25
Sofia, Bulgarien
Kurz nach Tagesanbruch, erschöpft aber siegestrunken, waren sie wieder auf der Halbinsel und unterwegs zum Hotel in Vlorë.
Nachdem sie Selma schon vorher ihre Bedenken über den Versand der Theurang-Scheibe nach San Diego mit einem herkömmlichen Transportunternehmen mitgeteilt hatten, durften Sam und Remi feststellen, dass ihre leitende Rechercheurin, wie vorauszusehen war, andere Arrangements getroffen hatte. Rube Haywood, ihr alter Freund bei der CIA, hatte ihr Namen und Adresse eines zuverlässigen Kurierdienstes in Sofia genannt. Dazu, ob dieser Dienst in irgendeiner Weise mit seinem Arbeitgeber partnerschaftlich verbunden war, wollte Rube sich nicht äußern. Doch das Schild mit der Aufschrift »Sofia Academic Archivist Services Ltd« über dem Eingang des Gebäudes verriet Sam alles, was er wissen musste.
»Die Scheibe ist spätestens morgen Mittag Ortszeit in San Diego«, informierte Sam seine Frau. »Hast du irgendwelche Wegbeschreibungen für mich?«
Lächelnd hob Remi ihr iPad hoch. »Es ist eingeschaltet und startbereit.«
Sam legte den Gang ein und ließ den Fiat langsam losrollen.
Als sie nur noch eine halbe Meile von ihrem Ziel entfernt waren, wurde Remis iPad überflüssig. Schilder in kyrillischer wie auch in englischer Sprache leiteten sie die Vasili-Levski-Straße hinunter, dann am Parlamentsgebäude und an der Akademie der Wissenschaften vorbei bis zu dem Platz, auf dem Sofias religiöses Herz stand, die Alexander-Newski-Kathedrale.
Die im Kreuzkuppelstil erbaute Basilika mit ihrer fünfzig Meter hohen vergoldeten zentralen Kuppel und ihrem knapp zehn Meter höheren Glockenturm beherrschte den Platz.
Aus ihren heruntergeladenen touristischen Informationen las Remi vor: »Die Basilika hat zwölf Glocken mit einem Gesamtgewicht von vierundzwanzig Tonnen, deren Einzelgewicht von zwanzig Pfund bis vierundzwanzigtausend Pfund reicht.«
»Beeindruckend«, sagte Sam und folgte dem Strom der Fahrzeuge um die Kathedrale. »Und wahrscheinlich ohrenbetäubend, könnte ich mir vorstellen.«
Sie umrundeten den mit Bäumen gesäumten Platz zwei Mal, ehe Sam in eine Nebenstraße abbog und dort einen Parkplatz fand.
Die Alexander-Newski-Kathedrale wäre für sie, darüber waren sich beide im Klaren, lediglich so etwas wie eine Startrampe. Während Selma und Karna sich darin einig waren, dass Bischof Arnost Deniv im Jahr 1442 in Sofia gestorben war, hatte keiner der beiden irgendwelche Angaben über seine letzte Ruhestätte ermitteln können. Sie hofften, dass ihnen der Chefbibliothekar der Kathedrale zumindest zeigen könnte, wo sie suchen müssten.
Also stiegen sie aus, betraten den Platz und folgten dem dichten Strom Einheimischer und Touristen zur Westseite der Kathedrale, wo sich eine breite Treppe zu einer massiven hölzernen Flügeltür hinaufschwang. Während sie die letzten Stufen hochstiegen, wurden sie von einer hellblonden Frau mit Bubikopf-Frisur angelächelt. Sie sagte etwas auf Bulgarisch – der Betonung ihrer Worte nach zu urteilen war es eine Frage. Sie verstanden das Wort »Englisch«, folgerten, dass es um ihre Sprache ging, und antworteten: »Ja, Englisch.«
»Willkommen in der Alexander-Newski-Kathedrale. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte die junge Frau.
»Wir würden uns gerne mit dem Chef Ihrer Bibliothek unterhalten«, erwiderte Remi.
»Bibliothek?«, wiederholte die Frau. »Oh, Sie meinen den Archivar.«
»Ja.«
»Das tut mir leid, hier gibt es keinen Archivar.«
Sam und Remi warfen sich verwirrte Blicke zu. Remi holte ihr iPad hervor und zeigte der Frau die PDF-Datei, die Selma ihnen geschickt hatte und die aus einer kurzen Beschreibung der bulgarisch-orthodoxen Kirche bestand. Remi deutete auf den entsprechenden Absatz, und die Frau las ihn, wobei sich ihre Lippen stumm bewegten.
