11
Hyatt Regency Hotel Kathmandu, Nepal
Früh am Morgen klingelte das Telefon auf Remis Nachttisch. »Sam, hast du das mit Absicht gemacht? Einen Weckruf bestellt? Weißt du, wie spät es ist?«
Sam nahm den Hörer ab und sagte: »Wir sind in einer Dreiviertelstunde da.«
»Wo werden wir sein?«, wollte Remi wissen.
»Wie ich versprochen habe. Eine Himalaya-Warmsteinmassage für dich und eine Tiefengewebemassage für mich.«
»Fargo«, sagte Remi mit einem strahlenden Grinsen, »du bist ein Schatz.«
Sie schlüpfte aus dem Bett und eilte ins Bad, während Sam auf das Klopfen an der Tür reagierte. Der Zimmerservice brachte das Frühstück, das Sam am Abend vorher bestellt hatte: für Remi Corned Beef Hash und verlorene Eier und für sich selbst Rührei mit Lachs.
Außerdem hatte er um Kaffee und zwei Gläser Grenadinensaft gebeten.
Während sie aßen, betrachteten sie den rätselhaften Kasten, der auf der Couch auf der anderen Seite des Tisches stand. Remi schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein, während Sam Selmas Nummer wählte.
»Meinen Sie, dass King Alton gekidnappt hat?«, fragte Selma.
»Um uns hierherzulocken«, meinte Remi und trank einen Schluck Kaffee.
Selma präzisierte ihre Frage: »Um Sie unter dem Vorwand, Frank zu suchen, dorthin zu holen und dann … was zu tun?«
»Falsche Flagge«, murmelte Sam, dann lieferte er sofort die notwendige Erklärung. »Das ist ein in der Spionage gebräuchlicher Ausdruck. Dabei wird ein Agent vom Feind engagiert, der vorgibt, ein Verbündeter zu sein. Der Agent verfolgt seine Mission und ahnt nicht, dass er damit eigentlich in die Irre gelockt wird.«
»Oh, super«, sagte Remi.
»Es ist das reinste Kartenhaus«, pflichtete Sam ihr bei. »Wenn King so etwas im Schilde führt, dann wird sein Ego nicht zulassen, dass er auch nur entfernt daran denkt, dass sein Plan schiefgehen könnte.«
»Dann weißt du auch nicht, ob du tatsächlich Lewis King suchst oder nicht. Oder ob er überhaupt irgendwo gesehen wurde.«
»Charlie kommt mir nicht besonders sentimental vor. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er nicht so sehr hinter seinem Vater her ist, eher schon ist er auf das aus, worauf sein Vater scharf war.«
»Meinen Sie die Truhe, die Sie gefunden haben?«, fragte Selma.
»Wie ich sagte, es ist nur eine Vermutung«, erwiderte Sam.
Anstatt zum Hotel zurückzukehren, waren Sam und Remi nach dem Verlassen der Polizeistation zuerst nach Süden gegangen, bis sie sich außer Sichtweite befanden, dann waren sie nach Norden umgeschwenkt und hatten ein Taxi angehalten. Sam befahl dem Fahrer, zehn Minuten lang kreuz und quer durch die Stadt zu kurven, während er und Remi nach möglichen Verfolgern Ausschau hielten. Sie zweifelten nicht daran, dass King wollte, dass ihnen die Zwillinge auf den Fersen blieben, und sie gaben ihnen weder Zeit noch Gelegenheit, entsprechende Vorbereitungen zu treffen.
Sobald sie sicher sein konnten, nicht beschattet zu werden, bat Sam den Chauffeur, sie zu einer Autovermietung in den südlichen Vororten von Kathmandu zu bringen, wo sie einen ramponierten grünen Opel mieteten. Eine Stunde später rollten sie eine halbe Meile von der Chobar-Schlucht entfernt auf einen Motelparkplatz, ließen den Wagen stehen und legten das letzte Stück zu Fuß zurück.
Da sie sich einige Besonderheiten der Landschaft eingeprägt hatten, als sie im Polizeiwagen abtransportiert wurden, brauchten sie weniger als eine Stunde, um den Tunnelausgang wiederzufinden. Ihre Ausrüstung befand sich noch an Ort und Stelle und war offenbar unangetastet.
