40

Tsangpo-Schlucht, China

Nachdem er mehrere Überflüge wegen gefährlicher Scherwinde abgebrochen hatte, schaffte es Gupta, den Chetak seitwärts über den Obelisken zu lenken, bis Karna am Rand des Plateaus eine kleine Lichtung im Dschungel entdeckte. Gupta ging in einen Schwebeflug über und landete dann. Sobald die Rotoren stillstanden, kletterte die Gruppe hinaus und holte ihre Ausrüstung aus der Maschine.

»Erinnert dich das an etwas?«, wollte Sam von Remi wissen.

»Na klar.«

Das Plateau hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit den paradiesischen Tälern, die sie während ihrer Helikoptersuche in Nord-Nepal gesehen hatten.

Unter ihren Füßen federte ein dichter Moosteppich, dessen Farbskala von Dunkel-bis Hellgrün reichte. Hier und da ragten mächtige Granitblöcke auf, die mit Flechten bewachsen waren. Ihnen direkt gegenüber erhob sich ein so dichter Urwald, dass er den Eindruck einer Mauer machte. Sie war lückenlos – bis auf ein paar tunnelgleiche Wege, die im Dickicht verschwanden. Ihre Eingänge bildeten grobe Ovale, die Sam und Remi wie mitleidlose schwarze Augen anstarrten. Die Luft schien mit dem Summen und Zirpen unzähliger Insekten erfüllt. Und Vögel, im Laub völlig unsichtbar, kreischten und zwitscherten vielstimmig. In einem Baum in der Nähe hing ein Affe kopfüber an einem Ast und musterte sie ein paar Sekunden lang, ehe er sich davonhangelte.

Jack und Ajay kamen zu Sam und Remi herüber. Karna sagte: »Glücklicherweise ist unser Suchgebiet begrenzt. Wenn wir uns in zwei Gruppen aufteilen, sollten wir recht zügig vorankommen.«

»Einverstanden«, sagte Sam.

»Eine letzte Sache noch«, sagte Karna, kniete sich neben seinen Rucksack, wühlte darin herum und holte zwei kurzläufige .38er Revolver hervor. Je einen reichte er Sam und Remi. »Ich habe natürlich auch einen. Und was Ajay betrifft …«

Aus einem Holster hinten an seinem Gürtel zog Ajay eine halbautomatische Beretta und steckte sie schnell wieder zurück.

»Müssen wir mit Schwierigkeiten rechnen?«, fragte Remi.

»Wir sind in China, meine Liebe. Alles Mögliche kann hier passieren: Banditen, Terroristengruppen, die Volksbefreiungsarmee …«

»Wenn die chinesische Armee auftaucht, werden diese Spielzeugpistolen sie erst recht in Rage bringen.«

»Mit diesem Problem sollten wir uns erst dann befassen, wenn es sich wirklich ergibt. Außerdem finden wir wahrscheinlich, was wir suchen, und kehren noch vor Einbruch der Nacht über die Grenze zurück.«

Sam sagte: »Remi und ich werden nach Osten gehen; Jack, Sie und Ajay nehmen sich die westliche Seite vor. Wir treffen uns in zwei Stunden wieder hier. Irgendwelche Einwände?«

Es gab keine.

 

Nachdem sie den Empfang ihrer tragbaren Funkgeräte überprüft hatten, trennte sich die Gruppe. Mit eingeschalteten Stirnlampen und Macheten in den Händen, entschieden sich Sam und Remi für einen der Wege und traten durch die Öffnung.

Nach gut drei Metern hatte das Licht drei Viertel seiner Kraft verloren. Sam zerhackte einige Ranken, die ihnen den Weg versperrten, dann blieben sie stehen, um sich umzuschauen, und schwenkten ihre Lampen nach oben, unten und zu beiden Seiten.

»Was hier in einem Jahr an Regen herunterkommt, muss unglaublich sein«, sagte Sam.

»Einhundertzehn Zoll. Etwa neun Fuß oder gut drei Meter«, meinte Remi lächelnd. »Ich weiß, wie sehr du solche wissenswerten Kleinigkeiten liebst. Ich hab’s nachgeschlagen.«

»Ich bin ja so stolz auf dich.«

Über ihren Köpfen und auf beiden Seiten war das Rankengeflecht so dicht, dass sie von dem eigentlichen Wald nichts sehen konnten.

»Irgendwie kommt mir das seltsam vor«, stellte Remi fest.

»Mir auch.«

Sam stieß die Spitze der Machete durch den Pflanzenbaldachin. Mit einem Klirren wurde sein Arm abrupt gestoppt. »Das ist Stein«, murmelte er.

Remi schwang ihre Machete nach links und wurde ebenfalls mit einem klirrenden Ton belohnt. Gleiches geschah auf der rechten Seite. »Wir befinden uns in einem künstlichen Tunnel.«

Sam hakte das Funkgerät von seinem Gürtel los und drückte auf die Sprechtaste. »Jack, sind Sie da?«

Rauschen.

»Jack, melden Sie sich.«

»Ich bin hier, Sam. Was ist?«

»Sind Sie schon auf einem Weg?«

»Wir sind gerade losgegangen.«

»Dann machen Sie mit Ihrer Machete mal einen Rundumschlag.«

»Okay …« Ein Klirren ertönte. Dann meldete sich Jack wieder: »Wände aus Stein! Das ist interessant.«

»Erinnern Sie sich noch an Ihre Vermutung, Shangri-La könnte ein Tempel oder ein Kloster sein? Also, ich denke nicht, dass dies irgendetwas an unseren Plänen ändert, oder? Wir durchsuchen den Komplex und treffen uns in zwei Stunden«

»Okay. Dann bis gleich.«

 

Im Bewusstsein, sich in einem von Menschenhand geschaffenen Bauwerk aufzuhalten, begannen Sam und Remi, nach architektonischen Merkmalen und Elementen zu suchen. Ranken und Wurzeln waren in jeden Winkel der Anlage vorgedrungen. Sam, der vorausging, versuchte, mit seiner Machete nur kurze Schwünge auszuführen, konnte es jedoch nicht vermeiden, gelegentlich gegen eine der Steinwände zu schlagen.

