9
Chobar-Schlucht
Die profillose Sohle des Stiefels verriet Sam und Remi, dass sie kein modernes Schuhwerk vor sich hatten, und das Zehenskelett, das sich durch eine verrottete Stelle des Oberleders gebohrt hatte, sagte ihnen, dass der Eigentümer die irdischen Gefilde schon vor langer Zeit verlassen haben musste.
»Ist es nicht merkwürdig, dass mich so etwas gar nicht mehr schockt?«, sagte Remi, während sie den Fuß betrachtete.
»Wir haben sicherlich schon unseren gerechten Anteil an Toten gesehen«, stimmte Sam zu. Solche Überraschungen waren ein fester Bestandteil ihrer Nebenbeschäftigung. »Siehst du irgendwelche Stolperfallen?«
»Nein.«
»Dann sollten wir uns mal umsehen.«
Sam stemmte die Beine gegen die eine Wand, den Rücken gegen die andere und reichte Remi einen Arm, so dass sie sich daran hochziehen konnte. Er ging die Steigung hinauf und dann über die Bodenwelle. Nachdem er den Raum mit seiner Stirnlampe ausgeleuchtet hatte, rief er: »Alles klar. Was du hier siehst, wird dir gefallen, Remi.«
Blitzschnell war sie bei ihm. Nebeneinander kniend untersuchten sie das Skelett.
Geschützt vor den Elementen und Raubtieren und eingeschlossen in der relativen Trockenheit der Höhle, waren die Überreste teilweise mumifiziert. Die Kleidung, die offenbar aus mehrschichtigem Leder bestand, war weitgehend intakt geblieben.
»Ich sehe keine offensichtlichen Anzeichen für Gewalteinwirkung«, sagte Remi.
»Wie alt?«
»Reine Schätzung … mindestens vierhundert Jahre.«
»Im gleichen Zeitbereich wie der Speer.«
»Richtig.«
»Sieht aus wie eine Uniform«, sagte Sam und berührte einen Ärmel.
»Dann ergibt das auch mehr Sinn«, sagte Remi und zeigte auf etwas. Aus dem, was einst als Gürtelscheide gedient hatte, ragte der Griff eines Dolchs. Sie ließ den Lichtstrahl ihrer Lampe durch den Raum wandern. Dann murmelte sie: »Trautes Heim, Glück allein.«
»Heim, vielleicht«, erwiderte Sam, »aber traut? Ich glaube, alles ist relativ.«
Ein paar Schritte von dem ebenen Bereich entfernt, wo das Skelett lag, erweiterte sich der Tunnel zu einem Alkoven von knapp zehn Quadratmetern. In mehreren von Hand in die Felswände gemeißelten Nischen standen die Stummel primitiver Kerzen. Am Fuß einer Wand, in einer natürlichen Mulde, waren die Überreste eines Feuers zu sehen; daneben ein Haufen kleiner Tierknochen. Am anderen Ende des Alkovens lag so etwas wie eine Bettrolle und, daneben, ein Schwert in einer Scheide sowie ein halbes Dutzend scharf geschliffener Speere, ein Verbundbogen und ein Köcher, der acht Pfeile enthielt. Eine Ansammlung unterschiedlicher Gegenstände bedeckte den restlichen Fußboden: ein Eimer, ein halb verrottetes Seil, ein Lederbehältnis, ein runder Schild aus Holz und Leder, eine Holzkiste …
Remi richtete sich auf und ging durch den Raum.
»Ohne Zweifel wird er unangenehme Gesellschaft erwartet haben«, stellte Sam fest. »Das hier sieht alles aus wie das letzte Gefecht. Aber aus welchem Grund?«
»Vielleicht hat es damit zu tun«, sagte Remi und kniete sich vor die Holzkiste. Sam kam herüber. Die Kiste hatte die Ausmaße einer kleinen Ottomane und war ein perfekter Würfel aus einem dunklen, lackierten Hartholz mit Tragriemen aus Leder an drei Seiten und doppelten Schultergurten auf der vierten. Sam und Remi konnten keine Scharniere und kein Schloss entdecken: Die Fugen waren derart passgenau, dass sie fast unsichtbar waren. In die Oberseite waren vier komplizierte asiatische Schriftzeichen in einem Zweimal-Zwei-Gittermuster eingraviert.
