19
Lo Monthang, Mustang, Nepal
Sam und Remi verschlug es völlig die Sprache. Remi erholte sich als Erste von dem Schock und fragte: »Wie ist er gestorben?«
»Er stürzte ungefähr zehn Meilen entfernt von hier in eine Gletscherspalte. Ich habe seinerzeit mitgeholfen, seine Leiche zu bergen. Er wurde auf dem örtlichen Friedhof begraben.«
»Und haben Sie das den King-Zwillingen erzählt?«, wollte Sam wissen.
»Natürlich. Sie reagierten … na ja … eher enttäuscht, denke ich. Jetzt, wo ich weiß, wer sie sind, erscheint das ein bisschen kaltherzig, nicht wahr?«
»Aber es passt zu dieser Familie«, erwiderte Remi. »Haben sie Ihnen erklärt, weshalb sie nach ihm gesucht haben?«
»Sie drückten sich ausgesprochen ausweichend aus, deshalb suchte ich schnell einen Vorwand, um unser Gespräch abzubrechen. Alles, was ich aus ihren Fragen entnehmen konnte, war, dass sie King gesucht und sich für den Theurang interessiert haben. Ich mochte ihre Art nicht besonders. Es ist schön, auf diese Weise zu erfahren, dass mein Instinkt richtig war. Damit dürfte wohl klar sein, dass Charles King vom Tod seines Vaters wusste, als er mit Ihnen Kontakt aufnahm.«
»Und er wusste auch darüber Bescheid, als er Alton engagiert hat«, sagte Sam. »Der Bericht über das Foto, auf dem Lewis zu erkennen gewesen sein soll, war ebenfalls ein Phantasieprodukt.«
»Alles war nur darauf abgestimmt, Sie in die Jagd nach dem Goldenen Mann hineinzuziehen«, sagte Karna. »Kein besonders raffinierter Bursche, dieser King, oder? Er hat erwartet, dass Sie herkamen, um Ihren Freund zu suchen, und dann die Suche auch auf den Theurang ausdehnten, ohne misstrauisch zu werden. Um die Zwillinge möglichst direkt zu ihm hinzuführen.«
»So scheint es«, sagte Remi. »Die besten Pläne …«
»Kommen von Dorftrotteln und missratenen Kindern«, beendete Karna den Satz. »Die wichtigere Frage ist allerdings, weshalb der Theurang für King so wichtig ist? Sie glauben doch wohl nicht, dass er ein verkappter Nazi ist und dort weitermachen will, wo sein Vater aufgehört hat?«
»Das nehmen wir nicht an«, sagte Sam. »Wir haben uns gefragt, ob es lediglich eine bestimmte Art von Obsession ist oder ein kleines Nebengeschäft wie sein Schwarzmarkthandel mit seltenen Fossilien. Aber ganz gleich, was es sein mag, die Kings haben im Namen des Theurang Menschen entführt und getötet.«
»Und zu Sklaven gemacht«, fügte Remi hinzu. »Die Leute, die an der Ausgrabungsstätte arbeiten, dürfen nicht kommen und gehen, wann sie wollen.«
»Das kommt noch dazu. Ungeachtet seiner Motive können wir nicht zulassen, dass der Theurang ausgerechnet ihm in die Hände fällt.«
Karna griff nach seiner Teetasse und hob sie hoch. »Demnach ist die Entscheidung gefallen. Wir erklären den Kings den Krieg. Alle für einen?«
Sam und Remi hoben ebenfalls ihre Teetassen und verkündeten gleichzeitig: »Und einer für alle.«
»Erzählen Sie mir mehr über diese Grabkammer, die Sie gefunden haben«, bat Karna. »Und lassen Sie bitte nichts aus.«
Remi beschrieb in knappen Worten die Nische, die sie in der Höhle in der Chobar-Schlucht gefunden hatten, dann holte sie ihr iPad aus dem Rucksack und rief die Fotos auf, die sie während ihrer Untersuchung des Ortes geschossen hatten. Sie reichte Karna den Tabletcomputer.
Fasziniert von dem iPad, drehte er es in seinen Händen eine Minute lang hin und her, rief verschiedene Funktionen auf, ehe er den Kopf hob und Sam und Remi mit großen, staunenden Augen ansah.
