39

Bundesstaat Arunachal Pradesh,
Nord-Indien

»Jack!«, rief Remi. »Ich hatte wirklich nicht erwartet, dass Sie hier auftauchen würden.«

Karnas SUV kam zum Stehen, dann stieg er aus. Remi umarmte ihn, Sam schüttelte ihm die Hand. »Freut mich, dass Sie mit an Bord sind, Jack.«

»Das gilt auch für mich.«

Ajay, der hinter Karna stand, nickte lächelnd.

Karna musterte sie. »Ihre Gesichter sehen viel besser aus als beim letzten Mal. Wie geht es Ihrem Fuß, Remi? Und was machen die Rippen?«

»Ist alles schon wieder so gut, dass ich mich bewegen kann, ohne vor Schmerzen ständig die Zähne zusammenzubeißen. Ich habe elastische Binden, ein Paar anständige Wanderschuhe und eine Flasche Ibuprofen-Tabletten.«

»Hervorragend.«

»Damit marschiert sie uns alle in Grund und Boden«, sagte Sam.

»Irgendwelche Probleme auf dem Weg hierher? Irgendwelche Verfolger? Andere verdächtige Leute?«

Remi schüttelte den Kopf. »Nichts von alledem.«

Seit ihrem letzten Gespräch mit Charles King hatten sie weder von ihm noch von seinen Kindern oder von Zhilan Hsu gehört. Es war eine Entwicklung, die sie einerseits angenehm, andererseits beunruhigend fanden.

»Jack, wie haben Sie Ihre Angst vorm Fliegen überwunden?«, fragte Sam.

»Habe ich eigentlich gar nicht«, erwiderte Karna. »Ich war äußerst verängstigt, und zwar von dem Moment an, als wir in Kathmandu starteten, bis zu dem Augenblick, als ich in Bangladesh ausstieg. Mein Interesse an der Expedition war allerdings stärker als meine Flugangst, und, voilà, hier bin ich.«

Hier – das war der Endpunkt einer fünfhundert Meilen weiten Reise über Land, die Sam und Remi erst ein paar Stunden zuvor beendet hatten. Am Ufer des Flusses Siang gelegen, war die ruhige Stadt Yingkiong, Bevölkerungszahl neunhundert, der letzte Außenposten nennenswerter Besiedelung in Nord-Indien. Die nächste Stadt war Nyingchi, Tibet, lag gut einhundert Meilen entfernt im Nordosten und war auf dem Landweg nur durch einen Urwald erreichbar, der zu den unwegsamsten der Welt zählte.

Zehn Tage waren seit ihrer iChat-Konferenz verstrichen. So lange hatte es gedauert, um sämtliche Reisevorbereitungen zu treffen. Wie versprochen hatte sich Karna am nächsten Tag bei ihnen gemeldet, nachdem er pausenlos gearbeitet hatte – in der Hoffnung, die Karte zu entziffern, die die Titelseite der Geschichte »Der Große Drache« zierte.

Was seine Orientierungsfähigkeit betraf, musste De Terzi den Sentinels ebenbürtig gewesen sein, hatte Karna erklärt. Sowohl die Richtungsangaben als auch die Entfernungen auf De Terzis Karte seien bemerkenswert genau und differierten von den modernen Maßangaben um weniger als eine Meile und einen Kompassgrad. Sobald er seine Berechnungen abgeschlossen hatte, war Karna sicher gewesen, die Lage Shangri-Las bis auf ein Gebiet mit zwei Meilen Durchmesser genau bestimmt zu haben. Wie er schon die ganze Zeit über vermutet hatte, befanden sich die Koordinaten mitten in der Schlucht des Tsangpo-Flusses.

Sam und Remi hatten die Gegend mit Hilfe von Google Earth studiert, jedoch nichts anderes gesehen als gewaltige Berge, schäumende Flüsse und undurchdringliche Wälder. Nichts hatte auch nur entfernt wie ein Pilz ausgesehen.

