13
Langtang Valley, Nepal
»Eine Ausgrabungsstätte?«, wiederholte Sam. »Warum sollte sich King mit so etwas befassen?«
»Dazu fällt mir nicht das Geringste ein«, antwortete Remi, »aber was hier vor sich geht, verstößt gegen etwa ein Dutzend nepalesischer Gesetze. Was archäologische Ausgrabungen betrifft, reagieren sie nämlich sehr empfindlich, vor allem wenn es sich dabei um Fossilien handelt.«
»Schwarzhandel?«, vermutete Sam.
»Das war das Erste, das mir durch den Kopf ging«, erwiderte Remi.
Während der vergangenen zehn Jahre hatten sich das Ausgraben und der Verkauf von Fossilien zu einem Riesengeschäft entwickelt, vor allem in Asien. Speziell China wurde von zahlreichen Ermittlungsorganen als Hauptsünder genannt, doch keine der beteiligten Strafverfolgungsbehörden hatte sich dazu durchringen können, gezielte Untersuchungen einzuleiten und Strafverfahren in Gang zu bringen. Aus einem im vergangenen Jahr von der Sustainable Preservation Initiative veröffentlichten Bericht ging hervor, dass von den mehreren tausend Tonnen auf dem Schwarzmarkt angebotener Fossilien weniger als ein Prozent abgefangen werden – und dass keiner dieser Funde eine Bestrafung zur Folge hatte.
»Es geht um große Geldsummen«, sagte Remi. »Privatsammler sind durchaus bereit, Millionen für unversehrte Fossilien zu bezahlen, vor allem wenn es sich um die spektakuläreren Arten handelt: Velociraptor, Tyrannosaurus rex, Triceratops, Stegosaurus …«
»Millionen Dollar sind für King doch nur ein Taschengeld.«
»Du hast recht, aber was wir hier vor uns haben, lässt sich nicht leugnen. Wäre das nicht etwas, das sich als Druckmittel ausnutzen ließe, Sam?«
Er lächelte. »Das würde es ganz sicher. Aber wir brauchen mehr als nur Fotos. Was hältst du von einer kleinen Hinterlist?«
»Ich bin ein großer Fan der Hinterlist.«
Sam schaute auf die Uhr. »Bis zum Einbruch der Nacht haben wir noch ein paar Stunden Zeit.«
Remi drehte sich halb um und holte ihre Digitalkamera aus dem Rucksack. »Ich sehe mal zu, dass ich das, was vom Tageslicht noch übrig ist, so gut wie möglich nutze.«
Ganz gleich, ob es eine Augentäuschung oder ein echtes Phänomen war, auf jeden Fall dauerte die Dämmerungsphase im Himalaya mehrere Stunden. Eine Stunde nachdem sich Sam und Remi ins Unterholz zurückgezogen hatten, um zu warten, sank die Sonne zu den Bergspitzen im Westen herab, und sie konnten während der darauf folgenden zwei Stunden beobachten, wie sich die Dämmerung langsam auf den Wald legte, bis endlich die Scheinwerfer der Planierraupen und Lastwagen aufflammten.
»Sie machen Feierabend«, sagte Sam und deutete nach unten in die Grube.
Am Rand der Grube tauchten Arbeitertrupps aus den Tunnels auf und marschierten in Richtung Rampe.
»Sie arbeiten tatsächlich von morgens bis abends«, stellte Remi fest.
»Und wahrscheinlich für nur ein paar Pennies die Stunde«, fügte Sam hinzu.
»Wenn überhaupt. Vielleicht besteht ihr Lohn auch darin, nicht erschossen zu werden.«
Zu ihrer Rechten hörten sie ein Knacken wie von einem zerbrechenden Baumast. Sie erstarrten. Stille. Und dann, ganz schwach, das Geräusch von Schritten, die sich näherten. Sam gab Remi mit der Hand ein Zeichen, und zusammen drückten sie sich an den Boden und blickten wachsam in Richtung des Geräuschs.