»So ein Ding muss ich auch haben. Na schön … zurück zum Geschäftlichen.« Während der nächsten zehn Minuten studierte er Remis Fotos, drehte sie auf dem iPad hin und her, vergrößerte und verkleinerte sie, wobei er ständig mit der Zunge schnalzte und Kommentare wie »wunderbar« und »erstaunlich« abgab. Schließlich gab er Remi das iPad zurück.
»Sie beide haben Geschichte gemacht«, sagte Karna. »Während ich mir kaum vorstellen kann, dass die übrige Welt die Bedeutung des Fundes richtig einschätzen kann, wird das Volk von Mustang und Nepal dazu ganz gewiss imstande sein. Was Sie dort gefunden haben, ist die letzte Ruhestätte eines Sentinel, eines Wächters und Beschützers. Ich denke an die vier eingravierten Schriftzeichen auf dem Deckel des Kastens … Haben Sie bessere Fotos davon?«
»Nein, leider nicht.«
»Wo befindet sich der Kasten zurzeit?«
»In San Diego, bei Selma, unserer leitenden Rechercheurin.«
»Du liebe Güte. Ist sie …«
»In jeder Hinsicht qualifiziert«, beruhigte Remi den Engländer. »Sie versucht, ihn zu öffnen – und zwar äußerst vorsichtig, ohne ihn zu beschädigen.«
»Sehr gut. Vielleicht kann ich ihr dabei helfen.«
»Wissen Sie, was sich darin befindet?«
»Durchaus möglich. Dazu komme ich gleich. Wie viel hat Ihnen Sushant über die Sentinels und den Theurang erzählt?«
»Einiges«, sagte Remi, »aber er hat betont, dass eigentlich Sie der Experte sind.«
»Na gut, das stimmt wohl. Also, die Sentinels waren die Wächter und Beschützer des Theurang. Die Ehre, dieses Amt auszuüben, wurde vom Vater auf den Sohn vererbt. Sie wurden vom sechsten Lebensjahr an für diese eine Aufgabe und nichts anderes ausgebildet. Das Himanshu-Dekret von 1421 markiert eine von vier Gelegenheiten, bei denen der Theurang aus Lo Monthang entfernt wurde. Bei den vorangegangenen drei Anlässen, jeweils vor einer drohenden Invasion, endete das Unternehmen jeweils erfolgreich, und der Theurang wurde anschließend in die Hauptstadt zurückgebracht. Die Invasion von 1421 war jedoch etwas völlig anderes. Der damalige ›Marschall der Armee‹, Dolma, überzeugte den König und seine Berater, dass diese Invasion einen anderen Verlauf nehmen werde. Er war überzeugt, mit ihr würde der Untergang Mustangs eingeläutet werden. Abgesehen von der Erfüllung der Prophezeiung.«
»Es gab eine Prophezeiung?«, wollte Sam wissen.
»Ja. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten, die im Wesentlichen auf buddhistischer Legendenbildung und Zahlenmystik basieren. Auf jeden Fall besagte die Prophezeiung, dass ein Zeitpunkt bevorstehe, an dem das Königreich Mustang untergehen werde und dass es nur dann wieder auferstehen könne, wenn der Theurang an seinen Geburtsort zurückgebracht würde.«
»Hierher?«, fragte Remi. »Das hat Sushant uns erzählt.«
»Mein lieber Freund irrt sich. Aber das ist nicht seine Schuld. Die Geschichte, soweit sie allgemein bekannt ist, kann man bestenfalls lückenhaft nennen. Zuerst einmal muss man sich darüber im Klaren sein, dass sich das Volk von Mustang niemals als Eigentümer des Goldenen Mannes betrachtet hat, sondern eher als seine Bewahrer und Helfer. Was genau hat Sushant Ihnen über die Natur des Theurang erzählt?«
»Seine Erscheinung?«
»Nein, seine Natur … sein Wesen, seine Bedeutung.«
»Ich glaube, der Begriff, den er in diesem Zusammenhang benutzte, lautete ›Lebensspender‹.«
Karna ließ sich das einen Moment lang durch den Kopf gehen, dann zuckte er die Achseln. »Als Metapher kann man das vielleicht gelten lassen. Mrs Fargo, Sie sind doch eine ausgebildete Anthropologin, nicht wahr?«
»Das ist richtig.«
»Gut, gut. Warten Sie einen Moment.« Karna erhob sich und verschwand in einem Nebenkorridor. Sie hörten, wie Bücher in einem Regal hin und her geschoben wurden, und dann erschien Karna mit zwei in Leder gebundenen Folianten und einem zentimeterdicken Manila-Ordner. Er setzte sich, blätterte in den Büchern, bis er fand, was er suchte, und legte sie mit dem Gesicht nach unten auf den Fußboden.