»Aha«, sagte sie und nickte. »Das ist eine alte Information, wissen Sie. Diese Person arbeitet jetzt im Palast der Synode.«
Die Frau deutete nach Südosten auf ein Gebäude, das inmitten eines kleinen Wäldchens stand. »Der ist dort. Gehen Sie dorthin, und man wird Ihnen helfen.«
»Und was ist die Synode?«, wollte Sam wissen.
Die Frau verfiel sofort in den typischen Fremdenführertonfall. »Die Synode ist der Sitz einer Reihe von Metropoliten oder Bischöfen, die ihrerseits Patriarchen und andere wichtige Amtsträger der bulgarisch-orthodoxen Kirche ernennen. Die Tradition der Synode reicht zurück bis in die Zeit der Apostel in Jerusalem.«
Damit lächelte die Frau und legte den Kopf leicht auf die Seite, als wollte sie fragen: Gibt es sonst noch etwas?
Sam und Remi bedankten sich, machten kehrt und gingen in Richtung Palast. Dort erklärten sie am Empfang den Grund ihres Besuchs – Recherchen für ein Buch über die östlich-orthodoxe Kirche – und wurden aufgefordert, Platz zu nehmen und sich ein wenig zu gedulden. Nach einer Stunde erschien ein Priester in schwarzer Soutane mit langem grau meliertem Bart und geleitete sie in sein Büro, wo sich sehr schnell herausstellte, dass er nur wenig Englisch sprach und Sam und Remi noch weniger Bulgarisch. Ein Dolmetscher wurde angefordert. Sie wiederholten ihre Geschichte und legten das Empfehlungsschreiben des Verlegers vor, das Wendy mit Hilfe des Photoshop-Programms für sie angefertigt hatte. Der Priester hörte aufmerksam zu, während der Dolmetscher den Brief übersetzte, dann lehnte er sich zurück und strich mindestens eine Minute lang immer wieder über seinen Bart, ehe er sich zu einem Kommentar bequemte.
»Ich fürchte, wir können Ihnen nicht helfen«, übersetzte der Dolmetscher. »Die Aufzeichnungen, die Sie suchen, werden nicht im Palast aufbewahrt. Die Person, mit der Sie in der Kathedrale gesprochen haben, muss sich geirrt haben.«
»Weiß er vielleicht, wo wir als Nächstes nachforschen könnten?«, fragte Sam.
Der Dolmetscher übersetzte die Frage für den Priester. Dieser verzog leicht den Mund, strich sich wieder über den Bart, dann griff er nach dem Telefon und unterhielt sich kurz mit jemandem. Nach einigem Hin und Her legte er auf.
Der Dolmetscher sagte zu Sam und Remi: »Persönliche Aufzeichnungen aus dieser Zeit befinden sich in der Sveta Sofia … entschuldigen Sie, in der Hagia Sofia.«
»Und wo finden wir die?«, fragte Remi.
»Östlich von hier«, antwortete der Dolmetscher. »Einhundert Meter weiter auf der anderen Seite dieses Platzes.«
Zehn Minuten später waren Sam und Remi dort. Sie mussten abermals warten, diesmal aber lediglich vierzig Minuten lang, ehe sie ins Büro eines anderen Priesters geführt wurden. Dieser beherrschte die englische Sprache recht gut, daher wurden ihre Fragen zügig und erschöpfend beantwortet: Nicht nur die Fremdenführerin in der Alexander-Newski-Kathedrale hatte sich geirrt, sondern auch der Priester im Palast der Synode.
»Dokumente aus der Zeit vor dem ersten bulgarischen Exarchen, Antim I., der bis zum Ausbruch des Russisch-türkischen Krieges von 1787 regierte, lagern im Methodius.«
Sam und Remi sahen einander ein wenig ratlos an, seufzten und fragten dann unisono: »Was genau ist der oder das Methodius?«
»Nun, die Nationalbibliothek Bulgariens.«
»Und wo finden wir die?«
»Östlich von hier, gegenüber der Nationalgalerie für ausländische Kunst.«
Zwei Stunden, nachdem sie aus ihrem Wagen ausgestiegen waren, standen sie wieder neben ihm und zugleich gegenüber dem Gebäude der bulgarischen Nationalbibliothek. Ohne es zu ahnen hatten sie nur zehn Schritte von ihrem eigentlichen Ziel entfernt geparkt.
Zumindest dachten sie es.
Diesmal, nach kaum zwanzig Minuten mit einer Bibliothekarin, erfuhren sie, dass im Methodius keinerlei Material über einen Metropoliten namens Arnost Deniv, der im frühen fünfzehnten Jahrhundert verstorben war, existierte.
