32
Nord-Nepal
Sam und Remi brauchten zehn Sekunden, um die Szene zu rekonstruieren, die sich ihren Augen darbot.
Nachdem er von der Ballongondel abgeprallt war, hatte der angeschlagene Z-9 seine Richtung geändert und war auf die Rinne zugerutscht, die den Plateaugletscher durchschnitt. Dort war er wie eine Flipperkugel in einer Laufrille hängen geblieben und zum Rand des Eisplateaus geglitten und darüber hinweg – zumindest teilweise. Das Heck des Z-9, ein paar Zentimeter schmaler als die Rinne selbst, hatte sich in der Mulde festgesetzt.
Die Kabine ragte über die Plateaukante. Wasser strömte über den Rumpf und durch die offene Kabinentür.
»Wir sollten mal nachsehen, ob noch jemand am Leben ist«, schlug Remi vor.
Während sie den immer noch heißen Motor mit wachsamen Blicken im Auge behielten, näherten sie sich dem Hubschrauberwrack. Sam ging neben der Rinne auf die Knie hinunter und kroch auf allen vieren zur Kante des Eisplateaus. Der Rumpf des Z-9 war auf halbe Größe zusammengestaucht und die Windschutzscheibe herausgesprengt worden. Wegen des herabströmenden Schmelzwassers war mit einem Blick durch die Türöffnung hindurch im Innern der Kabine so gut wie nichts zu erkennen.
»Ist da noch jemand?«, rief Sam. »Hallo!«
Sam und Remi lauschten, konnten jedoch nichts hören.
Zwei Mal rief Sam noch, aber auch dann erhielt er keine Antwort.
Er stand auf, kehrte zu Remi zurück und sagte: »Wir sind die einzigen Überlebenden.«
»Das klingt wunderbar und erschreckend zugleich. Was nun?«
»Zuerst einmal kommen wir aus eigener Kraft von hier nicht weg. Und selbst wenn wir es ohne größere Blessuren schaffen sollten, sind wir immer noch gut dreißig Meilen vom nächsten Dorf entfernt. Bei den niedrigen Temperaturen und ohne irgendeine Unterkunft haben wir nur geringe Chancen. Deshalb sollten wir zunächst darüber nachdenken, wie wir die Nacht überleben.«
»Wie aufmunternd«, sagte Remi. »Sprich weiter.«
»Wir haben keine Ahnung, wann uns Karna für überfällig erklärt, ein Suchkommando zusammenstellt und in Marsch setzt. Und was noch wichtiger ist: Wir müssen davon ausgehen, dass der Z-9 Kontakt mit seiner Basis aufgenommen hat, nachdem Hosni das Feuer eröffnet hatte. Wenn sie sich nicht mehr melden und auch nicht zurückkehren, wird die Basis einen weiteren Helikopter schicken, vielleicht sogar zwei.«
»Irgendeine Vorstellung, wann das sein kann?«
»Im schlimmsten Fall in ein paar Stunden.«
»Und bestenfalls?«
»Morgen früh. Wenn das Erstere eintritt, haben wir vielleicht noch einen Vorteil: Die Nacht bricht herein. Dadurch können wir uns leichter verstecken. Ich muss irgendwie in dieses Ding hineinkommen.«
»In den Z-9?«, fragte Remi. »Sam, das ist …«
»Eine wirklich schlechte Idee, ich weiß, aber möglicherweise befindet sich Werkzeug darin und vielleicht auch Proviant. Beides brauchen wir dringend, und wenn wir ganz viel Glück haben, funktioniert sogar das Funkgerät noch.«
Remi überlegte einen Moment lang, dann nickte sie. »Okay. Aber lass uns zuerst nachschauen, was wir aus dem Wrack des Bell noch herausholen können.«
Das nahm nur wenige Minuten in Anspruch. Es war wenig von Wert übrig geblieben, vorwiegend versengte Kleinteile aus ihren Rucksäcken, darunter ein halbzerfetztes Stück Kletterseil, ein paar Gegenstände aus dem Erste-Hilfe-Kasten und das eine oder andere Bordwerkzeug des zerstörten Hubschraubers. Sam und Remi nahmen alles mit, das noch irgendeinen Nutzen versprach, ganz gleich, ob sie auf Anhieb wussten, was es war, oder nicht.
»Wie sieht das Seil aus?«, fragte Sam.