Sie gelangten zu einem Alkoven und hielten an.

»Schalt mal deine Stirnlampe aus«, bat Sam und machte dasselbe mit seiner.

Remi tat ihm den Gefallen. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit angepasst hatten, gewahrten sie nach und nach immer mehr Strahlen matten Sonnenlichts, die durch die laubbedeckten Wände und die Decke drangen.

»Fenster und Oberlichter«, sagte Remi. »Dieser Komplex muss zu seiner Zeit einen phantastischen Anblick geboten haben.«

Sam und Remi stiegen eine Treppenflucht hoch und erreichten schon bald einen Absatz, wo sich eine weitere Treppenflucht in die entgegengesetzte Richtung wandte und nach oben zu einem zweiten Stockwerk führte. Dort, nachdem sie durch einen Bogengang getreten waren, erreichten sie einen weiten, offenen Raum. Ein Geflecht aus Luftwurzeln und Ranken wölbte sich über ihren Köpfen und bildete eine kuppelförmige Decke. Überspannt wurde der Große Saal, wie sie ihn tauften, von sechs halb verrotteten Balken. Es waren Deckenträger, wie sie vermuteten, schon vor langer Zeit vermodert, deren Überreste von Schlingpflanzen in ihrer ursprünglichen Position fixiert wurden. Direkt gegenüber der Rampe oder Treppe, auf der sie heraufgekommen waren, führte eine zweite Treppenflucht nach oben ins Dunkel.

Beim Licht ihrer Stirnlampen trennten sich Sam und Remi, um den Raum eingehender zu untersuchen. An der Wand am gegenüberliegenden Ende fand Sam eine Reihe Steinbänke, die aus der Wand herausragten, und vor diesen sechs rechteckige Vertiefungen im Steinboden.

»Das sind Badewannen«, sagte Remi.

»In meinen Augen sehen sie wie Grabstätten aus.«

Remi ging neben einer dieser Wannen auf die Knie hinunter und klopfte die Innenwände mit ihrer Machete ab. Jedes Mal wurde sie mit dem Klang von Stahl auf Stein belohnt.

»Hier drüben sind noch mehr«, sagte Sam und trat auf die andere Seite des Saals.

Steinbänke waren im Halbkreis um ein rundes Becken angeordnet, dessen Durchmesser mehr als Sams Körpergröße betrug. Remi wiederholte ihren Test, konnte den Boden des Beckens mit der Machete jedoch nicht erreichen. Sam fand unter einer Bank in der Nähe einen losen Stein und ließ ihn ins Becken fallen.

Sie hörten, wie er mit einem dumpfen Laut aufschlug.

»Das waren gut drei Meter«, schätzte Sam.

Er ging in die Hocke und leuchtete mit der Stirnlampe in den Schacht, konnte jedoch durch die Barriere aus Wurzeln und Pflanzen nichts erkennen. »Hallo!«, rief er. Kein Echo war zu hören.

»Offenbar ist da unten alles zugewuchert«, vermutete Remi.

Sam fand einen weiteren Stein und machte Anstalten, ihn ebenfalls in den Schacht fallen zu lassen.

»Was hast du vor?«

»Meine Neugier befriedigen. Wir haben im Stockwerk unten nichts gesehen, was auf den Schacht hindeutete, woraus man schließen könnte, dass er sich hinter einer der Wände befindet. Er muss einem ganz bestimmten Zweck dienen oder gedient haben.«

»Dann mach weiter.«

Sam beugte sich über den Schacht, holte aus und schleuderte den Stein in die Tiefe. Von oben nicht zu sehen, landete er auf dem Grund des Schachts, dann schlug er abermals auf und kam schließlich klappernd auf einer harten Unterlage zur Ruhe.

Remi sagte: »Gute Idee. Der Schacht muss irgendwohin führen. Möchtest du …«

Sams Funkgerät knisterte. Von gelegentlichem lautem Rauschen unterbrochen drangen abgehackte Stimmen aus dem Lautsprecher. Die Satzfetzen wurden hektisch hervorgestoßen und überlagerten einander.

»Ich glaube, das sind Gupta und Ajay«, sagte Remi.

Sam drückte auf die Sprechtaste. »Ajay, können Sie mich hören? Ajay, melden Sie sich.«

Rauschen. Dann Jacks Stimme. »Sam … Gupta … hat einen … gesehen … haut ab.«

»Er startet«, sagte Remi.

Sie machten kehrt und rannten die Treppe hinunter, wobei Remi, die leicht humpelte, ein wenig zurückblieb. Sie durchquerten den Alkoven und eilten den Tunnel hinunter.

Remi rief: »Was meinst du, was er entdeckt hat?«

»Ich kann mir nur eine Sache vorstellen, die ihn in Panik versetzt«, antwortete Sam über die Schulter. »Einen Hubschrauber.«

»Das hatte ich befürchtet.«

Ein ovaler Lichtfleck erschien vor ihnen. Sam und Remi drosselten rechtzeitig ihr Tempo und legten die letzten Schritte in geduckter Haltung zurück. Der Chetak stand mit laufenden Rotoren auf der Lichtung; durch das Seitenfenster konnten sie erkennen, wie Gupta hektisch Knöpfe und Hebel bediente und Anzeigeninstrumente kontrollierte. Er griff nach dem Mikrofon seines Funkgeräts und sprach hinein.

Seine Stimme drang aus dem Lautsprecher von Sams Funkgerät: »Tut mir leid, ich versuche zurückzukommen. Werde mich vorerst verstecken. Vielleicht verschwinden sie wieder.«

Gupta betätigte das Höhensteuer, und der Chetak stieg senkrecht in die Luft. In zehn Metern Höhe neigte er die Nase und preschte außer Sicht.