Karna sagte: »Wie wär’s, wenn wir auf einen Drink und zu einer ausführlichen Lagebesprechung in eine Bar umziehen? Ich finde, Sie sollten darüber informiert sein, was Sie alles erwartet, ehe wir morgen früh aufbrechen.«

Das Gasthaus war ein zweistöckiges Gebäude mit Wellblechdach und Schindelwänden. Im Innern bestand das Parterre aus einem Empfangsbereich und einem Restaurant, das aussah, als wäre es aus einem Hollywoodwestern der fünfziger Jahre hierher versetzt worden: Holzfußboden, eine lange J-förmige Bar und hohe Pfosten, auf denen die freiliegenden Deckenbalken ruhten. Ihre Zimmer, erklärte Karna ihnen, befänden sich im zweiten Stock.

Im Gasthaus herrschte ein erstaunlich lebhafter Betrieb. Sie fanden unter einer flackernden Schlitz-Beer-Neonreklame einen freien Tisch und bestellten vier Biere – die eiskalt waren.

»Das meiste von dem, was ich Ihnen erzähle, habe ich von Ajay, aber da er nicht gerade zu den redseligen Typen gehört, werden Sie sich wohl auf mein Gedächtnis verlassen müssen. Wie ich Ihnen schon sagte, handelt es sich um Ajays altes Jagdrevier, daher befinden wir uns in guten Händen. Übrigens, Ajay, wie sieht es mit unserem Transport aus?«

»Ist alles arrangiert. Mr Karna.«

»Phantastisch. Korrigieren Sie mich, wenn ich zu weit abschweife, Ajay.«

»Ja, Mr Karna.«

Karna seufzte. »Ich kann ihn nicht dazu bewegen, mich Jack zu nennen. Dabei versuche ich das schon seit Jahren.«

»Er und Selma spielen anscheinend nach den gleichen Regeln«, erwiderte Sam.

»Stimmt. Und nun einige kurze und knappe Informationen über Arunachal Pradesh: Je nachdem, wen Sie fragen, werden Sie als Antwort erhalten, dass wir uns im Augenblick in China befinden.«

»Donnerwetter! Sagen Sie bloß«, meinte Sam verblüfft.

»China betrachtet den größten Teil dieser Region als Teil von Süd-Tibet. Natürlich ist Arunachal Pradesh für die Menschen und die Regierung hier ein indischer Staat. Die nördliche Grenze zwischen Arunachal Pradesh und China wird McMahon-Linie genannt, deren Verlauf im Zuge eines Vertrags zwischen Tibet und dem Vereinigten Königreich festgelegt wurde. Die Chinesen haben sich niemals damit einverstanden erklärt, und Indien hat bis 1950 auch noch nicht auf Anerkennung und Würdigung des Grenzverlaufs bestanden. Fazit ist, dass China und Indien das Gebiet jeweils für sich beanspruchen, bisher in dieser Richtung aber nicht allzu viel unternommen haben.«

»Welche Bedeutung hat dies für eine militärische Präsenz?«, fragte Sam.

»Überhaupt keine. Es gibt in der Gegend einige indische Truppen, aber die Chinesen bleiben nach Möglichkeit nördlich der McMahon-Linie. Das Ganze läuft in einer weitgehend freundlichen Atmosphäre ab.«

»Das ist gut für unser Team«, sagte Remi.

»Ja, nun … nicht ganz so großartig ist die ANLF – die Arunachal Naga Liberation Force. Sie sind die jüngste und bedeutendste Terroristengruppe in der Region. Seit kurzem gehören Kidnappings zu ihren bevorzugten Aktivitäten. Ajay meint, dass wir trotzdem keine Probleme mit ihnen haben werden – die Armee hat sie ziemlich gut unter Kontrolle.«

Sam sagte: »Der Karte nach liegt unser Ziel fünfundzwanzig Meilen jenseits der chinesischen Grenze. Wenn ich mir die Landschaft ansehe, nehme ich an, dass wir dort nicht mit Grenzposten rechnen müssen.«

