33
Nord-Nepal
Erschöpft und von der Wirkung des Adrenalins immer noch zitternd, quälte sich Sam an dem Seil aufwärts, bis Remi mit einer Hand über die Kante reichen und ihm den Rest des Weges hinaufhelfen konnte. Er wälzte sich auf den Rücken und starrte in den Himmel. Remi schlang die Arme um ihn und bemühte sich, ihre Tränen zu verbergen.
»Tu das nie wieder.« Nach einem tiefen Seufzer fragte sie: »Was ist in der Tasche?«
»Eine ganze Menge Sachen. Ich weiß auch nicht, was. Ich habe alles zusammengerafft, was irgendwie nützlich erschien.«
»Dann ist es wohl eine Wundertüte«, stellte Remi lächelnd fest. Vorsichtig schob sie die Griffe der Tasche über Sams Kopf, öffnete den Reißverschluss und kramte in der Tasche herum. »Eine Thermosflasche«, sagte sie und holte ihren Fund heraus. »Leer.«
Sam richtete sich auf und zog Jacke, Mütze und Handschuhe wieder an. »Gut. Ich habe einen Auftrag für dich. Nimm die Thermosflasche und sammle jeden Tropfen noch nicht verbrannten Flugbenzins auf, den du finden kannst.«
»Gute Idee.«
Sam nickte. »Nicht nur gut, sondern im wahrsten Sinne des Wortes zündend.«
Remi entfernte sich und ging neben Vertiefungen im Eis auf die Knie hinunter. »Ich habe etwas gefunden!«, rief sie. »Und hier ist noch mehr.«
Sobald sie ihre Suche beendet hatte, kehrte sie zu Sam zurück, der am Ballonkorb saß. »Wie erfolgreich warst du?«, wollte er wissen. Er hatte angefangen, auf der Stelle zu laufen, da seine nasse Hose in der eisigen Luft allmählich gefror und steif wurde.
»Die Thermosflasche ist etwa zu drei Vierteln voll«, antwortete Remi. »Das Schmelzwasser hat das Benzin natürlich ein wenig verdünnt. Wir müssen schnellstens irgendetwas tun, damit du dich aufwärmen kannst.«
Sam kniete vor der Kollektion Fundstücke, die sie aus dem Bell-Hubschrauber geborgen hatten, und begann, darin herumzustochern. »Ich dachte, ich hätte … da ist sie schon.« Sam hielt ein Stück Draht hoch. An jedem Ende war ein Schlüsselring befestigt. »Eine Notsäge«, erklärte er.
»Wenn du meinst. Ich finde, das Ding sieht nicht besonders vertrauenerweckend aus«, sagte Remi.
Sam betrachtete die Ballongondel, ging an ihr entlang und kam wieder zurück. »Sie ist halb in die Gletscherspalte gekippt, aber ich glaube, ich habe gefunden, was wir brauchen.«
Er ging an dem Ende der Gondel, das ihnen zugewandt war und wo sich einige Weidenzweige des Korbgeflechts selbstständig gemacht hatten und aus dem Geflecht herausragten, in die Hocke. Als wollte er mit der Säge etwas nähen, fädelte er ein Ende in das Weidengeflecht und zog es auf der anderen Seite wieder heraus. Dann fasste er beide Schlüsselringe und sägte los. Für das erste Stück brauchte er fünf Minuten, doch dann hatte Sam eine Öffnung geschaffen, die ihm die weitere Arbeit erleichterte. Er sägte mehrere Stücke vom Ende der Gondel ab, bis er einen ansehnlichen Stapel zusammenhatte.
»Wir brauchen flache Steine«, sagte er zu Remi.
Die fanden sie sehr schnell und schichteten sie zu einer Kochstelle auf. Darauf legten sie die Weidenzweige in Form einer Pyramide. Während Remi Papierbögen vom Kniebrett des Piloten zusammenknüllte, angelte Sam das Feuerzeug aus der Reisetasche. Nicht lange, und sie hatten ein kleines Feuer angefacht.
Arm in Arm knieten sie sich vor die Flammen. Die Wärme hüllte sie ein, und fast augenblicklich fühlten sie sich besser und fassten neuen Mut.
»Es sind doch die einfachen Dinge, die das Leben lebenswert machen«, stellte Remi fest.