»Erkennst du die Sprache?«
»Nein.«
»Das ist bemerkenswert«, sagte Sam. »Sogar mit modernen Werkzeugen zur Holzbearbeitung braucht man unglaubliches Geschick, um so etwas herzustellen.«
Er klopfte mit den Fingerknöcheln gegen eine Seite und hörte einen soliden Laut. »Hohl klingt sie nicht.« Behutsam kippte er die Kiste hin und her: Ein leises Klappern drang heraus. »Aber sie ist es. Und ziemlich leicht dazu. Ich sehe keine anderen Markierungen. Du vielleicht?«
Remi bückte sich und lehnte sich nach links und rechts. Sie schüttelte den Kopf. »Auf dem Boden?« Sam drehte sie halb um. Remi sah hin und meinte: »Auch dort ist nichts.«
»Jemand hat sich unendlich viel Mühe gegeben, um das zu bauen«, sagte Sam, »und es sieht so aus, als sei unser Freund bereit gewesen, sein Leben dafür herzugeben, um sie zu schützen.«
»Es könnte auch noch mehr sein«, fügte Remi hinzu. »Wenn es nicht gerade die Mutter aller Zufälle ist, über die wir gestolpert sind, würde ich meinen, dass wir das gefunden haben, was schon Lewis King gesucht hatte.«
»Wenn ja, wie konnte er es sich entgehen lassen? Er war doch so nah dran.«
»Wenn er es nicht geschafft hat, den Schacht zu überqueren«, erwiderte Remi, »könnte er dann noch am Leben sein?«
Sie begannen damit, den Inhalt der Höhle zu dokumentieren. Da sie nicht wussten, wie bald sie wieder zurückkehren würden und zu diesem Zeitpunkt nur einen winzigen Bruchteil der Artefakte mitnehmen konnten, wären sie auf Digitalfotos, Zeichnungen und Notizen angewiesen. Glücklicherweise war Remi dank ihrer Ausbildung und ihrer Erfahrung dazu prädestiniert. Nach zwei Stunden sorgfältigster Arbeit erklärte sie, dass der Job erledigt sei.
»Warte mal«, sagte sie, dann kniete sie sich neben dem Schild hin.
Sam folgte ihrem Beispiel. »Was ist?«
»Diese Kratzer … das Licht hat sich in ihnen gefangen. Ich glaube …« Sie lehnte sich vor, atmete tief ein und blies auf die lederne Schildfläche. Eine Ansammlung von verrottetem Lederstaub verwehte.
»Nicht ein Kratzer«, stellte Sam fest und blies mehr von dem Staub weg und wiederholte dies, bis die Oberfläche des Schildes nahezu vollkommen von Staub befreit war.
Wie Remi vermutet hatte, bedeuteten die Kratzer in Wirklichkeit eine Zeichnung, die direkt ins Leder eingebrannt worden war.
»Ist das ein Drache?«, fragte Remi.
»Oder ein Dinosaurier. Wahrscheinlich sein Wappen oder das seiner militärischen Einheit«, vermutete Sam.
Remi machte ein paar Dutzend Fotos von der Zeichnung, dann erhoben sie sich wieder. »Das sollte reichen«, sagte sie. »Was ist mit der Kiste?«
»Wir werden sie mitnehmen müssen. Mein Bauch sagt mir, dass unser Freund sich deshalb hier verbarrikadiert hat. Was immer sich darin befinden mag, er hielt es für wert, dafür zu sterben.«
»Einverstanden.«
Sam brauchte nur ein paar Minuten, um ein Netz von Gurten zu flechten, das ihm gestattete, die Kiste auf seinen Rucksack zu packen. Sie schauten sich ein letztes Mal in der Höhle um, nickten dem Skelett zum Abschied zu und verließen den Schauplatz.