»Sie haben recht. Wie ich bereits in Mustang erwähnt hatte, ist die Grenze ziemlich offen. Mehrere hundert Trecking-Touristen überschreiten sie alljährlich. Anscheinend ist es der chinesischen Regierung gleichgültig. Es gibt in dieser Gegend einfach nichts, das von strategischer Bedeutung wäre.«

»Das sind noch mehr gute Neuigkeiten«, sagte Remi. »Und jetzt erzählen Sie uns etwas über die Kehrseite der Medaille.«

»Sie meinen abgesehen davon, dass es ein absolut unwegsames Gelände ist?«

»Ja.«

»Die Kehrseite der Medaille ist, dass wir uns trotz allem auf chinesisches Gebiet begeben. Wenn wir das Pech haben, dabei erwischt zu werden, landen wir wahrscheinlich im Gefängnis.«

»Mit dieser Möglichkeit wurden wir schon einmal konfrontiert«, erwiderte Sam. »Tun wir unser Bestes, um das zu vermeiden, okay?«

»Okay. Dann sollten wir uns noch über Schlangen und giftige Insekten unterhalten …«

 

Nach einem in aller Eile eingenommenen Abendessen, das aus Tandoori-Huhn bestand, zogen sich Sam und Remi für die Nacht zurück. Sie stellten fest, dass auch ihre Zimmer dem Stil des Hotels entsprachen: Hollywoodwestern-Chic ohne den Chic. Obgleich die Temperatur angenehme fünfzehn Grad Celsius betrug, war die Luftfeuchtigkeit geradezu erstickend. Der knarrende Deckenventilator rührte die Luft träge um, aber nach Sonnenuntergang begann die Temperatur zu sinken, und schon bald herrschte im Zimmer ein angenehmes Klima. Um acht Uhr schliefen sie.

 

Am nächsten Morgen erwachten sie, als Ajay an ihre Tür klopfte und ihre Namen flüsterte. Verschlafen wälzte sich Sam in der Dunkelheit aus dem Bett und schlurfte zur Tür.

Ajay sagte: »Kaffee, Mr Fargo?«

»Kein Tee? Das ist eine nette Überraschung. Ich heiße übrigens Sam.«

»Oh, nein, Sir.«

»Wie spät ist es?«

»Fünf Uhr.«

»Oh – hm«, murmelte Sam und schaute auf Remis schlafende Gestalt. Mrs Fargo war nicht gerade eine Frühaufsteherin. »Ajay, wäre es möglich, dass Sie uns jetzt gleich noch zwei weitere Tassen Kaffee bringen?«

»Natürlich. Am besten bringe ich Ihnen die ganze Kanne.« Die Gruppe versammelte sich eine halbe Stunde später im Restaurant zum Frühstück. Anschließend meinte Karna: »Wir sollten am besten gleich packen. Unsere Todesfalle dürfte jeden Moment eintreffen.«

»Sagten Sie ›Todesfalle‹?«, fragte Remi.

»Sie kennen sie wahrscheinlich nur unter ihrem üblichen Namen: Helikopter.«

Sam lachte leise. »Nach dem, was wir bisher erlebt haben, ziehen wir Ihre Bezeichnung beinahe vor. Sind Sie sicher, dass Sie damit zurechtkommen?«

Karna hielt einen baseballgroßen NERF-Ball hoch. Er war mit Fingeröffnungen regelrecht durchsiebt. »Ein Stress-Toy. Ich werd’s schon überleben. Ist ja nur ein kurzer Flug.«

Nachdem sie ihre Ausrüstung zusammengestellt und eingepackt hatten, formierten sie sich am nördlichen Rand von Yingkiong, nicht weit von einem freien Schotterplatz.

»Da kommt er schon«, sagte Ajay und deutete nach Süden, wo sich ein olivgrüner Hubschrauber in niedriger Höhe über der Wasseroberfläche des Siang näherte.

»Sieht richtig antik aus«, stellte Karna fest.

