26

Sofia, Bulgarien

Die Anweisungen ihres Helfers und Wohltäters waren recht simpel: Fahren Sie zehn Meilen nach Norden zur Stadt Kutina am Rand des Stara-Planina-Gebirges. Suchen Sie das Museum für Kulturgeschichte und fragen Sie nach den Deniv-Exponaten.

Kurz nach ein Uhr mittags erreichten sie Kutina und kehrten zu einem schnellen Imbiss in ein Café ein. Mit Hilfe einiger mühsam zusammengesuchter Worte und Redewendungen erhielten Sam und Remi eine Wegbeschreibung zum Museum.

»Übrigens«, sagte Sam, während er die Fahrertür des Fiat öffnete, »hast du eigentlich den Namen dieses Mannes behalten? Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern.«

Remi, die ihre Tür halb geöffnet hatte, hielt inne. Sie runzelte die Stirn. »Das ist seltsam … ich auch nicht. Ich glaube, es war irgendetwas mit einem C am Anfang.«

Sam nickte. »Ja, aber war es sein Vor-oder sein Nachname? Oder sogar beides?«

Nachdem sie mehr als ihren gerechten Anteil an östlich-orthodoxen Kirchengebäuden hatten besichtigen dürfen, stellten Sam und Remi zu ihrer Erleichterung fest, dass sich das Museum in einem alten, buttergelb gestrichenen Bauernhaus am Ufer des Iskar befand. Auf beiden Seiten des Gebäudes erstreckten sich üppige grüne Pferdeweiden.

Sie parkten auf der mit Schotter bestreuten Wendeschleife des Museums, stiegen aus und dann die Stufen zur Vorderveranda hinauf. Im Fenster der Eingangstür hing ein unverwechselbares Bin gleich zurück—Schild mit verstellbaren Uhrzeigern, allerdings in kyrillischer Schrift. Die Zeiger deuteten auf zwei Uhr dreißig.

»Zwanzig Minuten«, sagte Sam.

Sie machten es sich in der Hollywoodschaukel gemütlich, schwangen vor und zurück, unterhielten sich und warteten. Leichter Regen setzte ein und trommelte leise auf das Hausdach.

Remi fragte: »Warum haben wir nicht so ein Ding? Man kann sich wunderbar darin entspannen.«

»Wir haben so etwas«, erwiderte Sam. »Ich hab es dir zum Tag des Baums vor vier Jahren gekauft.« Sam liebte es, seine Frau an besonders seltsamen Feiertagen mit Geschenken zu überraschen. »Ich hatte nur noch nicht die Zeit, die Schaukel zusammenzubauen. Aber – ich schiebe sie an die Spitze meiner Projektliste.«

Remi schmiegte sich an seine Schulter. »Oh, stimmt ja. Tag des Baums? Weißt du das genau? War es nicht der Murmeltiertag?«

»Nein, am Murmeltiertag sind wir in Ankara gewesen.«

»Bist du sicher? Ich hätte schwören können, dass Ankara im März war …«

 

Um 14:28 Uhr rollte ein alter grüner Bulgaralpine auf die Wendeschleife und kam auf einem Rasenstreifen zum Stehen. Eine schlaksige Frau mit Omabrille und einer Baskenmütze auf dem Kopf stieg aus, entdeckte sie auf der Veranda und winkte. »Sdrawei!« rief sie.

»Sdrawei!«, antworteten Sam und Remi im Chor. »Hallo!« und »Sprechen Sie Englisch?« waren zwei Redewendungen, die sie immer sofort auswendig zu lernen versuchten, sobald sie ein fremdes Land besuchten.

Sam benutzte nun die zweite Redewendung, während die Frau die Eingangstreppe heraufkam. Sie erwiderte: »Ja, ich spreche Englisch. Meine Schwester, sie lebt in Amerika – in Dearborn, Michigan, Amerika. Sie bringt es mir per Internet bei. Ich bin Sovka.«

Sam und Remi stellten sich vor.

