21
Vlorë, Albanien
Die Uhr auf dem Armaturenbrett des Fiat sprang auf neun Uhr vormittags, als Sam und Remi das Ortsschild von Vlorë passierten. Albaniens zweitgrößte Stadt lag mit ihren einhunderttausend Einwohnern in einer Bucht an der Westküste, vor sich das Adriatische Meer und hinter sich die Berge.
Mit ein wenig Glück, so hofften Sam und Remi, befände sich die Scheibe des Sentinel immer noch in Vlorë.
Eine Stunde nachdem Wendy und Pete die Theurang-Scheibe aus der Truhe befreit und ihre Herkunft mit Karnas Hilfe geklärt hatten, erschien abermals Selmas Gesicht in einem iChat-Fenster auf Karnas Laptop-Bildschirm.
Auf ihre wie immer kurz angebundene Art sagte sie: »Jack, Ihre Forschungsmethoden sind makellos. Sam, Remi, ich glaube, dass seine Theorie in Bezug auf die beiden Priester Hand und Fuß hat. Ob wir sie und die anderen Scheiben finden können, ist aber eine ganz andere Angelegenheit.«
»Was konnten Sie sonst noch in Erfahrung bringen?«, fragte Sam.
»Zum Zeitpunkt ihres Todes bekleideten Besim Mala und Arnost Deniv Bischofsämter und genossen in ihren Gemeinden hohes Ansehen. Beide hatten in ihrer Heimat mitgeholfen, Kirchen, Schulen und Krankenhäuser aufzubauen.«
»Woraus sich ergeben dürfte, dass ihre Gräber ein wenig aufwändiger gestaltet waren und über zwei Meter tiefe rechteckige Erdlöcher hinausgehen«, sagte Karna.
»Ich habe keine näheren Angaben dazu gefunden, kann Ihrer Argumentation jedoch nicht widersprechen«, erwiderte Selma. »Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert pflegten die östlich-orthodoxen Kirchen – vor allem die auf dem Balkan und in Süd-Russland – solche Todesfälle mit großem Pomp zu würdigen. Krypten und Mausoleen waren seinerzeit die üblichen Bestattungsorte.«
»Die Frage ist«, sagte Karna, »wo genau sie zur letzten Ruhe gebettet wurden.«
»Was Deniv betrifft, arbeite ich noch daran, aber aus Kirchenregistern geht hervor, dass Bischof Besim Malas letzte Wirkungsstätte Vlorë in Albanien gewesen ist.«
Da sie noch ein wenig Zeit hatten, bis Selma ihnen ein etwas enger umgrenztes Suchgebiet nennen konnte, fuhren Sam und Remi für etwa eine Stunde in Vlorë spazieren und bewunderten seine wunderschöne Architektur, die mit griechischen, italienischen und mittelalterlichen Elementen aufwarten konnte. Kurz vor Mittag bogen sie auf den Parkplatz des Hotels Bologna ein und suchten sich in dem mit Palmen gesäumten Freiluftcafé einen Platz mit Blick auf das blaue Wasser des Hafens.
Sams Satellitentelefon klingelte. Es war Selma. Sam schaltete die Freisprechfunktion ein.
»Ich habe auch Jack hier«, sagte Selma. »Wir haben …«
»Wenn das ein Schlechte-Nachricht-gute-Nachricht-Anruf ist, Selma, dann sagen Sie sofort, was los ist«, bat Remi. »Wir sind zu müde für Ratespielchen.«
»Eigentlich habe ich nur eine gute Nachricht zu melden – oder, genauer ausgedrückt, eine potentiell gute Nachricht.«
»Schießen Sie los«, sagte Sam.
Jack Karna ergriff das Wort. »Ich halte die Sentinel-Scheibe für echt. Hundertprozentig sicher kann ich aber erst sein, wenn ich sie mit den Wandkarten verglichen habe, von denen ich sprach. Doch ich bin optimistisch.«
Selma sagte: »Was die letzte Ruhestätte Besim Malas betrifft, kann ich Ihr Suchgebiet auf etwa eine halbe Quadratmeile begrenzen.«
»Befindet sie sich unter Wasser?«, fragte Sam skeptisch.