Zehn Sekunden verstrichen.
Eine schattenhafte Gestalt erschien auf dem schmalen Pfad. Bekleidet mit einem Kampfanzug in Tarnfarbe und einem Dschungelhut mit weicher Krempe, trug der Mann sein Gewehr quer vor der Brust. Er ging bis zum Rand der Grube und blickte nach unten. Mit einem Fernglas inspizierte er sie. Nach einer Minute konzentrierter Beobachtung setzte er das Fernglas ab. Machte kehrt, verließ den Pfad und verschwand außer Sicht.
Sam und Remi warteten fünf Minuten, dann richteten sie sich auf den Ellbogen auf. »Hast du sein Gesicht gesehen?«, fragte sie.
»Ich war zu sehr damit beschäftigt, darauf zu warten, dass er uns auf die Finger tritt.«
»Es war ein Chinese.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
Sam ließ sich das durch den Kopf gehen. »Sieht so aus, als habe sich Charlie King interessante Partner gesucht. Aber es gibt auch etwas Positives zu melden.«
»Und das wäre?«
»Er hatte kein Nachtsichtgerät bei sich. Jetzt brauchen wir nur noch darauf zu achten, dass wir in der Dunkelheit nicht über ihn stolpern.«
»Einmal Optimist, immer Optimist«, stellte Remi lächelnd fest.
Sie beobachteten und warteten nicht nur darauf, dass der letzte von den Männern die Rampe hinaufging und nicht mehr zu sehen war, sondern auch auf Anzeichen weiterer Patrouillen.
Eine Stunde nach Einbruch der Nacht entschieden sie, dass es sicher genug war, ihr Versteck zu verlassen. Da sie kein eigenes Seil mitgenommen hatten, versuchten sie eine Annäherung auf natürlichem Weg und verbrachten zehn Minuten damit, den Waldboden abzusuchen, bis sie eine Schlingpflanze fanden, die lang und kräftig genug war, um ihren Anforderungen gerecht zu werden. Nachdem sie ein Ende um einen Baumstamm in der Nähe geschlungen hatten, warf Sam das andere Ende über den Rand in die Grube.
»Wir müssen knapp drei Meter in die Tiefe springen.«
»Ich wusste, dass sich meine Fallschirmspringerausbildung irgendwann noch als nützlich erweisen würde«, erwiderte Remi. »Hilf mir mal.«
Ehe Sam protestieren konnte, schlängelte sich Remi seitwärts weg und rutschte mit den Beinen über die Kante. Er ergriff ihre rechte Hand, während sie mit der linken die Schlingpflanze umfasste.
»Wir sehen uns unten«, sagte sie lächelnd und tauchte weg. Sam verfolgte ihren Abstieg bis zum Ende der Schlingpflanze, wo sie losließ, auf dem Untergrund landete, sich über die Schulter abrollte und schließlich wieder auf den Knien kauerte.
»Angeberin«, murmelte Sam und schob sich ebenfalls über die Kante. Wenige Sekunden später kniete er neben ihr, nachdem er seine eigene Schulterrolle ausgeführt hatte, wenn auch nicht so elegant wie seine Frau. »Das hast du geübt«, sagte er zu ihr.
»Pilates«, erwiderte sie. »Und Ballett.«
»Ich habe nie Ballett getanzt.«
»Ich als kleines Mädchen.«
Sam murmelte etwas, und sie hauchte ihm einen versöhnenden Kuss auf die Wange. »Wohin?«, fragte sie.
Er deutete auf den nächsten Tunneleingang etwa fünfzig Meter links von ihnen. Geduckt huschten sie an der Grubenwand entlang und folgten ihr bis zum Tunneleingang. Dort kauerten sie sich wieder nieder.
»Ich schau mal nach«, sagte Remi und schlüpfte hinein.
Ein paar Minuten später erschien sie wieder neben ihm. »Sie arbeiten an einigen Proben, aber es ist nichts Weltbewegendes.«
»Weiter«, entschied Sam.
