29

Jomsom, Nepal

Mit den Rucksäcken auf den Schultern ließen sie den Land Cruiser hinter sich und folgten Pushpa an der Mauer entlang, zuerst nach Süden, dann nach Osten um das Dorf herum zu den Ameisenhügelfelsen.

»Ich komme mir plötzlich winzig klein vor«, sagte Remi über die Schulter zu Sam.

»Ich mir auch.«

Als sie die Felswände zum ersten Mal sahen, hatten sowohl die Entfernung als auch die phantastischen geologischen Formationen dafür gesorgt, dass sie ihnen weniger real vorkamen – als wären sie lediglich die künstliche Kulisse für einen Science-Fiction-Film. Doch nun, da Sam und Remi im Schatten der Ameisenhügel standen, waren sie im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend.

Pushpa, der die kleine Gruppe anführte, war stehengeblieben und wartete geduldig, bis Sam und Remi den Anblick ausreichend lange bewundert und die obligatorischen Fotos geschossen hatten, ehe er weiterging. Zehn Minuten Fußmarsch brachten sie schließlich zu einem Felsspalt, der kaum größer war als Sam. Nacheinander schlüpften sie durch die Öffnung und gelangten auf einen tunnelähnlichen Fußweg. Über ihren Köpfen neigten sich die glatten rostroten Felswände aufeinander zu, berührten sich beinahe und ließen nur einen winzigen Streifen blauen Himmels erkennen.

Weiter nach Osten führend verlief der Weg in Zickzackkehren und Serpentinen, bis Sam und Remi jedes Gefühl dafür verloren, welche Distanz sie zurückgelegt hatten. Pushpa ließ sie mit einem knappen Befehl, der wie das Bellen eines Hundes klang, anhalten. Ajay, der am Ende ihrer kleinen Gruppe ging, sagte: »Jetzt müssen wir klettern.«

»Aber wie?«, fragte Remi. »Ich sehe keine Handgriffe. Und wir haben keine entsprechende Ausrüstung bei uns.«

»Pushpa und seine Freunde haben einen Weg vorbereitet. Der Sandstein hier ist viel zu brüchig. Normale Felshaken und Steinschrauben würden zu viel Schaden anrichten.«

Sie konnten sehen, wie sich Pushpa und Karna vorne unterhielten. Dann verschwand Pushpa in einer Nische auf der linken Seite der Felswand, und Karna kam auf dem Pfad zu Sam und Remi zurück.

»Pushpa geht als Erster«, erklärte er, »gefolgt von Ajay. Dann Sie, Remi, gefolgt von Ihnen, Sam. Ich bilde den Schluss. Die Fußtritte sehen nicht sehr vertrauenerweckend aus, aber ich kann Ihnen versichern, dass sie äußerst stabil und solide sind. Gehen Sie nur langsam.«

Sam und Remi nickten, und dann wechselten Karna und Ajay die Positionen.

Ajay übernahm die Spitze der Gruppe und beugte sich mit hochgerecktem Kopf für einige Minuten zurück, ehe er ebenfalls in die Nische trat und nicht mehr zu sehen war. Sam und Remi gingen ein Stück vorwärts und blickten nach oben.

»Du liebe Güte«, murmelte Remi.

»Du sagst es«, gab Sam ihr recht.

Die Stufen, die Karna erwähnt hatte, waren in Wirklichkeit Holzpflöcke, die in den Kalkstein geschlagen worden waren und eine Reihe unterschiedlich weit voneinander entfernter Fußtritte und Handgriffe bildeten. Diese Leiter stieg in einem kaminähnlichen Spalt etwa fünfunddreißig Meter hoch, ehe sie zur Seite wegschwang und hinter einer überhängenden Felswand verschwand.

Sie verfolgten, wie Ajay auf den Sprossen emporturnte, bis sie ihn nicht mehr sehen konnten. Remi zögerte nur einen kurzen Moment, dann wandte sie sich zu Sam um, küsste ihn auf die Wange und meinte betont fröhlich: »Wir sehen uns dann oben.«

Damit setzte sie einen Fuß auf die erste Sprosse und begann mit dem Aufstieg.

