18

Lo Monthang, Mustang, Nepal

Zwanzig Stunden, nachdem Sam und Remi über die Felskante geklettert waren und den Toyota den Fluten des Kali Gandaki überlassen hatten, kam der Pickup-Truck, auf dessen Pritsche sie mitgefahren waren, an einer Gabelung der Schotterstraße schlingernd zum Stillstand.

Der Fahrer, Mukti, ein Nepalese mit großen Zahnlücken und einem Bürstenhaarschnitt, rief durch das Rückfenster »Lo Monthang« und deutete auf die Straße, die nach Norden abzweigte.

Sam schüttelte Remi, die zusammengerollt an einem Sack Ziegenfutter lehnte und schlief, behutsam wach und sagte: »Wir sind am Ziel.«

Sie seufzte, schob den rauen Baumwollstoff des Futtersacks beiseite und richtete sich gähnend auf. »Ich hatte einen völlig verrückten Traum«, sagte sie. »Es war so ähnlich wie Die Höllenfahrt der Poseidon, nur waren wir in einem Toyota Land Cruiser eingesperrt.«

»Die Wahrheit ist oft verrückter als die Fiktion.«

»Sind wir da?«

»Mehr oder weniger.«

Sam und Remi bedankten sich bei dem Fahrer, kletterten vom Wagen herunter und beobachteten, wie der Kleinlaster die Abzweigung nach Süden nahm und schon bald hinter einer Kurve verschwand. »Schade, dass wir uns nicht verständigen konnten«, sagte Remi.

Mit den wenigen Worten und Redewendungen auf Nepali, die sie kannten, hatten weder Sam noch Remi ihrem Fahrer klarmachen können, dass er ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. So war es für ihn nur so gewesen, als hätte er ein Paar nachlässiger Fremder aufgegabelt, die irgendwie ihre Reisegruppe verloren hatten. Sein gutmütiges Lächeln verriet ihnen, dass so etwas in dieser Region nicht gerade selten vorkam.

 

Nun, zwar erschöpft, aber glücklicherweise auch warm und trocken, standen sie an der Peripherie ihres Bestimmungsortes.

Umgeben von einer hohen Mauer aus willkürlich zusammengefügten Natursteinen, Ziegeln und Lehmstrohmörtel, war die alte Hauptstadt des einst bedeutenden Königreichs Mustang klein und nahm eine Fläche von einer halben Quadratmeile in einem flachen Tal ein, das von niedrigen Hügeln umgeben war. Innerhalb der Stadtmauer von Lo Monthang bestanden die meisten Bauten ebenfalls aus einem Mischmasch aus Lehm und Ziegelsteinen, alles in Weißschattierungen von Grau bis hin zu Bräunlich gestrichen und mit Lehmstrohmatten gedeckt. Vier Bauten überragten alle anderen: der Königliche Palast sowie der Chyodi, der Champa und der Tugchen-Tempel mit ihren roten Dächern.

»Die Zivilisation hat uns wieder«, sagte Remi.

»Alles ist relativ«, meinte Sam.

Nachdem sie, wie es ihnen vorkam, tagelang durch die Wildnis von Mustang gewandert waren, erschien ihnen das mittelalterliche Lo Monthang jetzt geradezu großstädtisch.

Sie gingen über die Schotterstraße zum Haupttor. Auf halbem Weg dorthin erschien ein Junge von acht oder zehn Jahren, rannte auf sie zu und rief: »Fargos? Fargos?«

Sam hob grüßend die Hand und rief auf Nepali: »Namaste. Hoina.« Hallo. Ja.

Der Junge, der jetzt übers ganze Gesicht strahlte, blieb vor ihnen stehen und sagte: »Folgen, ja? Folgen?«

»Hoina«, erwiderte Remi.

 

Nachdem er sie unter den neugierigen Blicken Hunderter Dorfbewohner durch die gewundenen Straßen von Lo Monthang geleitet hatte, blieb der Junge vor einer dicken Holztür in einer weiß getünchten Mauer stehen. Er hob den angelaufenen Messingtürklopfer, ließ ihn zweimal fallen, sagte zu Sam und Remi »Pheri bhetaunla« und rannte dann durch eine Seitenstraße davon.

Aus dem Gebäude hörten sie Schritte auf Holzbohlen, und ein paar Sekunden später schwang die Tür auf. Vor ihnen stand ein hagerer Mann mit langem grauem Haar und einem ebenfalls grauen Bart. Sein Gesicht war faltig und gebräunt. Zu ihrer Überraschung begrüßte er sie mit einem ausgesprochen vornehmen britischen Akzent.

»Guten Morgen. Sam und Remi Fargo, nehme ich an?«

Nach kurzem Zögern sagte Sam: »Ja. Guten Morgen. Wir suchen einen Mr Karna. Sushant Dharel von der Universität Kathmandu hat für uns ein Treffen mit ihm vereinbart.«

»Das hat er in der Tat. Und Sie haben gefunden, was Sie suchen.«

»Wie bitte?«, erwiderte Remi.

