10

Chobar-Schlucht, Nepal

Die Zellentür öffnete sich knarrend. Ein Wächter schaute herein, musterte Sam einen Moment lang, als wäre er im Begriff, einen Fluchtversuch zu starten, dann trat er zur Seite. Bekleidet mit einem weit geschnittenen hellblauen Overall, das goldbraune Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft, betrat Remi den Raum. Ihr Gesicht war rosig und frisch gewaschen.

Der Wächter sagte in gebrochenem Englisch: »Bitte sitzen. Warten.« Dann schlug er die Tür zu.

Sam, der den gleichen Overall trug, stand vom Tisch auf, kam zu Remi und umarmte sie. Dann trat er einen Schritt zurück, betrachtete sie von Kopf bis Fuß und lächelte. »Hinreißend, einfach hinreißend.«

Sie erwiderte sein Lächeln. »Idiot.«

»Wie fühlst du dich?«

»Besser. Erstaunlich, was ein paar Minuten mit einem Waschlappen und warmem Wasser bewirken können. Nicht ganz eine heiße Dusche oder ein heißes Bad, das natürlich nicht, aber dicht dran.«

Sie setzten sich an den Tisch. Der Raum, in den die Polizei von Kathmandu sie gebracht hatte, war weniger eine Zelle als eher ein Warte-und Verhörraum. Die Betonziegelwände und der Fußboden waren grau gestrichen, der Tisch und die Stühle – alle am Boden festgeschraubt – bestanden aus massivem Aluminium. Vor ihnen, auf der anderen Seite des Tisches, befand sich ein anderthalb Meter breites, mit einem Drahtgeflecht verstärktes Fenster, durch das sie in den Mannschaftsraum blicken konnten. Ein halbes Dutzend uniformierte Beamte gingen ihrer Arbeit nach, telefonierten, schrieben Berichte und schwatzten miteinander. Bis auf ein paar höfliche, aber bestimmte Anweisungen in holprigem Englisch hatte in den zwei Stunden seit ihrer Rettung niemand mit ihnen gesprochen.

Während der Fahrt im Polizeitransporter durch die schnell hereinbrechende Abenddämmerung hatten Sam und Remi die vorbeigleitende Landschaft aufmerksam betrachtet und nach irgendeinem Hinweis darauf Ausschau gehalten, wo sie aus dem Höhlensystem herausgelangt waren. Sie erhielten die Antwort sofort, als sie die Brücke über die Chobar-Schlucht überquerten und danach in nordöstlicher Richtung nach Kathmandu fuhren.

Ihr Untergrundmarsch in die Freiheit hatte sie nur zwei Meilen von dem Punkt entfernt ans Tageslicht geführt, an dem sie in das Höhlensystem eingedrungen waren. Diese Erkenntnis erzeugte anfangs ein Lächeln in Sams und Remis Miene, und dann, zur Verwirrung der beiden Polizeibeamten auf den Vordersitzen, ein schallendes Gelächter, das eine volle Minute anhielt.

 

»Irgendeine Ahnung, wer Alarm geschlagen hat?«, wollte Remi von Sam wissen.

»Keine. Soweit ich sagen kann, stehen wir nicht unter Arrest.«

»Wir müssen wohl davon ausgehen, dass sie uns ausfragen werden. Was für eine Story sollen wir erzählen?«

Sam überlegte einen Moment lang. »Wir bleiben so nahe an der Wahrheit wie möglich. Wir sind kurz vor Sonnenaufgang zu einer Tageswanderung hergekommen. Wir haben uns verirrt und sind umhergewandert, bis sie uns fanden. Wenn sie unbequeme Fragen stellen, bleib immer bei einem ›Ich weiß es nicht‹. Falls sie unsere Ausrüstung nicht gefunden haben, können sie uns nicht das Gegenteil beweisen.«

»Verstanden. Und vorausgesetzt, wir werden nicht wegen irgendeines obskuren Vergehens in ein nepalesisches Gefängnis geworfen …«

»Wir müssen an unsere Sachen …«

Da verstummte Sam und verengte die Augen. Remi folgte seinem Blick durchs Fenster auf der linken Seite des Mannschaftsraums unweit der Tür. Auf der Schwelle standen Russell und Marjorie King.

»Ich wünschte, ich könnte sagen, ich sei überrascht«, murmelte Remi.