Sovka fragte: »Wollen Sie sich das Museum ansehen?«

»Ja«, sagte Remi.

»Gut. Dann folgen Sie mir bitte.« Sovka schloss die Tür auf und ging ins Haus. Sam und Remi blieben dicht hinter ihr. Im Haus roch es nach altem Holz und gekochtem Kohl. Die Wände waren im gleichen Farbton gestrichen wie das Äußere des Hauses: ein blasses Buttergelb. Nachdem sie ihren Mantel in einen Schrank im Vorraum gehängt hatte, ging die Frau voraus in ein kleines Büro.

»Was führt Sie zu diesem Museum?«, wollte sie wissen.

Sam und Remi hatten während der Fahrt nach Kutina überlegt, wie sie auftreten sollten, und sich für Direktheit und Offenheit entschieden. »Wir interessieren uns für Pater Arnost Deniv. Jemand in der Bulgarischen Nationalbibliothek in Sofia meinte, Sie besäßen möglicherweise Artefakte, die ihm zuzuordnen sind.«

Sovka bekam große Augen. »Im Methodius? Man kennt im Methodius unser Museum? In Sofia?«

Remi nickte. »Das tun sie.«

»Oh, das werde ich sofort in unser Nachrichten-Flugblatt übernehmen, das in Kürze erscheinen wird. Was für ein stolzer Moment für uns. Um Ihre Frage zu beantworten: Nein, Sie irren sich. Wir besitzen nicht einige von Pater Denivs Besitztümern. Wir haben alles hier, was ihm einmal gehörte. Darf ich fragen, weshalb Sie sich für ihn interessieren?« Sam und Remi erläuterten daraufhin ihr Buchprojekt, und Sovka nickte ernst. »Eine düstere Zeit für die Kirche. Gut, dass Sie darüber schreiben. Kommen Sie.«

Sie folgten Sovka aus dem Büro, durch den Korridor und schließlich über eine Treppe hinauf in den zweiten Stock. Hier waren die Trennwände entfernt worden, um aus einzelnen Zimmern einen einzigen großen Raum zu schaffen. Sovka ging zur südöstlichen Seite des Hauses voraus, wo einige Glasvitrinen und Wandteppiche eine eigene Nische bildeten. Deckenlampen beleuchteten die Schaukästen.

Remi entdeckte es zuerst, einen Moment später dann auch Sam. »Siehst du …«

»Ja, ich sehe es«, sagte er.

Sovka blickte über seine Schulter. »Was ist?«

»Nichts«, entgegnete Remi.

Selbst aus drei Metern Entfernung schien ihnen der gekrümmte goldene Rand aus der Vitrine dicht vor der Wand regelrecht entgegenzuspringen. Mit heftigem Herzklopfen betraten Sam und Remi die Nische. Dort, auf dem obersten Brett eines Regals, auf eine zusammengefaltete pechschwarze Priestersoutane mit orangefarbenen Säumen gebettet, lag die Theurang-Scheibe.

 

Feierlich breitete Sovka die Arme aus und sagte: »Willkommen in der Deniv-Sammlung. Alles, was sich zum Zeitpunkt seines Todes in seinem Besitz befunden hat, ist hier zu sehen.«

Sam und Remi rissen ihre Blicke von der Scheibe los und schauten sich um. Insgesamt waren da ungefähr zwanzig Objekte, das meiste davon Kleidung, Toilettenutensilien, Schreibgeräte und ein paar Briefe in den Schaukästen.

»Was ist das dort?«, fragte Remi so beiläufig wie möglich.

Sovka betrachtete die Theurang-Scheibe. »Wir sind uns nicht ganz sicher. Wir glauben, dass es eine Art Andenken an eine seiner missionarischen Reisen in heidnische Länder sein könnte.«

»Es ist faszinierend«, sagte Sam und beugte sich leicht vor. »Wir schauen uns ein wenig um, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Natürlich nicht. Ich bin hier drüben, falls Sie Hilfe brauchen.«

Sovka entfernte sich zwar, blieb jedoch stets in Sichtweite.

