22
Vlorë, Albanien
»Nun, das ist Pech«, sagte Selma ein paar Minuten später, als Sam und Remi ihr die Neuigkeit mitteilten. Sie saßen auf der Motorhaube ihres Fiat, der auf dem Parkplatz stand. »Warten Sie einen Moment. Ich schau mal nach, was ich über die Insel Sazan in Erfahrung bringen kann.«
Sie hörten eine halbe Minute lang das hektische Klappern einer Tastatur, dann meldete sich Selma wieder. »Hören Sie zu: Sazan, mit fünf Quadratkilometern die größte Insel Albaniens, zwischen der Straße von Otranto und der Bucht von Vlorë in Albanien gelegen. Soweit ich erkennen kann, ist sie unbewohnt. Die Gewässer um die Insel herum gehören zu einem Meeresnationalpark. Im Laufe der Jahrhunderte befand sich die Insel unter häufig wechselnder Herrschaft: Griechenland, römisches Reich, Osmanisches Reich, Italien, Deutschland, dann wieder Albanien. Sieht so aus, als hätte Italien während des Zweiten Weltkriegs einige Verteidigungsanlagen gebaut, und … Ja, da ist es: Sie haben das byzantinische Kloster in eine Festung umgewandelt.« Selma hielt für einen Moment inne. »Oh, das könnte Probleme geben. Es sieht so aus, als hätte ich mich geirrt.«
»Höhlen«, prophezeite Sam.
»Sümpfe, Alligatoren – o Gott«, fügte Remi hinzu.
»Nein, von wegen unbewohnt. Es gibt einen Park-Ranger-Stützpunkt auf der Insel. Dazu gehören drei oder vier Patrouillenboote und etwa drei Dutzend Ranger.«
»Daher für Zivilisten gesperrt«, meinte Remi.
»Das könnte ich mir vorstellen, Mrs Fargo«, bestätigte Selma.
Sam und Remi schwiegen einige Sekunden lang. Keiner brauchte den anderen zu fragen, was als Nächstes käme. Sam sagte zu Selma: »Wie können wir es schaffen, auf die Insel zu kommen, ohne von Rangern des Meeresnaturschutzparks versenkt zu werden?«
Nachdem sie Selmas ersten und erwartungsgemäßen Vorschlag – »Lassen Sie sich nicht erwischen« – übersprungen hatten, gingen sie ihre Optionen durch. Zuerst brauchten sie natürlich eine Transportmöglichkeit, was nicht allzu schwer zu finden sein werde, versicherte ihnen Selma.
Sam und Remi ließen Selma ihres Amtes walten und kehrten mit dem Fiat nach Vlorë zurück, wo sie ihr faktisches Basislager aufsuchten: das Gartencafé des Hotels Bologna. Von ihrem Platz konnten sie in der Ferne die Insel Sazan als einen dunklen Fleck Land erkennen, der aus den blauen Fluten der Adria herausragte.
Eine Stunde später rief Selma wieder an. »Was halten Sie von Kajaks?«
»Solange sie nett zu uns sind«, erwiderte Sam scherzhaft.
Remi gab Sam einen tadelnden Klaps auf den Arm. »Sprechen Sie weiter, Selma.«
»An der nördlichen Spitze der Halbinsel befindet sich ein Erholungsgebiet mitsamt Freizeitpark: Strände, Kletterfelsen, Meereshöhlen, Badebuchten, solche Dinge eben. Von der äußersten Spitze der Halbinsel beträgt die Entfernung bis Sazan kaum mehr als dreieinhalb Kilometer. Aber es gibt einen Haken. Diese Gegend ist für Motorboote gesperrt, und das Freizeitzentrum schließt gegen Abend seine Tore. Ich schlage daher vor, dass Sie Ihr geplantes Abenteuer in die Nacht verlegen.«
»Sie kennen uns so gut«, erwiderte Sam. »Ich nehme an, Sie haben einen vertrauenswürdigen Bootsverleih gefunden.«
»Habe ich tatsächlich. Und ich war so frei, gleich zwei Boote für Sie zu mieten.«
»Wie sieht es mit dem Wetter und den Gezeiten aus?«, fragte Remi.