»Ich bin Jack Karna. Aber wo sind meine Manieren? Bitte kommen Sie herein.«

Er trat zur Seite, und Sam und Remi folgten seiner Einladung. Ähnlich wie die Außenmauern des Gebäudes waren auch die Innenmauern weiß getüncht, während der Fußboden aus alten, oft und ausgiebig geschrubbten Holzplanken bestand. Mehrere tibetanische Teppiche bedeckten den Fußboden, während die Wände mit Gobelins und gerahmten Pergamentfragmenten geschmückt waren. An der westlichen Wand, unter massiven Flügelfenstern, befand sich eine Sitzgruppe mit Polstern und Kissen und einem niedrigen Kaffeetisch. Vor der östlichen Wand stand ein Kanonenofen. Ein kleiner Flur führte aus dem Raum und in einen, wie es auf den ersten Blick aussah, Schlafbereich hinein.

Karna sagte: »Ich wollte schon einen Suchtrupp hinter Ihnen herschicken. Sie sehen ein wenig reisemüde aus. Mit Ihnen ist doch alles in Ordnung, oder?«

»Wir hatten ein kleines Problem, was unsere Reisepläne betraf«, machte Sam eine kleine Andeutung.

»Das hatten Sie wirklich. Die Neuigkeiten haben mich vor ein paar Stunden erreicht. Einige Trekking-Touristen haben ein völlig zerstörtes Führer-Fahrzeug in einem der Chokes südlich von hier gefunden. Zwei Leichen wurden in der Nähe von Kagbeni angetrieben. Ich befürchtete schon das Schlimmste.« Ehe sie sich dazu äußern konnten, geleitete Karna sie zu den Kissen, auf denen sie sich niedersetzten. »Der Tee ist fertig. Es dauert nur einen kurzen Moment.«

Ein paar Minuten später stellte er ein silbernes Teeservice auf den Tisch sowie einen Teller, der mit Teegebäck und Gurkensandwiches ohne Kruste beladen war. Karna schenkte Tee ein, dann nahm er ihnen gegenüber Platz.

»Und jetzt erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, forderte er seine Gäste auf.

Sam schilderte den Verlauf ihrer Reise, angefangen mit ihrer Ankunft in Jomsom und schließend mit ihrer Ankunft in Lo Monthang. Was er ausließ, war jeder Hinweis auf Kings Beteiligung an dem Mordversuch. Während Sam sprach, hatte Karna keine einzige Frage gestellt und abgesehen von einem gelegentlichen Stirnrunzeln auch keinerlei Reaktion gezeigt.

»Außerordentlich«, sagte er schließlich. »Und Sie haben keine Ahnung, wie dieser Betrüger hieß?«

»Nein«, sagte Remi. »Er hatte es ein wenig eilig.«

»Das kann ich mir vorstellen. Ihre Flucht ist der reinste Hollywood-Stoff.«

»Unglücklicherweise ist an eine Verwertung nicht zu denken«, sagte Sam.

Karna lachte leise. »Ehe wir fortfahren, sollte ich die örtlichen Brahmanen – den Rat – darüber informieren, was geschehen ist.«

»Ist das nötig?«, fragte Sam.

»Nötig und für Sie von Vorteil. Sie sind jetzt in Lo Monthang, Mr und Mrs Fargo. Wir sind vielleicht ein Teil Nepals, aber wir sind völlig autonom. Haben Sie keine Angst, niemand wird Sie für das, was geschehen ist, verantwortlich machen, und wenn der Rat es nicht für unbedingt notwendig hält, wird die nepalesische Regierung auch nicht informiert. Sie sind hier sicher.«

Sam und Remi ließen sich seine Worte durch den Kopf gehen, dann gaben sie ihr Einverständnis.

Karna hob eine Messingglocke vom Fußboden neben seinem Sitzpolster auf und ließ sie einmal ertönen. Zehn Sekunden später erschien der Junge, der sie begrüßt hatte, im Flur. Er blieb vor Karna stehen und verbeugte sich tief.

Etwa dreißig Sekunden lang redete Karna mit, wie es klang, Maschinengewehr-Lowa auf den Jungen ein. Der Junge stellte eine einzige Frage, dann verbeugte er sich abermals, ging zur Haustür und hinaus auf die Straße.

Karna sagte: »Haben Sie keine Angst. Alles wird gut.«

»Verzeihen Sie«, sagte Remi, »aber die Neugier bringt uns noch um: Ist Ihr Akzent …«

»Oxford durch und durch, ja. Ich bin tatsächlich Engländer, obwohl ich schon seit … fünfzehn Jahren, denke ich, nicht mehr in der Heimat war. In diesem Sommer lebe ich seit achtunddreißig Jahren in Mustang. Und davon die meiste Zeit in diesem Haus.«

»Wie sind Sie hierhergekommen?«, fragte Sam.