»Wir schicken Ihnen die Truhe mit FedEx«, sagte Remi zu Selma.
»Wenn King hinter ihr her ist, sollten wir lieber zusehen, dass wir sie schnellstens loswerden. Außerdem, Selma, Sie haben doch eine besondere Vorliebe für Rätsel, und von diesem hier werden Sie begeistert sein. Lösen Sie es, und wir kaufen Ihnen diesen Fisch für Ihr Becken … das, äh …«
»Aquarium, Mr Fargo. Ein Becken ist etwas, das man schon mal in ein Kinderzimmer stellt. Und der Fisch ist ein Cichlide. Sehr selten. Sehr teuer. Sein wissenschaftlicher Name lautet …«
»Sicherlich etwas Lateinisches«, beendete Sam ihren Satz mit einem verhaltenen Lachen. »Öffnen Sie die nepalesische Schatzkiste, und er gehört Ihnen.«
»Sie brauchen mich nicht zu bestechen, Mr Fargo. Das gehört zu meinem Job.«
»Dann betrachten Sie den Fisch als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk«, erwiderte Remi. Sie und Sam grinsten einander belustigt an. Selma hatte für Geburtstagsfeiern nicht allzu viel übrig, vor allem nicht, wenn es um ihren eigenen ging.
»Übrigens hat sich Rube gemeldet«, wechselte Selma schnell das Thema. »Er hat sich mit Zhilan Hsu beschäftigt und meinte – ich zitiere – sie sei ›so gut wie unsichtbar‹. Kein Führerschein, keine Kreditkarten, keine behördlich erfassten Daten – bis auf ihre Einwanderungsakte. Laut den darin enthaltenen Angaben ist sie 1990 im Alter von sechzehn Jahren mit einer Arbeitserlaubnis aus Hongkong hierhergekommen.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Sam. »Angestellt bei King Oil.«
»Richtig. Aber jetzt kommt der Knaller. Zu diesem Zeitpunkt war sie im sechsten Monat schwanger. Ich habe ein wenig gerechnet. Das errechnete Datum ihrer Niederkunft entspricht in etwa dem Geburtsdatum von Russell und Marjorie.«
»Ganz offiziell«, sagte Remi. »Jetzt mag ich Charlie King erst recht nicht mehr. Wahrscheinlich hat er sie gekauft.«
»Davon kann man wohl ausgehen«, stimmte Sam ihr zu.
Selma fragte: »Was ist Ihr nächster Schritt?«
»Zurück zur Universität. Wir haben eine VoiceMail von Professor Kaalrami erhalten. Sie hat die Übersetzung des Devanagari-Pergaments abgeschlossen …«
»Lowa«, korrigierte Remi. »Sie meinte, es sei in Lowa geschrieben.«
»Richtig, Lowa«, sagte Sam. »Wenn wir ein wenig Glück haben, kann ihr Kollege uns einiges über das Grab erzählen, das wir gefunden haben – oder zumindest ausschließen, dass es eine Verbindung zu unserem Auftrag gibt.«
»Und was ist mit Frank?«
»Wenn King hinter seiner Entführung steckt, dann kriegen wir ihn nur mit einem gewissen Druck frei. Wenn King glaubt, dass wir etwas haben, worauf er scharf ist, sind wir in einer besseren Verhandlungsposition. Bis dahin können wir nur hoffen, dass King klug genug ist, Frank kein Haar zu krümmen.«
Universität Kathmandu
Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sie nicht verfolgt wurden, fanden Sam und Remi eine FedEx-Filiale und gaben die Truhe auf. Sie sei zwei Tage unterwegs und es koste sechshundert Dollar, erklärte ihnen der Agent, aber das Paket gehe bereits mit einer Abendmaschine auf die Reise. Ein wahres Schnäppchen, entschieden Sam und Remi, da der Kasten damit vor Marjorie und Russell sicher wäre – vorausgesetzt, er war für King tatsächlich von besonderem Interesse. Außerdem hatten sie weder die Zeit noch die geeigneten Möglichkeiten, um die Truhe zu öffnen. Da wäre sie bei Selma, Pete und Wendy auf jeden Fall besser aufgehoben.