»Heute Abend leicht bewölkt und ruhig mit einem Viertelmond; aber morgen früh zieht ein Sturm auf. Einigen Seekarten zufolge, die ich auftreiben konnte, ist die Meeresströmung innerhalb der Bucht eher mäßig, aber wenn man sich von Sazan und der Halbinsel zu weit in östlicher Richtung entfernt, gelangt man schnell in die Adria. Und nach dem, was ich gelesen habe, muss die Strömung dort gnadenlos sein.«
Sam nickte unwillkürlich. »Mit anderen Worten – von dort geht es dann schnurstracks weiter ins Mittelmeer, ohne die Chance, aus eigener Kraft zurückzukehren.«
»Wenn man überhaupt so weit kommt, ohne …«
»Wir haben schon verstanden«, unterbrach Remi. »Osten ist schlecht.«
Sam und Remi sahen sich an und nickten. Sam fragte: »Selma, wie lange dauert es, bis es dunkel wird?«
Wie sich herausstellte, musste der Einbruch der Dunkelheit ihre geringste Sorge sein. Zwar hatte der Laden – der sich in Orikum befand, einem Urlaubsort fünfzehn Kilometer südlich von Vlorë im Bogen der Bucht – eine breite Auswahl von Plastikpaddelbooten im Angebot, jedoch gab es keine anderen Farben als grell leuchtende Rot-, Gelb-und Orangeschattierungen oder eine Jackson-Pollock-mäßige Kombination von allen dreien. Da sie keine Zeit hatten, sich nach dezenteren Farbgebungen umzuschauen, kauften sie das Paar, das ihnen am besten erschien, zusammen mit Paddeln und Schwimmwesten.
Nach einem kurzen Abstecher in einen Eisenwarenladen kehrten sie nach Vlorë zurück. Da ihnen seit Kathmandu zumindest in dieser Hinsicht das Glück wohlgesonnen war, fanden sie einen Laden für ausrangiertes Militärmaterial und erstanden dort jeweils eine schwarze Kluft: Stiefel und Strümpfe, lange Unterwäsche, Wollhosen, Strickmützen und extrem weit geschnittene schwarze Rollkragenpullover, die sich über die grellbunten Schwimmwesten ziehen ließen. Eine Tasche voller möglicherweise nützlicher Kleinigkeiten und zwei dunkle Rucksäcke rundeten ihre Einkaufstour ab. Dann starteten sie.
Sam fuhr einige Zeit lang kreuz und quer durch das Erholungsgebiet, konnte aber keine Menschenseele entdecken. Die Parkplätze und Strände waren leer. Von einem Felsvorsprung verschafften sie sich einen ungehinderten Blick auf die Bucht und bekamen auch diesmal keinerlei Urlaubsgäste zu Gesicht, die die verschiedenen Aktionsmöglichkeiten nutzten.
»Wahrscheinlich ist es zu früh im Jahr«, sagte Sam. »Die Schulferien haben noch nicht angefangen.«
»Wir sollten auf jeden Fall davon ausgehen, dass Patrouillen durchgeführt werden«, sagte Remi. »Zumindest von den Park-Rangern oder der örtlichen Polizei.«
Sam nickte. »Da ist was dran.« Wenn der Fiat gefunden würde, war damit zu rechnen, dass er entweder einen Strafzettel verpasst bekam oder abgeschleppt wurde. So oder so wäre es aber eine Komplikation, auf die sie gerne verzichteten. Schlimmer noch, die örtlichen Behörden könnten Alarm geben, dass ein Urlauberpaar auf dem Meer vermisst wurde, was auf jeden Fall die Aufmerksamkeit der Marine oder der Küstenwache wecken – und damit genau das auslösen würde, was Sam und Remi um jeden Preis vermeiden wollten.
Nachdem sie zwanzig Minuten lang auf den mit losem Geröll bestreuten Fahrstraßen und Fußwegen des Freizeitparks herumgekurvt waren, fand Sam einen von Büschen überwucherten Drainagegraben, in den er den Fiat hineinbugsierte. Unter Remis wachsamem Blick und dank ihres ausgeprägten Gespürs für Details arrangierten sie die Büsche dergestalt, dass das Fahrzeug von der Straße aus nicht zu sehen war.