Sam, der wieder die Führung übernommen hatte, robbte zum Schachtrand und warf einen Blick zur anderen Seite. »Jetzt gibt es ein Problem.«
»Kannst du dich ein wenig genauer ausdrücken?«, sagte Remi.
»Das Seil hat am anderen Ende nachgegeben. Es hängt in den Schacht hinunter.«
»Kannst du nicht irgendwas basteln …«
»Nichts, was halbwegs zuverlässig wäre. Wir befinden uns oberhalb der anderen Gangöffnung. Wenn ich bei diesem Winkel versuche, den Laufknoten als Sicherung anzubringen, rutscht er ab. Damit ließe sich nicht verhindern, dass das Seil durchhängt, da es sich nicht spannen lässt.«
»Damit bleibt uns nur eine Möglichkeit.«
Sam nickte. »Abwärts.«
Innerhalb einer Minute hatte sich Sam mit dem Seil gesichert. Gleichzeitig schuf Remi einen zweiten Sicherungspunkt, indem sie einen Haken in einen Felsriss dicht unter der Gangöffnung hämmerte. Sobald er festsaß, begann Sam sich langsam abzuseilen, turnte um die Stalagmiten herum, während Remi ihn von oben aus beobachtete und ihn gelegentlich bat, innezuhalten und seine Position zu wechseln, um die Reibung des Seils an den Kalksäulen so gering wie möglich zu halten.
Nach zwei Minuten anstrengender und vorsichtiger Arbeit hielt er an. »Ich habe die andere Klemmschnalle erreicht. Gute Nachricht: Die Schnalle ist frei.«
Wenn sich die Seilenden voneinander gelöst hätten, wäre ihnen nichts anderes übrig geblieben, als ihre restliche Leine mit einem Ende zu verknüpfen. Nun hatte er dreißig Meter Seil unter sich. Ob das ausreichte, um bis auf den Grund des Schachts zu gelangen, musste sich erst noch zeigen. Wenn sie da unten nichts anderes erwartete als das eisige Wasser des Bagmati, hätten sie bestenfalls fünfzehn Minuten Zeit, um einen Ausgang zu finden, ehe sie der Unterkühlung zum Opfer fielen.
»Ich betrachte das als gutes Omen«, erwiderte Remi.
Stück für Stück und Schritt für sorgfältigen Schritt stieg Sam weiter hinab, wobei seine Stirnlampe zu einem kleinen rechteckigen Lichtpunkt zusammenschrumpfte.
»Ich kann dich nicht mehr sehen«, rief Remi.
»Keine Sorge. Wenn ich abstürze, schick ich dir sicher einen angemessen entsetzten Schrei.«
»Ich habe dich in deinem ganzen Leben noch nicht schreien gehört, Fargo.«
»Drück die Daumen, dass du es auch diesmal nicht tust.«
»Wie sind die Wände?«
»Mehr von dem … Hey!«
»Was?«
Keine Antwort.
»Sam!«
»Ich bin okay. Ich habe nur für eine Sekunde den Halt verloren. Die Wände werden eisig. Das muss der Dunst vom Wasser unten sein.«
»Wie schlimm?«
»Nur eine dünne Schicht auf den Wänden. Man kann auch den Stalagmiten nicht trauen.«
»Komm wieder hoch. Wir überlegen uns eine andere Möglichkeit.«
»Ich mache weiter. Immerhin habe ich noch zehn Meter Seil zur Verfügung.«
Zwei Minuten verstrichen. Sams Stirnlampe war mittlerweile nur stecknadelkopfgroß und tanzte in der Dunkelheit hin und her, während er sich um die Stalagmiten herummanövrierte.