»Nein.«
»In einem von Krokodilen wimmelnden Sumpf?«, wollte Remi wissen.
»Nein.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Sam. »Es ist eine Höhle. Sie liegt in einer Höhle.«
Karna bestätigte es. »Treffer. Nach dem, was wir herausbekommen haben, wurde Bischof Mala auf dem Friedhof des Marienklosters auf der Insel Zvernec zur ewigen Ruhe gebettet.«
»Und wo ist das?«, fragte Remi.
»Sechs Meilen weiter nördlich. Suchen Sie sich einen Wi-Fi-Hotspot, und ich schicke die Details auf Ihr iPad, Mrs Fargo.«
Im Café des Hotels gönnten sie sich eine kleine Pause. Sam und Remi bestellten ein schmackhaftes albanisches Mittagessen, das aus mit Minze und Zimt gewürztem Lammhackfleisch, mit Spinat gefüllten Teigtaschen sowie einem gewürzten Traubensaft bestand, der mit Zucker versetzt war. Zu ihrem unerwarteten Glück verfügte das Café über einen Wi-Fi-Internetzugang, so dass sie während des Essens ihre Reiseinstruktionen durchgehen konnten. Die Angaben waren mit Wegbeschreibung, einem kurzen Abriss der örtlichen Geschichte und einem Lageplan des Klostergeländes durchaus erschöpfend. Das einzige Detail, das sie nicht fanden, war die genaue Position von Bischof Malas Grabstätte.
Nachdem sie die Rechnung bezahlt hatten, lenkten Sam und Remi den Fiat nach Norden. Nach etwa zehn Meilen bogen sie ins Dorf Zvernec ein und folgten einem einsamen Hinweisschild zur Narta-Lagune. Diese Lagune hatte eine Fläche von fast zwölf Quadratmeilen.
Nachdem er die Schotterstraße erreicht hatte, die um die Lagune herumführte, fuhr Sam weiter nach Norden, bis sie zu einem ebenfalls mit Schotter bestreuten Parkplatz auf einer Landzunge gelangten, die in die Lagune hineinragte. Der Parkplatz war vollkommen leer.
Sam und Remi stiegen aus und streckten sich. Das Wetter war für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm und sonnig, nur wenige Wolken waren landeinwärts am Himmel zu sehen.
»Ich denke, dies dürfte unser Ziel sein«, sagte Remi und deutete auf die Lagune hinaus.
Vom Ufer aus führte eine schmale, knapp dreihundert Meter lange Fußgängerbrücke zur Insel Zvernec, auf der sich das Marienkloster befand. Es bestand aus einer Ansammlung von vier mittelalterlichen Kirchenbauten auf einem dreieckigen, mit Gras bewachsenen, zwei Morgen großen Streifen Land direkt am Ufer der Lagune.
Sie gingen zu der Stelle, wo die Brücke begann. Remi blieb stehen und betrachtete sie nervös. Die baufälligen Konstruktionen, die sie zuerst in der Chobar-Schlucht und später auf ihrem Weg zu Charles Kings geheimer Ausgrabungsstätte im Langtang Valley angetroffen hatten, hatten einen tieferen Eindruck auf sie hinterlassen, als sie bis zu diesem Moment hatte wahrhaben wollen.
Sam ging zu ihr zurück und legte einen Arm um ihre Schultern. »Sie ist stabil. Ich bin Ingenieur und kann das beurteilen, Remi. Dieses Kloster ist eine Touristenattraktion. Tausende Menschen benutzen diese Brücke jedes Jahr.«
Mit zusammengekniffenen Augen sah Remi ihren Mann von der Seite an. »Du willst mich doch nicht etwa nur bei Laune halten, Fargo?«
»Würde ich jemals so etwas tun?«
»Zutrauen würde ich es dir.«
»Diesmal ganz sicher nicht. Komm«, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln. »Wir machen uns gemeinsam auf den Weg. Es wird der reinste Spaziergang.«
Sie nickte entschlossen. »Dann nichts wie los.«
Sam ergriff ihre Hand, und sie betraten die Brücke. Auf halbem Weg blieb Remi plötzlich stehen. Sie lächelte. »Ich glaube, es geht mir um vieles besser.«
»Bist du geheilt?«
»Das kann ich noch nicht behaupten, aber ich bin okay. Lass uns weitergehen.«
Nach zwei Minuten hatten sie die Insel erreicht. Aus einiger Entfernung betrachtet, erschienen die Kirchenbauten nahezu unberührt: von der Sonne gebleichte Steinmauern und rote Ziegeldächer. Jetzt, da sie dicht vor den Gebäuden standen, konnten Sam und Remi erkennen, dass das Kloster bereits weit bessere Zeiten gesehen haben musste. Auf den Dächern fehlten zahlreiche Ziegel, und einige Mauern standen schief oder verfielen bereits. Auf einem Glockenturm fehlte das Dach vollständig, und die Glocke hing schief an ihrem Tragbalken.