»Da kann ich dir nur beipflichten.«
»Verrat mir deine Theorie über die Chinesen.«
»Ich glaube nicht, dass der Z-9 zufällig aufgetaucht ist. Einer hat uns am ersten Tag beschattet und heute wieder. Und dann erschien einer, kaum dass wir gelandet waren.«
»Wir wissen, dass King archäologische Fundstücke über die Grenze schmuggelt; daraus ergibt sich, dass er auf chinesischer Seite gute Kontakte hat. Wer kann sich so frei bewegen und hat so viel Macht?«
»Die Volksbefreiungsarmee. Und wenn Jack recht hat, dann hat King die Gegend, in der wir suchen, wahrscheinlich erraten. Dank seiner vielfältigen Verbindungen brauchte er lediglich seinen chinesischen Kontaktmann anzurufen und abzuwarten, bis wir auftauchten.«
»Die Frage ist nur, welche Absichten dieser Z-9 hatte. Wenn Hosni nicht das Feuer eröffnet hätte, was hätten sie unternommen?«
»Es ist reine Spekulation, aber an diesem Punkt hier sind wir der chinesischen Grenze am nächsten; sie verläuft in etwa dreieinhalb Kilometern Entfernung nördlich von uns. Vielleicht war für sie die Gelegenheit einfach zu günstig, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen. Sie nehmen uns gefangen, schaffen uns über die Grenze, und niemand wird je wieder von uns hören.«
Remi schmiegte sich enger an Sams Arm. »Kein schöner Gedanke.«
»Leider habe ich noch einen anderen: Wir müssen wohl davon ausgehen, dass sie zurückkommen – und zwar eher früher als später.«
»Ich habe die Pistole in der Reisetasche gesehen. Du denkst doch wohl nicht ernsthaft daran zu versuchen …«
»Nein. Diesmal war es reines Glück. Das nächste Mal werden wir keine Chance haben. Wenn Verstärkung eintrifft, müssen wir von hier verschwunden sein.«
»Wie? Du sagtest doch selbst, dass wir nicht rausklettern können.«
»Ich habe mich falsch ausgedrückt. Es muss so aussehen, als ob wir verschwunden wären.«
Remi sah ihn skeptisch an. »Dann erzähl mal.« Sam skizzierte seinen Plan, und Remi nickte lächelnd. »Das gefällt mir. Die Fargo-Version des Trojanischen Pferdes.«
»Des Trojanischen Ballonkorbs.«
»Sogar noch besser. Und wenn wir ein wenig Glück haben, bewahrt er uns heute Nacht davor zu erfrieren.«
Mit Hilfe des Seils und des Behelfshakens, den sie als Enterhaken einsetzten, zogen sie die Gondel ein paar Meter von der Gletscherspalte weg, was dank des Eisuntergrunds nicht allzu schwierig war. Das verschlungene Tauwerk, das Sam schon vorher entdeckt hatte, hing von der Gondel in die Spalte hinab. Beide blickten über die Kante, konnten aber nach drei Metern nichts mehr erkennen.
»Ist das Bambus?«, fragte Remi und deutete auf eine Stange.
»Ich nehme es an. Da ist noch mehr davon, dieses gebogene Stück dort. Es würde uns sicherlich die Arbeit erleichtern, wenn wir alles abschneiden, aber möglicherweise ist weiter unten noch etwas, das wir gebrauchen können.«
»Wie wäre es mit einem Haken?«, fragte Remi. »Wir schneiden es ab und hängen es auf.«
Sam kniete sich hin und raffte einige Schnüre mit einer Hand zusammen. »Das ist die Sehne von irgendeinem Tier. Sie befindet sich in einem erstaunlich guten Zustand.«
»Gletscherspalten sind natürliche Kühlschränke«, erwiderte Remi. »Und wenn all das zusätzlich von einem Gletscher bedeckt war, dürfte die Wirkung noch frappierender sein.«
Sam fasste noch mehr von der Takelage zusammen und zog an dem Durcheinander. »Es ist überraschend leicht. Ich brauchte aber sicher Stunden, um dieses Sehnengewirr zu sortieren.«
»Dann ziehen wir es einfach mit.«
Mit der Lawinensonde maß Sam zuerst die Breite des Ballonkorbs und anschließend die der Gletscherspalte.