Plötzlich erklang das Geräusch von berstendem Eis. Sams Stirnlampe begann sich zu drehen und blinkte wie ein Stroboskoplicht zu Remi hinauf. Ehe sie den Mund öffnen konnte, um ihn zu rufen, meldete sich Sam: »Ich bin okay. Hänge zwar mit dem Kopf nach unten, aber sonst ist alles bestens.«
»Mehr Einzelheiten, wenn ich bitten darf.«
»Bin in meinem Geschirr umgeschlagen. Trotzdem eine gute Nachricht: Ich blicke aufs Wasser. Es ist etwa drei Meter unter meinem Kopf.«
»Ich höre ein aber.«
»Die Strömung ist stark – mindestens drei Knoten – und es sieht tief aus. Hüfthoch, wahrscheinlich.«
Obgleich drei Knoten langsamer waren als schnelles Schritttempo, vervielfachten die Tiefe und die Temperatur des Wassers die Gefahr. Nicht nur reichte ein einziger Fehltritt aus, um mitgeschwemmt zu werden, auch die Kraftanstrengung, sich aufrecht zu halten, würde den Unterkühlungsprozess beschleunigen.
»Komm wieder hoch«, sagte Remi. »Keine Diskussionen.«
»Einverstanden. Lass mir eine Sekunde Zeit, um … pass auf.«
Aus der Dunkelheit erklang wieder das Bersten von Eis, gefolgt von lautem Platschen.
»Rede mit mir, Fargo.«
»Einen Moment.«
Weitere dreißig Sekunden brechendes Eis, dann Sams Stimme: »Seitengang!«
Nach zehn Minuten intensiver Tätigkeit rief Sam: »Er ist ausreichend groß. Fast hoch genug, um stehen zu können. Ich gehe hinein. Gib mir eine Minute, damit ich eine Sicherung anbringen kann.« Falls Remi in den unterirdischen Fluss stürzen sollte, würde diese Maßnahme Sam die reelle Chance geben, sie aufs Trockene zu ziehen – vorausgesetzt da unten waren keine größeren Felsen, dann allerdings würde Remi zu Brei zerschlagen werden.
Sobald er das erledigt hatte, sicheren Stand hatte und bereit war, das Seil nachzuziehen, begann Remi mit dem Abstieg. Leichter und ein wenig gelenkiger als ihr Mann, schaffte sie die Strecke in kürzerer Zeit und hielt nur inne, damit Sam das Seil über den Sicherungshaken nachziehen konnte.
Schließlich kam sie in Sicht und hielt auf gleicher Höhe mit dem Eingang des Seitentunnels. Sich gegenseitig mit den Stirnlampen ins Gesicht leuchtend, gönnten sie sich ein gemeinsames Lächeln der Erleichterung.
»Nett, Sie hier zu treffen«, sagte Sam.
»Verdammt.«
»Was ist?«
»Ich hatte im Geiste mit mir gewettet, dass du dich für ›Was hat eine schöne Frau wie Sie in einem solchen Höllenschlund zu suchen?‹ entscheiden würdest.«
Sam lachte. »Okay, du musst jetzt in deinem Seilgeschirr Supermann spielen und dich von der gegenüberliegenden Wand abstoßen. Ich fang dich auf.«
Remi gönnte sich ein paar Sekunden Zeit, um zu Atem zu kommen, und nahm dann die entsprechenden Einstellungen an ihrem Brustgeschirr vor, bis sie völlig aufrecht im Schacht hing. Indem sie ihren Körper streckte und durchbog, nahm sie langsam Schwung auf, bis sie sich von der gegenüberliegenden Schachtwand abstoßen konnte. Drei weitere Schwünge gestatteten ihr, die Beine bis zur Brust anzuziehen und sich mit aller Kraft abzufedern. Mit ausgestreckten Armen schwang sie vor und hatte die Hände zum Zugreifen geöffnet. Die Schachtwand raste auf ihr Gesicht zu. Sie zog den Kopf ein. Ihre Arme tauchten in den Tunnel ein. Sams Hände umklammerten ihre, und sie stoppte abrupt.