Aus den Augenwinkeln sahen Sam und Remi, wie Karna und Ajay aus einem Tunneleingang kamen. Sam winkte ihnen, konnte sie auf sich aufmerksam machen und gab ihnen dann mit Gesten zu verstehen, dass sie sich zurückziehen sollten. Sie machten kehrt und gingen in Deckung.

Nur wenige Sekunden später erklang wieder Rotorenlärm, und ein olivgrüner Helikopter kam am fernen Rand des Gipfelplateaus in Sicht. Sam und Remi erkannten die kegelförmige Nase und die Raketenabschussrohre auf Anhieb. Es war ein Harbin Z-9 der chinesischen Volksbefreiungsarmee.

»Hallo, alter Feind«, murmelte Remi.

Sie und Sam zogen sich ein paar Schritte weiter zurück.

Der Z-9 stieg weiter hoch, dann drehte er sich und präsentierte ihnen noch eine nette Erinnerung: eine offene Tür und einen Soldaten, der hinter einem auf einer Drehlafette montierten Maschinengewehr kauerte. Der Z-9 schob sich seitwärts über die Lichtung und setzte auf.

»Lass uns verschwinden, Sam«, drängte Remi. »Wir müssen uns verstecken.«

»Warte einen Augenblick.«

Eine Gestalt erschien in der Türöffnung.

»O nein«, stöhnte Remi.

Sie erkannten beide die schlanke, biegsame Figur.

Zhilan Hsu.

Sie trat durch die Türöffnung und stieg herab. In der rechten Hand hielt sie eine Maschinenpistole. Kurz darauf erschienen zwei weitere Gestalten in der Hubschraubertür und gesellten sich zu ihr. Russell und Marjorie King, ebenfalls mit Maschinenpistolen bewaffnet.

»Sieh da, die Wunder-Zwillinge«, sagte Sam.

Zhilan wandte sich um, sagte etwas zu ihnen, dann ging sie zur Seitentür des Z-9, die geöffnet wurde. Ein Chinese, dem Aussehen nach Mitte vierzig, erschien. Sam holte ein Fernglas aus seinem Rucksack und richtete es auf das Paar.

»Ich glaube, wir kennen jetzt Kings chinesischen Kontaktmann«, sagte Sam. »Er gehört zur Volksbefreiungsarmee. Hochrangig, entweder Oberst oder General.«

»Siehst du noch weitere Soldaten in der Maschine?«

»Nein, nur den Schützen an der Tür. Außer ihm, Zhilan und den Zwillingen sind auch nicht mehr Leute nötig. Ich frage mich nur, weshalb sie den Motor noch nicht ausgeschaltet haben.«

»Wie in Gottes Namen haben sie uns gefunden?«

»Keine Ahnung. Jetzt ist es ohnehin zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«

Der Armeeoffizier und Zhilan schüttelten sich die Hand, dann schloss der Offizier die Tür. Der Motorenlärm des Z-9 steigerte sich, und der Hubschrauber hob ab. Erst drehte er sich, so dass sein Heck aufs Plateau zeigte, und dann entfernte er sich.

»Unsere Chancen sind soeben gestiegen«, sagte Sam.

»Was tut Zhilan?«

Sam richtete das Fernglas gerade noch rechtzeitig auf die Asiatin, um beobachten zu können, wie sie ein Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche zog. Sie tippte eine Zahlenfolge auf der Tastatur, dann wandten sie und die Zwillinge sich um und blickten dem Helikopter nach, der rasch kleiner wurde.

Eine orangerote Feuerwolke wallte auf, als der Z-9 explodierte. Brennende Trümmer regneten auf die Erde herab und verschwanden außer Sicht.

Sam und Remi verschlug es für mehrere Sekunden die Sprache. Schließlich sagte Remi: »Diese skrupellose …«

»King löst noch ein paar offenstehende Probleme«, sagte Sam. »Wahrscheinlich hat er bereits seine Schwarzmarkt-Fossilien-Operation stillgelegt: die Ausgrabungsstätte, das Transportsystem – und jetzt auch noch seinen Kontakt innerhalb der Regierung.«

»Wir sind das letzte offene Problem«, sagte Remi. »Können wir sie von hier aus erschießen?«

»Keine Chance. Diese kurzläufigen Revolver sind bei Entfernungen von mehr als zehn Metern nicht viel wert.«

Auf der Lichtung hatte Zhilan mittlerweile ihr Mobiltelefon gegen ein tragbares Funkgerät ausgetauscht. Sie hielt es sich vor den Mund.

Aus Sams Funkgerät hörten sie: »Haben Sie ihn?«

»Ich habe ihn.« Das war Ajays Stimme.

»Bringen Sie ihn her.«

Sam und Remi sahen, wie Jack Karna aus dem Tunneleingang kam, gefolgt von Ajay. Die Mündung seiner Pistole berührte Karnas Nacken. Die andere Hand raffte den Kragen seiner Jacke zusammen.

Das Paar legte den halben Weg zur Lichtung zurück und blieb stehen. Sie befanden sich knapp fünfzehn Meter rechts von Sam und Remi.

»Warum, Ajay?«, fragte Karna.