Als sie die Hälfte der Kletterstrecke hinter sich hatte, sagte Karna über Sams Schulter: »Sie ist das reinste Energiebündel.«

Sam lächelte. »Wem sagen Sie das, Jack?«

»Fast genauso wie Selma, oder?«

»Das stimmt. Selma ist … einzigartig.«

Sobald Remi die Felsschulter hinter sich hatte, startete Sam. Er spürte sofort die Festigkeit der Sprossen, und nachdem er sich den Rucksack zurechtgeschoben hatte, damit sich sein Gewicht gleichmäßig auf seinen Schultern verteilte, fand er einen stetigen und gleichförmigen Bewegungsrhythmus. Schon bald rückten die Wände des Felskamins auf ihn zu. Das wenige Sonnenlicht, das bis auf den schmalen Weg tief unter ihm drang, verdunkelte sich zu einem Halbdämmer. Sam erreichte die überhängende Wand und hielt inne, um einen Blick um sie herum zu werfen. Etwa sieben Meter entfernt, über ihm und ein wenig nach links versetzt, endeten die Sprossen an einem horizontal an der Felswand auf Holzpflöcken befestigten Brett. Am Ende der Laufplanke schob sich eine zweite um einen weiteren Überhang herum. Remi stand an der Verbindungsstelle der beiden Stege, winkte ihm und gab ihm mit dem Daumen das Okayzeichen.

Als Sam die Planke erreichte, war sie gar nicht so schmal, wie sie von unten erschienen war. Er schwang sich auf die Plattform, fand sicheren Tritt und schritt über die Planke und weiter um die Ecke. Vier weitere Laufplanken brachten ihn zu einem Felsvorsprung und einer Höhle mit ovalem Grundriss. Dort traf er auf Pushpa, Ajay und Remi, die um einen Jetboil-Biwakherd herumsaßen. Eine kleine Teekanne stand darauf.

Das Wasser hatte soeben zu sieden begonnen, als Karna im Höhleneingang erschien. Er setzte sich. »Oh, gut, Tee!«

Wortlos holte Pushpa fünf Emailtassen aus seinem Rucksack, verteilte sie und schenkte dann den Tee aus. Die Gruppe drängte sich zusammen, trank das heiße Gebräu und genoss die Stille. Draußen pfiff gelegentlich eine Windböe am Einlass vorbei.

Sobald jeder seine Teepause beendet hatte, sammelte Pushpa die Tassen wieder ein und verstaute sie in seinem Rucksack. Sie setzten ihren Weg fort, diesmal mit eingeschalteten Stirnlampen. Pushpa führte wieder, während Ajay am Ende ging.

Der Tunnel wand sich erst nach links, dann nach rechts und endete plötzlich vor einer senkrechten Wand. Genau geradeaus vor ihnen war ein brusthoher Durchgang in den Kalkstein gemeißelt worden. Pushpa wandte sich um und sprach ein paar Sekunden lang mit Karna, dann wandte sich Karna an Sam und Remi.

»Pushpa weiß, dass Sie keine Buddhisten sind und dass Ihre Arbeit hier ein wenig schwierig und kompliziert ist, daher erwartet er nicht, dass Sie sämtliche buddhistischen Rituale ausführen. Er bittet Sie nur, wenn Sie die Hauptkammer betreten, sie einmal im Uhrzeigersinn zu umrunden. Danach können Sie sich darin bewegen, wie Sie wollen. Haben Sie das verstanden?«

Sam und Remi nickten.

Pushpa schob sich geduckt durch die Öffnung und trat nach links, gefolgt von Remi, Sam und Ajay. Sie standen in einem Korridor. Auf den Wänden vor ihnen waren verblasste rot-gelbe Symbole aufgemalt, die Sam und Remi fremd waren, sowie hunderte Zeilen Text in einem, wie sie annahmen, besonderen Lowa-Dialekt.

Im Flüsterton erklärte ihnen Karna: »Dies ist eine Art Begrüßung und im Grunde eine historische Einführung in das Höhlensystem. Es hat nichts mit dem Theurang oder Shangri-La zu tun.«

»Ist dies alles hier natürlich gewachsen, oder wurde es von Menschenhand gestaltet?«, fragte Remi und deutete auf die Seitenwände und die Decke.

»Von beidem etwas. Als diese Höhlen geschaffen wurden – vor etwa neunhundert Jahren –, glaubten die Loba in dieser Region, dass sich heilige Höhlen im Zustand ihres Entstehens zu erkennen geben. Sobald diese Höhlen gefunden wurden, konnten die Loba sie ihren spirituellen Vorschriften entsprechend weiter ausbauen.«

Indem sie Pushpa folgte, bewegte sich die Gruppe durch den Tunnel und hielt sich dabei gebückt, bis sie zu einem weiteren künstlich geschaffenen Durchlass gelangten, der jedoch einige Zentimeter größer war als Sam.

Über die Schulter teilte ihnen Karna lächelnd mit: »Wir sind da.«

 

Auf den ersten Blick erschien die Hauptkammer wie eine vollendete Kuppel, zehn Schritte im Durchmesser und knapp drei Meter hoch, mit einer Decke, deren höchster Punkt eine runde Spitze darstellte. Die Wand, die sich dem Eingang gegenüber befand, war mit einem Gemälde bedeckt, das um die gesamte Kammer herumverlief und vom Boden bis in die Kuppel reichte. Im Gegensatz zu der Wandbemalung im Tunnel waren hier leuchtende Rot-und Gelbschattierungen zu sehen. Der Kontrast zu den mokkafarbenen Wänden war frappierend.