Nachdem sie sich entschuldigt und verabschiedet hatte, ließ die Bibliothekarin sie an einem Lesetisch allein zurück.
»Unser Hütchenspiel mit den Särgen auf Sazan kommt mir mehr und mehr wie ein Spaziergang vor«, sagte Sam.
»Das kann nicht das Ende sein«, sagte Remi. »Wir wissen, dass Arnost Deniv tatsächlich gelebt hat. Warum gibt es keine Dokumente über ihn?«
Vom Tisch neben ihrem erklang eine angenehme, einschmeichelnde Bassstimme. »Die Antwort, meine Liebe, ist die, dass es in der Geschichte der bulgarisch-orthodoxen Kirche mehrere Arnost Denivs gab, von denen die meisten vor dem Russisch-türkischen Krieg gelebt und gewirkt hatten.«
Sam und Remi fuhren herum und sahen vor sich einen Mann mit silbergrauem Haar und fröhlich zwinkernden grünen Augen. Er lächelte sie offen und entwaffnend an. »Entschuldigen Sie, dass ich gelauscht habe.«
»Das ist nicht schlimm«, erwiderte Remi.
Der Mann sagte weiter: »Das Problem mit der Bibliothek ist, dass sie gerade dabei sind, alles zu digitalisieren. Sie haben den Katalog noch nicht mit Querverweisen versehen. Infolgedessen ziehen Sie eine Niete, wenn Ihre Anfrage nicht genau formuliert ist.«
»Wir sind für jeden Rat offen«, sagte Sam.
Der Mann winkte sie an seinen Tisch. Sobald sie saßen und er die Bücherstapel um seinen Platz neu arrangiert hatte, sagte er: »Zufälligerweise arbeite ich selbst ebenfalls an einer kleinen Geschichte.«
»Einer Geschichte der östlich-orthodoxen Kirche?«, fragte Remi.
Der Mann lächelte wissend. »Unter anderem. Mein Interesse ist … eklektisch, könnte man vielleicht sagen.«
»Interessant, dass sich unsere Wege ausgerechnet hier kreuzen«, meinte Sam und studierte die Miene des Mannes.
»Das Leben schreibt manchmal die besten Geschichten, denke ich. Heute Morgen, als ich gerade Recherchen über die Zeit anstellte, in der sich Bulgarien unter osmanischer Herrschaft befand, stieß ich auf den Namen Arnost Deniv – ein Metropolit aus dem fünfzehnten Jahrhundert.«
Remi erwiderte: »Aber die Bibliothekarin sagte doch, es gebe keinen …«
»Sie sagte, sie besäßen keine Aufzeichnung über einen Metropoliten dieses Namens, der in dieser Zeit gestorben ist. Das Buch, in dem ich ihn gefunden habe, wurde eben noch nicht digitalisiert. Sehen Sie, als das Osmanische Reich – das streng muslimisch ausgerichtet war – seine Herrschaft auf Bulgarien ausdehnte, wurden Tausende Geistliche getötet. Oft sind diejenigen, die diese Zeit der Verfolgung überlebt hatten, aus ihren Ämtern entfernt oder verbannt worden. Oder beides. Das war auch bei Arnost Deniv der Fall. Er war ziemlich einflussreich, und das bereitete den Osmanen große Sorgen. Im Jahr 1422, nachdem er von seiner missionarischen Arbeit im Osten zurückgekehrt war, wurde er in den Stand eines Metropoliten erhoben, dann jedoch vier Jahre später degradiert und verbannt. Unter Androhung der Todesstrafe wurde ihm von den Osmanen befohlen, seine seelsorgerischen Aktivitäten auf das Dorf zu beschränken, in dem er zwei Jahre später starb.«
»Und lassen Sie mich raten«, sagte Sam. »Die Osmanen scheuten keine Mühe, sämtliche historischen Zeugnisse der östlich-orthodoxen Kirche aus dieser Zeit zu vernichten.«
»Richtig«, sagte der Mann. »Wie aus zahlreichen historischen Texten aus dieser Zeit hervorgeht, war Arnost Deniv niemals mehr als ein einfacher Priester in einem winzigen Dorf.«
»Können Sie uns denn verraten, wo er begraben liegt?«, fragte Remi.
»Ich kann Ihnen nicht nur das verraten, sondern ich kann Ihnen auch zeigen, wo seine sämtlichen Besitztümer öffentlich ausgestellt werden und jederzeit und für jedermann zu besichtigen sind.«