Neben ihrer Kollektion geborgener Hilfsgüter kniend, untersuchte Remi das Seil. »Es muss an einigen Stellen gespleißt werden, aber ich glaube, wie haben sechs oder sieben Meter, die wir nutzen können. Denkst du an eine Sicherung für den Z-9?«
Lächelnd nickte Sam. »Ich mag mich manchmal ein wenig dumm anstellen, aber ich würde niemals ohne Sicherheitsleine in diese Todesfalle kriechen. Wir brauchen auch noch so was wie einen Kletterhaken oder einen Eisanker.«
»Da habe ich vielleicht genau das Richtige.«
Indem sie den Untergrund überprüfte, auf dem sie sich bewegte, überquerte Remi das Plateau und kam kurz darauf zurück. In einer Hand hielt sie ein abgebrochenes Stück Hubschrauberrotor, in der anderen einen faustgroßen Stein. Sie reichte Sam beides und sagte: »Ich fang dann schon mal mit dem Seil an.«
Sam benutzte den Stein, um zuerst die Kanten der oberen Hälfte der Rotorscherbe zu glätten und die Kanten der unteren Hälfte zu schärfen. Anschließend suchte und fand er ein paar Schritte vom Rand des Plateaus entfernt ein besonders dickes Stück Eis, gleich rechts neben dem Z-9. Danach begann er mit der mühsamen Arbeit, den provisorischen Anker ins Eis zu hämmern. Als er den Stein sinken ließ, steckte die Scherbe knapp einen halben Meter tief im Eis und zeigte in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur Plateaufläche vom Z-9 weg.
Remi kam herüber, und sie zogen und zerrten gemeinsam am Haken, bis sie sicher waren, dass er jeder Belastung standhielt. Remi wickelte das gespleißte Seil auseinander – außerdem hatte sie im Abstand von jeweils einem halben Meter Knoten hineingeknüpft – und befestigte ein Ende mit einem Seemannsknoten am Haken. Nachdem er Jacke, Handschuhe und Mütze ausgezogen hatte, knüpfte Sam aus dem freien Seilende eine Sitzschlinge und schlüpfte hinein, so dass sich der Knoten auf seinem Rücken befand.
»Geh bloß in Deckung, wenn dieses Ding anfängt, über die Kante zu rutschen«, warnte Sam.
»Mach dir wegen mir keine Sorgen, ich komm schon zurecht. Achte lieber auf dich.«
»Okay.«
»Hast du gehört?«
»Ich habe gehört«, sagte er lächelnd.
Er küsste sie, dann ging er zu dem aufragenden Heckabschnitt des Z-9 hinüber. Nachdem er mehrmals probeweise an der Aluminiumkonstruktion gerüttelt hatte, kletterte er hinauf und kroch in Richtung Kabine und Cockpit.
»Du bist gleich am Ziel«, rief Remi. »Noch gut einen halben Meter.«
»Verstanden.«
Als er den Rand des Plateaus erreichte, wurde er langsamer und verlagerte jedes Mal behutsam sein Gewicht, ehe er sich weiter vorwärtsschob. Abgesehen von einem gelegentlichen Ächzen und Stöhnen, das den Herzschlag fast zum Stillstand brachte, rührte sich der Z-9 nicht. Stück für Stück kroch Sam weiter, bis er sich auf dem Bauch des Hubschraubers befand.
»Wie ist es?«, rief Remi.
Auf Händen und Knien bewegte sich Sam hin und her, anfangs vorsichtig, dann zunehmend beherzter, heftiger. Der Aluminiumrumpf knirschte und neigte sich leicht zur Seite.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, wie weit ich mich vorwagen kann«, rief Sam zurück.
»Wenn du glaubst«, erwiderte Remi. »Dann mach weiter.«
»Okay.«
Sam bewegte sich zur Seite, bis seine Hüfte gegen die Landekufe stieß. Er packte sie mit beiden Händen und beugte sich darüber, als suche er nach irgendetwas.
»Was tust du?«, fragte Remi.
»Ich möchte die Rotorachse finden. Da ist sie. Wir haben Glück; sie steckt tief in der Rinne. Damit haben wir so etwas wie einen Anker.«
»Offenbar unser Glückstag«, sagte Remi ungeduldig. »Jetzt steig rein und gleich wieder raus.«
Sam quittierte ihre Aufforderung mit einem, wie er hoffte, beruhigenden Grinsen.
Nachdem er das Sicherungsseil zurechtgeschoben hatte, damit es bis zum Haken frei war, schwang Sam die Beine über die Landekufe und tastete sich am Rumpf der Hubschraubers abwärts. Das Schmelzwasser umspülte sofort seinen Unterleib. Sam stöhnte auf, biss die Zähne zusammen, als die eisige Kälte seine Beine erfasste, dann überprüfte er seine Position über der Türöffnung, indem er mit den Füßen unter sich herumtastete.
»Ich gehe rein«, rief er Remi zu.
Sam streckte die Beine vor, dann trat er nach hinten aus und wiederholte diese Bewegungen, bis er einen gleichmäßigen Pendelrhythmus aufgebaut hatte. Im richtigen Moment ließ er die Landekufe los. Der Schwung trug ihn durch die Wasserkaskade und in die Kabine hinein, wo er mit der gegenüberliegenden Tür unsanft Bekanntschaft machte und nicht sehr elegant auf dem Boden landete.
Er rührte sich nicht und hörte, wie der Z-9 protestierend stöhnte. Ein Zittern lief durch den Rumpf. Dann beruhigte es sich. Sam sah sich um und versuchte, sich zu orientieren.
