30

Kathmandu, Nepal

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie es sich nicht doch noch anders überlegen werden, Jack?«, fragte Remi. Hinter ihr stand auf der unbefestigten Rollbahn ein blau-weißer Bell-206-Long-Ranger-III-Helikopter, dessen Motor aufheulte, als die Rotoren auf Startdrehzahl beschleunigten.

»Ja, meine Liebe, ich bin mir ganz sicher. Es tut mir leid. Und ich entschuldige mich außerdem, Sie im Stich zu lassen. Aber ich hasse nun mal sämtliche Flugapparate. Als ich das letzte Mal nach England flog, brachte ich das nur dank starker Beruhigungsmittel fertig.«

Nachdem sie am Vortag das Höhlensystem hinter sich gelassen hatten, waren sie nach Lo Monthang zurückgekehrt, um sich über den nächsten Schritt zu beraten. Eigentlich gab es nur eine einzige Option: dem Weg Dhakals, des Sentinel, quer durch Nepal zu folgen und die Punkte zu überprüfen, die Karna von der Wandkarte kopiert hatte.

Die Höhenlage und die Abgelegenheit der Zielpunkte gestattete ihnen nur eine einzige Transportart – einen Hubschrauber-Charterservice –, die sie wieder zurück nach Kathmandu und damit in die Höhle des Löwen brächte. Mit ein wenig Glück würden Sam und Remi innerhalb weniger Tage finden, was sie suchten, ehe King von ihren weiteren Aktivitäten erführe.

»Und wenn die Kings unsere Spur verfolgen?«, fragte Sam.

»Du liebe Güte, hab ich es Ihnen nicht erzählt? Ajay war früher in der indischen Armee, außerdem ist er ein Gurkha. Ein ziemlich harter Bursche also. Er wird schon auf mich aufpassen.«

Ajay, der hinter Karna stand, blickte ihm über die Schulter und zeigte ihnen ein Haifischgrinsen.

Karna reichte die laminierte Karte an sie weiter, auf der er am Vortag die ermittelten Positionen eingetragen hatte. »Zwei Punkte konnte ich aus dem heutigen Suchraster streichen, da sie nicht in Betracht kommen dürften. Beides sind Berggipfel, die zum Zeitpunkt von Dhakals schicksalhafter Reise mit Eis und Schnee bedeckt waren …«

Karnas Recherchen hinsichtlich des »realen« Shangri-La hatten ergeben, dass es in einer klimatisch gemäßigten Zone mit regelmäßigen Jahreszeiten liegen musste. Unglücklicherweise wimmelte es im Himalaya von versteckten Tälern mit derartigen Witterungsverhältnissen. Sie glichen kleinen subtropischen Inseln zwischen unwirtlichen Berggipfeln und Gletschern.

»Damit bleiben sechs Zielorte übrig, die überprüft werden müssen«, schloss Karna. »Ajay hat Ihrem Piloten die genauen Koordinaten aufgeschrieben.« Die Rotoren des Bell-Hubschraubers beschleunigten weiter. Karna schüttelte Sam und Remi die Hände und rief: »Viel Glück! Wir sehen uns hier heute Abend!«

Er und Ajay entfernten sich zu Ajays Land Cruiser.

Sam und Remi machten kehrt und eilten zum Helikopter.

 

Ihr erstes Ziel lag zweiunddreißig Meilen nordöstlich von Kathmandu auf dem Hutabrang-Pass. Ihr Pilot, ein ehemaliger Flieger der pakistanischen Luftwaffe namens Hosni, flog mit ihnen zehn Minuten lang nach Norden, zeigte ihnen Bergspitzen und Täler, damit Sam und Remi sich mit den charakteristischen Merkmalen der Landschaft vertraut machten, ehe er nach Osten schwenkte und die ersten von Karna ermittelten Koordinaten ansteuerte.