»Hab dich!«, sagte Sam. »Leg beide Hände um mein linkes Handgelenk.«
Sie gehorchte, und Sam benutzte seinen rechten Arm, um langsam Seil nachzulassen, so dass Remi sich an seinem Arm hochziehen konnte. Sobald sich ihr Oberkörper im Tunnel befand, bewegte sich Sam rückwärts, bis ihre Knie ebenfalls im Tunnel waren. Er sank nach hinten und stieß einen erleichterten Seufzer aus.
Remi lachte. Sam hob den Kopf und sah sie an.
»Was ist?«
»Du führst mich an die schönsten Orte.«
»Nach dem hier erwartet dich ein wunderbares heißes Schaumbad – für zwei.«
»Genau nach meinem Geschmack.«
Wenn auch doppelt so breit wie ihre Schultern und hoch genug, um ihnen zu erlauben, gebückt zu gehen, war der Tunnelboden der reinste Schweizer Käse. Er war derart dicht mit Löchern durchsetzt, dass sie die schwarze Oberfläche des wogenden Flusses unter sich vorbeiströmen sahen. Wolken eisiger Luft und Eiskristalle schossen durch die Öffnungen und erzeugten einen Nebel, der im Licht ihrer Stirnlampen glitzerte und wirbelte. Wie im Schacht hinter ihnen waren die Wände und die Decke des Tunnels mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Begleitet wurde ihr Weg von einem ständigen Regen winziger Eiszapfen, die von der Decke abbrachen und wie klingende Windspiele auf dem Boden zersplitterten. Obgleich er so gut wie eisfrei war, zwang der durchlöcherte Boden sie, sich an den Seitenwänden abzustützen, was ihre Erschöpfung noch verstärkte.
»Ich will kein Miesmacher sein«, sagte Remi, »aber wir gehen doch davon aus, dass dies hier irgendwohin führt, oder?«
»Was sonst«, erwiderte Sam über die Schulter.
»Und wenn wir uns irren?«
»Dann gehen wir zurück, klettern an der gegenüberliegenden Schachtwand hoch und verlassen die Höhle auf dem Weg, auf dem wir hereingekommen sind.«
Der Tunnel wand und drehte sich, stieg an und fiel ab, verlief aber laut Sams Kompasspeilungen stetig in östlicher Richtung. Sie wechselten sich dabei ab, Schritte zu zählen, allerdings ohne GPS-Gerät, um ihr Vorankommen zu messen. Nur mit Sams Kartenskizze hatten sie keine Ahnung, wie viel Strecke genau sie tatsächlich zurücklegten.
Nach den – von Sam geschätzten – einhundert Metern erreichten sie einen relativ soliden Tunnelabschnitt und ließen sich zu Boden sinken. Sie tranken von ihrem Wasser, verzehrten ein Viertel von ihrem Vorrat an Dörrfleisch und Trockenobst, blieben anschließend noch für einige Zeit schweigend sitzen und lauschten dem Rauschen des Wassers unter ihren Füßen.
»Wie spät ist es?«, fragte Remi.
Sam sah nach. »Neun Uhr.«
Sie hatten Selma darüber informiert, in welcher Richtung sich ihre Ermittlungen bewegten, sie hatten sie aber gleichzeitig auch gebeten, bis zum folgenden Morgen Ortszeit nicht den Panikknopf zu drücken. Und selbst wenn sie es dann tat, wie lange würde es dauern, dass die Behörden einen Rettungstrupp zusammenstellten und eine Suche organisierten? Ihr einziger Trost war in diesem Moment, dass sich der Tunnel nicht verzweigte. Falls sie sich zum Umkehren entschieden, hätten sie keine Schwierigkeiten, zum Schacht zurückzufinden. Aber an welchem Punkt sollten sie diese Entscheidung treffen? Erwartete sie schon nach der nächsten Biegung ein Ausgang oder wäre er noch meilenweit entfernt oder vielleicht gar nicht vorhanden?