Ein sorgfältig gepflegter Weg schlängelte sich über das Grundstück. Hier und da drängten sich Tauben auf den Dachvorsprüngen, gurrten lebhaft und betrachteten neugierig die beiden neuen Inselbesucher.
»Ich sehe niemanden«, stellte Sam fest. »Du vielleicht?«
Remi schüttelte den Kopf. »Selma hat etwas von einem Hausmeister erwähnt, aber kein Touristenbüro.«
»Dann lass uns mal auf die Suche gehen«, schlug Sam vor. »Wie groß ist die Insel?«
»Zehn Morgen.«
»Dann sollte es nicht allzu lange dauern, den Friedhof zu finden.«
Nachdem sie einen kurzen Rundgang durch jedes der Gebäude gemacht hatten, folgten sie dem Weg zu einem Kiefernwald. Sobald die Baumgrenze hinter ihnen lag, nahm das Sonnenlicht ab, und die Baumstämme schienen um sie herum zusammenzurücken. Es war ein alter Wald mit kniehohem Unterholz und genügend abgestorbenen Ästen und verfaulenden Baumstümpfen, um das Vordringen zu einem abenteuerlichen Unternehmen zu machen. Nach ein paar hundert Metern gabelte sich der Weg.
»Natürlich«, stellte Remi fest. »Kein Wegweiser.«
»Wirf eine Münze.«
»Nach links.«
Der gewundene Pfad führte sie zu einem wackligen, halb verfallenen Steg am Rande eines Sumpfgebiets.
»Schlechte Entscheidung«, sagte Remi.
Sie gingen zurück und nahmen den Weg, der nach rechts wegschwenkte. Diesmal wandten sie sich nach Nordosten, drangen dabei tiefer in den Wald ein und näherten sich dem breiteren Ende der Insel.
Sam trabte auf Kundschaftermission ein Stück voraus, wandte sich um und rief zurück: »Hier ist eine Lichtung!« Ein paar Sekunden später tauchte er auf dem Weg wieder auf und blieb vor Remi stehen. Er grinste breit.
»Normalerweise bist du von Waldlichtungen nicht so begeistert«, sagte Remi.
»Ich bin es auch nur, wenn es auf der Lichtung Grabsteine gibt.«
»Dann geh mal voraus, Meister.«
Sie erreichten gemeinsam die Stelle, an der die Bäume lichter wurden und zurückblieben. Mit einem ovalen Grundriss und etwa sechzig Metern Durchmesser beherbergte die Lichtung tatsächlich einen Friedhof, aber Sam und Remi erkannten sofort, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Auf der anderen Seite befand sich ein Stapel Kiefernstämme. Neben diesem Stapel lagen mehrere haushohe Hügel verrotteter Äste und Zweige. Die Erde auf der Lichtung war aufgewühlt wie nach einem heftigen Artilleriebombardement, und etwa die Hälfte der Gräber musste vor kurzem erst geöffnet worden sein.
Am östlichen Ende des Friedhofs klaffte eine zweite Öffnung zwischen den Bäumen, diese jedoch ein nahezu schnurgerader Korridor, an dessen Ende sie das Wasser der Lagune schimmern sahen.
