiderte Remi mit einem angespannten Lächeln.

»Ich gehe zuerst.«

Auf den Knien beugte sich Remi vor und küsste Sam. »Bully King kann dir nichts vormachen.«

Sam lächelte. »Keinem von uns.«

Sam legte seinen Rucksack ab und reichte ihn hinter sich an Remi weiter, dann kroch er auf allen vieren durchs Unterholz. Er schlang die Arme um den Baumstumpf. Dann ließ er sich langsam hinab, ruderte mit den Beinen herum und suchte mit den Füßen, bis er die oberste Leitersprosse fand.

»Ich stehe«, gab er Remi Bescheid. »Und steige ab.«

Er verschwand und ward nicht mehr gesehen. Eine halbe Minute später rief er: »Ich bin unten. Wirf die Rucksäcke über den Rand.« Remi kroch vorwärts und warf den ersten.

»Ich hab ihn!«

Sie warf den zweiten.

»Hab ihn. Komm jetzt herunter. Ich sage dir, was du tun musst.«

»Bin unterwegs.«

Als sie die vorletzte Sprosse erreicht hatte und ihre untere Körperhälfte frei in der Luft hing, streckte sich Sam und legte die Arme um ihre Oberschenkel. »Ich hab dich.«

Sie ließ los, und Sam setzte sie auf dem Felsabsatz ab. Remi rückte ihre verschobene Stirnlampe zurecht, dann sah sie sich um. Der Vorsprung, auf dem sie standen, war zwei Meter breit und ragte ein gutes Stück über den Fluss. In der Felswand klaffte ein annähernd ovaler Höhleneingang, verschlossen mit Maschendraht, der am Felsen festgeschraubt war. Die untere linke Ecke des Drahtgeflechts hatte sich vom Felsen gelöst. Ein rot-weißes Schild, beschriftet in Nepali und Englisch, war an der Felswand befestigt:

 

DANGER

NO TRESPASSING

DO NOT ENTER

 

Unter den Worten waren ein Schädel und gekreuzte Knochen auf das Schild gemalt.

Remi lächelte. »Sieh mal, Sam, dies hier ist das universelle Symbol für malerisch.«

»Witzbold«, erwiderte er. »Bereit für eine Höhlenfahrt?«

»Hab ich auf diese Frage jemals mit nein geantwortet?«

»Niemals. Du meine Güte.«

»Geh voraus.«

 

Ihre Ahnung, dass die Höhle versperrt worden war, um Andenkenjäger davor zu bewahren, sich zu verirren oder zu verletzen, wurde Sekunden nachdem sie durch die Lücke im Drahtverhau gekrochen waren, bestätigt. Als er sich nämlich wieder aufrichtete, rutschte Sams Arm in einen Spalt im Boden, der kaum größer war als sein Unterarm. Hätte er sich auch nur mit mäßigem Tempo bewegt, er hätte sich leicht einen Knochen brechen können; wäre er gegangen, hätte sein Fußknöchel dran glauben müssen.

»Böses Omen oder Vorwarnung?«, fragte er Remi mit einem halben Lächeln, während sie ihm auf die Füße half.

»Ich tendiere zu Letzterem.«

»Grund 640, weshalb ich dich liebe«, erwiderte er. »Stets und überall die Optimistin.«

Sie leuchteten mit ihren Taschenlampen in den Tunnel hinein. Er war breit genug, so dass Sam die Arme vollständig seitlich ausstrecken konnte, aber ein paar Zentimeter niedriger als Remi. Also war Sam gezwungen, sich leicht gebückt zu halten. Der Boden war rau wie Gips bei hundertfacher Vergrößerung.

Sam drehte den Kopf hin und her und schnüffelte. »Riecht trocken.«

Remi fuhr mit der Hand über Decke und Wand. »Und fühlt sich auch trocken an.«

Mit einigem Glück konnten sie Feuchtigkeit aus ihren Berechnungen streichen, oder jedenfalls fast. Eine trockene Höhle zu erkunden war schon riskant genug; Wasser machte es weit gefährlicher, da Boden, Decke und Wände schon bei der geringsten Erschütterung einstürzen konnten. Allerdings wussten sie, dass unter ihren Füßen unsichtbare Nebenflüsse des Bagmati existieren konnten, so dass sich der Zustand der Höhle mit geringer oder gar keiner Vorwarnung verändern konnte.

Mit Sam als Vorhut gingen sie los. Der Tunnel knickte scharf nach rechts ab, dann nach links, und plötzlich standen sie vor ihrem ersten Hindernis. Auch dies war von Menschenhand geschaffen: ein Satz vertikaler Eisenstangen, die von Wand zu Wand reichten und in Boden und Decke gebohrt worden waren.

»Sie meinen es wirklich ernst«, sagte Sam und ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe über den verrosteten Stahl gleiten. Wie viele Souvenirjäger hatten sich wohl triumphierend durch den Maschendraht am Eingang gezwängt, um hier endgültig aufgehalten zu werden, dachte er.

