17
Kali-Gandaki-Schlucht,
Dhaulagiri-Zone, Nepal
Zum vierten Mal innerhalb einer Stunde hielt Basanta Thule den Toyota an, wobei sich seine grobstolligen Reifen knirschend durch das Geröll wühlten, das den Talgrund bedeckte. Über ihnen spannte sich ein wolkenloser blauer Himmel. Die frische, kühle Luft war vollkommen still.
»Mehr Stupas«, verkündete Thule und deutete aus dem Seitenfenster. »Da … und da. Sie sehen.«
»Wir sehen«, bestätigte Sam, während er und Remi aus seinem Fenster schauten, das er zu diesem Zweck heruntergedreht hatte. Kurz nach Verlassen Jomsoms an diesem Morgen hatten sie den Fehler gemacht, Interesse an Chörten zu bekunden. Seitdem hatte Thule es sich zu seiner Hauptaufgabe gemacht, sie auf jeden, ob groß oder klein, aufmerksam zu machen. Dabei hatten sie bisher weniger als zwei Meilen zurückgelegt.
Aus Höflichkeit stiegen Sam und Remi aus, gingen ein wenig herum und machten ein paar Fotos. Zwar war keiner der Chörten höher als drei oder vier Meter, aber beeindruckend waren sie ausnahmslos – kleine, schneeweiß bemalte Tempel, die wie Wachtposten auf den Felsgraten oberhalb der Schlucht standen.
Sie stiegen wieder in den Toyota und fuhren los. Nachdem sie einige Zeit schweigend gefahren waren, fragte Remi: »Wo ist eigentlich der Erdrutsch?«
Eine längere Pause entstand. »Wir sind vor einiger Zeit daran vorbeigefahren«, antwortete Thule schließlich.
»Wann? Wo?«
»Vor zwanzig Minuten … der steile Abhang aus losem Schutt neben dem riesigen Felsen. Es ist nicht viel Erdreich nötig, um einem den Weg zu versperren, wissen Sie.«
Nach einer weiteren Pause, um etwas zu essen – und einem kurzen Stopp wegen eines weiteren Chörten, den Sam und Remi schließlich mit behutsam gewählten Worten zu ihrem letzten Besichtigungsobjekt erklärten –, setzten sie ihre Fahrt nach Norden fort und folgten dem serpentinenartigen Verlauf des Kali Gandaki. Dabei passierten sie eine Reihe von Dörfern, die sich so gut wie gar nicht von Jomsom unterschieden. Gelegentlich sahen sie in den Gebirgsausläufern über ihnen Trekking-Touristen, die vor den Bergen in der Ferne wie winzige Ameisen aussahen.
Kurz nach fünf Uhr gelangten sie in einen deutlich engeren Abschnitt der Schlucht. Die Felswände, die rechts und links von ihnen bis in zwanzig Meter Höhe aufragten, rückten zusammen, und die Sonne verschwand. Gleichzeitig wurde die Luft, die durch Sams offenes Fenster hereindrang, fühlbar kälter. Schließlich, nachdem er ihre Fahrgeschwindigkeit bis auf Fußgängertempo gedrosselt hatte, lenkte Thule sie durch einen Torbogen aus natürlich gewachsenem Fels, der nur wenig breiter war als der Toyota, und weiter in einen gewundenen Tunnel hinein. Die Reifen wühlten sich durch den schäumenden Fluss, dessen Rauschen von den Tunnelwänden als Echo reflektiert wurde.
Fünfzig Meter weiter gelangten sie auf eine langgestreckte Lichtung, die etwa fünfzehn Meter breit und vierhundert Meter lang war. Am nördlichen Ende der Schlucht befand sich eine zweite Öffnung im Fels. Rechts von ihnen strömte der Fluss durch einen ausgewaschenen Abschnitt der Felswand.