»Genauso, wie wir es erwartet haben.«

Auf der anderen Seite des Mannschaftsraums entdeckte der diensthabende Sergeant die King-Zwillinge und eilte zu ihnen hinüber. Das Trio unterhielt sich lebhaft. Obgleich weder Sam noch Remi das Gespräch mithören konnten, verrieten die übertriebene Gestik und die Körperhaltung des Sergeants genug: Er war unterwürfig, wenn nicht sogar ein wenig ängstlich. Schließlich nickte er und kehrte eilig in den Mannschaftsraum zurück. Russell und Marjorie gingen in den Korridor.

Kurz darauf öffnete sich Sams und Remis Tür, und der Sergeant und einer seiner Untergebenen kamen herein. Sie nahmen den Fargos gegenüber Platz. Der Sergeant sprach für einige Sekunden Nepali, dann nickte er seinem Untergebenen zu, der in einem – mit deutlichem Akzent behafteten, jedoch – korrekten Englisch sagte: »Mein Sergeant hat gebeten, dass ich unsere Unterhaltung übersetze. Ist das für Sie in Ordnung?«

Sam und Remi nickten.

Der Sergeant sagte etwas, und wenige Sekunden später folgte die Übersetzung: »Würden Sie bitte Ihre Identitäten bestätigen?«

Sam erwiderte: »Sind wir verhaftet?«

»Nein«, antwortete der Offizier. »Sie sind vorübergehend festgenommen.«

»Aus welchen Gründen?«

»Nach nepalesischem Gesetz sind wir nicht verpflichtet, diese Frage zum augenblicklichen Zeitpunkt zu beantworten. Bitte bestätigen Sie Ihre Identitäten.«

Sam und Remi kamen seiner Aufforderung nach und mussten während der nächsten Minuten eine Reihe von Routinefragen beantworten – Warum sind Sie in Nepal? Wo wohnen Sie? Was ist der Grund für Ihren Besuch? –, ehe sie zum Wesentlichen kamen.

»Wohin wollten Sie, als Sie sich verirrten?«

»Wir hatten kein besonderes Ziel«, antwortete Remi. »Es war ein schöner Tag, der zum Wandern einlud.«

»Sie haben Ihren Wagen an der Chobar-Schlucht geparkt. Weshalb?«

»Wir hörten, dass es eine schöne Gegend sei«, sagte Sam.

»Wann kamen Sie dort an?«

»Vor Tagesanbruch.«

»Warum so früh?«

»Wir sind unruhige Geister«, erwiderte Sam mit einem Lächeln.

»Was heißt das?«

»Wir sind gerne beschäftigt«, sagte Remi.

»Bitte erzählen Sie uns, wohin Ihre Wanderung Sie geführt hat.«

»Wenn wir das wüssten«, sagte Sam, »hätten wir uns wahrscheinlich nicht verlaufen.«

»Sie hatten einen Kompass bei sich. Wie konnten Sie vom Weg abkommen?«

»Ich habe bei den Boy Scouts nicht genug aufgepasst«, sagte Sam.

Remi warf ein: »Und ich habe bei den Girl Scouts nur Kekse verkauft.«

»Dies ist kein Spaß, Mr und Mrs Fargo. Finden Sie das lustig?«

Sam spielte überzeugend den Zerknirschten. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Wir sind erschöpft und schämen uns ein wenig. Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie uns gefunden haben. Wer hat Sie darauf aufmerksam gemacht, dass wir in Schwierigkeiten sein könnten?«

Der Polizist übersetzte die Frage. Sein Sergeant knurrte etwas, dann sprach der Erste wieder. »Mein Sergeant bittet Sie, sich darauf zu beschränken, seine Fragen zu beantworten. Sie sagten, Sie hätten geplant, eine Tageswanderung zu unternehmen. Wo waren Ihre Rucksäcke?«

»Wir hatten nicht erwartet, dass wir so lange unterwegs sein würden«, sagte Remi. »Wir sind auch im Planen nicht besonders geschickt.«

Sam nickte betrübt, um das Geständnis seiner Frau zu bestätigen.

Der Beamte fragte: »Sie erwarten von uns, dass wir glauben, Sie seien ohne irgendwelche Ausrüstung losgezogen?«

»Ich hatte mein Schweizer Offiziersmesser bei mir«, erklärte Sam trocken.

Nach der Übersetzung dieser Anmerkung blickte der Sergeant hoch und funkelte zuerst Sam, dann Remi zornig an. Er stand wütend auf und stampfte aus dem Raum. »Bitte warten Sie hier«, sagte der Beamte und verließ ebenfalls den Raum.

Es kam nicht überraschend, dass der Sergeant durch den Mannschaftsraum und gleich hinaus auf den Korridor ging. Sam und Remi konnten nur seinen Rücken sehen; Russell und Marjorie hielten sich außer Sicht. Sam stand auf und ging zur äußersten rechten Seite des Fensters und presste das Gesicht dagegen.