»Es tut mir leid, Mr Karna. Wirklich, ganz ehrlich.«

»Aber warum?«, wiederholte Karna seine Frage. »Wir sind doch Freunde. Wir kennen uns schon …«

»Sie haben mich in Kathmandu angesprochen. Es ist mehr Geld, als ich in zehn Leben verdienen kann. Ich werde meine Kinder auf die Universität schicken, meine Frau und ich können uns ein neues Haus kaufen. Es tut mir leid. Aber sie hat mir ihr Wort gegeben. Keinem von Ihnen wird ein Haar gekrümmt.«

Karna erwiderte: »Sie hat Sie angelogen.« Dann lauter zu Zhilan: »Ihre Brut habe ich ja schon vor ein paar Monaten in Lo Monthang kennengelernt. Aber ich glaube, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden.«

Zhilan sagte: »Mein Name ist …«

»Drachenlady, ich weiß. Begreifen Sie, dass Sie zu spät gekommen sind. Dies ist nicht der richtige Ort. Der Theurang ist nicht hier.«

»Sie lügen. Ajay, was sagen Sie?«

»Wir haben gerade erst mit der Suche begonnen, Ma’am. Mr Karna und die Fargos sind sich anscheinend sicher, dass dies hier Shangri-La ist.«

Zhilan sagte: »Apropos Fargos … kommen Sie heraus, Sie beide! Ihr Hubschrauber ist weg! Kommen Sie heraus und helfen Sie mir, den Goldenen Mann zu suchen, und ich sorge dafür, dass Sie abgeholt werden. Ich werde Sie sicher nach Yingkiong bringen lassen. Sie haben mein Wort.«

»Vergessen Sie nicht, Drachenlady, Sam und Remi haben Sie bereits kennengelernt«, sagte Karna. »Sie wissen, dass Ihr Ehrenwort wertlos ist.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, gab Zhilan zu. »Mr und Mrs Fargo! Kommen Sie jetzt heraus, sonst töte ich Ihren Freund!«

Remi flüsterte: »Sam, wir müssen ihm helfen.«

»Das ist genau das, was sie will«, erwiderte er.

»Wir können nicht zulassen, dass sie …«

»Ich weiß, Remi.«

Karna rief: »Drachenlady, Sie können sie nicht hören. Alles, was Sie hinter mir sehen, ist ein Tempel – ein so großer Komplex, dass es Monate dauert, um ihn zu durchsuchen. Im Augenblick wissen sie wahrscheinlich noch nicht einmal, dass Sie hier sind.«

»Sie müssen mich über ihr Funkgerät gehört haben.«

»Nicht da drin. Dort gibt es keinen Empfang.«

Zhilan ließ sich das durch den Kopf gehen. »Ajay, stimmt das?«

»Das mit den Funkgeräten trifft zu. Und was den Tempel angeht, er ist wirklich riesig. Durchaus möglich, dass sie von Ihrer Ankunft tatsächlich nichts mitbekommen haben.«

»Dann müssen wir sie suchen«, entschied Zhilan.

»Außerdem«, fügte Karna hinzu, »wenn sie uns beobachten, wüssten sie genau, was ich will. Ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht, den Theurang zu suchen, daher würde ich eher sterben und das Risiko eingehen, dass sie ihn zerstören, als zuzulassen, dass er in Ihre Hände fällt.«

Zhilan wandte sich an Russell, der rechts hinter ihr stand, und sagte etwas. In einer einzigen gleitenden Bewegung hob Russell die Maschinenpistole und legte an.

Aus einem Impuls heraus, den er sofort bedauerte, rief Sam: »Jack, ducken!«

Russells Waffe bellte auf. Die linke Seite von Karnas Nacken explodierte in einer Blutwolke; er sackte zu Boden. Russell feuerte abermals, diesmal eine Dreiersalve, die Ajays Brust durchsiebte. Dieser taumelte rückwärts und war schon tot, ehe er zusammensackte.

Zhilan rief: »Da sind sie! In diesem Tunnel! Folgt ihnen!«

Mit erhobenen Maschinenpistolen sprinteten Russell und Marjorie los. Hinter ihnen trat Zhilan zu Karnas regungslosem Körper.

Sam drehte sich um und legte eine Hand auf Remis Schulter. »Geh! Versteck dich!«

»Was ist mit dir?«

»Ich komme sofort nach.«

Remi wirbelte herum und rannte halb humpelnd, halb hüpfend, durch den Tunnel. Sam hob seine .38er hoch und schickte Russell und Marjorie eine Salve entgegen. Er machte sich nicht die Illusion, einen von ihnen zu treffen, aber die Schüsse bewirkten immerhin, dass Russell und Marjorie sich trennten, indem jeder hinter dem Felsklotz in Deckung ging, der ihm am nächsten war.

Sam machte kehrt und rannte hinter Remi her.

Er hatte den Tunnel erst zur Hälfte geschafft, als er hinter sich am Eingang Schritte hörte. »Verdammt schnelles Mistvolk«, schimpfte Sam halblaut und rannte weiter. Vor ihm hatte Remi das Ende des Tunnels erreicht. Sie bog nach links in den Alkoven ab.

Kugeln prasselten gegen die Wand zu seiner Linken und flogen ihm als Querschläger um die Ohren. Sam machte einen Satz nach rechts, prallte gegen die Tunnelwand, drehte sich halb um, sah ein Paar Stirnlampen durch den Tunnel tanzen und feuerte darauf. Dann setzte er seine Flucht fort. Fünf Schritte brachten ihn bis zu dem Alkoven. Remi kauerte vor der nahen Wand.

»Komm weiter …«

Von der Lichtung hörten sie einen Schuss, eine Pause, dann einen zweiten.

Sam ergriff Remis Hand, und sie stürmten die Rampe hinauf. Kugeln schlugen hinter ihnen in die Stufen ein. Sie erreichten den Absatz und wollten schon die nächste Treppenflucht hinaufeilen. Remi rutschte aus und krachte mit der Brust auf den Boden. Sie stöhnte auf.

»Die Rippen?«, fragte Sam.

»Ja … hilf mir hoch.«

Sam zog sie auf die Füße, sie überwanden die restlichen Stufen und blieben vor dem Bogengang stehen, der in den Großen Saal führte. Mit zusammengebissenen Zähnen fragte Remi: »Sollen wir ihnen auflauern?«

»Wir sind ihnen waffenmäßig vollkommen unterlegen, und ganz sicher werden sie die Treppe nicht blindlings hinaufstürmen. Bleib für einen Moment hier sitzen und verschnauf ein wenig. Ich seh mal auf der nächsten Treppe nach.«

Sein linker Fuß hatte soeben die erste Stufe berührt, als Remi aufschrie: »Sam!«

Er fuhr herum und sah Remi geduckt durch den Bogengang im Großen Saal verschwinden. Rechts von ihm erschienen zwei Gestalten auf dem Treppenabsatz unter ihm und kamen im Laufschritt die Treppe hoch.