»Die Spalte ist zehn Zentimeter breiter«, verkündete er. »Mein Bauch sagt mir, dass sich die Gondel verkeilt, aber wenn ich mich irre, verlieren wir unser Feuerholz.«
»Dein Bauch hat uns eigentlich niemals im Stich gelassen.«
»Was war damals im Sudan? Und in Australien? Ich habe ziemlich weit danebengelegen …«
»Sei still und hilf mir lieber.«
Nachdem jeder von ihnen seine Position an einem Ende der Gondel eingenommen hatte, bückten sie sich und umfassten die Unterkante der Gondel. Auf Sams Zeichen spannten sie die Arme an und versuchten sich aufzurichten. Es hatte keinen Sinn. Sie ließen los und traten zurück.
»Wir sollten unsere Kräfte konzentrieren«, sagte Sam.
Jeder suchte sich einen Punkt, etwa eine Armeslänge von der Mitte der Gondel entfernt, und sie versuchten abermals ihr Glück. Diesmal hievten sie die Gondel einen halben Meter vom Boden hoch.
»Ich halte sie fest«, sagte Sam mit zusammengebissenen Zähnen. »Versuch, sie mit den Beinen hochzudrücken.«
Remi rollte sich auf den Rücken, schlängelte sich unter die Gondel, dann stemmte sie die Füße gegen die Kante. »Ich bin bereit!«
»Dann drück!«
Die Gondel rollte hoch und wälzte sich auf die Seite.
»Noch mal«, sagte Sam.
Sie wiederholten die Prozedur, und schon bald stand die Gondel aufrecht. Remi sah hinein. Sie atmete zischend ein und wich zurück.
»Was ist los?«, wollte Sam wissen.
»Blinde Passagiere.«
Sie kehrten zu der Gondel zurück.
Am hinteren Ende des geflochtenen Gondelbodens lagen inmitten eines Durcheinanders von Seilen, Schnüren und Bambusstangen ein Paar teilweise mumifizierter Skelette. Der restliche Teil der Gondel war, wie sie jetzt erkennen konnten, durch geflochtene Querrippen, die groß genug erschienen, um als Bänke zu dienen, in acht Segmente unterteilt.
»Was denkst du?«, fragte Remi. »Kapitän und Kopilot?«
»Durchaus möglich, aber eine Gondel von dieser Größe muss mindestens fünfzehn Personen Platz geboten haben – durchaus möglich, dass so viele Helfer nötig waren, um die Takelage und die Ballons zu bedienen.«
»Ballons? Meinst du, es waren mehrere?«
»Wir werden es genauer wissen, wenn ich den Rest der Takelage sehe, aber ich vermute, dies wird ein vollwertiges Luftschiff gewesen sein.«
»Und das waren die einzigen Überlebenden.«
»Die anderen könnten …« Sam deutete mit einem Kopfnicken auf die Gletscherspalte.
»Ein schreckliches Ende.«
»Wir können später drüber nachdenken. Lass uns jetzt lieber weitermachen.«
Nachdem sie die Takelage dergestalt gesichert hatten, dass sie nicht zwischen der Gondel und der Wand der Gletscherspalte eingeklemmt werden konnte, nahmen Sam und Remi an den Enden der Gondel ihre Positionen ein und drückten gegen sie, bis das Weidengeflecht auf dem Eis ins Rutschen geriet. Während sie sich der Spalte näherten, wurde der Korb schneller, dann gaben sie ihm noch einen heftigen Schubs. Er rutschte die letzten Meter aus eigener Kraft, hüpfte rumpelnd über die Kante und verschwand außer Sicht. Sam und Remi rannten das allerletzte Stück.
»Man sollte stets auf seine Instinkte vertrauen«, sagte Remi lächelnd.
Die Gondel hatte sich etwa dreißig Zentimeter unterhalb des Spaltenrandes zwischen den Wänden der Spalte verkeilt.
Sam kletterte hinein und ging, indem er darauf achtete, den Mumien nicht zu nahe zu kommen, durch die Gondel. Er erklärte sie für sicher, und Remi half ihm wieder heraus.
»Jedes Heim braucht ein Dach«, sagte sie.
Zusammen schritten sie über den Plateaugletscher und sammelten Teile des Aluminiumrumpfs ihres alten Hubschraubers ein, die groß genug waren, um die Spalte zu überbrücken. Dann ordneten sie sie über der Gondel an, bis nur noch ein schmaler Spalt frei war.
»Du hast wirklich eine ganze besondere Begabung dafür«, stellte Sam staunend fest.
