35
Nord-Nepal
Sam öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg jedoch und schloss ihn wieder. Remi sagte: »Ich weiß, was du denkst. Aber ich bin mir sicher, Sam. Ich erinnere mich, Tee getrunken und dabei diese Symbole auf dem Bildschirm von Jacks Laptop gesehen zu haben.«
»Ich glaube dir. Aber ich kann nur nicht erkennen, wie …« Sam hielt inne und legte die Stirn in Falten. »Es sei denn … Als wir hier gelandet sind, wie weit waren wir vom letzten Koordinatenpaar entfernt?«
»Hosni meinte, weniger als einen Kilometer.«
»Etwa eine halbe Meile von dem Weg entfernt, dem Dhakal während seiner Reise gefolgt wäre. Was, wenn er hier in der Nähe gestorben ist oder Probleme bekommen und die Theurang-Truhe verloren hat?«
Remi nickte. »Und einige Jahrhunderte später tauchten unsere Ballonfahrer auf. Sie legten hier eine Bruchlandung hin und entdeckten die Truhe. Wann fand die erste bemannte Ballonfahrt statt?«
»Ich kann nur raten … Ende des sechzehnten, Anfang des siebzehnten Jahrhunderts. Aber ich habe nie von einem Luftschiff aus dieser Zeit gehört, das derart hoch entwickelt war wie dies hier. Ein solcher Apparat dürfte seiner Zeit weit voraus gewesen sein.«
»Dann ist er frühestens dreihundert Jahre, nachdem Dhakal Mustang verlassen hat, hier abgestürzt.«
»Klingt zwar einleuchtend«, gab Sam zu, »ist aber schwer zu glauben.«
»Dann erklär mir diese Zeichen.«
»Das kann ich nicht. Du meinst, sie seien der Theurang-Fluch, und ich glaube dir. Ich habe nur Probleme, das alles zu begreifen und in meinem Kopf zu ordnen.«
»Willkommen im Club, Sam.«
»Wie ist dein Italienisch?«
»Ein wenig eingerostet, aber ich kann es später mal versuchen. Im Augenblick sollten wir uns darauf konzentrieren, von hier wegzukommen.«
Sie verbrachten den Vormittag damit, die Spannleinen zu überprüfen und diejenigen auszusortieren, die zu stark ausgefranst oder verrottet aussahen; diese Abschnitte entfernte Sam mit seinem Schweizer Offiziersmesser. Das Gleiche machten sie mit den Bambus-und Weidenverstrebungen – die Remi außerdem noch auf Gravierungen hin untersuchte, ohne jedoch fündig zu werden. Dann nahmen sie sich den Seidenstoff vor. Das größte Stück war nur ein paar Zentimeter breit. Daher beschlossen sie, den brauchbaren Stoff zu einer Schnur zu wickeln, für die sie sicherlich Verwendung hätten. Gegen Mittag hatten sie einen beachtlichen Vorrat an Baumaterial zusammengetragen.
Um die Stabilität zu erhöhen, beschlossen sie, acht von den Verstrebungen der Ballonkäfige im Innern der einzelnen Ballonkuppel zu befestigen. Das bewerkstelligten sie in Fließbandtechnik: Sam stach mit der Ahle seines Offiziersmessers Doppellöcher dort in die Hülle, wo die Verstrebungen angebracht werden sollten, und Remi fädelte fünfundzwanzig Zentimeter lange Sehnenbänder in die Löcher. Am Ende hatten sie dreihundertzwanzig Löcher und einhundertsechzig Bänder.
Am Spätnachmittag begann Sam, die Bänder mit einem Zimmermannsknoten zu sichern. Er hatte fast ein Viertel der Bänder fixiert, als sie entschieden, für diesen Tag Feierabend zu machen.
Schon bei Sonnenaufgang am nächsten Tag waren sie wieder auf den Beinen und fuhren mit dem Bau des Luftschiffes fort.
Während der fünf Stunden nutzbaren Lichts am Nachmittag schlossen sie die Öffnung des Fallschirmballons, indem sie Seidenbänder an den Saum nähten und diese um einen etwa fassgroßen Ring knoteten, den Sam aus mehreren Teilen gekrümmter Weidenstäbe geformt hatte.
Nachdem jeder von ihnen ein paar Kräcker verzehrt hatte, suchten sie die zur Schutzhöhle umfunktionierte Gondel auf und bereiteten sich auf die Nacht vor. Sie wussten, dass sie sehr lang werden würde.
»Was meinst du, wann wir fertig sind?«, fragte Remi.
»Mit ein wenig Glück dürfte der Korb morgen Vormittag einsatzbereit sein.«
Während sie arbeiteten, hatte sich Sam in Gedanken ständig mit den technischen Problemen beschäftigt, die noch auf sie warteten. Sie hatten nach und nach alles Brennbare aus der Gondel herausgeholt, nicht nur um zu kochen, sondern weil sie sich gelegentlich auch während des Tages aufwärmen wollten, ehe sie abends zu Bett gingen.