Thule lenkte nach links und beschrieb einen so weiten Bogen, dass die Nase des Toyota wieder in die Richtung wies, aus der sie gekommen waren, dann brachte er den Wagen zum Stehen. »Wir schlagen an dieser Stelle Lager auf«, entschied er. »Hier sind wir vor Wind geschützt.«
»Warum so früh?«
Thule wandte sich auf dem Fahrersitz um und lächelte sie entwaffnend an. »Hier bricht die Nacht schnell herein, und Temperatur fällt. Besser Zelt aufzubauen und Feuer anzuzünden, bevor es völlig dunkel.«
Da sie zu dritt Hand in Hand arbeiteten, hatten sie ihre Behausungen – zwei alte Vango-Expeditionszelte – schnell aufgeschlagen und bezugsfertig, komplett mit Eierkartonmatratzen und Winterschlafsäcken. Während Thule das Feuer in Gang brachte, zündete Sam drei Kerosinlaternen an, die am Rand ihres Lagers an Pfählen aufgehängt wurden. Remi unternahm währenddessen mit der Taschenlampe in der Hand einen Rundgang durch die Schlucht. Thule hatte erwähnt, dass Trekking-Touristen in der Vergangenheit in diesem Abschnitt der Schlucht auf Kang-Admi-Spuren gestoßen waren. Sinngemäß mit Schneemann übersetzt, war dies einer von einem Dutzend Begriffe für den Yeti, die im Himalaya ansässige Version des amerikanischen Bigfoot.
Zwar glaubten die Fargos nicht blind an jede Legende, doch waren ihnen schon zu viele Seltsamkeiten begegnet, um solche Geschichten von vornherein als Unfug abzutun. Remi hatte sich entschlossen, ihrer Neugier in dieser Hinsicht nachzugeben.
Nach zwanzig Minuten kehrte sie in den gelben Lichtschein der Laternen rund um das Lager zurück. Sam reichte ihr eine Wollmütze und fragte: »Hattest du Erfolg?«
»Nicht mal einen Zehenabdruck«, erwiderte sie und stopfte sich einige lose Strähnen ihres kastanienbraunen Haars unter die Mütze.
»Geben Sie die Hoffnung nicht auf«, riet Thule, der am Feuer stand. »Vielleicht hören wir in der Nacht den Ruf dieses Tieres.«
»Und worauf müssen wir achten?«, fragte Sam.
»Das kommt auf die Person an, ja? Als Kind hab ich den Ruf einmal gehört. Er klang wie … teils Mensch, teils Bär. Tatsächlich lautet eines der tibetischen Worte für Yeti Mehteh – ›Mann-Bär‹.«
»Mr Thule, das klingt jetzt wie eine Geschichte, um Touristen zu beeindrucken«, sagte Remi.
»Überhaupt nicht, Miss. Ich hab es gehört. Ich kenne Leute, die das Wesen gesehen haben. Ich selbst habe mal einen Moschusochsen gesehen, dessen Kopf …«
»Wir haben schon verstanden«, unterbrach ihn Remi. »Was gibt es zum Abendessen?«
Das Abendessen bestand aus vorgefertigten dehydrierten Mahlzeiten, die sich nach Zugabe von kochendem Wasser in eine Art Gulasch-Mischung verwandelten. Sam und Remi hatten schon Schlimmeres gegessen, allerdings nicht sehr viel Schlimmeres. Nach dem Essen rehabilitierte sich Thule mit dampfenden Tassen Tongba, einem leicht alkoholhaltigen nepalesischen Hirsetee, den sie in kleinen Schlucken tranken, während die Nacht in der Schlucht ihren Einzug hielt. Sie unterhielten sich und saßen danach noch für eine halbe Stunde schweigend zusammen, bevor sie die Laternen löschten und sich in ihre jeweiligen Zelte zurückzogen.
Eingehüllt in ihre Schlafsäcke las Remi einen Trekking-Führer, den sie sich auf ihr iPad geladen hatte, während Sam beim Licht einer Taschenlampe eine Karte der Region studierte.