Gemeinsam traten sie dann zurück, um ihr Werk zu begutachten.
»Mit deinen Fähigkeiten hätten sie dich in England vor dem D-Day sicherlich gut gebrauchen können«, bemerkte Sam.
»Es ist offenbar ein besonderes Talent«, meinte Remi.
Mit den Rucksäcken auf den Schultern schleiften sie ihre Kajaks den Berg hinunter zu einer abgeschiedenen Bucht, die sie schon vorher entdeckt hatten und für ihre Zwecke geeignet fanden. Weniger als fünfzehn Meter breit und mit einem flachen weißen Sandstrand ausgestattet, war sie durch einen zweihundert Meter langen gewundenen Kanal, der sie vor neugierigen Blicken schützte, mit dem offenen Meer verbunden.
Da ihnen nur noch eine Dreiviertelstunde Tageslicht blieb, begannen sie sofort, ihre Kajaks zu tarnen. Mit schwarzer und grauer Schiffsfarbe in Sprühdosen bedeckte jeder sein Boot mit unregelmäßigen, einander überlappenden Farbstreifen, bis von der neongrellen Plastikfarbe nichts mehr zu sehen war. Sams Anstrich erfüllte zwar seine Funktion, ihm fehlte jedoch das künstlerische Flair von Remis Werk. Ihr Kajak hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit den Tarnmustern, die man von Schiffen aus dem Zweiten Weltkrieg kannte.
Er trat ein paar Schritte zurück, betrachtete nacheinander jedes Kajak und sagte dann: »Können wir ganz sicher sein, dass du nicht doch die Reinkarnation eines OSS-Agenten bist?«
»Nicht ganz.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf sein Kajak. »Hast du was dagegen?«
»Nein. Nur zu. Tu, was du nicht lassen kannst.«
Eine halbe Minute und eine halbe Dose Sprühfarbe später sah Sams Kajak fast genauso aus wie Remis. Sie wandte sich zu ihm um. »Was meinst du?«
»Irgendwie komme ich mir richtig … armselig vor.«
Remi trat zu ihm, küsste ihn und lächelte. »Wenn es dir hilft – ich glaube, dein Kajak ist größer als meins.«
»Sehr lustig. Komm, ziehen wir uns um.«
Nachdem sie in ihre Militärkluft geschlüpft waren, wanderte ihre reguläre Kleidung in die Rucksäcke, die wiederum im Bugfach des jeweiligen Kajaks untergebracht wurden.
Da es nichts mehr zu tun gab, machten sie es sich im Sand gemütlich, schauten dem Sonnenuntergang zu und warteten, während die Schatten über dem Wasser länger wurden und Dunkelheit den Meeresarm nach und nach einhüllte.
Als die Nacht vollständig hereingebrochen war, schleiften sie die Kajaks zum Wasser hinunter und schoben sie so weit wie möglich hinaus, ehe sie hineinkletterten und sich mit den Paddeln vom Land abstießen. Schon bald glitten sie durch den Meeresarm. Sie brauchten zehn Minuten, in denen sie das Manövrieren übten und ein Gefühl für die Paddel und das Halten des Gleichgewichts bekamen, bis sie überzeugt waren, für alles gewappnet zu sein, was sie bei ihrem nächtlichen Unternehmen erwartete.
Mit Sam an der Spitze und Remi halbrechts dicht hinter ihm paddelten sie durch den Meeresarm, wobei die Paddel ein kaum hörbares Plätschern erzeugten, wenn sie durchs Wasser gezogen wurden. Nach kurzer Zeit tauchte die dunkle Mündung des Meeresarms vor ihnen auf. Dahinter dehnte sich eine dunkle, weite Wasserfläche. Wie Selma prophezeit hatte, war der Himmel teilweise bedeckt, und nur matter Mondschein wurde vom Wasser reflektiert. Zwei Meilen voraus, in fast nördlicher Richtung, war der dunkle Schatten der Insel Sazan zu erkennen.