Kurz nach ein Uhr trafen Sam und Remi auf dem Universitätsgelände ein und fanden Professor Kaalrami in ihrem Büro. Nach einer herzlichen Begrüßung nahmen sie am Konferenztisch Platz.
»Es war eine echte Herausforderung«, begann Professor Kaalrami. »Ich habe für die Übersetzung sechs Stunden gebraucht.«
»Es tut uns leid, so viel von Ihrer Zeit in Anspruch genommen zu haben«, erwiderte Remi.
»Unfug. Es war besser, als den Abend vor dem Fernseher zu verbringen. Mir hat dieses Gehirntraining Spaß gemacht. Ich habe die Übersetzung für Sie aufgeschrieben.« Sie schob ein mit Schreibmaschinenschrift gefülltes Blatt Papier über den Tisch zu ihnen hinüber. »Ich kann den Inhalt des Dokuments bestätigen. Es ist ein militärischer Befehl, der den Abtransport des Theurang aus Lo Monthang, der Hauptstadt des Königreichs Mustang, anordnet.«
»Wann?«, fragte Sam.
»Das geht aus dem Text nicht hervor«, sagte Professor Kaalrami. »Der Mann, mit dem wir nachher verabredet sind – mein Kollege –, ist möglicherweise eher geeignet, diese Frage zu beantworten. Möglicherweise ist in dem Text ein diesbezüglicher Hinweis versteckt, der mir entgangen ist.«
»Dieser Theurang …«, setzte Remi zu einer Frage an.
»Abgesehen davon, dass dafür auch die Bezeichnung ›Goldener Mann‹ benutzt wird, habe ich keine weitere Erklärung dazu gefunden. Aber wie ich schon sagte, mein Kollege weiß vielleicht mehr. Ich kann Ihnen den Grund für dieses Dekret nennen: Es ging um eine Invasion. Eine Armee war im Begriff, auf Lo Monthang vorzurücken. Auf Geheiß des Herrscherhauses befahl der Führer der Armee von Mustang – ich vermute, seine Position entsprach der eines Feldmarschalls oder eines Stabschefs –, dass der Theurang von einer speziellen Gruppe von Soldaten, den sogenannten Wächtern, aus der Stadt gebracht werden solle. Eine genauere Beschreibung dieser Wächter fehlt. Es wird nur ihr Name genannt.«
»Wohin sollte er gebracht werden?«, fragte Sam.
»Das geht nicht aus dem Befehl hervor. Die Formulierung ›wie befohlen‹ taucht mehrmals auf. Daher ist anzunehmen, dass die Wächter gesonderte, ausführlichere Anweisungen erhalten haben.«
»Gibt es noch etwas Erwähnenswertes?«, wollte Remi wissen.
»Ein Punkt ist mir aufgefallen«, erwiderte Professor Kaalrami. »In dem Befehl werden die Wächter wegen ihrer Bereitschaft gelobt, notfalls zu sterben, um den Goldenen Mann zu schützen.«
»Das ist der übliche militärische Sprachgebrauch«, sagte Sam. »Damit appellieren Generäle gewöhnlich an die Kampfbereitschaft ihrer Truppen, bevor …«
»Nein. Es tut mir leid, Mr Fargo. Ich habe wohl das falsche Wort benutzt. Das Lob betraf nicht ihre Bereitschaft, ihr Leben im Dienst zu opfern. Ausgedrückt wurde eher eine absolute Gewissheit. Wer immer dieses Dokument formuliert und geschrieben hat, er muss erwartet haben, dass die Wächter starben. Niemand rechnete damit, dass einer von ihnen lebend nach Lo Monthang zurückkehren würde.«
Kurz vor zwei Uhr, dem Zeitpunkt, den Professor Kaalrami für ihre Zusammenkunft mit ihrem Kollegen Sushant Dharel gewählt hatte, verließen sie ihr Büro und begaben sich zu einem Gebäude auf der anderen Seite des Campus. Dort trafen sie Dharel – einen spindeldürren Mann Mitte dreißig in Khakihose und kurzärmeligem weißem Oberhemd –, als er gerade im Begriff war, seine Vorlesung in einem holzgetäfelten Hörsaal zu beenden. Sie warteten, bis alle Studenten den Saal verlassen hatten, dann machte Professor Kaalrami sie miteinander bekannt. Nachdem er von Professor Kaalrami erfahren hatte, worauf sich das besondere Interesse Sams und Remis erstreckte, leuchteten Dharels Augen auf.