Remi flüsterte: »Sam, erinnerst du dich, was Wally auf dem Flugplatz über die Chokes gesagt hat? Wir haben Thule noch nicht danach gefragt.«
»Morgen früh.«
»Ich denke, lieber jetzt gleich«, erwiderte sie und reichte ihm ihr iPad. Sie deutete auf einen Textabschnitt. Er las:
Im Volksmund »Chokes« genannt, können diese schmalen Rinnen, die man in der gesamten Kali-Gandaki-Schlucht antreffen kann, im Frühjahr zu einer akuten Gefahr werden. Des Nachts sammelt sich gelegentlich Schmelzwasser aus den umliegenden Bergen und erzeugt in den schmalen Kinnen Sturzfluten, die eine Höhe von …
Sam hörte auf zu lesen, reichte Remi das iPad zurück und flüsterte: »Pack deine Sachen zusammen. Nur das Wichtigste. Leise.« Dann erhob er die Stimme und rief: »Mr Thule?«
Keine Antwort.
»Mr Thule?«
Nach einem kurzen Augenblick hörten sie das Scharren von einem Stiefel auf Geröll, gefolgt von: »Ja, Mr Fargo?«
»Erzählen Sie uns mal etwas über die Chokes.«
Eine lange Pause. »Äh … ich fürchte, ich kenne dieses Wort nicht.«
Weiteres Scharren auf Geröll, dann das deutliche Klicken einer der Toyotatüren, die geöffnet wurde.
Sam hatte es jetzt eilig. Er öffnete den Reißverschluss seines Schlafsacks und schlängelte sich heraus. Fast vollständig bekleidet, schnappte er sich seine Jacke, schlüpfte hinein und zog leise den Reißverschluss des Zeltes auf. Er robbte hinaus, blickte nach links und nach rechts, dann stand er auf. In zehn Metern Entfernung konnte er Thules Silhouette erkennen. Er beugte sich durch die Seitentür in den Toyota hinein und kramte darin herum. Sam schlich leise auf den Toyota zu. Er war vielleicht noch sechs oder sieben Meter davon entfernt, als er abrupt stehenblieb und lauschend den Kopf reckte.
Erst ganz schwach, dann zunehmend deutlicher hörte er das Rauschen von Wasser. Er konnte sehen, wie der Fluss auf der anderen Seite der Schlucht heftig in Bewegung geriet und Wellen mit weißen Schaumkronen an der Felswand hochleckten.
Hinter sich hörte Sam ein leises Sirren. Er wandte sich um und sah, wie Remi den Kopf aus dem Zelt schob. Sie gab ihm mit dem Daumen das Okay-Zeichen, und er antwortete mit erhobener Handfläche: Warte.
Sam schlich auf den Toyota zu. Als er den Abstand auf drei Meter verringert hatte, duckte er sich und ging weiter, tief gebückt, und um die hintere Stoßstange herum zur Fahrerseite des Fahrzeugs. Dort blieb Sam stehen und spähte um die Ecke.
Thule beugte sich noch immer in den Toyota, sodass nur seine Beine zu sehen waren. Sam berechnete die Entfernung zwischen ihnen: knapp zwei Meter. Er streckte sein Bein, setzte vorsichtig den Fuß auf und verlagerte sein Gewicht nach vorn.
Thule fuhr herum. In seiner Hand funkelte ein Revolver.
»Stopp, Mr Fargo.«
Sam erstarrte.
»Stehen Sie auf.« Thules sympathisch holprige Sprechweise war verschwunden. Nur ein leichter Akzent war übrig geblieben.
Sam richtete sich auf. Er meinte: »Irgendeine Stimme sagt mir, dass wir uns Ihren Ausweis lieber genauer hätten ansehen sollen, als Sie es uns angeboten haben.«
»Das wäre klug gewesen.«
»Wie viel haben sie Ihnen gezahlt?«
»Für reiche Leute wie Sie und Ihre Frau ein lächerliches Taschengeld. Für mich den Lohn für fünf Jahre. Wollen Sie mir mehr anbieten?«
»Würde das etwas nützen?«
»Nein. Die Leute haben mir klargemacht, was mit mir passieren wird, wenn ich sie betrüge.«
Aus dem Augenwinkel konnte Sam erkennen, wie sich der Fluss ausdehnte, und dass das Rauschen des Wassers weiter hinten an Lautstärke zunahm. Sam wusste, dass er Zeit gewinnen musste. Wenn sich seine Hoffnung erfüllte, ließ der Mann vor ihm in seiner Wachsamkeit nach, auch wenn es nur für einen kurzen Moment geschähe.