»Falsch gemacht, Sam«, murmelte er.

Er feuerte zwei Schüsse ab, aber der kleine Revolver war wirkungslos. Beide Kugeln gingen vorbei und schlugen hinter Russell und Marjorie lediglich ein paar Funken aus den Steinen. Die beiden zogen die Köpfe ein und traten kurzzeitig den Rückzug an.

Remis Stimme drang durch den Bogengang: »Renn, Sam! Ich komm schon zurecht!«

»Nein!«

»Tu es einfach!«

Sam schätzte die Entfernung zum Bogengang des Großen Saals und wusste instinktiv, dass er es nicht schaffen würde. Russell und Marjorie würden ihn erwischen, ehe er auch nur die halbe Distanz überwunden hätte.

»Verdammt«, fluchte Sam heiser.

Russell und Marjorie tauchten auf der Treppe auf. Die Mündungen der beiden Maschinenpistolen spuckten orangerotes Feuer.

Sam wirbelte herum und hetzte die Treppe hinauf.

 

Zusammengekauert in einer der Wannen hockend, die Stirnlampe gelöscht, erkannte Remi, dass ihre Position nicht länger haltbar war, als die Schüsse fielen.

Stille.

Dann erklang Russells Flüsterstimme. »Sie ist da drin. Übernimm du sie, ich kümmere mich um ihn.«

»Tod oder lebendig?«, fragte Marjorie leise.

»Tot. Mutter sagt, dies sei der richtige Ort. Der Theurang ist hier. Sobald die Fargos tot sind, haben wir alle Zeit der Welt. Los!«

Remi dachte nicht mehr nach, sondern handelte. Sie stieg aus der Wanne und bewegte sich im Kriechgang zum Schacht. Dort holte sie tief Luft, atmete aus, dann sprang sie.

 

Ein Stockwerk über Remi befand sich Sam in einem Labyrinth kleiner, miteinander verbundener Räume und Korridore. Hier waren die Wurzeln und Ranken wesentlich dicker und spannten sich wie riesige Spinnennetze kreuz und quer durch den Raum. Vereinzelt drangen Sonnenstrahlen hindurch und tauchten das Labyrinth in ein grünliches Zwielicht.

Da er seine Machete am Tunneleingang zurückgelassen hatte, blieb Sam nichts anderes übrig, als sich einen Weg zu suchen und tiefer und tiefer in das Labyrinth einzudringen.

Irgendwo hinter sich hörte er das verräterische Knirschen von Schritten.

Er erstarrte.

Drei weitere Schritte. Sehr viel näher. Sam drehte den Kopf und versuchte, die Richtung zu erkennen, aus der die Geräusche zu ihm drangen.

»Fargo!«, rief Russell. »Alles, was mein Vater haben will, ist der Theurang. Er hat beschlossen, ihn nicht zu zerstören. Hören Sie mich, Fargo?«

Sam verhielt sich still. Er wandte sich nach rechts, trat unter einen oberschenkeldicken Wurzelstrang und durch eine Türöffnung.

»Er will das Gleiche wie Sie«, rief Russell. »Er will den Goldenen Mann in einem Museum sehen, wo er hin gehört. Sie und Ihre Frau würden als Mit-Entdecker genannt. Denken Sie nur an das Ansehen, das Prestige, das damit verbunden ist.«

»Wir sind nicht wegen des Prestiges an dieser Geschichte beteiligt«, murmelte Sam leise. »Idiot!«

Rechts von ihm, ein Stück weiter den Korridor hinunter, brach knackend ein Ast, gefolgt von einem kaum hörbaren: »Verdammt!«

Sam kauerte sich hin, wechselte die .38er in die linke Hand und spähte um die Ecke. In knapp sieben Metern Entfernung kam eine Gestalt auf ihn zugestürmt. Sam feuerte. Russell stolperte und wäre beinahe gestürzt, doch er fing sich, fand sein Gleichgewicht wieder, schlug einen Haken nach rechts und schlüpfte durch einen Türdurchgang.

Sam durchquerte die Halle und kletterte über eine dicke Luftwurzel in den nächsten Raum. Dort blieb er kurz stehen und klappte die Trommel des .38er auf.

Er hatte nur noch eine Kugel übrig.

 

Remi war hart auf dem Grund des Schachts gelandet und versuchte nun, sich über die Schulter abzurollen, um den Aufprall zu dämpfen, wurde jedoch unsanft von etwas Solidem aufgehalten. Ein brennender Schmerz raste durch ihren Brustkorb. Sie verschluckte einen Schrei und zwang sich, stumm zu bleiben. Sie befand sich in absoluter Dunkelheit. Irgendwo unter der Erde, vermutete sie.

Von oben drang Marjories Stimme in den Schacht. »Remi? Kommen Sie raus. Ich weiß, dass Sie verletzt sind. Kommen Sie raus, und ich helfe Ihnen.«

Da kannst du lange warten, Schwester, dachte Remi.

Sie legte die Hände um die Stirnlampe, knipste sie an und schaute sich schnell um. Hinter ihr eine Wand, direkt vor ihr ein abschüssiger Tunnel. Türbögen säumten beide Seiten des Tunnels. Remi löschte die Lampe wieder.

Auf Händen und Knien kroch sie vorwärts. Als sie glaubte, eine hinreichende Distanz zwischen sich und Marjorie geschaffen zu haben, schaltete sie die Stirnlampe wieder an. Während sie eine Hand auf ihre lädierten Rippen presste, kämpfte sich Remi auf die Füße. Sie entschied sich willkürlich für einen der Türbogen und ging hindurch. Zu ihrer Linken öffnete sich ein weiterer Durchgang.