Er sagte: »Das Königreich Mustang war nie ein besonders auffälliger, spektakulärer Ort. Seine Architektur ist eher funktional und bescheiden – ebenso wie seine Menschen –, aber vor langer Zeit waren sie besonders gebildet und der westlichen Welt in vieler Hinsicht weit voraus.«
Karna wandte sich wieder an Remi. »Sie sind Anthropologin – was wissen Sie über Ardi?«
»Den archäologischen Fund?«
»Genau den.«
Remi überlegte kurz. »Es ist schon eine Weile her, seit ich die Berichte darüber gelesen habe, aber ich kann mich noch an einiges erinnern. Ardi ist der Spitzname für einen viereinhalb Millionen Jahre alten Fossilienfund in Äthiopien. Soweit ich mich entsinne, lautet sein wissenschaftlicher Name Ardipithecus ramidus. Obwohl über den Fund heftig diskutiert wurde, ist man sich wohl darin einig, dass Ardi so etwas wie ein missing link der menschlichen Evolution darstellt – eine Brücke zwischen den höheren Primaten wie Affen, Menschenaffen und Menschen und ihren entfernteren Verwandten, wie zum Beispiel den Lemuren.«
»Sehr gut. Und ihre charakteristischen Merkmale?«
»Skelett ähnlich dem der Lemuren, mit Attributen, die den Primaten zuzuordnen sind: greiffähige Hände, opponierbare Daumen, klauenlose Finger mit Nägeln und kurze Gliedmaßen. Habe ich etwas ausgelassen?«
»Hervorragend«, erwiderte Karna lobend. Er öffnete den Manilaordner, holte ein großes Farbfoto heraus und reichte es Sam und Remi. »Das ist Ardi.«
Genauso wie Remi es beschrieben hatte, sah die versteinerte Kreatur, die auf der Seite in der Erde lag, wie eine Kreuzung zwischen einem Affen und einem Lemuren aus, »Und hier«, sagte Karna, »haben wir eine künstlerische Darstellung des Theurang.«
Er holte einen Bogen Papier aus dem Ordner und reichte ihn seinen Besuchern. Der Farbausdruck zeigte ein gorillaähnliches Lebewesen mit massigen Armen und einem gedrungenen Kopf, der von einem breiten, mit Fangzähnen bewehrten Maul und einer großen, herausragenden Zunge beherrscht wurde. Anstelle von Beinen ruhte der Körper auf einem kräftigen Muskelstamm, der in einem einzigen Fuß mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen endete.
»Fallen Ihnen irgendwelche Ähnlichkeiten mit Ardi auf?«, fragte Karna.
»Nein«, antwortete Sam. »In meinen Augen sieht es wie ein Cartoon aus.«
»Das ist richtig. Das Bild stammt aus einer Legende um den ersten König von Tibet, Nyatro Tsenpo, der der Überlieferung nach ein Nachkomme des Theurang gewesen sein soll. In Tibet entwickelte sich der Theurang im Laufe der Jahrtausende zu einer Art Buhmann. Die Mustang-Version ist jedoch völlig anders.« Karna hob eins der Bücher auf und gab es an Sam und Remi weiter.
Das Buch war auf der Seite einer eher groben, aber extrem stilisierten Zeichnung aufgeschlagen. Der Stil war eindeutig buddhistisch, aber das Objekt der Zeichnung war deutlich zu erkennen.