»Wo ist der echte Thule?«, fragte Sam.
»Einen Meter rechts von ihnen.«
»Sie haben ihn getötet.«
»Das war ein Teil des Auftrags. Sobald sich das Wasser verlaufen hat, wird er zusammen mit Ihnen und Ihrer Frau gefunden, sein Kopf auf den Felsen zerschmettert.«
»Und zusammen mit Ihnen.«
»Wie bitte?«
»Es sei denn, Sie haben irgendwo noch ein Reservezündkabel herumliegen«, entgegnete Sam und klopfte auf seine Jackentasche.
Reflexartig sprang Thules Blick zum Toyota zurück. Sam, der damit gerechnet hatte, bewegte sich bereits, noch während er auf seine Tasche klopfte. Er befand sich mitten im Sprung, seine Hände nur noch dreißig Zentimeter von Thule entfernt, als sich der Mann herumwarf und mit dem Revolver zuschlug. Der Lauf traf Sam an der Stirn, streifte sie zwar, hinterließ jedoch eine Platzwunde. Er taumelte zurück und sackte stöhnend auf die Knie.
Thule machte einen Schritt vorwärts und beugte das Knie. Sam sah den Tritt kommen und wappnete sich gegen den Schmerz, während er versuchte, sich noch wegzurollen. Thules Fuß krachte ihm in die Seite und drehte ihn auf den Rücken.
»Sam!«, schrie Remi.
Er wandte den Kopf nach rechts und sah Remi auf sich zurennen.
»Hol die Ausrüstung!«, krächzte Sam. »Folge mir!«
»Dir folgen? Wohin?«
Der Motor des Toyota sprang mit dumpfem Grollen an.
Nur von seinem Instinkt getrieben, wälzte sich Sam auf den Bauch, stemmte sich auf die Knie hoch und kam dann auf die Füße. Er stolperte zur nächsten Laterne hinüber, zwei Meter links von ihm. Mit von Schmerzen getrübtem Blick konnte er am Ende der Schlucht eine gut fünf Meter hohe Wasserwand durch den Felsspalt schäumen sehen. Sam hakte die Lampe mit der Linken vom Pfosten, dann drehte er sich zum Toyota um und zwang seine Beine zu einem schlurfenden Sprint.
Die Kupplung des Toyota rastete ein, die Räder schleuderten Steine hoch, die gegen Sams Schienbeine prasselten. Er ignorierte dieses Trommelfeuer und rannte weiter. Als der Toyota einen Satz vorwärts machte, sprang Sam. Sein linkes Bein landete auf dem hinteren Stoßdämpfer. Mit der rechten Hand klammerte er sich an den Querbalken des Dachgepäckträgers.
Der Toyota raste los, schlingerte auf dem Geröll und schleuderte Sam dabei hin und her. Er hielt sich fest und zog sich näher an die Heckklappe heran. Thule bekam den Toyota in seine Gewalt und lenkte ihn zum Ausgang der Schlucht, jetzt nur noch fünfzig Meter entfernt. Sam klemmte sich den Bügel der Laterne zwischen die Zähne und drehte mit der linken Hand den Docht hoch. Die Flamme zischte, dann wurde sie heller. Er packte die Lampe wieder mit der linken Hand.
»Nur eine einzige Chance«, murmelte Sam halblaut vor sich hin.
Er holte tief Luft, ließ die Laterne auf Armeslänge einen Moment lang baumeln, dann schleuderte er sie wie eine Handgranate. Die Laterne wirbelte über das Dach des Toyota, krachte auf die Motorhaube und zerschellte. Brennendes Kerosin ergoss sich über die Windschutzscheibe.