Er saß bis zur Taille in eisigem Wasser. Ein Teil des Schmelzwassers sickerte durch den Rahmen der geschlossenen Tür, der andere Teil strömte ins Cockpit und fand durch die zerschmetterte Windschutzscheibe einen Weg nach draußen. Ein Stück entfernt lag der leblose Körper eines Soldaten. Sam tastete sich vorwärts, bis er zwischen die Cockpitsitze blicken konnte. Der Pilot und der Kopilot waren tot. Ob von seinen Kugeln getroffen oder durch den Absturz oder beides, konnte er nicht feststellen.
Er erkannte jedoch, dass das Cockpit stärker beschädigt worden war, als er erwartet hatte. Zusätzlich zu der Windschutzscheibe war auch ein Teil der Fronthaube und des Armaturenbretts inklusive des Funkgeräts verschwunden. Die Trümmer lagen wahrscheinlich längst auf dem Grund des Sees unten im Tal.
Unter ihm sackte der Helikopter ein kleines Stück ab.
Sam sprang der Magen in die Kehle.
Die Bewegung stoppte, aber jetzt nahm der Helikopter eine schiefe Lage ein. Durch das Cockpit konnte er das graugrüne Wasser des Sees tief unter sich sehen.
Die Zeit wurde knapp …
Er wandte sich um und ließ den Blick durch die Kabine wandern. Etwas … irgendwas. Eine teilweise gefüllte grüne Reisetasche aus Segeltuch fiel ihm ins Auge. Er hielt sich nicht damit auf, ihren Inhalt zu untersuchen, sondern sammelte irgendwelche losen Gegenstände aus der Kabine auf, ohne darauf zu achten, was ihm in die Hände geriet. Wenn es sich nützlich anfühlte und in die Tasche passte, nahm er es mit. Er durchsuchte auch die drei toten Soldaten, fand aber außer einem Feuerzeug nichts Nützliches und wandte sich nun dem Piloten und dem Kopiloten zu. Seine Suche erbrachte eine halbautomatische Pistole und ein Kniebrett mit einem Stoß wahrscheinlich flugtechnischer Dokumente und Karten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er ein halboffenes Ablagefach im hinteren Teil der Hubschrauberkabine. Er kletterte dorthin und griff hinein. Seine Finger berührten Leinenstoff. Er holte den Gegenstand heraus: eine Hüfttasche. Und stopfte sie ebenfalls in die Reisetasche.
»Zeit, den Rückzug anzutreten«, murmelte er, dann rief er durch die offene Kabinentür: »Remi, hörst du mich?«
Ihre Antwort klang gedämpft, war jedoch zu verstehen: »Ich bin hier!«
»Steckt der Haken noch …«
Ein Ruck ging durch den Helikopter; seine Nase kippte weiter abwärts. Sam stand nun fast auf der Rückenlehne des Pilotensitzes.
»Steckt der Haken noch sicher im Eis?«, wiederholte er seine Frage.
»Ja! Beeil dich, Sam. Komm aus dem Wrack raus!«
»Bin schon unterwegs!«
Sam zog den Reißverschluss der Reisetasche zu und schob sich die Traggriffe über den Kopf, so dass die Tasche an seinem Hals hing. Er schloss die Augen, zählte stumm Eins … zwei … drei … und tauchte dann durch die offene Tür.
Ob sein Abdrücken vom Pilotensitz die Ursache gewesen war, würde Sam nie erfahren, doch noch während er durch den Wasservorhang glitt, hörte und spürte er, wie der Z-9 abkippte. Er widerstand dem Drang, über die Schulter zu blicken, anstatt sich auf die Felswand zu konzentrieren, die rasend schnell auf ihn zukam. Er legte den Kopf nach hinten und bedeckte sein Gesicht mit beiden Armen.
Der Aufprall war ähnlich heftig, wie wenn man sich mit der Brust gegen einen Football-Dummy wirft. Die Reisetasche hatte als Dämpfer gewirkt, erkannte er. Dann spürte er, wie sich sein Körper drehte und mehrmals gegen die Felswand stieß, ehe er in ein gleichmäßiges, sanftes Schwingen überging.
Über ihm erschien Remis Gesicht an der Kante. Der ängstliche Ausdruck schaltete blitzschnell auf ein erleichtertes Lächeln um. »Das war ein Abgang, spektakulärer als in einem Hollywood-Thriller.«
»Ein Abgang, der eher von echter Verzweiflung und Angst bestimmt war«, korrigierte Sam.
Er blickte auf den See hinab. Der Rumpf des Z-9 verschwand gerade unter der Wasseroberfläche; die hintere Hälfte der Maschine fehlte. Sam schaute nach links und sah, dass das Heck immer noch aus der Rinne herausragte. Dort wo sich der Rumpf losgerissen hatte, reckte sich gezacktes Aluminium in die Luft.
Remi rief: »Nun fang endlich an hochzuklettern, Sam! Am Ende erfrierst du noch!«
Er nickte müde. »Lass mir nur eine oder zwei Minuten Zeit – ich bin gleich bei dir.«