Sie rannten zum nächsten Tunnel und verfuhren ebenso wie vorher, erzielten das gleiche Ergebnis und rückten dann zum dritten Tunnel vor. Sie waren noch etwa drei Meter von seinem Eingang entfernt, als am fernen Ende der Grube drei auf hohen Masten befestigte Jupiterlampen aufleuchteten und die Hälfte der Grube in ein grelles weißes Licht tauchten.
»Schnell!«, sagte Sam. »Nichts wie rein!«
Sie schlüpften in die Öffnung und ließen sich sofort auf den Bauch fallen. »Haben sie uns bemerkt?«, flüsterte Remi.
»Wenn ja, würden uns längst Kugeln um die Ohren fliegen«, erwiderte Sam. »Jedenfalls nehme ich das an. So oder so werden wir es sicher in Kürze erfahren.«
Sie warteten mit angehaltenem Atem und rechneten damit, jeden Moment sich nähernde Laufschritte oder den Lärm von Gewehrschüssen zu hören. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen hörten sie im Bereich der Rampe eine Frauenstimme etwas rufen, das wie ein Befehl klang.
»Hast du das mitgekriegt?«, fragte Sam. »War das Chinesisch?«
Remi nickte. »Das Meiste habe ich nicht verstanden. Es klang wie ›bringt ihn her‹, glaube ich.«
Sie krochen ein paar Zentimeter vorwärts, bis sie einen Blick um die Kante des Eingangs herum werfen konnten. Eine Gruppe von ungefähr zwei Dutzend Arbeitern, die von vier Wächtern flankiert wurden, kam die Rampe herunter. An der Spitze der Gruppe ging eine zierliche weibliche Gestalt in einem schwarzen Overall. Sobald die Gruppe auf dem Grund der Grube angelangt war, trieben die Wachen die Arbeiter auseinander und ließen sie eine Reihe bilden, mit dem Gesicht zu Sams und Remis Versteck gewandt. Die Frau ging weiter.
Sam griff nach seinem Fernglas und richtete es auf die Frau. Dann ließ er das Glas sinken und sah Remi verwundert an. »Du wirst es nicht glauben. Es ist Lauernder Tiger, die Teufelslady persönlich«, sagte er. »Zhilan Hsu.«
Remi nahm ihre Kamera und schoss Fotos. »Ich weiß nicht, ob ich sie scharf genug erwische«, sagte sie.
Hsu blieb abrupt stehen, wirbelte zu den versammelten Arbeitern herum und begann laut zu schreien und heftig mit den Armen zu gestikulieren. Remi schloss die Augen und versuchte, die Worte zu verstehen. »Es hat irgendetwas mit Dieben zu tun«, sagte sie. »Mit Diebstahl auf der Ausgrabungsstätte. Mit fehlenden Artefakten.«
Hsu verstummte plötzlich, hielt für einen Moment inne und deutete dann anklagend auf einen der Arbeiter. Die Wachen stürzten sich sofort auf ihn. Ein Wächter rammte ihm den Kolben seines Gewehrs ins Kreuz, so dass er nach vorn stürzte, ein zweiter Wächter riss ihn wieder auf die Füße hoch und stieß und schleifte ihn vorwärts. Das Paar blieb einige Schritte vor Hsu stehen. Der Wächter ließ den Mann los, der auf die Knie sank und aufgeregt zu schnattern begann.
»Er bettelt um Gnade«, übersetzte Remi. »Er habe Frau und Kinder. Und er habe doch nur ein kleines Stück genommen …«
Ohne Vorwarnung zog Zhilan Hsu eine Pistole aus ihrem Gürtel, machte einen Schritt vorwärts und schoss dem Mann in die Stirn. Er kippte zur Seite und blieb reglos liegen.
Wieder ergriff Hsu das Wort. Obgleich Remi nicht mehr übersetzte, brauchte man nur wenig Phantasie, um die Botschaft zu verstehen: Wer stiehlt, muss sterben.