»Kannst du sie sehen?«, fragte Remi.

»Ja.«

»Und?«

»Die Zwillinge sehen unglücklich aus. Keine Spur von schmierigem Lächeln. Russell gestikuliert … also, das ist interessant.«

»Was?«

»Er deutet mit den Händen die Form einer Box an – einer Box, die bemerkenswerterweise die gleiche Größe hat wie die Kiste.«

»Das ist gut. Ich denke, Sie haben die Gegend abgesucht, in der sie uns gefunden haben. Russell würde nie nach etwas fragen, das bereits entdeckt wurde.«

Sam trat vom Fenster zurück und beeilte sich, auf seinen Platz zurückzukehren.

Der Sergeant und sein Beamter erschienen wieder im Raum und setzten sich. Die Befragung ging weiter, diesmal ein wenig eingehender und auf verschlungenen Wegen, um Sam und Remi eine Falle zu stellen. Der wesentliche Punkt der Fragen blieb gleich: Wir wissen, dass Sie Gepäck bei sich hatten. Wo ist es? Sam und Remi nahmen sich Zeit, blieben bei ihrer Geschichte und beobachteten, wie die Wut des Sergeants zunahm.

Zu guter Letzt verlegte er sich auf Drohungen: »Wir wissen, wer Sie sind und womit Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen. Wir haben den Verdacht, dass Sie auf der Suche nach Schwarzmarkt-Antiquitäten nach Nepal gekommen sind.«

»Und auf was gründen sich Ihre Vermutungen?«, fragte Sam.

»Auf Quellen.«

»Sie wurden falsch informiert«, sagte Remi.

»Es gibt mehrere Tatbestände, derer wir Sie anklagen können, und auf alle stehen hohe Strafen.«

Sam lehnte sich auf seinem Stuhl vor und blickte dem Sergeant in die Augen. »Dann klagen Sie mal an. Sobald wir verhaftet werden, verlange ich, mit dem Rechtsattaché der amerikanischen Botschaft verbunden zu werden.«

Der Sergeant hielt Sams Blick für lange zehn Sekunden stand, dann lehnte er sich zurück und seufzte. Er sagte etwas zu seinem Untergebenen und ließ die Tür, als er hinausging, beim Öffnen gegen die Wand knallen.

Der Untergebene übersetzte: »Sie können gehen, wohin Sie wollen.«

Zehn Minuten später und wieder in ihren eigenen Kleidern kamen Sam und Remi durch die Türen der Polizeistation und stiegen die Treppe hinunter. Der Abend dämmerte. Der Himmel war klar, und das diamantene Funkeln der ersten Sterne war am Himmel zu sehen. Straßenlaternen erhellten die kopfsteingepflasterten Straßen.

»Sam! Remi!«

Da sie es erwartet hatten, war keiner von ihnen überrascht, als sie sich umwandten und Russell und Marjorie auf dem Bürgersteig auf sich zukommen sahen.

»Wir haben es gerade erst erfahren«, sagte Russell und machte die letzten Schritte. »Sind Sie okay?«

»Müde, ein wenig belämmert, aber sonst ganz fit«, erwiderte Sam.

Sie hatten sich bereits darauf geeinigt, gegenüber den King-Zwillingen bei ihrer Tageswanderungs-Verirrungs-Geschichte zu bleiben. Es war ein gefährlicher Tanz; jedermann wusste, dass Sam und Remi logen. Was würden Russell und Marjorie jetzt unternehmen? Bessere Frage: Da es nun ziemlich klar erschien, dass Charlie King offenbar ganz andere Pläne verfolgte als diejenigen, über die er Sam und Remi informiert hatte, wie würde er jetzt weiter verfahren? Hinter was war King her, und was steckte wirklich hinter Frank Altons Verschwinden?

»Wir bringen Sie zu Ihrem Wagen«, sagte Marjorie.

»Den holen wir am Morgen«, erwiderte Remi. »Jetzt wollen wir erst mal ins Hotel zurück.«

»Wir sollten ihn lieber gleich holen«, sagte Russell. »Falls Sie irgendwelche Ausrüstung darin …«

Sam konnte sich ein Lächeln darüber nicht verkneifen. »Haben wir nicht. Gute Nacht.«

Sam ergriff Remis Arm, machte gemeinsam mit ihr kehrt und entfernte sich in die entgegengesetzte Richtung. Russell rief: »Wir telefonieren morgen früh.«

»Rufen Sie uns nicht an, wir rufen Sie an«, erwiderte Sam, ohne sich umzudrehen.