Aus dem Tunnel hörte sie einen dumpfen Laut, dann ein Ächzen. Sie spähte um die Ecke und sah eine Stirnlampe, die soeben zu ihr herumschwang. Remi brachte die Pistole in Anschlag und feuerte schnell drei Schüsse ab. Die Mündung von Marjories Waffe spuckte eine gelbrote Flamme aus.

Remi zog sich zurück und huschte durch den nächsten Türbogen.

 

Sam wusste, dass sich Russell hinter ihm und auf der anderen Seite des Korridors befand.

Eine Kugel, dachte Sam. Russell hatte mehr als das und wahrscheinlich auch noch Reservemagazine. Sam musste ihn irgendwie an sich heranlocken, auf drei Meter oder sogar weniger, auf jeden Fall nahe genug, dass er ihn nicht verfehlen konnte.

Sich ständig in Gedanken Grundriss und Lage des Korridors vergegenwärtigend, drang Sam weiter in den Raum vor, dann wandte er sich nach links und ging durch einen Türbogen. Er drehte sich nach rechts, benutzte den nächsten Durchgang und wagte einen Blick in den Korridor.

Durch den Türbogen gegenüber hörte er ein leises Knacken. Russell.

Die Pistole in Hüfthöhe im Anschlag, wich Sam im Krebsgang von der Türöffnung zurück. Als er sich in Höhe des nächsten Türbogens befand, drehte er sich zu ihm und trat hindurch.

Russell stand im Korridor. Sam hob die Pistole und zielte. Russell machte einen Schritt und verschwand. Sam machte zwei lange Schritte vorwärts und trat mit schussbereit vorgestreckter Pistole in den Korridor.

Und stand Russell fast auf Tuchfühlung gegenüber.

Sam wusste, dass Russell jünger und stärker war als er und dass sich der King-Sohn schnell wie der Blitz bewegen konnte. Ehe Sam abdrücken konnte, riss Russell den Kolben seiner Maschinenpistole hoch und zielte damit auf Sams Kinn. Sam wich zurück. Der Kolben streifte ihn. Vor Sams Augen flammte ein roter Blitz auf. Instinktiv warf er sich nach vorn, umarmte Russell und fixierte dessen Arme an der Seite. Sie stolperten rückwärts. Russell setzte den hinteren Fuß auf und drehte den Körper, wobei er Sam mit sich zog. Sam fand wieder festen Stand, holte mit dem Knie aus und rammte es Russell in den Unterleib. Russell grunzte. Sam stieß abermals mit dem Knie zu, dann noch ein drittes Mal. Russells Beine gaben nach, doch er schaffte es, stehen zu bleiben.

Eng umschlungen stolperten sie in den nächsten Raum, prallten von der Wand ab und gelangten taumelnd in einen weiteren Raum. Russell legte den Kopf nach hinten und drückte gleichzeitig das Kinn auf die Brust. Kopfstoß, dachte Sam, und versuchte, ihm auszuweichen. Doch es war schon zu spät. Russells Stirn krachte gegen Sams Augenbraue. Abermals flammte ein roter Blitz vor seinen Augen auf, dann begann sich sein Gesichtsfeld von den Rändern her zu schwärzen. Sam atmete ruckartig aus, atmete wieder ein, biss die Zähne zusammen und hielt seinen Gegner weiterhin umklammert. Sein Blick klärte sich nur unwesentlich. Er selbst zog ebenfalls den Kopf zurück, doch der Größenunterschied machte einen Gesichtstreffer unmöglich. Sam entschied sich stattdessen für Russells Schlüsselbein. Diesmal stieß Russell einen spitzen Schmerzensschrei aus. Sam ließ den Kopf abermals nach vorn schnellen, dann ein drittes Mal. Russells Maschinenpistole fiel klappernd auf den Boden.

Sie drehten sich aufs Neue, wobei Russell versuchte, seine überlegene Kraft einzusetzen, um sich entweder aus Sams Umarmung zu befreien oder ihn gegen eine Wand zu rammen.

Plötzlich spürte Sam, wie Russells Gleichgewicht ins Schwanken geriet. Er bewegte sich schneller rückwärts, als seine Füße ihn tragen konnten. Sams Judotraining wurde wirksam und bestimmte das weitere Geschehen. Er würde Russells Schwanken ausnutzen. Sam konzentrierte sich auf seine Beine und katapultierte sich nach vorn. Seine Füße tanzten über Wurzeln und Schlingpflanzen, während er Russell vor sich herschob und dabei stetig schneller wurde. Sie wirbelten durch einen Türbogen und befanden sich wieder im Hauptkorridor. Sam ließ nicht nach und schob den King-Sprössling weiter vor sich her.

Und dann, als Russell das Gleichgewicht vollends verlor, gerieten sie ins Stolpern. Sie wurden von Pflanzen umhüllt. Sam hörte und spürte, wie Ranken und Äste um ihn herum zerbrachen und rissen. Über Russells Schulter hinweg gewahrte er Tageslicht. Sam lockerte seine tödliche Umarmung, stieß den Kopf vorwärts und traf Russells Brustbein. Russell verschwand durch den Pflanzenvorhang. Sam, der versuchte, seinen eigenen Schwung abzubremsen, schoss durch die Öffnung und ins Leere.

Sams Gesichtsfeld füllte sich mit Himmel, Granitwänden, einem schäumenden Fluss tief unter sich …

Er wurde abrupt gestoppt. Der Aufprall presste ihm sämtliche Luft aus den Lungen. Er machte zwei qualvoll mühsame Atemzüge. Alles, was er sah, war ein schwarzer Stahlzylinder.

Pistole, dachte er benommen. Er umklammerte noch immer seine Waffe.