Die Wächter begannen, die Arbeiter die Rampe hinaufzutreiben. Hsu folgte ihnen, und bald war die Grube wieder leer – bis auf die Leiche des Mannes. Die Jupiterlampen erloschen flackernd.
Sam und Remi schwiegen einige Sekunden. Schließlich sagte Sam: »Was immer ich an Sympathie für sie entwickelt hatte, ist eben gerade restlos verflogen.«
Remi nickte. »Wir müssen diesen Leuten helfen.«
»Absolut. Unglücklicherweise gibt es nichts, was wir heute Nacht tun können.«
»Wir könnten Hsu entführen und sie …«
»Mit dem größten Vergnügen«, unterbrach Sam sie, »aber ich bezweifle, dass wir das schaffen, ohne einen Alarm auszulösen. Wir kämen keine Meile weit, ehe man uns erwischt. Das Beste, das wir tun können, wäre, Kings Operation auffliegen zu lassen.«
Remi dachte darüber nach, dann nickte sie. »Ein paar Fotos werden aber nicht ausreichen«, gab sie zu bedenken.
»Du hast recht. In einem dieser Bauwagen muss so etwas wie ein Büro untergebracht sein. Wenn es irgendwelche verwertbaren Unterlagen gibt, dann werden wir sie dort finden.«
Nachdem sie so lange gewartet hatten, bis sie sicher sein konnten, dass sich die Unruhe gelegt hatte, statteten sie den Tunneln nacheinander einen Besuch ab, wobei Sam Wache hielt und Remi weitere Fotos machte.
»Dort drin befindet sich ein Chalicotherium. In nahezu unberührtem Zustand.«
»Ein was?«
»Ein Chalicotherium. Ein dreizehiges Huftier aus dem Unteren Pliozän – eine langgliedrige Kreuzung aus einem Pferd und einem Nashorn. Diese Tiere sind vor etwa sieben Millionen Jahren ausgestorben. Sie sind wirklich sehr interessant …«
»Remi.«
»Was ist?«
»Vielleicht später.«
Sie lächelte. »Richtig. Entschuldige.«
»Wie wertvoll?«
»Ich kann nur raten, aber vielleicht eine halbe Million Dollar für ein gut erhaltenes Exemplar.«
Auf der Suche nach Anzeichen für eine Bewegung beobachtete Sam die Rampe und den freien Platz dahinter. Er konnte jedoch nur einen Wächter entdecken, der in dem Bereich seinen Rundgang machte. »Irgendetwas sagt mir, dass sie sich weniger Sorgen machen, dass jemand hereinkommt als dass jemand hinausgelangen kann.«
»Nach dem, was wir gerade erlebt haben, muss ich dir zustimmen. Wie ist unser Plan?«
»Wenn wir uns weiterhin so klein wie möglich machen, haben wir oben auf der Rampe einen toten Winkel. Dort warten wir, bis der Wächter vorbeigegangen ist, dann rennen wir zu dem ersten Wagen auf der linken Seite und rollen uns darunter. Danach brauchen wir nur noch das Büro zu finden.«
»Einfach so, hm?«
Sam grinste sie an. »Genauso einfach, wie einen Milliardär um ein Fossil zu erleichtern.« Er hielt inne. »Beinahe hätte ich es vergessen. Kann ich mal deine Kamera haben?«
Sie reichte ihm das Gewünschte. Sam rannte in die Mitte der Grube und ging neben der Leiche auf die Knie hinunter. Er durchsuchte die Kleider des Mannes, dann drehte er ihn um, machte ein Foto von seinem Gesicht und kehrte im Laufschritt zu Remi zurück.