Remi ging vor den Stangen auf die Knie. Nacheinander rüttelte sie an ihnen. Beim vierten Versuch gab das Metall einen knirschenden Laut von sich. Sie lächelte Sam über die Schulter hinweg an. »Der Segen der Oxidation. Hilf mir mal.«

Gemeinsam zerrten sie an der Stange und rüttelten sie hin und her, bis sie sich allmählich in ihren Verankerungen lockerte. Steinsplitter und Staub rieselten von der Decke herab. Nach zwei Minuten Arbeit löste sich die Stange und schlug mit einem Klirren auf dem Boden auf. Es hallte durch den Tunnel. Sam ergriff die Stange und zog sie durch die entstandene Lücke zu sich heran. Er untersuchte ihre Enden.

»Sie wurde durchgeschnitten«, murmelte er, dann zeigte er Remi, was er meinte.

»Schneidbrenner?«

»Keine Brandspuren. Ich tippe auf Metallsäge.«

Er leuchtete mit der Lampe in die leere Bodenverankerung der Stange und konnte in wenigen Zentimetern Tiefe einen Metallstumpf erkennen.

Sam sah Remi an. »Die Sache wird langsam interessant. Jemand war schon vor uns hier.«

»Und wollte, dass niemand etwas davon bemerkt«, fügte sie hinzu.

 

Nachdem sie sich einen Moment Zeit genommen hatten, damit Sam mit seinem Kompass eine Peilung vornehmen und eine grobe Planskizze in sein Moleskin-Notizbuch eintragen konnte, zwängten sie sich durch die Lücke, setzten die Stange wieder in ihrer ursprünglichen vertikalen Position ein und gingen dann weiter. Der Tunnel beschrieb einen Zickzack-Kurs und wurde zunehmend enger. Bald betrug seine Höhe nur noch an die ein Meter zwanzig, und Sams und Remis Ellbogen stießen wiederholt gegen die Seitenwände. Der Boden begann sich abzusenken. Sie verstauten die Taschenlampen und knipsten dafür die Stirnlampen an. Der Boden fiel weiter ab, bis sie sich seitwärtsgehend ein dreißig Grad steiles Gefalle hinabtasteten und dabei Felsvorsprünge als Handgriffe und Fußtritte nutzten.

»Stopp«, sagte Remi plötzlich. »Hör mal.«

Irgendwo in der Nähe gluckerte Wasser.

»Der Fluss«, sagte Sam.

Sie drangen weitere fünf Meter vor, und der Tunnel flachte sich zu einem kleinen Korridor ab. Sam schob sich weiter bis zu der Stelle hin, wo der Boden wieder anzusteigen begann.

»Es ist fast senkrecht«, rief er zurück. »Ich denke, wenn wir vorsichtig sind, können wir hinaufklettern …«

»Sam, sieh dir das mal an.«

Er wandte sich um und kehrte zu Remi zurück, die den Kopf in den Nacken gelegt hatte und die Wand betrachtete. Im Licht ihrer Stirnlampe ragte ein Objekt aus dem Felsen, etwa halb so groß wie eine Halb-Dollar-Münze.

»Sieht metallisch aus«, sagte Sam. »Los, komm an Bord.«

Sam kniete sich hin, und Remi stieg auf seine Schultern. Er richtete sich langsam auf und ließ Remi Zeit, sich an der Wand abzustützen. Nach ein paar Sekunden meinte sie: »Es ist ein Schwellennagel.«

»Wie bitte?«

Remi wiederholte es. »Er steckt bis zum Kopf im Gestein. Warte mal … ich glaube, ich kann … Da! Er sitzt fest, aber ich konnte ihn ein paar Zentimeter herausziehen. Da ist noch einer, Sam, etwa einen halben Meter darüber. Und ein dritter. Ich richte mich auf. Fertig?«

»Los.«

Sie erhob sich zu ihrer vollen Größe. »Da ist eine ganze Reihe davon«, meldete sie. »Sie gehen etwa sechs Meter hoch bis zu einer Art Sims.«

Sam überlegte kurz. »Kannst du den zweiten Nagel herausziehen?«

»Augenblick … Schon geschehen.«

»Okay, kletter wieder runter«, sagte Sam. Sobald sie neben ihm stand, sagte er: »Gut gemacht.«

»Danke«, gab sie zurück. »Ich kann mir nur einen Grund vorstellen, weshalb sie so hoch über dem Boden anfangen.«

»Damit niemand sie entdeckt.«

Sie nickte. »Sie sehen ziemlich alt aus.«

»Vielleicht von 1973?«, dachte Sam laut nach und nannte damit das Jahr, in dem Lewis King verschwunden war.

»Könnte sein.«

»Wenn ich nicht ganz schiefliege, sieht es aus, als hätte sich Bully oder irgendein anderer Höhlenforscher eine Leiter gebaut. Aber wohin?«

Während Sams Worte verhallten, leuchteten sie mit ihren Stirnlampen die Wand ab.

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, entschied Remi.

Das Geheimnis von Shangri La
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