Epilog
Kathmandu,
Nepal
Wochen später
Sams und Remis Rettung vom Shangri-La-Tempelberg war glatt und ohne weitere Probleme verlaufen. Wie versprochen hatte Gupta das Gebiet umkreist und auf ihren Ruf gewartet. Als es soweit war, kehrte er zurück und gabelte sie auf. Vier Stunden, nachdem sie den chinesischen Luftraum verlassen hatten, landete Gupta mit dem Chetak auf dem Itanagar Airport.
Da sie, abgesehen von der Z-9-Mannschaft, die ihren Einsatz nicht überlebt hatte, die einzigen Zeugen dessen waren, was auf dem Berg geschehen war, hatte niemand in der chinesischen Regierung irgendeine Kenntnis von der Grenzverletzung. Soweit bekannt war, hatte Gupta mit seinen Passagieren lediglich einen Besichtigungsflug unternommen.
Nach einer kurzen Generaluntersuchung in einem Krankenhaus in Itanagar waren Sam und Remi entlassen worden. Marjorie musste jedoch zur Beobachtung dort die Nacht verbringen. Ebenso wie ihr Vater hatte sie einen harten Schädel und bei Remis erfolgreicher Attacke mit der Holztruhe lediglich eine leichte Gehirnerschütterung erlitten.
Karna lehnte eine medizinische Behandlung ab, bis er die Grenze nach Nepal überschritten hatte. Stattdessen ließ er die Einschuss-und Austrittswunde von Gupta säubern und verbinden.
Nach ausführlichen Gesprächen mit Rube Haywood veranlasste Sam, dass Zhilan Hsu und Marjorie ohne Aufsehen und sicher nach Washington, D. C., gebracht wurden, wo sie von Spezialagenten des FBI erwarteten. Während ihres Verhörs hielt Zhilan Hsu in Bezug auf Charles King mit nichts hinterm Berg. Laut Rube hatten das FBI und das Justizministerium eine Task Force zusammengestellt, deren Aufgabe darin bestand, die zahlreichen illegalen Unternehmungen Kings zu entwirren und zu zerschlagen. Man ging davon aus, dass Charles King den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen würde.
Die nepalesische Regierung und ihre wissenschaftliche Gemeinschaft hielten die Truhe unter strengem Verschluss, während ihr leitender Anthropologe, Ramos Shadar, und seine Kollegen Zeit hatten, ihren Inhalt eingehend zu studieren. Man kam darin überein, die Entdeckung des Goldenen Mannes und der genauen Lage des Shangri-La-Tempels geheim zu halten, bis alle Fragen geklärt wären und man sich bereit sah, damit an die Öffentlichkeit zu treten.
Dieser Zeitpunkt war nun gekommen.
»Prost!«, rief Remi und hob ihr Champagnerglas.
Die restlichen Versammelten – Sam, Jack Karna, Adala Kaalrami, Sushant Dharel und Ramos Shadar – beantworteten den Toast und stießen miteinander an.
»Endlich ist es soweit, dass die endgültige Enthüllung stattfinden kann«, sagte Shadar lächelnd. »Gewiss haben Sie alle voller Spannung auf diesen Augenblick gewartet.«
»Auf den Theurang«, sagte Remi leise.
Sie stiegen die Treppe zum Podium der mit Marmor gefliesten Ausstellungshalle der Universität von Kathmandu hinauf. Die offizielle Enthüllung sowie eine sich anschließende, von allen Medien übertragene Pressekonferenz würden erst am folgenden Abend stattfinden, aber Sam, Remi und die anderen wurden für ihren Einsatz mit einer privaten Besichtigung geehrt.
»Wer von Ihnen wird der Erste sein, der den Deckel öffnet und den Goldenen Mann zu Gesicht bekommt?«, fragte Shadar, der längst wusste, was sich in der Truhe befand, und sich schon jetzt amüsierte, wenn er sich vorstellte, wie die anderen darauf reagieren würden. »Wer möchte das Privileg haben, den Deckel zu öffnen?«
»Das ist doch wohl keine Frage«, erwiderte Sam. »Jack verdient es, der Erste zu sein.«
»Mr Karna«, sagte Shadar und deutete auf die Truhe. »Wenn ich bitten darf.«
Mit Tränen in den Augen bedankte sich Karna mit einem Kopfnicken bei der Gruppe und trat zu einem niedrigen, mit einem Samttuch bedeckten Objekt. Langsam, mit einer Haltung, die die größte Ehrerbietung ausdrückte, griff er nach der Zeremonienschnur und zog daran.
Die Truhe des Theurang war offen, ihr Deckel lag daneben. Die Anwesenden betrachteten sie mit andächtiger Miene, außer Shadar.
In der Truhe lag, in fetaler Haltung zusammengekrümmt, ein nahezu vollständiges, versteinertes, rundum vergoldetes Skelett. Im hellen Schein der Bühnenbeleuchtung wirkte der Anblick äußerst Ehrfurcht gebietend. Die Versammelten schwiegen mehrere Sekunden lang.
Schließlich murmelte Jack Karna: »Warum ist er so klein?«
»Er sieht aus wie ein kleiner Junge«, sagte Remi leise. »Nicht mehr als drei Jahre alt.«
»Er kann nicht größer als einen Meter sein«, schätzte Sam.
Shadar grinste. »Ein Meter und fünf Zentimeter, um genau zu sein. Sein Gewicht haben wir auf fünfzig Pfund geschätzt. Das Gehirn hatte die Größe eines Baseballs.«
»Es muss eine Fälschung sein.« Adala Kaalrami sprach zum ersten Mal.
Shadar schüttelte den Kopf. »Sie mögen es nicht glauben, aber Sie haben ein dreißig Jahre altes menschliches Wesen vor sich. Das Alter können wir anhand der Abnutzung der Zähne und mittels der Knochenstruktur ziemlich genau bestimmen.«
»Ein Zwerg?«, fragte Sam.
»Kein Zwerg«, antwortete Shadar, »sondern der Angehörige einer ganz besonderen menschlichen Rasse, die vor fünfundachtzig-bis fünfzehntausend Jahren existierte. Als meine Vorfahren seine Überreste in einer Höhle in den Bergen fanden, vergoldeten sie die Knochen und betrachteten ihn als heilig.«
»Und huldigten ihm über tausend Jahre lang«, fügte Sam hinzu.
Shadars Augen funkelten schalkhaft. »Nicht ihm«, sagte er langsam, »sondern ihr.«
Es dauerte einige Zeit, bis diese Offenbarung bei allen angekommen war.
»Natürlich!«, sagte Remi lebhaft. »Lebensspender. Die Mutter der Menschheit. Der Theurang war eine Frau. Kein Wunder, dass sie sie glorifiziert haben.«
Sam schüttelte den Kopf, doch in seinen Augen lag ein Zwinkern. »Warum«, fragte er, »müssen Frauen eigentlich immer das letzte Wort haben?«