Die Auswirkung zeigte sich sofort und war dramatisch. Erschreckt über die Feuerwand auf seiner Windschutzscheibe, geriet Thule in Panik, riss das Lenkrad erst nach links, dann nach rechts, so dass der Toyota plötzlich auf zwei Rädern hochstieg. Sam verlor den Halt, spürte, wie er durch die Luft flog. Sah den Untergrund auf sich zurasen: Rollte sich im letzten Moment zu einer Kugel zusammen, krachte mit der Hüfte auf die Erde und ließ sich von seinem eigenen Schwung weitertragen. Dumpf hörte er ein Krachen, das Klirren von Glas und das Quietschen und Ächzen von Metall. Er rollte sich auf den Bauch und schüttelte heftig den Kopf, um klare Sicht zu bekommen.
Der Toyota hatte sich mit der Motorhaube in dem schmalen Felsbogen verkeilt.
Sam hörte Schritte, dann Remis Stimme, während sie neben ihm auf die Knie herunterging. »Sam … Sam! Bist du verletzt?«
»Keine Ahnung. Ich glaube nicht.«
»Du blutest.«
Mit den Fingern berührte er seine Stirn und betrachtete das Blut. »Eine Platzwunde«, murmelte er. Dann raffte er eine Handvoll Erde vom Boden auf und packte sie auf die Wunde.
Remi sagte: »Sam, nicht …«
»Siehst du? Schon viel besser.«
»Irgendwas gebrochen?«
»Nicht dass ich wüsste. Hilf mir hoch.«
Sie schob sich unter seine Schulter, und dann standen sie zusammen auf.
Sam fragte: »Wo ist das …«
Als Antwort auf seine Frage spülte Wasser über ihre Füße. Innerhalb von Sekunden stieg es bis zu ihren Knöcheln hoch.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Sam. Gemeinsam drehten sie sich um. Wasser strömte durch das nördliche Ende der Schlucht.
Es schäumte um ihre Waden.
»Verdammt kalt«, stellte Remi fest.
»Kalt ist gar kein Ausdruck«, erwiderte Sam. »Unsere Ausrüstung?«
»Alles Wichtige ist in meinem Rucksack«, antwortete Remi und drehte sich halb zur Seite, so dass er es sehen konnte. »Ist er tot?«
»Entweder das oder bewusstlos. Wenn nicht, würde er wahrscheinlich längst auf uns schießen. Wir müssen dieses Ding in Gang bringen. Der Wagen ist unsere einzige Chance, der Flut zu entkommen.«
Sie gingen zum Toyota, Remi zuerst. Sam folgte ihr humpelnd. An der hinteren Stoßstange blieb sie kurz stehen, dann schob sie sich weiter bis zur Fahrertür und warf einen Blick ins Wageninnere.
Sie rief: »Er ist weggetreten!«
Sam kam herangeschlurft, und zusammen öffneten sie die Tür und zogen Thule heraus. Er sackte ins Wasser.
Auf Remis unausgesprochene Frage antwortete Sam: »Wir können uns wegen ihm jetzt nicht den Kopf zerbrechen. In einer Minute ist hier sowieso alles überschwemmt.«
Remi kletterte in den Toyota und weiter auf den Beifahrersitz. Sam folgte ihr und zog die Tür hinter sich zu. Er drehte den Zündschlüssel. Der Starter jaulte und klickte, aber der Motor weigerte sich anzuspringen.
»Nun komm schon«, murmelte Sam.
Er drehte den Schlüssel abermals. Der Motor hustete, spuckte, gab keinen Laut von sich.
»Noch einmal«, sagte Remi, lächelte ihn an und kreuzte die Finger.
Sam schloss die Augen, holte tief Luft und drehte noch einmal den Zündschlüssel.
Der Starter klickte, der Motor hustete einmal, dann ein zweites Mal, und schließlich sprang er dröhnend an.
Sam wollte einen Gang einlegen, als sie spürten, wie der Toyota nach vorn ruckte. Remi drehte sich auf ihrem Sitz um und sah Wasser über den unteren Rand der Tür lecken.
»Sam …«, warnte sie.