»Das verkompliziert die ganze Angelegenheit«, sagte Remi im Flüsterton zu Sam.

Besim Mala um seine Theurang-Scheibe zu erleichtern, war nicht mehr als eine einfache Entscheidung gewesen. Hier jedoch war Arnost Denivs Scheibe ein anerkanntes und verehrtes historisches Objekt. Außerhalb der Öffnungszeiten in das Museum einzubrechen, wäre sicherlich sehr einfach, aber weder Sam noch Remi hatten bei dieser Option ein gutes Gefühl.

»Fragen wir unsere Experten um Rat«, schlug Remi vor.

Sie sagten Sovka Bescheid, sie kämen in Kürze zurück, dann traten sie auf die Veranda hinaus, wählten Selmas Nummer und baten sie, eine Konferenzschaltung mit Jack Karna herzustellen. Danach warteten sie zwei Minuten lang und hörten eine Folge von Klick-und Schnalzlauten, während Selma die nötigen Schritte ausführte. Sobald sich Karna empfangsbereit meldete, erklärte Sam ihre aktuelle Situation.

Remi fragte danach: »Jack, was genau brauchen Sie von den Scheiben, um sie mit der Wandkarte in Einklang zu bringen? Ist es jeweils die Scheibe selbst oder sind es nur die Zeichen darauf?«

»Beides, vermute ich. Besteht die Möglichkeit, dass Sie sich die Scheibe ausleihen können?«

»Das ist zu bezweifeln«, erwiderte Sam. »Sie ist der Stolz des Museums. Und ich befürchte, dass die Frau misstrauisch wird, wenn wir zu auffällig danach fragen. Im Augenblick ist sie noch hilfsbereit und in jeder Hinsicht entgegenkommend. Daran sollte sich nach Möglichkeit nichts ändern.«

Selma fragte: »Wie ähnlich sind sich die Scheiben in Größe und Form, Jack?«

»Auf Grund meiner Untersuchungen würde ich sagen, dass sie nahezu identisch sind. Sie wissen es genau, wenn Sie die Scheibe, die Sam und Remi Ihnen soeben geschickt haben, mit der vergleichen, die aus der Truhe stammt.«

Remi fragte: »Selma, was denken Sie?«

»Es ist noch zu früh, um etwas Endgültiges zu sagen, Mrs Fargo, aber wenn Sie ein wenig Geduld haben …« Es klickte, und die Verbindung verstummte. Zuverlässig wie eh und je meldete sich Selma nach drei Minuten zurück. »Ich kann eine Scheibe herstellen«, erklärte sie ohne weitere Einleitung. »Nun, nicht ich, aber der Freund eines Freundes könnte eine exakte Kopie anfertigen. Wenn wir ihm die ausreichende Anzahl und die richtige Art von Bildern liefern, kann er die fehlende Scheibe modellieren.«

»Ich nehme an, Sie haben bereits eine Liste mit den entsprechenden Spezifikationen?«, fragte Jack.

»Ist schon zu Ihnen unterwegs.«

 

Nachdem sie Sovkas Erlaubnis eingeholt hatten, die Deniv-Sammlung gegen eine kleine Spende für den Fonds zur dringend notwendigen Erneuerung des Museumsdachs zu fotografieren, fuhren Sam und Remi nach Sofia zurück, wo sie, geleitet von Selmas Wegbeschreibung und ihrer Einkaufsliste, alles besorgten, was sie brauchten: zwei Dreieckslineale in Profi-Qualität, einen kleinen Drehtisch, einen schwarzen, drei Zentimeter hohen Sockel, auf dem die Scheibe liegen konnte, sowie Lampen und ein Stativ für Remis Kamera.