»Ich weiß. Jetzt brauchen wir nur noch eine Tarnung.«
Mit einem schüsselförmigen Bruchstück der Windschutzscheibe des Bell-Helikopters fingen sie etwa zehn Liter Wasser aus der Rinne auf, kippten sie über das Aluminiumdach der Gondel und schaufelten mehrere Lagen Schnee darauf.
Dann traten sie ein Stück zurück, um ihr Werk zu begutachten.
Sam sagte: »Sobald Wasser und Schnee gefroren sind, werden sie wie ein Teil der Eisplatte aussehen.«
»Eine Frage: Warum das Wasser?«
»Damit der Schnee auf dem Aluminium liegen bleibt. Wenn unsere Vermutung zutrifft und wir heute noch Besuch von einem weiteren Z-9 erhalten, wollen wir doch nicht, dass der Rotorwind unser Dach freilegt, oder?«
»Sam Fargo, du bist die Brillanz in Person.«
»Das ist genau das Image, an dem ich ständig arbeite.«
Sam blickte zum Himmel. Der untere Rand der Sonne verschwand soeben hinter einer zerklüfteten Gipfelkette im Westen.
»Es wird Zeit, von der Bildfläche zu verschwinden und abzuwarten, was die Nacht an Überraschungen bringt.«
Nachdem sie ihre Vorräte entweder in die Tasche gepackt oder im Schnee vergraben hatten, verzogen sich Sam und Remi in ihren Unterstand. Im schnell abnehmenden Tageslicht nahmen sie eine eilige Inventur des Tascheninhalts vor.
»Was ist das?«, fragte Remi und holte ein Paket hervor, das Sam gerade noch hatte ergreifen können, ehe er den Z-9 fluchtartig verließ.
»Das ist ein …« Er hielt inne, runzelte die Stirn und lächelte dann. »Das, meine Liebe, ist ein Notfallschirm. Aber für dich und mich ist es eine vierzehn Quadratmeter große Decke.«
Sie holten den Fallschirm aus der Verpackung und hatten sich kurz darauf in einen weißen Stoffkokon eingewickelt. Relativ warm und so weit sicher, unterhielten sie sich leise und verfolgten, wie das Tageslicht zu vollkommener Dunkelheit verblasste.
Sie tauchten langsam in einen tiefen Schlaf.
Einige Zeit später schlug Sam die Augen auf. Die Schwärze ringsum war total. In seinen Armen liegend flüsterte Remi: »Hörst du es?«
»Ja.«
Aus der Ferne drang das Flappen von Hubschrauberrotoren zu ihnen.
»Wie stehen die Chancen, dass es ein Rettungsteam ist?«, fragte Remi.
»Praktisch bei null.«
»Danke für die tröstliche Antwort.«
Der Lärm der Rotoren nahm allmählich zu, bis Sam und Remi sicher waren, dass der Helikopter ins Tal eingetaucht war. Sekunden später glitt der Lichtstrahl eines Suchscheinwerfers über die Gletscherspalte; grelle Lichtpfeile drangen durch die Lücken im Dach.
Dann war das Licht verschwunden und wurde blasser, als es weiter über den Plateaugletscher wanderte. Zweimal kehrte es zurück und verschwand wieder.
Dann veränderten sich plötzlich Klang und Lautstärke des Hubschraubermotors.
»Jetzt bleibt er in der Luft stehen«, flüsterte Sam.
Er holte die Pistole aus ihrem Versteck unter seinem Bein hervor und wechselte sie in die rechte Hand.
Der Abwind der Rotoren setzte ein. Eisige Luft und Schneekristalle füllten schlagartig die Ballongondel. Anhand der Schatten, die der Suchscheinwerfer erzeugte, erkannten sie, dass der Hubschrauber seitlich über das Plateau kroch, sich hierhin und dorthin drehte und nach ihnen und/oder möglichen Überlebenden der vermissten Hubschrauberbesatzung suchte.
Sam und Remi hatten das Heck des Z-9 als Beweis für das Schicksal des Helikopters in der Rinne stecken lassen. Jeder, der das Glück gehabt hatte, den Sturz in den See zu überleben, dürfte kurz danach ertrunken sein. Sam und Remi beteten im Stillen, dass auch die Suchmannschaft zu diesem Ergebnis käme.
Beharrlich überflogen ihre Besucher das Plateau noch drei Mal. Dann, ebenso plötzlich, wie er aufgeflammt war, erlosch der Suchscheinwerfer, und das Geräusch der Rotoren verlor sich in der Ferne.