»Haben Sie das Dokument mitgebracht?«
»Und die Übersetzung«, fügte Professor Kaalrami hinzu und reichte beides ihrem Kollegen.
Dharel überflog die Schriftstücke, wobei seine Lippen sich stumm bewegten, während er den Inhalt aufnahm und speicherte. Anschließend sah er Sam und Remi an. »Wo haben Sie das gefunden? In wessen Besitz befand sich …?« Er hielt abrupt inne. »Entschuldigen Sie meine Erregung und meine schlechten Manieren. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Sam, Remi und Professor Kaalrami entschieden sich für Plätze in der ersten Reihe. Dharel zog einen Stuhl hinter seinem Pult hervor und setzte sich ebenfalls. »Wenn Sie so nett wären … wo haben Sie dies gefunden?«
»Es gehörte zu den Besitztümern eines Mannes namens Lewis King.«
»Ein alter Freund von mir«, fügte Professor Kaalrami hinzu. »Es war lange vor deiner Zeit, Sushant. Ich glaube, meine Übersetzung ist ziemlich präzise, aber ich konnte Mr und Mrs Fargo keine weiteren Angaben zum Kontext machen. Da du unser diensthabender Experte für nepalesische Geschichte bist, dachte ich, du könntest ihnen vielleicht weiterhelfen.«
»Natürlich, natürlich«, sagte Dharel, während er abermals den Text überflog. Nach einer Minute blickte er wieder auf. »Verstehen Sie es bitte nicht als Kritik, Mr und Mrs Fargo, aber aus Gründen der Klarheit gehe ich erst einmal davon aus, dass Sie nichts über unsere Geschichte wissen.«
»So kann man es getrost ausdrücken«, erwiderte Sam.
»Ich sollte außerdem darauf hinweisen, dass vieles von dem, was ich Ihnen erzählen werde, von manchen Leuten eher als Legende und nicht als überlieferte historische Tatsache betrachtet wird.«
»Wir verstehen«, sagte Remi. »Bitte, fahren Sie fort.«
»Wir haben hier das sogenannte Himanshu-Dekret vor uns. Es wurde im Jahr 1421 von einem militärischen Kommandeur namens Dolma erlassen. Hier, am unteren Rand des Dokuments, können Sie seinen amtlichen Stempel erkennen. Das war damals so üblich. Stempel und Siegel waren sorgfältig hergestellte und streng bewachte Utensilien. Sehr oft wurden hochrangige Persönlichkeiten – sowohl Angehörige des Militärs als auch der Regierung – von Soldaten begleitet, deren einzige Aufgabe darin bestand, die amtlichen Siegel zu bewachen. Wenn ich ausreichend Zeit hätte, könnte ich mit absoluter Sicherheit feststellen, ob das Siegel echt oder gefälscht ist, aber auf den ersten Blick würde ich es für echt halten.«
»Aus Professor Kaalramis Übersetzung geht hervor, dass in dem Dekret der Abtransport eines Artefakts angeordnet wurde«, sagte Sam. »Und zwar handelt es sich um den Theurang.«
»Ja das ist richtig. Er wird auch der Goldene Mann genannt. Doch an dieser Stelle vermischen sich Geschichte und Märchen, fürchte ich. Angeblich war der Theurang die lebensgroße Statue eines menschenähnlichen Lebewesens oder – je nachdem, wen Sie fragen – das eigentliche Skelett der Kreatur. Die Geschichte hinter dem Theurang weist insofern Ähnlichkeiten zu der Genesis aus der christlichen Bibel auf, als man sich vom Theurang erzählt, dass er das ist, was vom …«, Dharels Stimme versiegte, während er nach dem richtigen Ausdruck suchte, »Lebensspender noch übrig ist. Sie können es auch die Mutter der Menschheit nennen, wenn Sie wollen.«
»Eine interessante Berufsbezeichnung«, sagte Sam.