Remi murmelte: »Ardi?«
»Ja«, antwortete Karna. »Als wäre er plötzlich zum Leben erwacht. Dies, so glaube ich, ist das genaueste Porträt des Theurang. Was Sie vor sich sehen, Mr und Mrs Fargo, ist der Goldene Mann.«
Sam und Remi wussten lange nicht, was sie sagen sollten, während sie die Zeichnung betrachteten und versuchten, Karnas Erklärung zu verarbeiten. Schließlich gab sich Sam einen Ruck. »Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass diese Kreatur heute …«
»Heute in Mustang lebt? Nein, natürlich nicht. Ich vermute, dass der Theurang ein entfernter Verwandter Ardis ist, wahrscheinlich ein wesentlich späteres Verbindungsglied – missing link. Aber ganz gewiss ist er einige Millionen Jahre alt. Ich habe noch andere Zeichnungen, auf denen der Theurang mit sämtlichen Attributen Ardis dargestellt wird – ich meine die Greifhände und die opponierbaren Daumen. Auf einigen Zeichnungen ist er mit primatenähnlichen Gesichtszügen zu sehen.«
»Warum der Ausdruck Goldener Mann?«, fragte Sam.
»Der Legende nach erschien der Theurang, als er im königlichen Palast von Lo Monthang zusammengefügt und ausgestellt wurde, menschlich. Im Jahr 1315, kurz nachdem Lo Monthang gegründet wurde, entschied der erste König von Mustang – Ame Pal –, dass die Darstellung des Theurang nicht prächtig genug war. Er ließ die Knochen mit Gold überziehen und in die Augenhöhlen Edelsteine einsetzen. Desgleichen in die Fingerspitzen. Die Zähne, von denen es heißt, dass sie nahezu vollständig waren, wurden mit Blattgold überzogen.«
»Er muss einen großartigen Anblick geboten haben«, sagte Remi.
»Ich würde eher das Wort kitschig dafür verwenden«, erwiderte Karna. »Aber wer bin ich, dass ich es wagen dürfte, Ame Pal zu widersprechen?«
Remi sagte: »Wollen Sie damit andeuten, dass die Menschen hier bereits vor Charles Darwin so etwas wie eine Evolutionstheorie entwickelt haben?«
»Theorie? Nein. Aber einen festen Glauben? Absolut. In den fast dreißig Jahren, die ich hier verbracht habe, habe ich Texte und Kunstwerke gefunden, aus denen eindeutig hervorgeht, dass das Volk von Mustang davon überzeugt war, dass der Mensch von früheren Kreaturen – speziell von Primaten – abstammt. Ich kann Ihnen Höhlenzeichnungen zeigen, in denen eine deutliche Entwicklungslinie von niederen Lebensformen bis hin zum Menschen dargestellt wird. Noch wichtiger ist, dass der Theurang trotz allgemeiner Auffassung nicht in einem religiösen, sondern eher in einem historischen Sinn verehrt wurde.«
»Wo hat die Legende ihren Ursprung?«, fragte Sam. »Wo und wann wurde der Theurang gefunden?«
»Das weiß niemand – zumindest habe ich niemanden gefunden. Ich hoffe, dass ich noch lange genug lebe, um diese Frage zu beantworten. Vielleicht ist Ihre Entdeckung der letzte Puzzlestein.«
»Meinen Sie, dass sich der Theurang in dem Kasten befindet, den wir aus der Grabkammer geborgen haben?«
»Nein, falls kein schrecklicher Fehler gemacht wurde. Eine der Fertigkeiten, die die Sentinels beherrschen mussten, war die Navigation mittels der Gestirne. Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie den Sentinel dort gefunden haben, wo Sie ihn gefunden haben, weil er sich genau dorthin hatte begeben sollen.«
»Was ist denn Ihrer Meinung nach in der Truhe?«
»Entweder gar nichts oder ein Hinweis auf den Geburtsort des Theurang – Angaben über den Ort, zu dem er im Jahr 1421 angeblich gebracht wurde.«
»An was für eine Art von Hinweis denken Sie?«, fragte Remi.
»An eine Scheibe mit einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern, aus Gold gehämmert und mit irgendwelchen Symbolen beschriftet. Die Scheibe weist, wenn man sie in Verbindung mit zwei anderen Scheiben und einer besonderen Landkarte benutzt, auf die letzte Ruhestätte des Theurang hin.«
»Sonst wissen Sie nichts darüber?«, fragte Sam.
»O doch, ich kenne den Namen des Ortes.«
»Und wie lautet der?«
»Die alte Übersetzung ist ein wenig kompliziert, aber Sie kennen seine populäre Bezeichnung: Shangri-La.«