Während er die Lichtung erreichte und in den Schwebeflug überging, gewahrte Sam auf der Seitentür das verblasste Emblem der indischen Luftwaffe. Jemand hatte vergeblich versucht, das orangefarbene, weiße und grüne Zeichen zu übermalen. Die Gruppe zog zum Schutz vor dem heftigen Abwind der Rotoren die Köpfe ein und wartete, bis sich die Staubwolke verzogen hatte.

»Ajay, was für ein Ding ist das denn?«, fragte Karna.

»Ein leichter Chetak-Mehrzweckhubschrauber, Sir. Sehr zuverlässig. Als Soldat bin ich oft mit diesen Maschinen geflogen.«

»Wie alt?«

»Von 1968.«

»Meine Güte.«

»Wenn ich es Ihnen vorher gesagt hätte, Mr Karna, wären Sie nicht mitgekommen.«

»Da haben Sie verdammt recht. Na schön, okay, frisch gewagt ist halb gewonnen.«

Während Jack seinen NERF-Ball heftig knetete, lud die Gruppe ihr Gepäck an Bord und nahm ihre Plätze ein. Ajay überprüfte jeden der Fünf-Punkt-Sicherheitsgurte, dann schob er die Tür zu und gab dem Piloten mit einem Kopfnicken das Startzeichen.

Der Helikopter hob ab, neigte sich leicht nach vorn und ging zügig auf Kurs.

 

Teils um sich die Navigation zu erleichtern, teils um ihre Rettungschancen zu erhöhen – für den Fall, dass der Chetak abstürzte –, folgte der Pilot dem gewundenen Verlauf des Siang River. Die wenigen Ansiedlungen, die nördlich von Yingkiong anzutreffen waren, befanden sich an seinen Ufern, erklärte Ajay. Mit ein wenig Glück würde dort jemand den Absturz des Chetak beobachten und den Vorfall weitermelden.

»Das ist ja überaus beruhigend!«, rief Karna und übertönte den Motorenlärm.

»Kneten Sie Ihren Ball, Jack«, riet Remi. »Ajay, kennen Sie den Piloten?«

»O ja, Mrs Fargo, sehr gut sogar. Wir haben zusammen in der Armee gedient. Gupta betreibt jetzt einen Frachtservice – er transportiert alle möglichen Waren und Versorgungsgüter in die abgelegenen Regionen von Arunachal Pradesh.«

Der Chetak preschte in nur wenigen hundert Fuß Höhe über den braunen Fluten des Siang River nach Norden. Schon bald flogen sie zwischen messerscharfen Felsgraten hindurch und tauchten in tief eingeschnittene Täler ein, alles mit derart dichtem Urwald bedeckt, dass Sam und Remi unter sich nichts anderes erkennen konnten als einen nahtlosen grünen Teppich. An den meisten Stellen war der Siang breit und träge, doch mehrmals, wenn der Chetak eine Schlucht passierte, verwandelten sich die gemächlich dahinfließenden Wassermassen in einen Mahlstrom aus schäumender Gischt und tobenden Wellen.

»Das ist da unten mindestens ein Fluss sechsten Grades!«, rief Sam und blickte durchs Fenster hinab.

»Das ist noch gar nichts«, erwiderte Karna. »Der Ort, zu dem wir unterwegs sind, nämlich die Tsangpo-Schlucht, wird allgemein als Mount Everest der Flüsse bezeichnet. Dort gibt es Abschnitte im Verlauf des Tsangpo, die sich jeder Klassifizierung entziehen.«

Remi fragte: »Hat irgendwann einmal jemand versucht, diese Abschnitte zu befahren?«

»O ja, sogar mehrmals. Vorwiegend extreme Kajakfahrer, stimmt’s, Ajay?«

Ajay nickte. »Dort haben einige ihr Leben verloren. Ihre Leichen wurden nie gefunden.«

»Werden sie denn nicht stromabwärts getrieben?«, fragte Sam.