Abrupt hörte Sam zu paddeln auf. Er reckte eine geballte Faust in die Luft. Stopp. Remi zog ihr Paddel aus dem Wasser, legte es quer über das Boot und wartete. Mit übertriebenen und langsamen Gesten deutete Sam erst auf sein Ohr, dann zur oberen Kante der Felswand rechts von ihm.
Zehn Sekunden verstrichen.
Dann hörte Remi es: das Brummen eines Motors, gefolgt vom leisen Quietschen von Bremsen.
Sam winkte Remi, deutete auf die Felswand, tauchte dann das Paddel wieder ins Wasser und schlug die angezeigte Richtung ein. Remi folgte ihm. Sam drehte sein Kajak parallel zur Felswand, dann wandte er sich um, legte eine Hand auf den Bug von Remis Boot und lenkte sie neben sich.
»Ranger?«, flüsterte Remi.
»Hoffen wir’s.«
Sie saßen still und schauten nach oben.
An der Felskante flammte ein Streichholz auf, dann erlosch es und wurde durch die Glut einer Zigarette ersetzt. In ihrem matten Schein erkannte Sam die militärische Form einer Mütze. Fünf Minuten lang saßen sie reglos in ihren Kajaks und verfolgten, wie der Mann seine Zigarettenpause beendete. Schließlich machte er kehrt und verschwand außer Sicht. Eine Wagentür wurde geöffnet, dann zugeschlagen. Der Motor sprang an, und der Wagen entfernte sich mit knirschenden Reifen auf der Schotterstraße.
Sam und Remi warteten weitere fünf Minuten – für den Fall, dass der Mann noch einmal zurückkam. Dann paddelten sie weiter.
Nachdem sie etwa vierhundert Meter weit in die Bucht vorgedrungen waren, erkannten sie, dass Selmas Angaben hinsichtlich der Gezeiten genauso präzise waren wie ihre Wettervorhersage. Während weder Sam noch Remi davon überrascht waren, wussten sie doch gleichzeitig, dass der Ozean ein launischer Geselle war. Selbst eine geringe, nur einen Knoten starke Ostströmung hätte eine Überquerung der Bucht ungemein erschwert und sie gezwungen, ständige Kurskorrekturen vorzunehmen, um die Abdrift auszugleichen. Nur eine kleine Unaufmerksamkeit, und sie würden ins Adriatische Meer gedrückt werden und befänden sich gegen ihren Willen auf dem Weg nach Griechenland.
Sie fanden schnell ihren Rhythmus, paddelten im gleichen Takt und näherten sich zügig ihrem Ziel Sazan. Auf halbem Weg hielten sie zu einer kurzen Pause an. Remi dirigierte ihr Kajak neben Sams, dann genossen sie für einige Minuten das sanfte Schaukeln ihrer Boote auf den Wellen.
»Patrouille«, sagte Remi plötzlich.
Im Nordosten schob sich ein großes Schnellboot, das sich aus Richtung der Ranger-Basis näherte, um die Landzunge der Insel herum. Es drehte sich weiter, bis sein Bug direkt auf Sam und Remi deutete. Die beiden Paddler rührten sich nicht, verfolgten aufmerksam das Geschehen und warteten. Obgleich sie nahezu perfekt getarnt waren, würden ihre Kajaks dem Lichtkegel eines Suchscheinwerfers in vierhundert Metern Entfernung nicht entgehen.
Auf dem Boot flammte ein Licht auf, riss die östliche Küstenlinie der Insel aus dem Dunkel, um dann wieder zu erlöschen. Das Patrouillenboot glitt langsam aber stetig auf sie zu.
»Nun kommt schon, Leute«, murmelte Sam. »Kehrt doch um und macht euch einen schönen Abend.«
Das Boot schwenkte nach Osten.
Remi sagte: »So ist es brav. Nur weiter so.«
Das Boot gehorchte. Sie beobachteten es noch ein paar Minuten, während sich seine Navigationslichter entfernten und schließlich mit der Lichtflut von Vlorë in der Ferne verschmolzen.