Den Rückspiegel ständig im Auge behaltend, erwiderte Sam: »Ich sehe es.«
Er schaltete in den Rückwärtsgang und trat aufs Gaspedal. Der Vierradantrieb des Toyota wurde wirksam. Das Fahrzeug ruckte zentimeterweise rückwärts. Die Seitenwände kreischten protestierend, als sie an den Felswänden entlangschleiften.
Sie wurden wieder nach vorn gestoßen.
»Ich verliere Traktion«, sagte Sam und machte sich Sorgen, dass das ansteigende Wasser den Motor absterben ließ.
Er trat wieder aufs Gaspedal, und sie spürten, wie die Reifen auf dem Untergrund Halt fanden, um gleich wieder durchzudrehen.
Sam schlug mit der Faust auf das Lenkrad. »Verdammt noch mal!«
»Wir schwimmen«, meldete Remi.
Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als die Motorhaube des Toyota tiefer in die Nische gedrückt wurde. Auf Grund des Motors kopflastig, begann das Fahrzeug nach vorn zu kippen, als die Strömung das Heck nach oben drückte.
Einen Moment lang schwiegen Sam und Remi und lauschten, wie das Wasser den Wagen umspülte. Dann stemmten sie sich gegen das Armaturenbrett, während sich der Toyota immer extremer auf den Kopf stellte.
»Wie lange würden wir im Wasser durchhalten?«, fragte Remi.
»Vorausgesetzt, wir werden nicht sofort zerschmettert? Fünf Minuten, bis uns die Kälte packt. Danach verlieren wir die motorische Kontrolle und gehen unter.«
Wasser drang durch die Türspalte.
Remi sagte: »Dann sollten wir es nicht so weit kommen lassen.«
»Richtig.« Sam schloss die Augen und dachte nach. Dann: »Die Seilwinden. An jeder Stoßstange befindet sich eine.«
Er suchte auf dem Armaturenbrett nach den dazugehörigen Schaltern. Dann fand er einen Kippschalter, der mit HINTEN beschriftet war, und legte ihn von AUS auf NEUTRAL. Er sagte zu Remi: »Wenn ich es sage, dann schalte auf EIN.«
»Meinst du, das Ding ist stark genug, um uns zu halten?«
»Nein«, sagte Sam. »Ich brauche eine Stirnlampe.«
Remi suchte in ihrem Rucksack und wurde fündig. Sam setzte sich die Lampe auf den Kopf, hauchte Remi einen Kuss auf die Wange, dann kletterte er über den Sitz und benutzte die Kopfstütze als Handgriff. Er wiederholte das Manöver, bis er sich im Gepäckabteil des Toyota befand. Er entriegelte das Glasfenster in der Hecktür, stieß es auf und dann, während er sich mit dem Rücken gegen die Lehne der hinteren Sitzbank stemmte, trat er so lange mit beiden Füßen zu, bis sich die Glasscheibe aus ihrer Halterung löste und im Wasser versank. Er stand auf.
Unter ihm rauschte das Wasser über das Fahrgestell des Toyota. Eisiger Dunst hüllte ihn ein.
Remi rief: »Der Motor ist tot.«
Sam bückte sich, griff nach unten und packte den Windenhaken mit beiden Händen. Hand über Hand begann er zu ziehen.
Die Winde stoppte.
»Komm zu mir rauf.«
Remi kletterte über den Vordersitz, griff nach hinten, nahm den Rucksack und reichte ihn nach oben zu Sam, dann zog sie sich an seinem ausgestreckten Arm ins Gepäckabteil hoch.
»Nein!«, schrie sie.
»Was ist?«
Sam blickte nach unten. Der Lichtstrahl seiner Stirnlampe illuminierte ein geisterhaft bleiches Gesicht, das gegen die Kunststoffverkleidung gedrückt wurde.
»Tut mir leid«, sagte Sam. »Ich hatte vergessen, es dir zu erzählen. Das ist der echte Mr Thule.«
»Der arme Mann.«
Der Toyota erschauerte, rutschte ein Stück zur Seite, kam dann wieder zur Ruhe, unverrückbar im Felsenbogen verkeilt und ganz senkrecht stehend.