Von den ungefähr ein Dutzend Grabsteinen, die man sehen konnte, wirkten nur wenige unbeschädigt; alle anderen waren entweder geborsten oder teilweise aus dem Erdreich gerissen worden. Sam und Remi zählten insgesamt vierzehn Mausoleen. Auch sie wiesen Spuren umfangreicher Beschädigungen auf. Teilweise waren ihre Fundamente eingesunken, oder die Mauern und Dächer waren teilweise zusammengebrochen oder eingestürzt.
»Was ist hier geschehen?«, fragte Remi.
»Ich tippe auf einen Sturm«, sagte Sam. »Er muss vom Meer gekommen sein und ist wie eine Kettensäge über die Insel gefegt. Eine Schande.«
Remi nickte ernst. »Andererseits wird unsere Arbeit dadurch leichter. Genau genommen brauchen wir nun nicht mal in Malas Grabmal einzubrechen.«
»Gutes Argument. Aber eine Hürde gibt es noch zu überwinden«, meinte Sam.
»Und welche?«
»Sehen wir uns zuerst mal um. Ich will nicht unbedingt herumunken.«
Sie trennten sich, wobei Sam sich die östliche Seite vornahm und nach Norden vordrang und Remi sich für die westliche Seite und die nördliche Suchrichtung entschied. Sie kümmerten sich nicht weiter um Grabsteine, sondern steuerten jeweils auf das nächste Mausoleum zu und blieben gerade lange genug davor stehen, um den jeweils auf seiner Steinfassade eingravierten Namen zu lesen.
Schließlich erreichte Remi das nordöstliche Ende des Friedhofs in der Nähe des Stapels Kiefernstämme. Während sie sich dem letzten Mausoleum auf ihrem Weg näherte, schien es ihr, als sei es mit einigen Rissen in den Seitenwänden weniger beschädigt als alle anderen. Sie erkannte auch, dass es besonders sorgfältig und üppig verziert war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Sie rief: »Sam, ich glaube, wir sind auf der Gewinnerstraße.«
Er kam herüber. »Wie kommst du darauf?«
»Das ist das größte Kreuz, das ich hier bisher gesehen habe. Und du?«
»Ich auch.«
An der Mauer, die ihnen am nächsten war, war ein anderthalb mal fast zwei Meter großes orthodoxes Kreuz mit seinen drei Querbalken zu sehen – zwei horizontale dicht nebeneinander am oberen Ende und einer, schräg gestellt, am unteren Ende.
»Ich habe schon viele von dieser Sorte gesehen, aber noch kein so großes. Was hat dieser schräge Querbalken am unteren Ende zu bedeuten? Ich nehme an, irgendetwas Symbolisches steckt dahinter.«
»Wer kennt schon alle religiösen Geheimnisse?«, sagte Sam.
Sie gingen das letzte Stück bis zum Mausoleum, dann trennten sie sich und traten um das Bauwerk herum zur Vorderseite, die, wie sie feststellten, von einem kniehohen schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Eine Seite des Zauns lag flach auf dem Boden. Am Ende von drei Steinstufen stand die Tür des Mausoleums offen – oder, um genau zu sein, sie war verschwunden. Dahinter erschien das Innere des Grabmals dunkel.
Ins Giebeldreieck unter dem abgeschrägten Dach des Mausoleums waren vier Buchstaben eingraviert: MALA.
»Wie schön, Sie endlich gefunden zu haben, Eminenz«, murmelte Sam.
Sam stieg über den Zaun, gefolgt von Remi, und ging die Stufen hinunter. Vor der Türöffnung blieben sie stehen. Ein modriger Geruch drang in ihre Nasen. Sam suchte in seiner Hosentasche und holte eine Mikro-LED-Lampe heraus. Sie traten über die Schwelle, und Sam schaltete die Lampe ein.
»Leer«, murmelte Remi.
Sam ließ den Lichtstrahl durch das Innere des Grabmals wandern und hoffte, so etwas wie einen niedrigeren Vorraum zu erkennen, aber er entdeckte nichts dergleichen. »Siehst du irgendwelche Zeichen oder Markierungen?«, fragte er.