Weder Sam noch Remi sprachen darüber. Das war auch nicht nötig. Ihre gemeinsamen Jahre und Abenteuer hatten sie auf dieselbe Wellenlänge gebracht. Gewöhnlich reichte ein Gesichtsausdruck, um zu signalisieren, was jeder dachte.
»Ich erwarte nach wie vor das heiße Schaumbad von dir«, sagte Remi.
»Eins habe ich vergessen: Ich lege noch eine Entspannungsmassage drauf.«
»Mein Held. Sollen wir?«
Sam nickte. »Geben wir uns noch eine Stunde. Wenn es dann keinen roten Teppich mit einem Ausgang am Ende gibt, kehren wir um, ruhen uns aus und nehmen den Schacht in Angriff.«
»Abgemacht.«
Mit Belastungen sowohl mentaler als auch physischer Art vertraut, entwickelten Sam und Remi einen Rhythmus: zwanzig Minuten wandern, zwei Minuten Pause, eine Kompasspeilung vornehmen, die Karte aktualisieren, und dann weiter. Die restliche Zeit ihrer Irrfahrt verstrich wie im Fluge. Linker Fuß, rechter Fuß. Um Licht zu sparen, hatte Remi schon längst ihre Stirnlampe gelöscht, und Sam hatte seine auf klein geschaltet, so dass sie sich nur bei schwachem Dämmerlicht vorwärtsbewegten. Die kalte Luft, die durch den Boden aufstieg, erschien zunehmend kälter, sichere Tritte zu finden wurde schwieriger, und das Klimpern herabfallender Eiszapfen zerrte an ihren von der Kälte halb betäubten Gehirnen.
Plötzlich blieb Sam stehen. Da ihr Reaktionsvermögen ein wenig gelitten hatte, prallte Remi gegen ihn. Sam flüsterte: »Spürst du das?«
»Was?«
»Kalte Luft.«
»Sam, es ist …«
»Nein, in unseren Gesichtern. Vor uns. Kannst du mal das Feuerzeug aus meinem Rucksack holen?«
Remi tat ihm den Gefallen und reichte es ihm. Sam ging ein paar Schritte und suchte nach einem Abschnitt mit solidem Boden zwischen den Löchern. Er fand eine geeignete Stelle, hielt an und ließ das Feuerzeug aufschnippen. Remi drängte sich neben Sam und blickte über seine Schulter. Gelbliches Licht tanzte über die vereisten Wände. Die Flamme flackerte, dann beruhigte sie sich und brannte senkrecht.
»Warte«, murmelte Sam und ließ die Flamme nicht aus den Augen.
Fünf Sekunden verstrichen.
Der Flamme waberte, dann zuckte sie nach rechts und wieder zurück in Richtung von Sams Gesicht.
»Da!«
»Bist du sicher?«, fragte Remi.
»Die Luft fühlt sich auch wärmer an.«
»Reines Wunschdenken?«
»Finden wir es raus.«
Sie gingen drei Meter weiter, hielten an, beobachteten die Feuerzeugflamme. Abermals neigte sie sich zurück, diesmal schon stärker. Sie setzten den Weg fort und wiederholten den Prozess nach zehn Metern – mit dem gleichen Ergebnis.
Von Remi kam jetzt: »Ich höre Wind pfeifen.«
»Ich auch.«
Weitere zwanzig Meter brachten sie zu einer Gabelung des Tunnels. Während er das Feuerzeug vor sich hochhielt, drang Sam in den linken Tunnel ein, hatte kein Glück und trat ein Stück in den rechten. Diesmal flackerte die Flamme, und dann wurde sie beinahe von einem Windstoß gelöscht.