»Es ist wundervoll«, sagte Sam.

Remi nickte, während sie das Wandgemälde eingehend betrachtete. »Diese Details … Jack, warum ist die Farbe hier so anders, so kräftig?«

»Pushpa und seine Leute haben hier einiges restauriert. Die Zusammensetzung der Farbstoffe, die sie benutzen, ist ein streng gehütetes Geheimnis. Sie wollen es noch nicht einmal mir verraten, aber Pushpa versichert mir, dass es das gleiche Rezept ist, das auch vor neunhundert Jahren benutzt wurde.«

Pushpa, der in einer Nische der Kammer stand, winkte ihnen. Karna sagte zu Sam und Remi: »Kommen Sie, wir müssen unseren Rundgang machen. Nicht reden. Den Kopf gesenkt halten.«

Karna führte sie im Uhrzeigersinn um die Kammer herum und blieb erneut am Eingang stehen. Pushpa nickte ihnen zu und lächelte, dann kniete er sich neben seinen Rucksack. Er holte zwei Kerosinlaternen heraus und hängte sie an je einen Haken in den Seitenwänden. Nicht lange, und die Kammer wurde mit einem warmen gelben Lichtschein erfüllt.

»Wie können wir helfen?«, fragte Remi.

»Ich brauche die Scheiben und ein wenig Ruhe. Den Rest muss ich allein tun.«

Sam holte die Lexan-Tasche, in der sich die Theurang-Scheiben befanden, aus seinem Rucksack und reichte sie Karna. Bewaffnet mit den Scheiben, einer Schnurrolle, einem Bandmaß, einem Parallel-Lineal, einem Stechzirkel und einem Kompass ging Karna zu dem Wandgemälde. Pushpa kam mit einem roh behauenen Holzhocker eilig herbei und stellte ihn neben Karna auf den Boden.

Sam, Remi und Ajay nahmen ihre Rucksäcke ab, setzten sich auf den Boden und lehnten sich mit dem Rücken an die Wand neben dem Eingang.

 

Fast eine Stunde lang arbeitete Karna ohne Pause, vermaß stumm Symbole auf der Wand und machte Eintragungen in seinem Notizbuch. Gelegentlich trat er zurück, betrachtete die Wand, murmelte etwas vor sich hin und ging dabei mehrmals vor und zurück.

Schließlich sagte er etwas zu Pushpa, der mit gefalteten Händen ein Stück entfernt gewartet hatte. Pushpa und Karna knieten sich hin, öffneten die Lexantasche und untersuchten die Theurang-Scheiben. Dabei setzten sie sie auf verschiedene Art mit Hilfe der eingekerbten Außenränder zusammen, bis sie eine offensichtlich zufrieden stellende Anordnung gefunden hatten.

Als Nächstes legten Pushpa und Karna die Scheiben auf bestimmte Symbole, überprüften mit Hilfe des Maßbands Abstände und unterhielten sich halblaut miteinander.

Schließlich trat Karna zurück, stützte die Hände auf die Hüften und ließ den Blick noch einmal über das Wandgemälde schweifen. Dann wandte er sich zu Sam und Remi um.

»Selma hat mir erzählt, dass Sie eine Vorliebe für Gute-Nachricht-Schlechte-Nachricht-Szenarien haben.«

Sam und Remi lächelten einander an. Sam erwiderte: »Da hat sich Selma wohl einen kleinen Scherz mit Ihnen erlaubt. Sie ist es, die daran Gefallen findet; wir nicht so sehr.«

»Aber sprechen Sie weiter, Jack«, bat Remi.

»Die gute Nachricht ist, dass wir nicht länger suchen müssen. Meine Vermutung war richtig. Dies ist die Höhle, die wir aufsuchen mussten.«

»Großartig«, sagte Sam. »Und …?«

»Eigentlich sind es zwei gute Nachrichten und eine schlechte. Die zweite gute Nachricht ist, dass wir nun eine Beschreibung Shangri-Las haben – oder zumindest einige deutliche Zeichen, dass wir nicht mehr weit entfernt davon sind.«

»Und jetzt die schlechte Nachricht«, bat Remi gespannt.

»Die schlechte Nachricht ist, dass die Karte nur den Weg zeigt, den Sentinel Dhakal mit dem Theurang hätte nehmen sollen. Wie ich schon vermutet hatte, führt er nach Osten durch den Himalaya. Aber alles in allem gibt es siebenundzwanzig Punkte, die den Weg markieren.«

»Übersetzen Sie das, bitte«, sagte Sam.

»Shangri-La könnte sich an jedem der siebenundzwanzig Orte zwischen dieser Stelle hier und Myanmar im Osten befinden.«

Das Geheimnis von Shangri La
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