Er lag bäuchlings auf der Astgabel eines mit Moos bewachsenen Baums, sah sich um und setzte Stück für Stück das Bild zusammen, das sich seinen Augen darbot. Sie waren aus einem Tempelfenster gestürzt. Der Baum, der aus der Außenmauer des Tempels herauswuchs, wurzelte in einer kleinen Tasche Erdreich am Rand des Plateaus. Jenseits der Kante ging es dreihundert Meter tief in die Tsangpo-Schlucht hinab.

Unter sich hörte Sam ein Stöhnen. Er reckte den Hals und entdeckte Russell, der dicht neben dem Baum auf dem Rücken lag. Er hatte die Augen geöffnet und starrte Sam an.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete Russell sich auf. Seine rechte Hand glitt an seinem Hosenbein abwärts und zog es über die Wade hoch. Um den Fußknöchel war ein Holster geschnallt. Russell legte die Hand um den Revolvergriff.

»Tun Sie’s nicht, Russell«, warnte Sam.

»Fahr zur Hölle, Fargo.«

Sam streckte den Arm aus und zielte mit dem .38er auf Russells Brust. »Lassen Sie’s«, warnte er noch einmal.

Russell öffnete die Schnalle des Holsters und zog den Revolver heraus.

»Letzte Chance«, sagte Sam.

Russell hob die Hand mit der Waffe.

Sam schoss ihm in die Brust. Russell atmete ächzend aus, dann kippte er nach hinten. Seine blicklosen Augen starrten in den Himmel.

 

Geleitet von dem heftig tanzenden Lichtstrahl ihrer Stirnlampe, stürmte Remi durch den Türbogen. Kugeln schlugen um sie herum in die Steinwände ein. Remi wirbelte herum, feuerte blindlings zwei Schüsse in die Richtung, aus der sie kam, dann warf sie sich ein weiteres Mal herum und rannte weiter.

Sie stolperte in den Korridor zurück. Die Grube befand sich links von ihr auf dem Schräghang. Remi wandte sich nach rechts und setzte ihren Weg fort, halb humpelnd, halb rennend. Vor ihr tanzte der Lichtstrahl über einen dunklen Kreis im Korridorboden. Ein weiterer Schacht. Von Schmerzen gepeinigt und mit einem Knöchel, der drohte, ihr jeden Augenblick den Dienst aufzukündigen, versuchte Remi, den Schacht zu umgehen, doch sie geriet ins Stolpern und konnte nicht verhindern, dass sie durch die Öffnung rutschte.

Glücklicherweise war der Sturz nicht sehr tief, nur halb so weit wie beim ersten Schacht. Remi landete unsanft auf dem Hintern. Diesmal war der Schmerz allerdings nicht mehr klaglos zu ertragen. Sie stieß einen Schrei aus, rollte sich herum und suchte ihre Waffe. Sie war fort. Sie brauchte etwas … irgendwas. Marjorie würde jeden Moment auftauchen.

Remis Lampenstrahl kam neben einem Objekt aus Holz zur Ruhe. Noch ehe ihr halb benebelter Geist ihr verriet, um was es sich bei diesem Objekt handelte, begannen ihre Sinne, es zu registrieren und die Eindrücke zu verarbeiten: dunkles Holz, eine dicke schwarze Lackschicht, keine sichtbaren Fugen …

Sie streckte die Hände aus, erfasste die Kante des Kastens mit den Fingerspitzen und wälzte ihn zu sich her. Im hellen Lichtkegel ihrer Stirnlampe sah Remi vier Symbole, vier Lowa-Schriftzeichen in quadratischer Anordnung.

»Hab ich dich endlich!«

Marjorie sprang durch die Öffnung über Remi und landete wie eine Katze vor deren Füßen. Sie hatte sich für den Sprung die Maschinenpistole quer über den Rücken gehängt, fasste jetzt nach hinten und griff nach dem Schaft. Sie schwenkte ihn herum und richtete ihn auf Remi.

»Heute nicht!«, rief Remi.

Sie packte die Theurang-Truhe mit beiden Händen, hob sie über den Kopf, streckte sich und schmetterte sie gegen Marjories Stirn.

Wie von Remis Lampenstrahl aus dem Dunkel gerissen und festgenagelt, wurde Marjories Gesicht schlaff. Blut sickerte über ihre Stirn, während sich ihre Augen verdrehten. Sie kippte nach hinten und rührte sich nicht mehr.

Benommen rutschte Remi rückwärts, bis sie hinter sich harten Stein spürte. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen und schloss die Augen.

 

Einige Zeit später drang ein Laut in ihr halbwaches Bewusstsein.

»Remi? Remi?«

Sam. »Ich bin hier!«, rief sie. »Hier unten!«

Dreißig Sekunden später erschien Sams Gesicht in der Schachtöffnung. »Bist du okay?«

»Ich müsste mich vielleicht mal kurz durchchecken lassen, aber ich bin am Leben.«

»Ist es das, was ich glaube, dass es ist?«

Remi tätschelte die Theurang-Truhe, die neben ihr stand. »Bin durch Zufall draufgestoßen. Ich hatte einfach Glück.«

»Ist Marjorie tot?«

»Ich glaube nicht, aber ich habe sie ziemlich heftig erwischt. Möglich, dass sie nie mehr so sein wird wie vorher.«

»Das wäre ja immerhin eine Verbesserung. Bist du bereit, mit raufzukommen?«

Sam, mittlerweile mit Russells Maschinenpistole bewaffnet, war in den Haupttunnel zurückgekehrt. Da er nicht wusste, wo sich Zhilan befand, hatte er sich seinen Rucksack geschnappt und irgendwann den zweiten Schacht und damit auch Remi gefunden.

Eine halbe Stunde später waren beide wieder im Großen Saal. Gemeinsam holten sie Marjories schlaffen Körper aus dem Schacht. Sam reichte Remi die Maschinenpistole, dann lud er sich Marjorie auf die Schulter.