Hosnis Stimme erklang in ihren Headsets. »Wir erreichen jetzt das Zielgebiet. Ich drehe eine Runde im Uhrzeigersinn und versuche so tief wie möglich runterzugehen. Die Scherwinde hier können verdammt gemein sein.«

In der Kabine hinter Hosni nahmen Sam und Remi ihre Plätze an den Fenstern auf beiden Seiten ein. Remi sagte zu Sam: »Achte auf pilzförmige Erscheinungen.«

»Aye, Captain.«

Karnas Übersetzung der Höhlenmalerei hatte eine vage, aber, wie sie hofften, nützliche Beschreibung des auffälligsten Merkmals von Shangri-La geliefert: eine Felsformation, die einem Pilz ähnelte. Da das Wandgemälde aus einer Zeit lange vor der Erfindung der Flugtechnik stammte, wäre die Pilzform wahrscheinlich nur vom Boden aus zu erkennen. Wie groß genau die Formation war oder ob sich Shangri-La direkt auf ihr oder nur in ihrer Nähe befand, war dem Wandgemälde nicht zu entnehmen. Sam und Remi hofften und erwarteten gleichzeitig, dass die Leute, die den Plan zur Rettung des Goldenen Mannes entwickelten, eine Felsformation ausgesucht hatten, die groß genug war, um sich deutlich von ihren Nachbarn zu unterscheiden.

In Erwartung zahlreicher Landungen und Starts zahlten sie Hosni fast das Doppelte seines regulären Honorars und hatten ihn für fünf Tage engagiert. Für weitere fünf Tage hatten sie eine Anzahlung geleistet, die er nicht zurückzahlen musste, wenn sein Einsatz nicht mehr nötig wäre.

Der Bell überflog eine bewaldete Bergschulter, Hosni neigte die Maschine nach vorn und tauchte in das Tal unter ihnen ein. Einhundert Meter über den Baumwipfeln richtete er den Hubschrauber auf und drosselte die Fluggeschwindigkeit.

»Wir befinden uns jetzt in der Zone«, meldete er.

Mit Hilfe ihrer Ferngläser suchten Sam und Remi das Tal ab. Remi meldete sich. »Eine Frage: Was meinte Jack, wie genau die Koordinaten seien?«

»Bis auf einen halben Kilometer. Oder eine Drittelmeile.«

»Das hilft mir nicht.« Obwohl durchaus damit vertraut, hatte Remi für Mathematik nicht viel übrig. Vor allem das Schätzen und Berechnen von Entfernungen fand sie schrecklich.

»Etwa vierhundertfünfzig Meter. Stell dir einfach eine herkömmliche Laufbahn vor.«

»Verstanden. Überleg mal, Sam, dieser Sentinel sollte jede dieser Koordinaten auf den Punkt treffen.«

»Eine bemerkenswerte Demonstration von Orientierungssinn«, pflichtete Sam ihr bei. »Aber Karna hat es ja gesagt: Diese Typen waren so etwas wie die historischen Vorläufer der Green Berets oder Navy SEALs. Sie wurden ihr ganzes Lebens lang dafür ausgebildet.«

 

Hosni flog weiter und ging dabei so tief auf die Bäume hinunter, wie es gerade noch zu verantworten war. Das Tal, das er in weniger als zwei Minuten von einem Ende zum anderen durchmessen hatte, enthielt nichts von Interesse.

Sam bat Hosni, die nächsten Koordinaten anzusteuern.

 

Der Vormittag schritt voran, während der Bell weiter nach Westen vordrang. Obgleich die Entfernung zwischen vielen Koordinaten nur wenige Meilen betrug, zwangen die technisch bedingten Leistungsgrenzen des Bell Hosni, einigen höheren Berggipfeln auszuweichen und sich einen Kurs über Gebirgssättel und durch Pässe zu suchen, die unter fünfeinhalbtausend Metern lagen.