Sam sah seine Frau an. »Bereit?«
»Bereit.«
Für die restlichen anderthalb Kilometer brauchten sie etwa zwanzig Minuten. Da sie sich bereits mit Hilfe von Google Earth einen Überblick verschaffen konnten, hatte Sam ihren Landepunkt festgelegt.
Mit einer Länge von etwa viereinhalb Kilometern von Norden nach Süden und knapp anderthalb Kilometern an ihrer breitesten Stelle hatte Sazan, wie Sam meinte, die Form eines missgebildeten Guppys. Die Ranger-Station, am Ufer einer kleinen Bucht an der nordöstlichen Küste, befand sich auf dem Rücken des Guppys, während sie sich dessen Schwanz – an der äußersten südlichen Spitze der Insel, in der Nähe der Verteidigungsanlagen aus dem Zweiten Weltkrieg – als am besten geeignete Stelle ausgesucht hatten, um an Land zu gehen.
Abgesehen von schütterem Bodenbewuchs und gelegentlichen Ansammlungen von Zwergkiefern wurde das steinige Gelände von zwei hohen Hügeln in der Mitte der Insel beherrscht. Auf einem dieser Hügel hofften sie, das alte Kloster und, wenn Eartas Informationen zutrafen, auch die um ihre Ruhe gebrachten Toten des Friedhofs von Zvernec inklusive des Bischofs Besim Mala zu finden.
Für Sam und Remi war es völlig normal, geleitet von eher vagen Hinweisen weite Reisen und erhebliche Strapazen auf sich zu nehmen. Das war typisch für ein Leben als Schatzsucher, wie sie im Laufe der Jahre hatten lernen müssen.
Als sie sich dem Ufer näherten, wurde das Wasser unruhiger, und die Wellen schlugen schäumend gegen herausragende Steine und Muschelkalkformationen. Die Plastikkajaks wurden damit auf bewundernswerte Art und Weise fertig, prallten unversehrt von den Felsen ab, glitten über seichte Stellen hinweg, bis sich Sam und Remi aus eigener Kraft mit ihren Paddeln zum Land vorarbeiten konnten, wo sie aus ihren Booten kletterten und aufs Trockene wateten.
Sie suchten sich einen geeigneten Platz, wo sie eine kurze Rast einlegten, um zu Atem zu kommen und sich umzuschauen.
Der mit Steinen übersäte Strand war kaum breiter, als ihre Kajaks lang waren, und endete vor einer etwa anderthalb Meter hohen Felsstufe. Dahinter ragte ein Hügel auf, der stellenweise mit grünem Buschwerk bewachsen war. Auf halber Höhe war ein garagengroßes Gebäude in den Berghang hineingebaut worden.
»Ein Bunker«, flüsterte Sam.
Weiter oben erkannte man einen aus Stein gemauerten Unterstand – möglicherweise einen Ausguck – und noch höher hinauf, etwa einhundert Meter entfernt auf der Hügelkuppe, stand ein dreistöckiges, barackenähnliches Gebäude. Schwarze, glasscheibenlose Fensteröffnungen schauten auf die See hinaus.
Nach fünf Minuten aufmerksamen Beobachtens und Lauschens flüsterte Sam: »Niemand zu Hause. Ist dir was aufgefallen?«
»Nein.«
»Ich sehe keine Graffiti«, stellte Sam fest.
»Hat das etwas zu bedeuten?«
»Wenn ich Jugendlicher wäre und in Vlorë wohnte, könnte ich sicherlich kaum der Versuchung widerstehen, mich hierherzuschleichen. Zwar war es in meiner Zeit als Teenager nicht gerade mein Ding, aber ich kannte eine ganze Menge Typen, die hätten diesen Bunker von oben bis unten mit Farbe besprüht, nur um zu beweisen, dass sie hier gewesen sind.«
Remi nickte. »Demnach sind entweder albanische Jugendliche besonders gesetzestreu oder …«
»Niemand, der sich hierherschleicht, bleibt lange genug unbemerkt, um irgendwelchen Unfug zu treiben«, beendete Sam den Satz.