Dharels Stirn legte sich für einen kurzen Moment in Falten, dann lächelte er. »O ja, ich verstehe. Ja, es ist eine schwere Last, die der Theurang trägt. Ganz gleich, ob den Tatsachen entsprechend oder ein Mythos, auf jeden Fall wurde der Goldene Mann zu einem wichtigen Symbol der Verehrung für das Volk von Mustang – und damit auch für einen großen Teil Nepals. Aber die legendäre Heimat des Theurang ist ursprünglich Lo Monthang gewesen.«
»Diese Bezeichnung Lebensspender«, sagte Remi, »ist sie metaphorisch oder wortwörtlich zu verstehen?«
Dharel zuckte lächelnd die Achseln. »Wie bei jeder religiösen Geschichte kommt es darauf an, wie weit man bereit ist, sie zu glauben. Ich denke, man kann mit einiger Sicherheit feststellen, dass es zu der Zeit, als das Dekret erlassen wurde, eine größere Zahl Menschen gab, die dem geschriebenen Wort uneingeschränkten Glauben schenkten.«
»Was können Sie uns über die Wächter erzählen?«, fragte Sam.
»Das waren Elitesoldaten. Einigen alten Texten zufolge wurden sie von Kindesbeinen an für eine einzige Aufgabe ausgebildet, nämlich den Theurang zu schützen.«
»Professor Kaalrami erwähnte einen bestimmten Ausdruck in dem Dekret – ›wie befohlen‹ – in Bezug auf den Abtransport, den die Wächter durchführen sollten. Wie denken Sie darüber?«
»Ich weiß nichts von einem besonderen Plan«, erwiderte Dharel, »aber soweit ich es verstehe, gab es nur ein paar Dutzend Wächter. Beim vorgesehenen Abtransport sollte jeder von ihnen die Stadt mit einer Truhe verlassen, um Eindringlinge zu verwirren. Eine dieser Truhen sollte die zerlegten Überreste des Theurang enthalten.«
Sam und Remi lächelten einander vielsagend an.
Dharel fügte hinzu: »Nur wenige auserwählte Angehörige des Militärs und der Regierung wussten, welcher Wächter die echten Überreste in seinem Gepäck hatte.«
»Und was befand sich in den anderen Truhen?«, fragte Sam.
Dharel schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Vielleicht gar nichts. Vielleicht eine Nachbildung des Theurang. Auf jeden Fall lief der Plan darauf hinaus, mögliche Verfolger zu überlisten. Ausgerüstet mit den besten Waffen und den schnellsten Pferden verließen die Wächter auf kürzestem Weg die Stadt und teilten sich in der Hoffnung, ihre Verfolger zu zerstreuen. Mit einigem Glück und Geschick konnte der Wächter, der den Theurang mit sich führte, entkommen und ihn an einem vorher bestimmten Ort verstecken.«
»Können Sie die Waffen beschreiben?«
»Nur allgemein: ein Schwert, mehrere Dolche, ein Bogen und ein Speer.«
»Gibt es keinen Bericht, ob der Plan Erfolg hatte?«, wollte Remi wissen.
»Nein. Keinen.«
»Wie sah denn die Truhe aus?«, fragte Remi.
Dharel holte einen Notizblock und einen Bleistift von seinem Schreibtisch und zeichnete einen hölzernen Kasten, der der Truhe, die sie aus der Höhle geborgen hatten, erstaunlich ähnlich sah. Dharel meinte: »Soweit ich feststellen konnte, gibt es keine weitere Beschreibung. Die Truhe muss eine geniale Konstruktion gewesen sein, so dass man hoffen konnte, dass ein Feind, wenn er denn eine davon in seinen Besitz brachte, Tage und Wochen mit dem Versuch zubrächte, sie zu öffnen.«
»Und dadurch den anderen Wächtern mehr Zeit und einen größeren Vorsprung vor ihren Verfolgern verschaffte«, sagte Sam.
»Genau. Hinzu kam, dass die Wächter keine Familie und keine Freunde hatten, im Hinblick auf die ein Feind sie hätte unter Druck setzen können. Außerdem wurden sie von Jugend auf darauf trainiert, die schlimmsten Foltern zu ertragen.«
»Eine wirklich erstaunliche Lebensaufgabe«, bemerkte Remi.