Er sagte: »Bis zum Morgen wird Hsu ihn hier vergraben lassen. Es ist nur ein Versuch, aber vielleicht können wir seiner Familie wenigstens mitteilen, was ihm zugestoßen ist.«
Remi lächelte. »Du bist wirklich ein guter Mensch, Sam Fargo.«
Sie warteten, bis der patrouillierende Wächter außer Sicht war, dann verließen sie den Tunnel und rannten an der Grubenwand entlang bis zur Rampe. Dort machten sie kehrt und schlichen bis zu deren Anfang. Eine halbe Minute später lagen sie auf dem Bauch dicht unter ihrem höchsten Punkt.
Sie hatten nun einen nahezu ungehinderten Blick auf die gesamte Rodung. Auf beiden Seiten standen insgesamt acht Wohnwagen, drei in einer Reihe auf der linken Seite, fünf in einem weiten Halbkreis auf der rechten. Die mit Vorhängen versehenen Fenster der Wohnwagen auf der linken Seite waren erleuchtet, und Sam und Remi konnten Stimmengemurmel hören, das dort herausdrang. Von den fünf Wohnwagen auf der rechten Seite waren die nächsten drei erleuchtet und die letzten beiden dunkel. Ihnen direkt gegenüber standen vier Wellblechbaracken, die wie Lagerhäuser aussahen. Zwischen ihnen verlief die Versorgungsstraße, die aus dem Lager hinausführte. Über der Tür jeder dieser Hütten hing eine Natriumdampflampe und hüllte die Straße in schmutzig gelbes Licht.
»Das sind wohl die Garagen für die Ausrüstung und die Fahrzeuge«, vermutete Remi.
Sam nickte. »Und wenn ich wetten müsste, in welchem dieser Anhänger sich das Büro befindet, würde ich auf einen der dunklen tippen.«
»Einverstanden. Dorthin zu kommen, wird ziemlich heikel sein.«
Remi hatte recht. Sie wagten nicht, direkt auf die in Frage kommenden Wohnwagen zuzusteuern. Es würde ausreichen, dass zufälligerweise ein Wächter auftauchte oder jemand aus dem Fenster blickte, und schon wären sie geliefert.
»Wir gehen es langsam an und benutzen die ersten drei Anhänger als Deckung.«
»Und wenn das Büro verschlossen ist?«
»Kommt Zeit, kommt Rat.« Sam schaute auf die Uhr. »Der Wächter müsste jeden Moment auftauchen.«
Tatsächlich bog der Wächter zwanzig Sekunden später um die Ecke der nächsten Wellblechbaracke und steuerte auf die drei Wohnwagen auf der linken Seite der Rodung zu. Nachdem er jeden Anhänger mit seiner Taschenlampe kontrolliert hatte, überquerte er den Lagerplatz und wiederholte seine Routineüberprüfung bei den anderen fünf Wagen, dann verschwand er wieder.
Sam gab ihm weitere zwanzig Sekunden und nickte schließlich Remi zu. Zusammen erhoben sie sich, eilten das letzte Stück die Rampe hinauf und schlugen die Richtung zum ersten Wohnwagen ein. An seiner Rückwand blieben sie stehen und duckten sich, wobei sie die Stützstreben des Trailers als Deckung ausnutzten.
»Siehst du etwas?«, fragte Sam.
»Alles klar.«
Sie richteten sich auf und schlichen an der Rückwand entlang zum nächsten Anhänger, wo sie abermals stehen blieben, sich umsahen und lauschten, ehe sie ihren Weg fortsetzten. Als sie hinter dem dritten Wohnwagen anhielten, tippte Sam auf seine Armbanduhr und formte mit den Lippen das Wort »Wache«. Durch die Wände über sich konnten sie Stimmen Chinesisch reden hören, außerdem leise Radiomusik.
Sam und Remi streckten sich auf dem Untergrund aus und rührten sich nicht. Sie brauchten nicht lange zu warten. Fast genau zum errechneten Zeitpunkt betrat der Wächter links von ihnen den freien Platz und ließ den Strahl seiner Taschenlampe herumwandern. Als er auf gleiche Höhe ihres Anhängers kam, hielten sie gemeinsam die Luft an, während der Taschenlampenstrahl über den Boden unter dem Anhänger huschte.