Sam befreite sich von seinem Rucksack. »Warte hier. Ich bin gleich zurück.«
Jetzt schaltete er seine Stirnlampe auf maximale Helligkeit und verschwand im Tunnel. Remi konnte seine Füße über den Felsboden scharren hören, ein Geräusch, das schnell leiser wurde.
»Sam?«, rief sie.
Stille.
»Sam, antworte …«
Vor ihr in der Dunkelheit erschien das Leuchten einer Stirnlampe.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich.
Remi ließ den Kopf sinken.
»Kein roter Teppich«, fuhr Sam fort. »Aber würde dir Tageslicht reichen?«
Remi hob den Kopf wieder und sah Sams breites Lächeln. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und boxte ihn gegen die Schulter. »Das finde ich gar nicht lustig, Fargo.«
Wie Sam versprochen hatte, gab es zwar keinen roten Teppich, aber nachdem sie knapp zehn Meter weitergegangen waren, konnte er ihr etwas Besseres bieten: eine Treppe aus natürlichen Stufen, die sich einen Schacht hinaufwand, an dessen Ende, in etwa zwanzig Metern Entfernung, ein verschwommener Fleck Sonnenlicht zu erkennen war.
Zwei Minuten später erreichte Sam die oberste Stufe und blickte in einen Seitentunnel. Anstatt aus Gestein bestanden die Seitenwände und der Boden hier aus Erdreich. Am fernen Ende, durch ein Grasdickicht gefiltert, schimmerte Sonnenlicht. Sam kroch darauf zu, schob die Arme durch die Öffnung und schlängelte sich dann vollständig hinaus. Remi erschien wenige Sekunden später, und zusammen streckten sie sich im Gas aus, lachten und schauten zum Himmel.
»Es ist fast Mittag«, stellte Sam fest.
Sie hatten den ganzen Vormittag in der Unterwelt verbracht.
Plötzlich richtete Sam sich auf und drehte den Kopf hin und her. Er lehnte sich zu Remi und flüsterte: »Ich höre ein Rauschen. Ein tragbares Funkgerät.«
Sam rollte sich herum, robbte zu einer Böschung ein paar Schritte entfernt und lugte vorsichtig über den Rand. Er duckte sich sofort und robbte zurück. »Polizei.«
»Ein Rettungstrupp?«, fragte Remi. »Wer sollte sie gerufen haben?«
»Es ist nur eine Vermutung, aber ich würde sagen, unsere ehemalige informative Eskorte, die King-Zwillinge.«
»Wie …«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht irre ich mich. Gehen wir auf Nummer sicher.«
Sie trennten sich von allem, das einen Hinweis hätte liefern können, wo sie gewesen waren – Helme, Stirnlampen, Rucksäcke, Klettergeschirr, Sams Karte, Remis Kamera, der Kasten, den sie aus der Höhle mitgenommen hatten –, packten alles in den Tunnel und deckten Gras über den Eingang.
Sam übernahm wieder die Führung, und nun wandten sie sich nach Osten, folgten einem Hohlweg und suchten Deckung zwischen Bäumen, bis sie eine Viertelmeile Abstand zwischen sich und dem Tunnel gewonnen hatten. Sie lauschten nach dem Funkgerät. Sam tippte gegen sein Ohr und deutete nach Norden. In einhundert Metern Entfernung konnten sie mehrere Gestalten sehen, die sich zwischen den Bäumen bewegten.
Sam flüsterte: »Setz dein bestes hilfloses und verzweifeltes Gesicht auf.«
»Das dürfte mir zu diesem Zeitpunkt keine Mühe machen«, erwiderte Remi.
Sam legte die Hände vor dem Mund zu einem Trichter zusammen und rief: »Hey! Hier drüben!«