Mittlerweile waren nur noch knapp sechs Meter von der Gondel übrig. Laut Sams Berechnungen reichte das noch vorhandene Weidengeflecht in Kombination mit den chemischen Mischungen, die er im Sinn hatte, aus, um sie zumindest in die Luft steigen zu lassen. Weniger sicher war jedoch, ob sie dabei hoch genug stiegen, um den Felsgrat zu überwinden, der das Tal am oberen Rand begrenzte.
Der einzige Faktor, wegen dem Sam sich keine Sorgen machte, war der Wind. Bisher wehte er mehr oder weniger stark ausschließlich von Norden.
Remi sprach eine andere Sorge aus, die auch Sam schon eine ganze Weile quälte: »Was ist mit unserer Landung?«
»Ich will nicht lügen. Das könnte unser Waterloo werden. Es gibt keine Möglichkeit vorauszusagen, wie wir unser Absinken kontrollieren können. Außerdem haben wir praktisch keinerlei Steuerung.«
»Ich vermute, du hast einen Plan B.«
»Habe ich. Möchtest du ihn hören?«
Remi überlegte kurz, dann meinte sie: »Nein. Ich lasse mich lieber überraschen.«
Sams Zeitplan war sehr eng. Es wurde Mittag, ehe sie den Korb und die Tragegurte vervollständigt hatten. Während Korb ein schamlos übertriebenes Kompliment für ihre Konstruktion war, konnten sie trotzdem darauf stolz sein: Immerhin war es eine gut einen halben Meter breite Plattform aus zusammengebundenen Bambusstäben, die mit den letzten noch übrigen Tiersehnen an den Tragegurten befestigt worden war.
Sie setzten sich hin, aßen schweigend zu Mittag und betrachteten voller Stolz ihr Werk. Das Luftschiff hatte nichts Elegantes an sich, es war missgestaltet und hässlich – doch sie liebten jeden Quadratzentimeter.
»Es braucht einen Namen«, sagte Remi.
Sam schlug natürlich The Remi vor, aber sie verwarf die Idee. Er versuchte es noch einmal: »Als Kind hatte ich einen Drachen, den ich High Flier nannte.«
»Das gefällt mir.«
Den Nachmittag verbrachten sie damit, Sams Pläne für eine Energiequelle in die Tat umzusetzen. Sam benutzte die Drahtsäge, um die Gondel bis auf einen ein Meter langen Abschnitt, in dem sie die nächste Nacht verbringen wollten, zu zerlegen, indem er sie Stück für Stück zerschnitt und die Trümmer zu Remi hinunterreichte. Dabei schafften sie es, nur drei Teile in der Gletscherspalte verschwinden sehen zu müssen.
Mit Hilfe eines Steins begann Sam, das Weidengeflecht und die restlichen Schnüre zu einem Brei zu zerquetschen, von dem Sam eine Handvoll in ein schüsselförmiges Trümmerteil des Bell-Hubschrauberrumpfs füllte. Dem Brei fügte er Moose und Flechten hinzu, die sie von jedem Stein und jedem freien Stück Granit auf dem Plateau abgekratzt hatten. Als nächste Zutat folgten einige Tropfen Flugbenzin sowie mehrere Prisen Schießpulver, das Sam aus den Patronen der Pistole herausgeholt hatte. Nach etwa dreißig Minuten des Ausprobierens präsentierte Sam seiner Frau ein grob geformtes Brikett, das in einen Seidenlappen eingewickelt war.
»Du darfst, wenn du möchtest«, sagte er und reichte Remi das Feuerzeug.
»Bist du sicher, dass es keine Explosion gibt?«
»Nein, sicher bin ich mir nicht.«
Dafür hatte Remi nur einen vernichtenden Blick übrig.
Sam sagte: »Eigentlich müsste man es zur Sicherheit in eine stabile Hülle stecken.«
Remi streckte den Arm soweit es ging aus und hielt die Flamme des Feuerzeugs an den Würfel; mit einem kaum hörbaren Zischen schlug eine Flamme hoch.
Remi sprang mit einem breiten Grinsen auf und umarmte Sam. Zusammen kauerten sie sich vor das Brikett und sahen zu, wie es brannte. Die Wärme war erstaunlich intensiv. Als die Flammen schließlich knisternd erloschen, sah Sam auf die Uhr: »Sechs Minuten. Nicht übel. Jetzt brauchen wir davon so viele, wie wir herstellen können, aber sie müssen ein wenig größer sein – wie ein Filet Mignon zum Beispiel.«
»Musstest du unbedingt diesen Vergleich ziehen?«
»Tut mir leid. Sobald wir wieder in Kathmandu sind, lade ich dich ins nächste Steakhaus ein.«
Angetrieben vom Erfolg ihres Brenntests, machten sie schnelle Fortschritte. Als es Zeit wurde, zu Bett zu gehen, hatten sie neunzehn Briketts zusammen.