»Ursprünglich kam ich als Student. Ich studierte damals Anthropologie und noch einige Nebenfächer. Ich verbrachte 1973 drei Monate hier und kehrte dann nach Hause zurück. Es dauerte keine drei Wochen, bis ich erkannte, dass mir Mustang im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gegangen war, wie es so schön heißt. Daher kam ich wieder her und bin geblieben. Die einheimischen Priester glauben, ich sei einer von ihnen – als Reinkarnation, natürlich.« Mr Karna lächelte und zuckte die Achseln. »Wer weiß das schon? Außer Zweifel steht jedoch, dass ich mich nirgendwo mehr heimisch gefühlt habe als hier.«

»Faszinierend«, erwiderte Sam. »Was tun Sie so?«

»Ich denke, ich bin eine Art Archivar. Und ein Historiker. Ich sehe meine Hauptaufgabe darin, die Geschichte Mustangs zu dokumentieren. Allerdings nicht die Geschichte, wie man sie bei Wikipedia nachlesen kann.« Er bemerkte Remis verwirrten Gesichtsausdruck und fügte lächelnd hinzu: »Ja. Ich kenne Wikipedia durchaus. Ich gehe hier per Satellit ins Internet. Ziemlich ungewöhnlich, wenn man bedenkt, wie abgelegen dieser Ort ist.«

»Das stimmt«, pflichtete Remi ihm bei.

»Ich schreibe – und das tue ich seit nunmehr fast zwölf Jahren – an einem Buch, das mit einigem Glück vielleicht die gesamte Geschichte Mustangs und Lo Monthangs enthält. Eine geheime Geschichte, wenn Sie so wollen.«

»Was erklären dürfte, weshalb Sushant meinte, dass wir uns an Sie wenden sollten«, sagte Sam.

»In der Tat. Er erzählte mir, dass Sie sich besonders für die Legende vom Theurang interessieren. Der Goldene Mann.«

»Ja«, bestätigte Remi.

»Er hat mir jedoch nicht erzählt, weshalb.« Karna wurde jetzt ernst und musterte Sam und Remi prüfend. Ehe sie antworten konnten, fuhr er fort: »Haben Sie bitte Verständnis. Nichts für ungut, aber Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Sie sind professionelle Schatzsucher, nicht wahr?«

»Eigentlich gefällt uns diese Bezeichnung überhaupt nicht«, sagte Sam, »aber rein technisch trifft sie natürlich zu.«

Remi fügte hinzu: »Wir behalten nichts von dem, was wir finden, für uns. Jegliche finanzielle Vergütung geht in unsere Stiftung.«

»Ja, davon habe ich gelesen. Ihr Ruf ist ausgezeichnet. Das Problem ist nur, dass ich schon früher Besucher hatte. Leute, die sich aus, wie ich fürchte, niederen Beweggründen für den Theurang interessierten.«

»Waren diese Leute zufälligerweise ein junger Mann und eine junge Frau?«, fragte Sam. »Weißhäutige Zwillinge mit asiatischen Gesichtszügen?«

Karnas linke Augenbraue ruckte hoch. »Volltreffer. Sie sind vor ein paar Monaten hier gewesen.«

Sam und Remi warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Sie kamen stumm darin überein, dass sie Karna vertrauen sollten. Sie befanden sich an einem der abgelegensten Orte, die sie je aufgesucht hatten, und der Angriff auf ihr Leben in der vergangenen Nacht hatte ihnen gezeigt, dass Charles King nun endgültig die Glacéhandschuhe abgestreift hatte. Sie brauchten nicht nur Karnas Wissen, sondern auch einen vertrauenswürdigen Verbündeten.

»Ihre Namen sind Russell und Marjorie King. Ihr Vater ist Charles King.«

»King Charlie«, unterbrach Karna. »Ich habe im vergangenen Jahr einen Artikel über ihn im Wall Street Journal gelesen. Er hat etwas von einem Cowboy, finde ich. Ein Hinterwäldler, nicht wahr?«

»Ein sehr mächtiger Hinterwäldler«, erwiderte Remi.

»Warum wünscht er sich Ihren Tod?«

»Warum genau, wissen wir nicht mit Sicherheit«, sagte Sam. »Aber wir sind überzeugt, dass er hinter dem Theurang her ist.«

Sam beschrieb jetzt, welche Verbindung zwischen ihnen und Charles King bestand. Dabei ließ er nichts aus. Er erzählte Karna, was sie wussten, was sie vermuteten und was für sie noch ein Rätsel war.

»Nun, ein Rätsel kann ich sofort lösen«, sagte Karna. »Diese üblen Zwillinge, die King-Sprösslinge, haben mir ganz eindeutig einen falschen Namen genannt. Aber während ihres Besuchs erwähnten sie den Namen Lewis ›Bully‹ King. Als ich ihnen dann erzählte, was ich Ihnen auch gleich erzählen werde, reagierten sie überhaupt nicht geschockt. Und das war seltsam, wenn man bedenkt, wer sie in Wahrheit sind.«

»Was haben Sie ihnen gesagt?«

»Dass Lewis King tot ist. Er starb 1982.«

Das Geheimnis von Shangri La
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