»Nein. Dieser Geruch ist nicht normal, Sam. Es riecht wie …«
»Abgestandenes Wasser.«
Er schaltete die Lampe aus. Sie machten kehrt und stiegen wieder nach oben. Sam sagte: »Jemand hat ihn herausgeholt und irgendwohin gebracht. Sämtliche Grabmäler, in die ich hineingesehen habe, waren ebenfalls leer.«
»Meine auch. Irgendjemand hat diese Leichen exhumiert, Sam.«
Wieder zurück auf dem Klostergelände, entdeckten sie einen Mann auf einer Holzleiter, die am beschädigten Glockenturm lehnte. Er war mittleren Alters, stämmig, und trug eine schwarze Radrennfahrermütze. Sie steuerten auf ihn zu.
»Entschuldigen Sie«, sagte Remi auf Albanisch.
Der Mann wandte sich um und blickte zu ihnen herab.
»A flisni anglisht?« Sprechen Sie Englisch?
Der Mann schüttelte den Kopf. »Jo.«
»Verdammt«, murmelte Remi und holte ihr iPad hervor.
Der Mann erhob die Stimme und rief etwas. »Earta?«
Ein kleines blondes Mädchen kam um die Ecke des Gebäudes gerannt und blieb vor Sam und Remi stehen. Es lächelte erst sie, dann den Mann auf der Leiter an. »Po?«
Einige Sekunden sprach er mit der Kleinen auf Albanisch, dann nickte sie. Zu Sam und Remi gewandt sagte sie: »Guten Tag. Ich heiße Earta. Ich spreche Englisch.«
»Und das auch noch sehr gut«, sagte Sam und stellte dann sich und Remi vor.
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Möchten Sie meinen Vater etwas fragen?«
»Ja«, sagte Remi. »Ist er der Verwalter hier?«
Eartas Stirn furchte sich. »Ver … walter? Verwalter? O ja, er ist der Verwalter.«
»Wir interessieren uns für den Friedhof. Wir waren gerade dort, und …«
»Es ist eine Schande, was passiert ist, nicht wahr?«
»Ja. Was ist denn passiert?«
Earta stellte die Frage ihrem Vater, hörte sich seine Antwort an, dann übersetzte sie: »Vor zwei Monaten kam ein Sturm von der Bucht. Starker Wind. Viele Schäden. Am nächsten Tag stieg das Meer und überflutete die Lagune und einen Teil der Insel. Der Friedhof stand unter Wasser. Auch dort ganz viele Schäden.«
Sam fragte: »Was ist mit den … Insassen geschehen?«
Earta stellte die Frage ihrem Vater, dann fragte sie die Besucher: »Warum fragen Sie?«
Remi erwiderte: »Es ist möglich, dass ich hier entfernte Verwandte habe. Meine Tante erzählte mir, einer sei hier begraben.«
»Oh«, sagte Earta bestürzt. »Das tut mir leid.« Sie fragte wieder ihren Vater, der ausführlich antwortete. Zu Remi gewandt erklärte Earta dann: »Etwa die Hälfte der Gräber blieb unversehrt. Die anderen … als das Wasser zurückging, befanden sich die Leichen nicht mehr unter der Erde. Mein Vater, meine Schwester und ich haben sie Tage später gefunden.« Eartas Augen hellten sich auf, und sie lächelte. »In einem Baum hing sogar ein Schädel. Es war lustig.«
Remi sah das strahlende Mädchen einen Moment lang irritiert an. »Okay.«
»Die Regierung kam und entschied, dass die Leichen weggebracht werden sollten, bis der Friedhof wieder … hm … in Ordnung gebracht werden kann. Ist dies das richtige Wort?«
Sam lächelte. »Ja.«
»Kommen Sie im nächsten Jahr wieder hierher. Dann ist es viel schöner. Und es stinkt nicht so sehr.«
»Wo sind die Überreste denn jetzt?«, fragte Remi.
Earta gab die Frage an ihren Vater weiter. Sie quittierte seine Erklärung mit einem Kopfnicken, dann sagte sie zu Remi und Sam: »Auf der Insel Sazan.« Sie deutete auf die Bucht von Vlorë. »Dort steht ein altes Kloster. Es ist noch älter als dies hier. Die Regierung hat alle Toten dorthin gebracht.«