Bei Sonnenuntergang stellte Sam die Kohlenpfanne fertig, indem er sie mit drei kurzen Standbeinen versah, die er an ihrem Rand befestigte. Darauf fixierte er dann mit behelfsmäßigen Flanschen einen gewölbten, oben mit einer Öffnung versehenen Aluminiumdeckel. Zum Schluss bohrte er seitlich ein Loch in den Deckel.
»Wofür ist das?«, fragte Remi.
»Zur Belüftung und zum Nachlegen. Sobald der erste Würfel brennt, erzeugen der Luftstrom und die Form des Deckels einen Luftwirbel. Dieser drückt die Hitze durch die Deckelöffnung in den Ballon.«
»Das ist genial.«
»Nein, es ist lediglich ein Herd.«
»Wie bitte?«
»Es ist nichts anderes als ein altmodischer Campingkocher, allerdings ein paar Nummern größer. Diese Dinger gibt es schon seit mindestens einhundert Jahren. Wenigstens ein Mal zahlt sich mein Wissen über solche Kuriositäten aus.«
»Und wie! Komm, wir verkriechen uns in unserem Bunker und sehen zu, dass wir vor dem Jungfern-und letzten Flug des High Flier noch ein wenig Schlaf tanken.«
Sie schliefen zwei Stunden lang nur unruhig und wurden dann von Erschöpfung, Mangel an Nahrung und innerer Unruhe wach gehalten. Sobald das Tageslicht ausreichte, um mit ihren Reisevorbereitungen fortzufahren, kletterten sie aus der Gondel heraus und vertilgten die letzten Proviantreste.
Sam zerkleinerte das letzte Stück Gondel bis auf eine kleine Ecke, die sie mit Haken und Knotenseil freizogen. Sobald es nichts mehr zu sägen gab, hatten sie einen mannshohen Haufen Treibstoff zur Verfügung.
Nachdem sie schon vorher eine Stelle auf dem Plateau ausgesucht hatten, die so gut wie eisfrei war, zogen sie den Ballon vorsichtig auf diesen Startplatz. Die Plattform beschwerten sie mit Ballaststeinen. In die Mitte stellten sie die Kohlenpfanne und zurrten sie auf der Plattform mit einigen Sehnenschnüren fest.
»Dann schmeiß mal den Herd an, damit wir kochen können«, sagte Remi mit Galgenhumor.
Auf ein Bett aus Papierfetzen und Moosresten als Zunder stapelten sie Teile des zersägten Korbgeflechts. Sobald sich eine solide Glutschicht entwickelt hatte, legten sie Weidenzweige nach, und schon bald schlugen die ersten Flammen aus der Kohlenpfanne.
Remi hielt eine Hand über den Kamin der Kohlenpfanne und zog sie sofort wieder zurück. »Heiß!«
»Perfekt. Jetzt müssen wir warten. Es wird wohl eine Weile dauern.«
Aus einer Stunde wurden zwei. Der Ballon füllte sich langsam und blähte sich um sie herum zu einem kleinen Zirkuszelt auf, während ihr Brennstoffvorrat stetig abnahm. Innerhalb der Hülle wirkte das Sonnenlicht ätherisch, dunstig, irgendwie unwirklich. Sam erkannte, dass sie einen Kampf gegen die Zeit und die Thermophysik führten, da sich die Luft abkühlte und durch die Ballonhülle eindrang.
Kurz vor Ende der dritten Stunde erhob sich der Ballon, der bis dahin immer noch auf dem Untergrund gelegen hatte, und schwebte. Ob Realität oder nur eigene Wahrnehmung, konnten sie nicht genau feststellen, jedoch schien dies der entscheidende Moment zu sein. Innerhalb von vierzig Minuten stand der Ballon aufrecht, während seine Hülle immer praller und härter wurde.
»Es funktioniert«, murmelte Remi. »Es funktioniert wirklich!«
Sam nickte, sagte aber nichts, sondern beobachtete weiterhin aufmerksam das Luftfahrzeug.
Schließlich befahl er: »Alles an Bord!«
Remi trottete zu ihrem Stapel Brennmaterial, hob das beschriftete Stück Bambusrohr auf, schob es sich auf dem Rücken in die Jacke und kam dann im Dauerlauf zurück. Sie räumte einen Stein nach dem anderen weg, bis sie knien und dann sitzen konnte. Die gegenüberliegende Seite der Plattform hatte bereits vom Boden abgehoben und schwebte einige Zentimeter in der Luft.
Nachdem er schon vorher die Tasche des Notfallschirms mit einigen wichtigen Gegenständen gefüllt und ihre Treibstoffbriketts und eine letzte Ladung Weidengeflecht in die Reisetasche gestopft hatte, ergriff Sam beides und kniete sich neben die Plattform.
»Bist du bereit?«, fragte er.
Ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken, antwortete Remi: »Lass uns starten.«