Plötzlich verharrte der Lichtkegel. Er wanderte zurück zu dem Stützpfeiler, hinter dem sich Sam und Remi versteckt hatten, dann stoppte er abermals. Sie lagen nebeneinander, die Arme aneinandergepresst, als Sam Remis Hand beruhigend drückte. Warte. Rühr dich nicht.
Nach einer Zeitspanne, die ihnen wie Minuten vorkam, aber tatsächlich nur zehn Sekunden gedauert hatte, wanderte der Lichtstrahl weiter. Das Knirschen der Stiefelsohlen des Wächters entfernte sich. Vorsichtig richteten Sam und Remi sich auf, kamen wieder auf die Füße und gingen um den Anhänger herum. Während sie rechts und links nach verdächtigen Bewegungen Ausschau hielten, schlichen sie zur Vorderseite des Anhängers und tasteten sich die Stufen zur Tür hinauf, die, wie sie hofften, zum Büro gehörte.
Sam fasste nach dem Türknauf und drehte ihn. Die Tür war nicht verschlossen. Sie lächelten einander erleichtert an. Sam zog die Tür behutsam auf und warf einen Blick hinein. Er lehnte sich zurück, schüttelte den Kopf und flüsterte: »Vorräte.« Sie gingen weiter zum nächsten Wohnwagen. Auch diesmal war die Tür glücklicherweise unverschlossen. Sam schaute hinein, schob dann den Arm nach draußen und winkte Remi, ihm zu folgen. Sie kam herein und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.
Die Rückwand des Wohnwagens bestand aus Aktenschränken und Regalen. Zwei ramponierte grau lackierte Stahlschreibtische mit dazu passenden Bürosesseln flankierten die Tür.
»Zeit?«, flüsterte Remi.
Sam sah auf die Uhr und nickte.
Wenig später drang das Licht der Taschenlampe des Wächters durch das Fenster des Trailers und verschwand wieder.
»Wir suchen nach allem, was detaillierte Hinweise liefern könnte«, sagte Sam. »Firmennamen, Kontonummern, Frachtpapiere, Rechnungen. Nach allem, womit Ermittler arbeiten können.«
Remi nickte. »Wir sollten alles so lassen, wie es ist«, sagte sie. »Wenn irgendetwas fehlt, wissen wir jetzt, wer dafür verantwortlich gemacht wird.«
»Und sich eine Kugel einfängt. Gutes Argument.« Er warf abermals einen Blick auf die Uhr. »Wir haben noch drei Minuten.«
Sie begannen mit den Aktenschränken, überprüften jede Schublade, jeden Ordner und Schnellhefter. Remis Kamera konnte Tausende von Digitalfotos speichern, daher fotografierte sie alles, was einen halbwegs wichtigen Eindruck machte, und gab sich mit dem Licht zufrieden, das von draußen hereindrang.
Kurz vor Ende der Dreiminutenfrist hielten sie inne und rührten sich nicht. Der Wächter kam vorbei, führte seine Kontrolle durch und setzte seinen Rundgang fort. Sie nahmen ihre Suche wieder auf. Vier Mal wiederholte sich diese Prozedur, bis sie glaubten, genügend Material gesammelt zu haben.
»Zeit zu verschwinden«, entschied Sam. »Wir kehren zum Rover zurück und …«
Draußen heulte eine Alarmsirene.
Sam und Remi erstarrten für einen kurzen Moment, dann sagte er: »Hinter die Tür!«
Sie pressten sich an die Wand. Draußen wurden Türen aufgestoßen, Füße trampelten über Schotter, Stimmen brüllten.
Sam sah Remi fragend an. »Kannst du was verstehen?«
Sie schloss die Augen und lauschte konzentriert. Sie schlug die Augen wieder auf. »Sam, ich glaube, sie haben den Range Rover gefunden.«