24
Sazan, Albanien
Sobald sie sich durch das Loch in der Wand gezwängt hatten, erkannten sie, dass die Aufgabe, die vor ihnen lag, wesentlich schwerer zu lösen war, als sie erwartet hatten. Anstatt in einen offenen Raum zu gelangen, fanden sie sich in einem Labyrinth wieder.
Auf beiden Seiten und vor ihnen waren zerfallende Holzsärge aufgestapelt, jeweils vier nebeneinander und acht aufeinander. Sie bildeten einen Korridor, der kaum schulterbreit war. Vom Licht ihrer Stirnlampen geleitet, gelangten sie zu einer T-Kreuzung am Ende des Korridors. Rechts und links stapelten sich weitere Särge.
»Zählst du mit?«, fragte Sam im Flüsterton.
»Bisher einhundertzweiundneunzig.«
»So groß ist der Friedhof in Zvernec gar nicht.«
»Sieht aus, als hätten sie sie Schulter an Schulter nebeneinander gepackt und aufgestapelt. Wir wissen, dass Mala im Jahr 1436 gestorben ist. Selbst wenn er der erste Tote war, der dort begraben wurde, haben wir es immerhin mit einer Zeitspanne von mehr als fünf Jahrhunderten zu tun.«
»Mir ist es gerade eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. Nach links oder nach rechts?«
Remi entschied sich für links. Sie gingen ein paar Schritte. Ein Stück vor ihm traf der Lichtstrahl von Sams Lampe auf eine äußere Ziegelmauer.
»Ein totes Ende«, stellte er fest.
»Sollte das ein Scherz sein?«
»Freudscher Versprecher.«
Sie machten kehrt, und diesmal ging Remi voraus, passierte die T-Kreuzung und bog in den anderen Gang ein. An seinem Ende knickte er nach rechts ab. Es folgten vierundsechzig weitere Särge, dann ein Knick nach links und noch mehr Särge. Dieses Muster setzte sich für weitere fünf Schwenks fort, bis die Anzahl der Särge sechshundert überstieg.
Am Ende gelangten sie in einen freien Raum. Auch hier waren die Särge jeweils achtfach bis zu den Streben der gewölbten Decke aufeinandergestapelt. Sam und Remi drehten sich im Kreis, so dass ihre Stirnlampen Wände aus weißem Kiefernholz erhellten.
»Sieh mal dort«, sagte Sam plötzlich.
An der westlichen Wand, hinter einem Wall aus moderndem Kiefernholz, begann eine Reihe steinerner Sarkophage. »Vierzehn«, zählte Remi. »Genauso viele wie Mausoleen auf dem Friedhof.«
»Da haben wir wenigstens ein bisschen Glück«, erwiderte Sam. Er zählte die Särge, die die Wand hinter den Steinsärgen bildeten. »Unglaublich«, murmelte er. »Remi, in diesem Gebäude liegen mehr als eintausend Leichname.«
»Earta muss sich geirrt haben. Nach dem Sturm und dem Hochwasser müssen sie sämtliche Toten abgeholt haben. Zvernec ist weniger ein Friedhof als ein Massengrab.«
»Man riecht aber gar nichts.«
»Laut Selma fand die letzte Beerdigung 1912 statt. Selbst wenn Einbalsamierungen stattgefunden haben, dürfte nicht mehr allzu viel Fleisch übrig sein.«
Sam lächelte und sang leise: »Dem bones … dem bones … dem dry bones.«
»Vergiss nicht, was dein eigentlicher Job ist. Halten wir mal Ausschau nach irgendwelchen Zeichen. Malas Grabmal war mit einem großen Doppelkreuz verziert. Vielleicht trifft das auch auf seinen Sarg zu.«
Eine kurze Überprüfung der Stirnseiten der Steinsärge verlief ergebnislos. Es gab keine weiteren Kreuze. Sam und Remi gingen an der Reihe entlang und benutzten ihre Stirnlampen, um auch jeweils die Oberseite jedes Sarkophags zu kontrollieren. Von vierzehn Särgen waren drei mit dem Symbol der östlich-orthodoxen Kirche versehen worden.
Sie setzten sich auf den Boden und betrachteten trübsinnig ihre Funde. Remi fragte: »Was meinst du, wie schwer ist jeder Sarg?«
»Vier-, fünfhundert Pfund.« Dann, nach einem Moment: »Aber der Deckel … das ist eine andere Geschichte. Brecheisen.«
»Wie bitte?«, fragte Remi lächelnd. Sie war an die abrupten Gedankensprünge ihres Mannes gewöhnt. Sie gehörten zu seiner Methode, Probleme zu lösen.