»Leichen geraten gewöhnlich in Strudel und Wasserwalzen, wo sie vollkommen zermalmt werden, oder sie werden zerfetzt, wenn sie von der Strömung durch eine der Schluchten gerissen werden. Egal was mit ihnen geschieht, am Ende bleibt von ihnen nicht mehr allzu viel übrig.«

 

Nach etwa vierzig Minuten wandte sich Gupta in seinem Pilotensitz um und rief: »Wir kommen gleich nach Tuting. Bereiten Sie sich auf die Landung vor.«

Sam und Remi stellten zu ihrer Überraschung fest, dass Tuting über eine unbefestigte Rollbahn verfügte, die stellenweise vom Urwald überwuchert wurde. Sie setzten auf, und alle stiegen aus. Im Osten, weiter oben im Tal, konnten sie ein paar Dächer erkennen, die über die Bäume hinausragten. Das musste das Dorf Tuting sein, vermuteten Sam und Remi.

»Von hier aus geht es zu Fuß weiter«, verkündete Karna.

Er, Sam und Remi luden ihre Ausrüstung aus dem Helikopter.

»Entschuldigen Sie einen Moment«, sagte Ajay. Er stand ein paar Schritte entfernt bei dem Piloten. »Gupta hat einen Vorschlag, über den Sie nachdenken sollten. Er fragte mich, wie weit Sie über die chinesische Grenze gehen wollen, und ich habe es ihm erklärt. Gegen ein angemessenes Honorar würde er uns ganz nah an unser Ziel heranbringen.«

»Hat er keine Angst vor den Chinesen?«, fragte Sam.

»Kaum. Er sagt, sie haben in dieser Region kein Radar im Einsatz, und von hier aus bis zu unserem Zielort werden die Täler zunehmend tiefer. Außerdem ist diese Gegend so gut wie unbewohnt. Er glaubt, dass er völlig unbeobachtet bleiben kann.«

»Nun, das ist verdammt noch mal um einiges besser als ein Sechs-Tage-Marsch hin und zurück«, stellte Karna fest. »Wie viel verlangt er?«

Ajay unterhielt sich mit Gupta kurz in Hindi, dann sagte er: »Zweihunderttausend Rupien – oder ungefähr viertausend US-Dollar.«

Sam sagte: »So viel Bargeld haben wir nicht bei uns.«

»Das hat Gupta vermutet. Er sagt, er würde auch eine Kreditkarte akzeptieren.«

 

Sie erklärten sich mit Guptas Bedingungen einverstanden, und kurz darauf saß der Pilot am Funkgerät des Hubschraubers und gab Sams VISA-Daten an seine Basis in Itanagar durch.

»Das ist völlig surreal«, sagte Sam. »Hier zu stehen, irgendwo am Ende der Welt, während ein indischer Pilot mit unserer Kreditkarte herumjongliert.«

»Wie ich schon in Nepal meinte«, erwiderte Remi, »mit dir kommt nie Langeweile auf. Außerdem weiß ich, dass mein Fuß diese Änderung unserer Reisepläne mit Freuden begrüßen wird.«

Ajay winkte ihnen und rief: »Gupta sagt, Ihre Karte sei akzeptiert worden. Wir können jederzeit starten.«

 

Wieder in der Luft und dem Siang nach Norden folgend, überflogen sie schon nach kurzer Zeit die letzte indische Ansiedlung vor der Grenze. Gengren verschwand hinter ihnen im Dunst, und dann gab Gupta bekannt: »Wir überqueren jetzt die die McMahon-Linie.«

»Das wär’s dann«, sagte Sam. »Wir sind in China eingedrungen.«

Der Grenzübertritt war völlig undramatisch erfolgt, doch schon bald veränderte sich die Landschaft. Wie Gupta angekündigt hatte, verloren die Berggipfel ihre abgerundete Form, wurden steiler und schroffer; die Täler wurden tiefer, ihre Wände steiler und der Wald verdichtete sich. Am auffälligsten änderte der Siang Erscheinung und Charakter. Hier, am südlichen Rand der Tsangpo-Schlucht-Region, schäumte der Fluss, krachten die Wellen gegen riesige Findlinge, die in seinem Bett lagen, und außerdem gegen Felswände, während Gischtwolken hoch in die Luft schleuderten. Gupta lenkte den Chetak so dicht über den Fluss wie irgend möglich und achtete darauf, stets unterhalb der Kammlinie zu bleiben. Sam und Remi hatten das Gefühl, die wildeste Floßfahrt der Welt zu absolvieren.