Kurz nach ein Uhr mittags, während sie nach Nordwesten flogen, um einen Gipfel in der Ganesh-Himal-Kette zu umgehen, rief Hosni: »Wir haben Gesellschaft. Heli bei zwei Uhr.«

Remi kam auf Sams Seite, und sie schauten durch das Fenster auf die Maschine.

»Was ist es?«, fragte Remi.

Hosni rief sofort zurück: »Volksbefreiungsarmee. Luftwaffe. Ein Z-9.«

»Wo ist die tibetische Grenze?«

»Etwa zwei Meilen auf beiden Seiten von ihnen entfernt. Keine Sorge, sie schicken immer Beobachter, um Helikopter aus Kathmandu zu überwachen. Sie lassen bloß ihre Muskeln spielen.«

»An jedem anderen Ort der Erde würde so etwas als Invasion betrachtet werden«, stellte Sam fest.

»Willkommen in Nepal.«

Nachdem er ein paar Minuten lang neben dem Bell hergeflogen war, schwenkte der chinesische Hubschrauber seitlich weg und nahm Kurs auf die Grenze. Schon bald hatten sie ihn zwischen den Wolken aus den Augen verloren.

 

Am Nachmittag baten sie Hosni zwei Mal, in der Nähe einer Felsformation zu landen, die vielversprechend aussah, aber beide Male wurden ihre Erwartungen enttäuscht. Als sechzehn Uhr heranrückte, strich Sam den letzten Punkt auf ihrem Tagesplan mit einem Wachsmalstift durch, und Hosni flog nach Kathmandu zurück.

 

Der zweite Tag begann mit einem frühen vierzigminütigen Flug zum Budhi Gandaki Valley nordwestlich von Kathmandu. Drei von Karna für diesen Tag festgelegte Koordinaten lagen innerhalb des Budhi Gandaki, das sich am westlichen Rand der Annapurna-Kette erstreckte. Sam und Remi durften ein schönes Panorama nach dem anderen bewundern: dichte Kiefernwälder, saftige Wiesen voller Wildblumen, zerklüftete Felsgrate, reißende Flüsse und schäumende Wasserfälle. Aber sie sahen nur wenig anderes, abgesehen von einer Formation, die von oben ausreichend pilzähnlich aussah, um eine Landung zu rechtfertigen, sich dann jedoch lediglich als kopflastiger Felsblock entpuppte.

Gegen Mittag landeten sie in der Nähe einer Trekking-Station in einem Dorf namens Bagarchap. Hosni hielt die einheimischen Kinder mit Hubschrauberrundflügen bei Laune, während sich Sam und Remi mit dem Proviant aus ihren Rucksäcken stärkten.

Bald befanden sie sich wieder in der Luft und schwebten über den Bintang-Gletscher nach Norden zum Manaslu.

»Achttausendeinhundert Meter hoch«, rief Hosni und deutete auf den Bergriesen.

Sam übersetzte für Remi: »Etwa vierundzwanzigtausend Fuß.«

»Und fünftausend weniger als der Everest«, fügte Hosni hinzu.

»Ist schon beeindruckend, wenn man dieses Naturschauspiel auf Bildern oder vom Erdboden aus betrachtet«, sagte Remi. »Aber von hier oben kann man erkennen, weshalb man diese Region das Dach der Welt nennt.«

Nach einigen langsamen Runden, damit Remi ausreichend fotografieren konnte, lenkte Hosni den Bell nach Westen und ging zu einem weiteren Gletscher hinab – dem Pung Gyen, wie Hosni sie informierte. Diesem folgten sie acht Meilen weit, ehe sie erneut auf Nordkurs gingen.

»Unsere Freunde sind wieder da«, meldete Hosni über sein Headset. »Rechts von uns.«

Sam und Remi schauten aus dem Fenster. Der chinesische Z-9 war tatsächlich zurückgekommen und begleitete sie nun. Jedoch war der Helikopter diesmal bis auf wenige hundert Meter zu ihnen aufgerückt.