Remi riss den Blick vom Gesicht des Toten los und sagte: »Ich nehme an, wir klettern wieder.«
»Wenn wir Glück haben.«
Sam blickte über den Rand der Heckklappe. Das Wasser bedeckte jetzt die Hinterreifen.
»Wie lange noch?«
»Zwei Minuten. Hilf mir.«
Er drehte den Körper zur Seite, und Remi half ihm, den Rucksack auf die Schultern zu nehmen. Als Nächstes schwang er das rechte Bein über die Heckklappe. Dann das linke, dann stand er vorsichtig auf, die Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu behalten. Sobald er sicheren Stand hatte, richtete er die Stirnlampe auf die Felswand neben dem Toyota.
Er musste den Lichtstrahl dreimal hin und her wandern lassen, bis er fand, was er brauchte: einen fünf Zentimeter breiten vertikalen Spalt etwa fünf Meter über ihnen und einen Meter nach rechts versetzt. Darüber gab es eine Reihe von Handgriffen, die zur oberen Kante der Felswand führten.
»Okay, gib ihn hoch«, sagte Sam zu Remi.
Sie streckte ihm den Windenhaken entgegen. Er beugte sich hinunter und ergriff ihn. Sein Fuß rutschte weg, und er krachte auf ein Knie herab. Dann fand er sein Gleichgewicht wieder und stellte sich erneut kerzengerade hin. Diesmal hielt er sich mit der linken Hand am Dachgepäckträger des Toyota fest.
»Da hast du ihn, Cowboy«, sagte Remi mit einem tapferen Lächeln.
Während er den Windenhaken festhielt, ließ Sam das Kabel wie einen Propeller kreisen, bis er ihm genügend Schwung verliehen hatte, dann ließ er ihn los. Der Haken tanzte klirrend über die Felswand, rutschte seitlich über den Spalt und platschte ins Wasser.
Sam zog den Haken hoch und versuchte es abermals. Wieder daneben.
Er spürte, wie eisiges Wasser seinen linken Fuß umschloss. Und schaute nach unten. Das Wasser stand jetzt über der Stoßstange und leckte an der Heckklappe.
»Wir haben noch mehr Lecks«, sagte Remi.
Sam schleuderte den Haken. Diesmal glitt er sauber in den Spalt und blieb kurz hängen, ehe er wieder frei kam.
»Alle guten Dinge sind vier, nicht wahr?«
»Ich dachte, es heißt alle guten Dinge …«
»Ist das jetzt so wichtig, Fargo?«
Sam lachte verhalten. »Nein. Natürlich nicht.«
Er nahm sich einen Moment Zeit, um das Rauschen des Wassers und das Hämmern seines Herzens auszublenden. Dann schloss er die Augen, sammelte sich, schlug sie wieder auf und begann das Kabel zu schwingen und kreisen zu lassen.
Er ließ los.
Der Haken stieg hoch, schlug gegen die Felswand und rutschte auf den Spalt zu. Sam erkannte, dass er zu schnell war. Während sich der Haken dem Riss im Gestein näherte, schnippte er das Kabel zur Seite. Der Haken reagierte wie eine zustoßende Schlange und verkeilte sich im Felsspalt.
Vorsichtig zog Sam am Kabel. Es hielt. Ein weiterer Zug. Der Haken rutschte, dann hielt er wieder. Nun verstärkte er Stück für Stück die Spannung des Kabels, bis der Haken bis zu seiner Öse im Felsspalt festsaß.
»Yippiee!«, jubelte Remi.
Sam streckte die Hand aus und half Remi, über die Heckklappe zu steigen. Wasser spülte über ihre Füße und ergoss sich in das Innere des Toyota. Remi deutete mit einem Kopfnicken auf die Leiche von Mr Thule.
»Ich nehme nicht an, dass wir ihn mitnehmen können?«
»Wir sollten unser Glück nicht überstrapazieren«, erwiderte Sam. »Wir werden ihn jedoch auf die Liste der Dinge setzen, für die sich Charlie King und seine böse Nachkommenschaft verantworten und bezahlen muss.«
Remi seufzte und nickte.
Sam deutete einladend auf das Kabel. »Ladies first.«