»In der Tat.«
»Können Sie den Theurang beschreiben?«, fragte Sam.
Dharel nickte. »Wie ich bereits erwähnte, hatte er ein weitgehend menschliches Gesicht, insgesamt jedoch eine … raubtierhafte Erscheinung. Seine Knochen bestanden aus reinem Gold, die Augen waren Edelsteine – Rubine oder Smaragde oder etwas Ähnliches.«
»Der Goldene Mann«, sagte Remi.
»Ja. Hier … ich habe eine künstlerische Darstellung.« Dharel stand auf, ging zu seinem Schreibtisch, kramte eine halbe Minute lang in den Schubladen herum, ehe er mit einem in Leder gebundenen Buch zu ihnen zurückkam. Er blätterte darin, bis er fand, was er suchte. Dann drehte er das Buch um und reichte es Sam und Remi.
Nach ein paar Sekunden murmelte Remi: »Hallo, mein Lieber.«
Obwohl äußerst stilisiert, war die in dem Buch enthaltene Version des Theurang mit der Zeichnung auf dem Schild, den sie in der Höhle gefunden hatten, nahezu identisch.
Als sie eine Stunde später ins Hotel zurückkehrten, riefen Sam und Remi sofort Selma an. Sam schilderte ihren Besuch in der Universität.
»Sensationell«, sagte Selma. »Das ist ein Fund, wie man ihn nur einmal im Leben macht.«
»Wir können ihn leider nicht an unsere Fahnen heften«, erwiderte Remi. »Ich vermute, dass Lewis King uns zuvorgekommen ist, und das ist auch völlig okay. Wenn er tatsächlich Jahrzehnte damit zugebracht haben sollte, all dies zusammenzutragen, dann gehört es auch alles ihm – posthum natürlich.«
»Nimmst du also an, dass er tot ist?«
»Es ist nur eine Vermutung«, erwiderte Sam. »Wenn jemand anders diese Totenkammer vor uns gefunden hätte, wäre es sicherlich gemeldet worden. Man hätte eine archäologische Grabungsstätte eingerichtet und alles aus der Höhle herausgeholt.«
Remi fuhr fort: »King muss das Höhlensystem erforscht haben. Er hat die Leitersprossen angebracht, die Grabkammer entdeckt und ist bei dem Versuch, den Schacht auf dem Rückweg zu überqueren, abgestürzt. Wenn es tatsächlich so geschehen ist, sind Lewis Kings Gebeine am Ufer eines unterirdischen Nebenflusses des Bagmati River verstreut worden. Eine Schande. Er stand so dicht vor einem Erfolg.«
»Aber wir greifen den Dingen zu weit vor«, sagte Sam. »Soweit wir wissen, war die Truhe, die wir gefunden haben, einer der Köder. Sie stellt immer noch einen bedeutenden Fund dar, ist jedoch nicht der Volltreffer.«
Selma sagte: »Das wissen wir erst, wenn – sobald – wir sie geöffnet haben.«
Sie schwatzten noch für ein paar Minuten mit Selma, dann unterbrachen sie die Verbindung.
»Was nun?«, fragte Remi.
»Ich weiß nicht, wie du es siehst, aber ich habe mehr als genug von diesen seltsamen King-Zwillingen.«
»Glaubst du ernsthaft, ich würde es anders sehen?«
»Sie kleben uns an den Fersen, seit wir hier angekommen sind. Ich finde, allmählich wird es Zeit, dass wir den Spieß umdrehen – auch, was King Senior betrifft.«
»Verdeckte Überwachung?«, fragte Remi mit funkelnden Augen.
Sam musterte sie einen Moment lang, dann lächelte er knapp. »Manchmal macht mir dein Eifer richtig Angst.«
»Ich liebe verdeckte Überwachungen.«
»Das weiß ich, Liebes. Möglich, dass wir haben, worauf King scharf ist, möglich aber auch, dass wir es nicht haben. Mal sehen, ob wir ihn überzeugen können, dass wir es haben. Wir schütteln ein wenig den Baum und warten ab, wer oder was herunterfällt.«