Sam und Remi konnten die Umrisse der Männer erkennen, die sie durch die Kabinenfenster beobachteten.

Der Z-9 blieb für ein paar Meilen auf gleicher Höhe mit ihnen, dann scherte er weg und wurde von einer Wolkenbank verschluckt.

»Das nächste Suchgebiet liegt in drei Minuten unter uns«, rief Hosni.

Sam und Remi nahmen wieder ihre Plätze an den Fenstern ein.

In einem mittlerweile zur Routine gewordenen Manöver hob Hosni den Hubschrauber über einen Berggrat und stürzte sich dann in das dahinter liegende Tal hinab, wobei sie wie in einem Expresslift sanken. Dann bremste er den Bell und ließ ihn für einen Moment schwebend in der Luft stehen.

Sam fiel die surreale Landschaft des Tales als Erstem auf. Während die oberen Bereiche dicht mit Kiefern bewachsen waren, erschienen die unteren Regionen wie mit einer rechteckigen Ausstechform ausgeschnitten, die senkrechte Felswände zurückgelassen hatte, die in einem See versanken. Ein mit Eis bedecktes Plateau ragte aus dem gegenüberliegenden Steilhang hervor und schloss das Tal an einem Ende ab. In einer Rinne, die das Eisschelf durchschnitt, schäumte Schmelzwasser und ergoss sich kaskadenförmig in den See auf dem Talgrund.

 

»Hosni, was meinen Sie, wie tief es ist?«, fragte Sam. »Das Tal, meine ich.«

»Vom oberen Rand bis hinunter zum See vielleicht knapp dreihundert Meter.«

»Die Felswände sind mindestens halb so hoch«, sagte Sam.

Hosni ließ den Bell vorrücken und folgte dem Steilhang, während Sam und Remi das Gelände durch ihre Ferngläser inspizierten. Als sie sich auf gleicher Höhe mit dem Hochplateau befanden und Hosni die Maschine aufrichtete, sahen sie, dass das Plateau trügerisch groß erschien, sich bis auf ein paar hundert Meter verengte, ehe es vor einer Eiswand endete, die die senkrechten Felsabbrüche wie ein Panzer bedeckte.

»Das ist ein Plateaugletscher«, stellte Sam fest. »Hosni, ich habe diese Formation auf keiner Landkarte gesehen. Kommt sie Ihnen irgendwie bekannt vor?«

»Nein, Sie haben recht. Sie ist relativ neu. Sehen Sie die Farbe des Sees, dieses grünliche Grau?«

»Ja«, sagte Remi.

»Diese Farbe sieht man immer dort, wo sich ein Gletscher zurückgezogen hat. Demnach würde ich schätzen, ist dieser Teil des Tals weniger als zwei Jahre alt.«

»Eine Folge des Klimawandels?«

»So gut wie sicher. Der Gletscher, den wir kurz vorher überflogen haben – der Pung Gyen –, hat allein im vergangenen Jahr fast fünfzehn Meter eingebüßt.«

Indem sie den Kopf gegen das Fenster drückte, ließ Remi ihr Fernglas plötzlich sinken. »Sam, sieh dir das mal an!«

Er kam auf ihre Seite herüber und spähte aus dem Fenster. Direkt unter ihnen war etwas zu erkennen, das wie eine von hüfthohem solidem Eis umschlossene Holzhütte aussah.

»Was um alles in der Welt ist das denn?«, fragte Sam. »Hosni?«

»Ich habe keinen Schimmer.«

»Wie nahe bei den Koordinaten sind wir?«

»Nicht ganz einen Kilometer.«

Remi sagte: »Sam, das ist eine Gondel.«

»Wie bitte?«

»Das Weidengeflecht einer Gondel – es ist der Korb eines Heißluftballons.«

»Bist du sicher?«

»Hosni, bringen Sie uns dort hinunter!«

Das Geheimnis von Shangri La
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