»Noch eine Viertelstunde!«, rief Gupta.

Sam und Remi quittierten diese Ansage mit einem erwartungsvollen Lächeln. Sie waren schon so weit gelangt, hatten so viel durchgestanden und waren nur noch wenige Minuten von ihrem Ziel entfernt … so hofften sie jedenfalls.

Karnas Reaktion sprach für sich. Er biss die Zähne zusammen, bearbeitete unaufhörlich seinen NERF-Ball und presste die Stirn gegen die Glasscheibe, während er wie gebannt durchs Fenster hinausstarrte.

»Geht es Ihnen gut, Jack?«

»Mir ging es niemals besser, Kumpel. Wir sind gleich da!«

 

»Wir nähern uns der Koordinatenzone«, verkündete Gupta. Ajay hatte ihrem Piloten einen Bezugspunkt in einem Kreis von zwei Meilen Durchmesser genannt. Der Bereich, in den sie hineinflogen, wurde von einer Gruppe Felsnadeln mit abgeflachten Spitzen beherrscht, deren Höhe zwischen wenigen hundert und eintausend Metern variierte. In den Schluchten wand sich der Tsangpo um die obeliskenartigen Felstürme und erschien wie ein schäumendes weißes Band, das von steilen Felswänden eingerahmt wurde.

»Bis jetzt habe ich noch keine Kajakfahrer gesehen«, stellte Sam fest. »Oder jemand anderen.«

Karna blickte von der Karte hoch, die er gerade studierte. »Würde mich auch wundern, wenn es anders wäre«, erwiderte er. »Sie sehen ja, wie das Gelände beschaffen ist. Nur absolute Wildwasserfanatiker – oder schlichtweg Wahnsinnige – würden sich hierherwagen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das als Beleidigung oder als Kompliment auffassen soll«, meinte Remi im Flüsterton zu Sam.

»Wenn wir als Sieger und lebendig zurückkommen, ist es ein Kompliment.«

Karna rief Ajay zu: »Fragen Sie Ihren Freund Gupta, ob er uns einen besseren Überblick über diese Gipfel verschaffen kann. Wenn meine Berechnungen korrekt sind, befinden wir uns genau über dem Bezugspunkt.«

Ajay gab die Bitte weiter. Gupta drosselte die Geschwindigkeit des Chetak bis auf dreißig Knoten und begann die Felsnadeln nacheinander zu umkreisen, wobei er den Helikopter abwechselnd aufsteigen und sinken ließ, damit seine Passagiere weitere Einzelheiten erkennen konnten. Remi hatte ihre Kamera hervorgeholt und schoss durch ihr Fenster ein Foto nach dem anderen.

»Dort!«, rief Jack und deutete auf etwas.

In etwa einhundert Metern Entfernung vom Hubschrauber stand ein mittelgroßer Obelisk, etwa dreihundertfünfzig Meter hoch, mit einer Gipfelplatte von gut fünfhundert Metern Durchmesser. Die steilen Granithänge waren mit Bäumen, Sträuchern und Moos dicht bewachsen.

»Sehen Sie es?«, fragte Karna und fuhr mit dem Zeigefinger über die Fensterscheibe. »Die Form? Fangen Sie unten an und gehen Sie hoch … sehen Sie, wo er breiter wird und sich dann, dort, etwa dreißig Meter unterhalb des Gipfelplateaus, wie ein Schirm ausdehnt? Sagen Sie mir, dass Sie das auch sehen!«

Sam und Remi brauchten einige Sekunden, um es zu erkennen, aber dann breitete sich allmählich ein strahlendes Lächeln auf ihren Gesichtern aus.

»Ein riesiger Pilz«, sagte Remi.

Das Geheimnis von Shangri La
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