Houston, Texas

»Verdammt, ja, ich würde sagen, sie sind euch durch die Lappen gegangen und haben euch abgehängt«, bellte Charles King und lehnte sich in seinem exklusiven Bürosessel zurück. Hinter ihm füllte das Stadtpanorama das bodentiefe Fenster.

Eine halbe Welt entfernt sagten Russell und Marjorie gar nichts über das Freisprechtelefon. Sie hüteten sich, ihren Vater zu unterbrechen. Wenn er etwas wissen wollte, dann würde er eine Frage stellen.

»Wo zur Hölle waren sie den ganzen Tag?«

»Wir haben keine Ahnung«, erwiderte Russell. »Der Mann, den wir angeheuert haben, ihnen zu folgen, verlor sie südwestlich der …«

»Angeheuert? Was meint ihr mit angeheuert?«

»Er ist einer unserer … Wachmänner auf der Ausgrabungsstätte«, sagte Marjorie. »Er ist vertrauenswürdig …«

»Aber inkompetent! Wie wäre es, wenn ihr mal jemanden finden würdet, der über beide dieser hervorragenden Eigenschaften verfügt: vertrauensvoll und kompetent? Schon mal daran gedacht? Warum habt ihr überhaupt jemanden engagiert? Was habt ihr beiden denn gemacht?«

»Wir waren an der Ausgrabungsstätte«, sagte Russell. »Wir bereiten alles für die Verschiffung der …«

»Schon gut. Das interessiert jetzt nicht. Könnten die Fargos im Höhlensystem gewesen sein?«

»Das ist möglich«, meinte Marjorie, »aber wir sind durchgegangen. Dort ist nichts zu finden.«

»Ja, ja. Die Frage ist: Wenn sie dort waren, wie haben sie davon erfahren? Ihr müsst darauf achten, dass sie nur die Informationen erhalten, von denen wir wollen, dass sie sie erhalten. Verstanden?«

»Ja, Dad«, erwiderten Marjorie und Russell wie aus einem Mund.

»Was ist mit ihrem Gepäck? Ihren persönlichen Sachen?«

»Wir haben alles durchsucht«, antwortete Russell. »Und ihren Wagen auch. Unser Mann im Polizeipräsidium hat sie eine Stunde lang verhört, aber ohne Erfolg.«

»Ist er ihnen auf die Pelle gerückt?«

»So nah er konnte.«

»Die Fargos waren unbeeindruckt, sagte er.«

»Was haben sie ihm erzählt, das sie getan hätten?«

»Sie behaupteten, sich bei einer Wanderung verirrt zu haben.«

»Totaler Quatsch! Wir haben es hier mit Sam und Remi Fargo zu tun. Ich sage euch, was passiert ist: Ihr beiden habt irgendwie Mist gebaut, und die Fargos sind misstrauisch geworden. Sie führen euch an der Nase herum. Setzt eine ganze Truppe auf sie an. Ich will wissen, wohin sie gehen und was sie tun. Habt ihr das verstanden?«

»Du kannst dich auf uns verlassen, Dad«, sagte Marjorie.

»Das wäre wirklich mal eine nette Überraschung«, knurrte King. »In der Zwischenzeit gehe ich kein Risiko ein. Ich schicke Verstärkung.«

King beugte sich vor und drückte auf die Trenntaste des Freisprechtelefons. Auf der anderen Seite des Schreibtisches stand Zhilan Hsu, die Hände vor sich verschränkt.

»Du bist sehr streng mit ihnen, Charles«, sagte sie leise.

»Und du verhätschelst sie!«, schoss King zurück.

»Bis zu diesem letzten Zwischenfall mit den Fargos haben sie ihre Sache immer gut gemacht.«

King runzelte die Stirn und schüttelte ungehalten den Kopf. »Von mir aus. Trotzdem, ich will, dass du dorthin fährst und dafür sorgst, dass die Sache nicht zu sehr aus dem Ruder läuft. Irgendwas haben die Fargos in der Hinterhand. Nimm die Gulfstream und flieg hin. Schaff sie aus dem Weg. Und diesen Alton ebenfalls. Er ist jetzt nutzlos.«

»Kannst du etwas genauer sein?«

»Sorg dafür, dass die Fargos ihre zugeteilte Rolle spielen. Wenn das nicht klappt … Nepal ist ein weites Land. Dort gibt es unzählige Orte, an denen Menschen verschwinden können.«

Das Geheimnis von Shangri La
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