Um sechzehn Uhr waren sie wieder nach Kutina zurückgekehrt, und eine halbe Stunde später begannen sie mit dem Fotografieren. Darauf bedacht, jedem Artefakt der Sammlung die angemessene Aufmerksamkeit zu schenken, damit Sovkas Interesse nicht über Gebühr geweckt wurde, fotografierten sie alle Exponate und sparten sich die Theurang-Scheibe bis zuletzt auf. Nach einiger Zeit vom gleichförmigen Ablauf der Fotosession gelangweilt, war Sovka schon bald nach unten gegangen und in ihrem Büro verschwunden.

»Das Ganze wäre um vieles einfacher, wenn wir skrupellos wären«, stellte Sam fest.

»Betrachte es als gutes Karma. Außerdem möchte ich nicht wissen, welche Strafen in Bulgarien für den Diebstahl historischer Objekte verhängt werden.«

»Beides durchaus gewichtige Argumente.«

Nachdem der Lichtkasten aufgebaut und der weiße Leinenhintergrund aufgespannt worden war, arrangierte Sam die Lampen entsprechend Selmas Instruktionen. Danach stellte Remi den Präsentationssockel auf den Drehteller und legte die Scheibe auf den Sockel. Schließlich wurden die Lineale in L-Form um die Scheibe ausgerichtet.

Nachdem sie eine Reihe Testfotos geschossen und einige Einstellungen der Kamera verändert hatte, begann Remi mit der eigentlichen Fotoserie: fünf Bilder für jede Drehung des Tellers um jeweils acht Grad. Bei insgesamt fünfundvierzig Drehungen ergab das am Ende eine Gesamtmenge von zweihundertfünfundzwanzig Bildern. Diesen Prozess wiederholten sie für die andere Seite der Scheibe, dann fertigten sie eine weitere Serie an, bei der die Scheibe senkrecht auf dem Sockel stand. Zuletzt folgte eine Serie von Nahaufnahmen der Vorder-und Rückseite der Scheibe, wobei den Symbolen besondere Beachtung geschenkt wurde.

»Achthundert Bilder«, sagte Remi und richtete sich von dem Stativ auf.

»Wie groß ist die Datei?«

Remi warf einen Blick auf das LCD-Display ihrer Kamera. »Donnerwetter. Acht Gigabyte. Viel zu umfangreich, um als standardmäßige E-Mail versandt zu werden.«

»Ich glaube, ich weiß, wie wir dieses Problem umgehen können«, erwiderte Sam. »Packen wir erst mal alles zusammen und sehen wir zu, dass wir das Feld räumen.«

Nach einem kurzen Anruf bei Selma, die wiederum Kontakt mit Rube aufnahm, der seinerseits einen Freund bei der Sofia Academic Archivist Services Ltd. anrief, fanden Sam und Remi das Büro geöffnet vor, als sie gegen halb sieben Uhr abends in Sofia eintrafen. Wie bei seinem ersten Besuch wurde Sam gebeten, sich auszuweisen und ein Kodewort zu nennen – und zwar ein anderes als beim ersten Mal –, ehe er in ein angrenzendes Büro mit Computerterminal geführt wurde. Die Hochgeschwindigkeits-Internet-Verbindung des Büros machte mit den Bilddateien kurzen Prozess und lud sie in weniger als drei Minuten in Selmas Online-Speicher. Sam wartete auf die Bestätigung für die erfolgreiche Übertragung, dann kehrte er zu Remi zurück, die am Fiat gewartet hatte.

»Wohin jetzt?«, fragte sie.

Sam zögerte, runzelte die Stirn. Sie waren seit ihrer Ankunft in Kathmandu so schnell unterwegs gewesen, dass sie noch keine Chance gehabt hatten, über diese Frage nachzudenken.

Sam sagte: »Ich bin dafür, dass wir nach Hause zurückkehren und uns neu formieren.«

»Einverstanden.«

Das Geheimnis von Shangri La
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