»Wir haben ein Brecheisen vergessen. Dieser Deckel wiegt höchstens einhundert Pfund, aber ihn an dieser Fuge aufzuhebeln, während der Sarg in dem Stapel eingeklemmt ist … Verdammt, ich wusste, dass ich dieses Wir-haben-was-Wichtiges-vergessen-Gefühl hatte.«
»Glücklicherweise hast du einen Plan.«
Er nickte. »Glücklicherweise habe ich einen Plan.«
Nachdem sie schon vor langer Zeit den universellen Wert von drei Dingen – Seil, Draht und Klebeband – zu schätzen gelernt hatten, gingen Sam und Remi nur selten ohne sie ins Rennen, auch wenn die jeweilige Aufgabe oder Reise ihren Einsatz auf den ersten Blick nicht erforderte. Diesmal, in der Eile, dem Einbruch der Dunkelheit zuvorzukommen, hatten sie neben dem Brecheisen einen Teil des Trios vergessen: Draht. Doch das knapp zwanzig Meter lange Kletterseil und das Klebeband würden ausreichen, hoffte Sam.
Sie brauchten nur ein paar Minuten lang auf den Querbalken der Kirche herumzuklettern, ehe sie fanden, was sie brauchten: ein loses Winkeleisen. Nachdem er es vollständig gelöst hatte, setzte Sam sein Körpergewicht ein, um es über dem Mittelpunkt des Seils wieder zu fixieren. Danach kroch er über den Sarkophag und bugsierte das Winkeleisen in die hintere Fuge unter dem Deckel. Dann, indem er das Seil wie ein Paar Zügel packte, zog er, bis das Winkeleisen unverrückbar fest an Ort und Stelle saß. Schließlich warfen er und Remi die Enden des Seils über einen Balken und spannten es mit ihrem gemeinsamen Körpergewicht, bis sich das hintere Ende des Deckels langsam hob.
»Ich hab’s«, sagte Remi mit zusammengebissenen Zähnen, während sie Sams Seilende ergriff. »Beeil dich.«
Sam eilte nach vorn, beugte sich über den Sargdeckel und schob die Finger unter sein vorderes Ende. Er lehnte sich zurück und streckte die Beine. Der Deckel ruckte hoch und kam zwischen seinen Beinen frei. Das Winkeleisen sprang mit einem metallischen Klirren aus der Fuge.
Zusammen gingen sie um den Deckel herum und lehnten sich vor, so dass ihre Stirnlampen den Inhalt des Sarkophags beleuchteten.
»Knochen, Knochen und immer mehr Knochen«, sagte Remi.
»Und nicht eine Spur von Gold in Sicht«, meinte Sam. »Einen haben wir geschafft, zwei liegen noch vor uns.«
Obgleich sich keiner von ihnen dazu äußerte, hatten Sam und Remi beide das sichere Gefühl, dass es eigentlich ganz gleich war, welchen Sarkophag sie als nächsten aussuchten – es wäre sowieso der falsche. Ebenso wenig hörten sie auf die bohrende Stimme des Zweifels in ihren Hinterköpfen, dass Pater/Bischof Besim Mala der Bitte des Königs von Mustang nicht entsprochen hatte und dass die zweite Theurang-Scheibe schon längst verloren gegangen war, zusammen mit dem Goldenen Mann und, falls Jack Karna recht hatte, auch mit der Information über die genaue Lage Shangri-Las.
Eine halbe Stunde und einen zweiten Sargdeckel später sahen sie einen zweiten Haufen Knochen vor sich und mussten den nächsten Misserfolg verdauen.
Anderthalb Stunden, nachdem sie die Kirche betreten hatten, schoben sie den Deckel des dritten und letzten Steinsargs zurück. Erschöpft sanken Sam und Remi auf den Boden und gönnten sich eine Minute, um zu Atem zu kommen.
»Bereit?«, fragte Sam.
»Eigentlich nicht, aber bringen wir es hinter uns«, erwiderte Remi.
Auf Händen und Knien krochen sie vorwärts, jeder auf einer Seite des Deckels. Nachdem sie tief Luft geholt hatten, beugten sie sich über den Rand und blickten in den Sarkophag.
Aus dem Dunkel leuchtete ihnen ein goldener Schimmer entgegen.