»Halt Ausschau nach der Drachenlady«, warnte er Remi. »Wenn du sie siehst, schieß sofort und schenk dir die Fragen.«

Als sie sich dem Tunnelausgang näherten, blieb Remi plötzlich stehen. »Hörst du das?«

»Ja … jemand pfeift sich eins.« Ein Grinsen breitete sich auf Sams Gesicht aus. »Es ist ›Rule, Britannia!‹.«

Vorsichtig wagten sich Sam und Remi aus dem Tunnel heraus.

In knapp zehn Metern Entfernung saß Jack Karna, an einen großen Stein gelehnt, auf der Erde. Er entdeckte sie, hörte auf zu pfeifen und winkte ihnen fröhlich.

»Tallyho, Fargos. Oh, Moment, das reimt sich fast. Wie clever von mir.«

Völlig verwundert gingen Sam und Remi auf ihn zu. Als sie näher kamen, konnten sie Zipfel eines weißen Notverbands erkennen, die unter einem Schal hervorlugten, den sich Karna um den Hals geschlungen hatte. Auf seinem Schoß hatte er Ajays Beretta.

Ein paar Schritte entfernt lag Zhilan Hsu flach auf dem Rücken, den Kopf auf Ajays zusammengerollten Parka gebettet. Um jeden ihrer Oberschenkel war ein blutdurchtränkter Verband gewickelt. Zhilan war wach. Sie funkelte sie wütend an, schwieg jedoch trotzig.

Remi sagte: »Jack, ich denke, eine Erklärung wäre jetzt angebracht.«

»Gern. Wie sich herausstellte, ist Russell zwar ganz gut mit der Pistole, aber kein Meisterschütze. Ich glaube, er wollte durch mich hindurchschießen und gleichzeitig Ajay treffen. Seine verdammte Kugel hat diesen Muskel durchbohrt … Wie heißt er noch, er befindet sich zwischen Schulter und Hals?«

»Trapezius?«, schlug Sam vor.

»Ja, das ist er. Fünf Zentimeter weiter nach rechts, und mich gäbe es nicht mehr.«

»Haben Sie Schmerzen?«, fragte Remi.

»Natürlich, sogar gigantische. Aber, sagen Sie mal, liebste Remi, was tragen Sie da?«

»Ach, das lag hier irgendwo rum.«

Remi ließ sich neben Karna nieder. Der lächelte und tätschelte den Deckel der Truhe.

»Was ist mit ihr?«, fragte Sam.

»Mit der Drachenlady? Wirklich ganz einfach. Sie dachte, ich sei tot; also hat sie keine Vorsicht mehr walten lassen. Als sie zu mir kam, habe ich mir Ajays Pistole geschnappt – diese hier – und ihr ins rechte Bein geschossen. Und anschließend ins linke, um auf Nummer sicher zu gehen. Ich denke, das hat ihr völlig den Wind aus den Segeln genommen, meinen Sie nicht?«

»Das sehe ich auch so.«

Sam wandte sich zu Zhilan um. Er ging in die Hocke und legte Marjorie neben ihr auf die Erde. Zhilan streckte eine Hand aus und strich damit über das Gesicht ihrer Tochter. Sam und Remi verfolgten völlig perplex, wie sich Zhilans Augen mit Tränen füllten.

»Sie lebt«, sagte Sam zu ihr.

»Und Russell?«

»Nein.«

»Sie haben ihn getötet? Sie haben meinen Sohn getötet?«

»Nur weil er mir keine andere Wahl gelassen hat.«

»Dann werde ich Sie töten, Sam Fargo.«

»Das können Sie gern versuchen. Aber bedenken Sie vorher eins: Wir hätten Marjorie da drin liegen lassen können, wo sie sicherlich gestorben wäre. Wir haben es aber nicht getan. Jack hätte Sie töten können. Er hat es auch nicht getan. Sie sind nur wegen Ihres Mannes hier. Er hat Sie und Ihre Kinder benutzt, damit sie seine Drecksarbeit erledigen, und jetzt ist eins der Kinder tot. Wir verlassen diesen Berg und nehmen Sie mit. Sobald wir in die Nähe eines Telefons kommen, rufen wir das FBI an und erzählen alles, was wir wissen. Sie haben die Wahl: Wollen Sie eine Zeugin sein oder wollen Sie neben Ihrem Mann auf der Anklagebank sitzen? Egal, wie Sie sich entscheiden, Sie wandern auf jeden Fall ins Gefängnis, aber je nachdem, wie Sie Ihre Karten ausspielen, hat Marjorie vielleicht noch eine Chance.«

Remi fragte: »Wie alt ist sie?«

»Zweiundzwanzig.«

»Sie hat noch ein langes Leben vor sich. Es hängt im Wesentlichen von Ihnen ab, wie sie es verbringt: frei und nicht unter der Fuchtel ihres Vaters – oder im Gefängnis.«

Zhilans hasserfüllter Blick verflüchtigte sich. Ihr Gesicht entspannte sich, als hätte sie gerade eine schwere Last von ihren Schultern abgeladen. Dann fragte sie: »Was muss ich tun?«

»Erzählen Sie dem FBI alles, was Sie über Charles Kings illegale Machenschaften wissen – jedes hässliche Ding, das er jemals selbst gedreht oder von Ihnen verlangt hat.«

Remi sagte: »Sie sind eine clevere Lady, und ich glaube, dass Sie sehr viel von Rückversicherung halten. Gewiss haben Sie irgendwo eine dicke Akte über Charles King versteckt, nicht wahr?«

»Was werden Sie tun?«, fragte Sam.

Zhilan zögerte, dann nickte sie.

»Eine gute Entscheidung. Jack, ich glaube, wir haben unsere Funkgeräte irgendwo liegen lassen.«

»Ich habe meins hier.«

»Dann schalten Sie es ein und versuchen Sie, Gupta zu erreichen. Wird Zeit, dass wir von hier verschwinden.«

Das Geheimnis von Shangri La
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